Die neue Kindheitspädagogik - Veronika Verbeek - E-Book

Die neue Kindheitspädagogik E-Book

Veronika Verbeek

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Beschreibung

Trotz pädagogischer Reformen in den letzten 20 Jahren mit dem Ziel der Verbesserung von Bildungsniveau und Chancengerechtigkeit in der Kindertagesstätte bleiben die Erfolge der neuen Kindheitspädagogik aus. Fehlt es nur an Kita-Plätzen und Personal oder ist es die neue inhaltlich-konzeptuelle Ausrichtung selbst, die wenig nützt oder vielleicht sogar schaden kann? Acht Leitkonzepte der neuen Kindheitspädagogik - Kita-Qualität, Akademisierung, professionelle Haltung, Kompetenzorientierung, Selbstbildung, Ressourcenorientierung, Partizipation und Diversity - werden auf Chancen, aber auch auf Mängel in der wissenschaftlichen Begründung oder pädagogischen Umsetzung untersucht. Der Band schließt mit einem Ausblick auf das Entwicklungspotential der Kindheitspädagogik.

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Contents

Cover

Titelei

Zur Konzeption der Buchreihe »Pädagogik kontrovers«

1 Einführung

2 Kita-Qualität – Gütemaßstab oder Worthülse?

Kontexte und Begriffe

Qualitätssicherung in der Kindertagesstätte

Studien zur Kita-Qualität

Von der Qualität zur Wirkung

Chancen, Risiken und Irrwege

3 Akademisierung – Mehrwert und Mehraufwand?

Kindheitspädagogik als Teilakademisierung

Zersplitterung der Ausbildung

Studium ungleich Studium

Bachelor-Akademisierung ohne formale Unterschiede

Bachelor-Akademisierung ohne bedeutsame Wirkung

Akademisierung ohne Verwissenschaftlichung?

Chancen, Risiken und Irrwege

4 Haltung – Professionalisierung oder Deprofessionalisierung?

Perspektive 1: Haltung als ideale Persönlichkeitsmerkmale

Perspektive 2: Haltung als professionell überformter Habitus

Perspektive 3: Haltung als Anbindung an eine Ideenlehre

Perspektive 4: Haltung als Personale Kompetenzen

Chancen, Risiken und Irrwege

5 Kompetenzorientierung – Paradigmenwechsel oder Etikettenschwindel?

Zum Kompetenzbegriff, zu Modellen und Methoden

Kompetenzorientierung an Fachschule und Hochschule

Kompetenzorientierung in der Kindertagesstätte

Wirkt der Paradigmenwechsel?

Chancen, Risiken und Irrwege

6 Selbstbildung – Besserlernen oder Bildungsromantik?

Selbstbildung als aktuelle Idee von Bildung

Selbstbildung verändert die Kita-Praxis

Empirische Studien zu Selbstbildung in der Kita

Selbstbildung an Fachschule und Hochschule

Kritik an Selbstbildung

Chancen, Risiken und Irrwege

7 Ressourcenorientierung – Perspektivwechsel oder blinder Fleck?

Begriffe und theoretische Kontexte

Ressourcenorientierung in der Kindertagesstätte

Dilemmata bei einseitiger Stärkenorientierung

Chancen, Risiken und Irrwege

8 Partizipation – Mitbestimmung oder Überforderung?

Zum Begriff und zu Kontexten von Partizipation

Ausgestaltungen von Kinderpartizipation

Empirische Erkenntnisse zur Kinderpartizipation

Partizipation in Ausbildung und Studium

Widersprüche bei einseitiger Partizipationsorientierung

Chancen, Risiken und Irrwege

9 Diversität – Chancengerechtigkeit oder Identitätenstreit?

Diversität – ein facettenreicher Begriff

Kindertagesstätte: Diversität in Konzepten

Kindertagesstätte: wenig Diversität in der Praxis

Diversität – umsetzbar in Ausbildung und Studium?

Hindernisse auf dem Weg zur Diversitätskompetenz

Chancen, Risiken und Irrwege

10 Gründe für Irrwege und Ausblick auf Entwicklungspotentiale

Kleine Forschungscommunity mit konkurrenzlosem Einfluss

Programmatik mit Grundmustern der Meinungsmanipulation

Diskrepanz zwischen konzeptuellem Anspruch und Wirklichkeit

Ausblick auf das Entwicklungspotential der Kindheitspädagogik

Literatur

Pädagogik kontrovers

Herausgegeben von Bernd Ahrbeck, Karl-Heinz Dammer, Marion Felder und Anne Kirschner

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/paedagogik-kontrovers

Die Autorin

Veronika Verbeek ist Psychologin, Bildungswissenschaftlerin, Fachschullehrerin und Hochschulprofessorin mit 30-jähriger Erfahrung in der Ausbildung pädagogischer Fachkräfte.

Veronika Verbeek

Die neue Kindheitspädagogik

Chancen, Risiken, Irrwege

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043639-8

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043640-4epub:ISBN 978-3-17-043641-1

Zur Konzeption der Buchreihe »Pädagogik kontrovers«

Seit ihrer Entstehung als wissenschaftliche Disziplin im ausgehenden 18. Jahrhundert ist die Pädagogik ein widersprüchlicher und damit auch exemplarischer Ort für Kontroversen. Erkennbar wird dies bereits bei ihrem Begründer Rousseau, der in seinem Erziehungsroman Émile ou de l'Éducation den Erzieher vor die Alternative stellt, einen Menschen oder einen Bürger zu erziehen, sich also an den Entwicklungspotenzialen des Individuums zu orientieren und zu ihrer ungehinderten Entfaltung beizutragen oder ein auf gesellschaftliche Zwecke hin ausgerichtetes Wesen hervorzubringen; beides zugleich, so sagt Rousseau ausdrücklich, sei unmöglich. Wenig später wird diese Dichotomie in Deutschland als programmatischer Streit zwischen den am nützlichen Bürger interessierten Aufklärungspädagogen und den Neuhumanisten als emphatischen Verteidigern des sich frei bildenden Individuums erneut ausgefochten.

Im Kern ist dieser Streit bis heute nicht geschlichtet, wie beispielsweise die Auseinandersetzung um den auf Nützlichkeit fokussierten Bildungsbegriff zeigt, der der PISA-Studie zugrundeliegt. In den Debatten wird erkennbar, dass Erziehungs- und Bildungskontroversen nicht nur ein zentraler Reflexionsmodus der Disziplin sind, sondern dass mit der Frage »Bildung und Erziehung wozu?« auch immer wieder neu zu führende Aushandlungsprozesse von Gesellschaft- und Menschenbildern verbunden sind.

Diese kritische Funktion der Pädagogik scheint nun seit einiger Zeit zugunsten unterschiedlicher, aber stets widerspruchsfrei erscheinender und moralisch hoch aufgeladener Diskurse in den Hintergrund zu treten: Chancengleichheit - vor der Jahrhundertwende noch ein beispielhaftes bildungspolitisches Streitthema - wird nun einhellig gefordert, Vielfalt ist wertzuschätzen, Inklusion hat sich normativ immunisiert und empirische Messungen konnten sich bildungspolitisch als der vermeintlich einzig gültige Maßstab für die Qualität von Schulen und Unterricht etablieren. Damit verschiebt sich pädagogisches Denken von einem streitbaren Ort in Richtung einer Konsenszone, in der die gesellschaftspolitische Dimension der pädagogischen Kritik zunehmend an den Rand gedrängt wird.

Die Reihe »Pädagogische Kontroversen« will, an diese kritische Funktion der Pädagogik anknüpfend, wieder Kontroversen initiieren, indem sie nach der Berechtigung des als selbstverständlich Geltenden fragt, andere Sichtweisen einbringt und auf diese Weise für produktive Irritationen sorgen und Denkanlässe schaffen möchte, um ideologische Moden (wieder) erkennbar und zum Gegenstand von Streit werden zu lassen.

Da die Bedeutung pädagogischer Kontroversen, wie eingangs angedeutet, über die Erziehung hinausweist, wird der Begriff »pädagogisch« hier nicht nur als erziehungswissenschaftlicher verstanden, sondern es geht dabei auch um die gesellschaftlichen, psychologischen und philosophischen Implikationen der Kontroversen.

Geplant sind Sammelbände oder Monographien zu entsprechenden Themen, verfasst von Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis unterschiedlicher Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Psychologie). Die Buchreihe wendet sich aber explizit nicht nur an die Fachgemeinde, sondern an alle Personenkreise, die an bildungspolitischen Fragen und offener gesellschaftlicher Auseinandersetzung interessiert sind. Mit Blick auf diesen weiten Adressatenkreis werden auch unterschiedliche Darstellungsformen gewählt, also neben konventionellen wissenschaftlichen Beiträgen auch essayistische Reflexionen, um neue Denkräume zwischen wissenschaftlichem Fachbuch und populärem Sachbuch zu schaffen und der öffentlichen Debatte um Erziehungsfragen neue Impulse zu geben.

1 Einführung

In den letzten 20 Jahren hat sich die Pädagogik in der Kindertagesbetreuung grundlegend verändert. Die sozial- und bildungspolitisch zu bewältigenden Probleme des wiedervereinigten Deutschlands, vor allem aber das schlechte Abschneiden bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 bestärkten eine Qualitätsdebatte aus den 1990er Jahren, in der die mangelnden Bildungsanregungen vor dem Eintritt in die Schule kritisiert wurden. Die Reformbemühungen führten zu einer Weiterentwicklung der Qualifikationswege in kindheits- und sozialpädagogischen Berufen, veränderten aber auch die konkrete Berufspraxis in der Kindertagesstätte in Bezug auf das Bild vom Kind, das Verständnis von Entwicklung, Lernen oder kindgemäßer Didaktik sowie die Rolle der pädagogischen Fachkraft. Neue Leitkonzepte wie Selbstbildung, Ressourcenorientierung, Partizipation oder Diversity bestimmen nun die Diskurse und schlagen sich in Rahmenplänen und Gesetzesvorgaben begrifflich nieder.

Der immense Umbau der Kindertagesstätte seit der Jahrtausendwende, verbunden mit einem Ausbau der Betreuung für Kinder unter drei Jahren und für Grundschulkinder, hat seine Begründung in einer Bildungskrise und muss deshalb auch zu deren Überwindung beitragen. Dies gilt vor allem dann, wenn Versprechungen wie ›Bildung von Anfang an‹, ›Bildung für alle‹, also Verbesserungen im Bildungsniveau und in der Chancengerechtigkeit, seit den Anfängen bis heute als Zielmarken proklamiert werden. Dies gilt besonders, wenn positive Wirkungen auch viele Jahre nach der Einführung einer neuen Pädagogik im Bildungswesen offensichtlich völlig ausbleiben. So brachte die aktuelle Grundschulstudie erneut zutage, dass der Anteil der Kinder, die in der vierten Klasse grundlegende Kompetenzen in Deutsch und Mathematik nicht erreichen, erschreckend groß ist (Stanat u. a., 2022). Und der PISA-Schock nach der ersten internationalen Vergleichsstudie müsste eigentlich andauern: Jugendliche in Deutschland punkten nach einer leichten Steigerung vor zehn Jahren zuletzt sogar noch unter den alarmierenden Ergebnissen der ersten PISA-Studie vor über 20 Jahren. Negative Entwicklungen wie niedriges Bildungsniveau, soziale Ungerechtigkeit und ungleiche Bildungschancen lassen die Bundesrepublik weiter hinter vielen anderen OECD-Ländern zurückbleiben (Statista, 2023). Kinder leiden unter ihrem familiären Umfeld, anders lassen sich die weiterhin hohen Prävalenzraten kindlicher Verhaltensstörungen, denen auch die Kindertagesstätte nichts entgegenzusetzen vermag, nicht erklären (Hölling u. a., 2014; Schmidtke u. a., 2021). Und überhaupt verwundert sehr, Bildungsmängel, die im Falle der Grundschulvergleichsstudie vier Jahre, im Falle der PISA-Studie sogar erst zehn Jahre nach dem Besuch einer Kindertagesstätte auffallen, mit der Güte der früheren Kindertagesstätte erklären zu wollen.

Angesichts dieser Widersprüche werden immer wieder kritische Stimmen laut, besonders, wenn eine neue Studie daran erinnert, dass der Kern des deutschen Bildungsproblems noch nicht gefunden wurde. Vereinzelt wird die neue Richtung in Erziehung und Bildung auch grundlegend beanstandet, häufig im Kontext von Schulbildung (Schöler, 2019; Dammer & Kirschner, 2023), zunehmend werden auch die geringen Investitionen in die Kindertagesstätte öffentlich gemacht (Fröhlich-Gildhoff, 2022; Wehrmann, 2023). Eine neue Generation von Erziehungsratgebern kann als Ausdruck einer gewissen Unzufriedenheit mit den aktuellen Tendenzen in der familiären Erziehung angesehen werden (u. a. Omer & Schlippe, 2016; Juul, 2019). Der Hinweis auf die breite Suche nach einem guten Entwicklungs- und Bildungsweg für Kinder in Familie, Kita und Schule macht deutlich: Die Kindertagesstätte trägt sicher nicht allein die Verantwortung für das Misslingen und Gelingen von Bildungswegen und kindlicher Entwicklung, selbst wenn die Tonlage im gesellschaftlichen Diskurs dies nahelegt. In der vorliegenden Publikation werden die neuen, dominierenden Erziehungs- und Bildungsvorstellungen beispielhaft an diesem pädagogischen Ort thematisiert, wie man es prinzipiell auch in Bezug auf Familie oder Schule tun könnte. Einige Überlegungen zu den modernen Kita-Leitkonzepten sind auch auf die familiäre Situation, auf andere Betreuungssettings wie die Jugendhilfe oder die pädagogische Arbeit mit älteren Kindern in Hort und Ganztagsschule übertragbar.

Um den Paradigmenwechsel, der sich seit zwei Jahrzehnten vollzieht, zusammenzufassen, wird im Titel und im Text der Terminus ›Kindheitspädagogik‹ gewählt, was einer Erklärung bedarf. Kindheitspädagogik ist einseitig konnotiert mit den neuen Studiengängen, die neben der Breitbandqualifikation zur Erzieher:in für eine Berufstätigkeit in der Kindertagesstätte, aber auch für Schule und Hort qualifizieren und den neuen Beruf der Kindheitspädagog:in hervorbrachten. Den Verwendungszusammenhang zu erweitern, Kindheitspädagogik unabhängig von den Formalqualifikationen der Professionellen zur Bezeichnung des Berufsfelds und der Berufstätigkeit in der Kindertagesstätte zu übernehmen, hat einige Vorteile. Kindheitspädagogik füllt die bisherige definitorische Lücke für die Erziehung und Bildung in der Altersgruppe von Kindern bis zehn Jahren, hilft bei der Abgrenzung zu Sozialpädagogik und Heilpädagogik mit ihren Schwerpunkten auf außerschulische und unterstützungsbetonte Aufgaben. Als Berufstätigkeit und Beschreibung von Praxis macht Kindheitspädagogik – im Gegensatz zur Berufsbezeichnung ›Erzieher:in‹ und den damit assoziierten Begriffen – keine Annahmen über die Ausgestaltung der Tätigkeit im breiten Spektrum zwischen Betreuung, Begleitung, Bildung, Erziehung und Förderung, ist also vergleichsweise neutral.

Wie der Blick in die weit über hundertjährige Professionsgeschichte zeigt, ist der Einfluss von Leitkonzepten auf die Betreuung von Kindern zunächst nichts Außergewöhnliches. Zu den wechselnden politischen Leitbildern in den historischen Phasen der deutschen Diktaturen und Demokratien kommt der tradierte Einfluss unterschiedlicher Weltanschauungen, Theorien, Pädagogiken und Konzepte hinzu: Diakonie oder Caritas, Fröbel-Pädagogik, Montessori-Pädagogik, Waldorf-Pädagogik, Reggio-Pädagogik, Psychoanalyse und Antiautoritäre Erziehung; curriculare Konzepte wie funktionsorientierter, wissenschaftsorientierter, situationsorientierter, lebensweltorientierter Ansatz oder der neue Bildungsansatz; gesellschaftliche Visionen oder Bedarfe wie Inklusion, Geschlechtergerechtigkeit, Interkulturalität; Organisationsformen wie Altersmischung, offenes Konzept oder Sozialraumorientierung u. v. m. (Aden-Grossmann, 2011; Berger, 2016). Viele dieser Ideenlehren und Leitkonzepte entstanden aus der Berufspraxis heraus, heute geraten sie aber mehr oder weniger offensichtlich in Top-down-Prozessen in die Kindertagesstätte, werden über Träger implementiert oder über Forschungsprogramme direkt in die Kindertagesstätten transferiert, wo nicht selten eine eigene Gemengelage entsteht.

Wenn es um Einflussfaktoren auf die Ausgestaltung der Kindertagesbetreuung geht, dann zeigt der Blick in die Professionsgeschichte, dass Kindertagesstätten nicht nur pädagogische Bedeutung haben. Sie erfüllen verschiedene gesellschaftliche Funktionen, wobei sich neben bildungspolitischen Motiven auch sozial- und wirtschaftspolitische Anreize identifizieren lassen. Besonders offensichtlich in den Anfängen der Kindertagesbetreuung, im Grunde aber bis heute, geht es nicht selten vorrangig darum, Kinder vor Verwahrlosung, Vernachlässigung oder struktureller Benachteiligung zu schützen und damit überhaupt erst Bildungschancen zu eröffnen (Roth, 2021). Oder es dominieren wirtschaftspolitische Motive, wenn es darum geht, Frauen als Arbeitskräfte zu sichern. Dazu dienten z. B. während der beiden Weltkriege Kriegskindergärten oder Erntekindergärten, in der ehemaligen DDR eine ausgebaute Kindertagesbetreuung. Wirtschaftspolitische Motive sind in der neuen BRD von gleichstellungsorientierten Vorstellungen überlagert, die Frauen eine berufliche Tätigkeit und Karriere ermöglichen sollen, wobei Gleichstellung im Beruf bedauerlicherweise noch nicht mit einer Gleichstellung von Männern in der Familienarbeit einhergeht.

Vor allem der quantitative Ausbau in den letzten 20 Jahren verfolgte eben diese sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele. Während die bereits recht hohe Betreuungsquote bei Kindern zwischen drei und sechs Jahren sich im Vergleich zwischen 2006 und 2021 wenig erhöhte (von 87 auf 92 Prozent), stieg die Betreuung von Kindern unter drei Jahren von 14 auf 34 Prozent und die der Grundschulkinder besonders auffällig von 18 auf 54 Prozent – bei insgesamt deutlich höheren Betreuungsbedarfen seitens der Eltern. Bei dieser Entwicklung eilte die Gesetzgebung den Möglichkeiten der Umsetzung voraus: Seit 1996 besteht ein Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertagesstätte im Alter zwischen drei und sechs Jahren, seit 2013 auf Kindertagesbetreuung nach dem ersten Lebensjahr und ab 2025 auf Ganztagsbetreuung in immer höheren Klassenstufen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2022).

Pädagogik in der Kindertagesstätte, ihre Programmatik und dominierenden Leitkonzepte existieren natürlich nicht an sich, sondern sie werden von Professionellen umgesetzt. Besonders angesprochen sind hierbei die Berufsgruppe der Erzieher:innen, die nach einer Fachschulqualifikation und Breitbandausbildung zu zwei Dritteln in die Kindertagesstätte wechseln, und die neue Berufsgruppe der Kindheitspädagog:innen mit einer Hochschulqualifikation. Bei einer Pluralität der Ausbildungsformate für beide Berufe, bei zunehmender Diversifizierung des pädagogischen Personals unter dem Begriff ›Multiprofessionelle Teams‹, scheint die Fokussierung der Ausführungen auf zwei Berufsgruppen nicht mehr angemessen, gleichzeitig wurde die mit dem Paradigmenwechsel verbundene Debatte zur Berufsqualifikation des Personals vorrangig an diesen beiden Berufen ausgetragen.

Eine zweite Debatte zur Berufsqualifikation soll bereits an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, weil sie gleichermaßen eng mit einer neuen Kindheitspädagogik verknüpft ist. Mit dem Einbezug der betreuungsintensiven Unterdreijährigen sowie der pädagogischen Unterstützung in Ganztagsschulen und Horten ist ein immenser Personalmangel entstanden, wobei bis zu 100.000 Fachkräfte fehlen sollen, bei Einhaltung eines optimalen Personalschlüssels bis zu knapp 400.000 (Bertelsmann Stiftung, 2022). Verschiedene Professionalisierungsmaßnahmen, die unter dem Ausbildungsniveau der bisherigen Fachschulqualifikation zur Erzieher:in verbleiben, lösen das Personalproblem bislang noch nicht. Der Personalnotstand in den Einrichtungen macht mittlerweile sogar die Mithilfe von Eltern erforderlich, will die Kindertagesstätte nicht stunden- oder tageweise schließen, ein Betreuungsproblem in den Familien hervorrufen und die Berufstätigkeit von Eltern behindern (Hinrichs, 2023). Die Erkenntnis, dass einer neuen Kindheitspädagogik schlichtweg das Personal fehlt, soll die inhaltliche Debatte, um die es in diesem Buch gehen soll, nicht verkürzen, relativiert sie allerdings erheblich.

Pädagogik in der Kindertagesstätte wird von Professionellen umgesetzt, die eine Ausbildung an Fachschule oder Hochschule erlangen. In diesem Sinne ist die Entwicklung der Berufspraxis eng mit der Entwicklung der Ausbildungspraxis verwoben, was in dieser Publikation besonders herausgestellt werden soll. So wurde 2002 mit einer neuen Rahmenvereinbarung eine große Fachschulreform initiiert. Die wichtigsten Änderungen betrafen die Anhebung der Eingangsvoraussetzungen für die Erzieher:innenausbildung und die Abkehr von einem an wissenschaftlichen Fächern ausgerichteten Lehrplan hin zu einem anwendungsbezogenen und kompetenzorientierten Unterricht in Lernbereichen. Den Zugang zur weiterhin zweijährigen theoretischen Fachschulausbildung mit einem praktischen Ausbildungsjahr erlangt man bei einem mittleren Bildungsabschluss erst nach einer einschlägigen, in der Regel zweijährigen vorherigen Berufsausbildung, z. B. als Kinderpfleger:in oder als Sozialassistent:in (Kultusministerkonferenz, 2021).

Seit 2004 ist es zudem möglich, ein Studium in Früh- oder Kindheitspädagogik (meist) an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften zu absolvieren. Diese Entwicklung fiel mit der Umsetzung der Bologna-Reform zusammen. Weil an Fachschulen keine Forschung stattfand, Innovationen also nicht von den Ausbildungsstätten kamen, erfolgte eine frühpädagogische Konzeptbildung seit den 1970er Jahren an außeruniversitären Forschungsinstituten, allen voran das Deutsche Jugendinstitut und das Staatsinstitut für Frühpädagogik, die bis heute Berufspraxis beeinflussen und Berufspolitik mitbestimmen (Liegle, 2006; Fried & Roux, 2013). Mit dem Aufbau kindheitspädagogischer Studiengänge, die Ausbildung und Forschung (bei strukturellen Nachteilen der Hochschulen im Vergleich zu den Universitäten) verbinden, ändert sich diese Situation erst langsam. Aufgrund verschiedener Ausbildungsstränge an Fachschule, Hochschule und Universität sowie der unterschiedlichen Ausbildungstraditionen in Ost und West verkomplizieren sich die Bezüge zwischen Forschung, Ausbildung und Berufstätigkeit sowie Berufsgeschichte.

Der Blick auf die dominanten Leitkonzepte einer neuen Kindheitspädagogik in dieser Publikation ist durch verschiedene Perspektiven geprägt. Durch meine Berufstätigkeit als Fach- und Hochschullehrerin konnte ich in den letzten dreißig Jahren die Veränderungen von Berufs- und Ausbildungspraxis selbst beobachten. In Unterricht und Lehre kam es zu zahllosen – im Ausbildungskontext immer sehr unverstellten – Gesprächen mit Fachschüler:innen und Studierenden oder Kolleg:innen. Durch die Lernortkooperation an Fachschulen konnte ich als Lehrkraft mittlerweile Hunderte von Einrichtungen besuchen und mit Anleiter:innen oder Kita-Leitungen sprechen. Besonders in den letzten zehn Jahren setzte sich dabei nachhaltig der Eindruck fest, dass die neue Kita-Programmatik nicht nur die Ausbildungscommunity, sondern auch die Berufstätigen spaltet. Neben dem Anliegen, als Forscherin und als Ausbilderin einen Beitrag zur gebotenen wissenschaftlichen Reflexion im Berufsfeld der Kindheitspädagogik zu leisten, machten die vielen kritischen Stimmen aus der Berufspraxis einen Großteil der Motivation aus, diese Publikation zu erarbeiten. Um die Perspektive aus Ausbildung und Berufspraxis in eine wissenschaftliche Schrift einzubringen, leiten konkrete Beobachtungen oder Erfahrungen die inhaltlichen Kapitel jeweils ein. Wissenschaftlich qualifiziert in Psychologie und empirischen Bildungswissenschaften sind mir nachweisbare Fakten bei der Einschätzung kindorientierten beruflichen Handelns besonders wichtig. In den letzten zehn Jahren konnte ich selbst eigene Studien zu überfachlichem Lernen in Ausbildung und Studium durchführen, deren Ergebnisse für die Professionalisierungsdebatte in der Kindertagesstätte nützlich sind, sodass sie in einigen Kapiteln einfließen. Ein geisteswissenschaftlich geprägter Diskurs der pädagogischen Leitbegriffe ist mir aufgrund meiner fachlichen Ausrichtung weniger vertraut, weshalb hierfür auf andere Publikationen verwiesen werden muss.

Bei einer jungen Disziplin, einer heterogenen Ausbildungssituation und multiprofessionellen Teams in den Kindertagesstätten, verbunden mit dem Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit trotz Frauendominanz, kann es zu sprachlichen Verkomplizierungen kommen, die in dieser Publikation durch folgende Regelungen reduziert werden sollen: ›Kindertagesstätte‹ bezeichnet als Überbegriff Krippe und Kindergarten, den Bereich der Unterdreijährigen (U3) und der Überdreijährigen (Ü3), wenn differenzierende Beschreibungen nicht nötig sind. Die einschlägig qualifizierten Berufstätigen werden meist als ›pädagogische Fachkräfte‹ oder als ›Professionelle‹ bezeichnet, es sei denn, die einzelnen Berufsgruppen treten hervor. Im Ausbildungskontext meint ›Studierende‹ gleichermaßen Fachschul- und Hochschulqualifizierte, es sei denn, ihr Vergleich erfordert andere Benennungen, bevorzugt wird es dann die Unterscheidung in ›Fachschüler:innen‹ und ›Hochschüler:innen‹ sein. Mit ›Kindheitspädagogik‹ ist nicht nur die neue Disziplin, sondern auch die Berufstätigkeit in der Kindertagesstätte gemeint. Die Forschung an Hochschulen und Universitäten mit kindheitspädagogischen Studiengängen, ebenso wie die wissenschaftliche Expertise aus Erziehungswissenschaften, Bildungswissenschaften, Psychologie, Soziologie sowie die aus Forschungsinstituten oder Stiftungen können unter ›Kindheitswissenschaften‹ zusammengefasst werden. Insgesamt erscheint die folgende Variante einer gendersensiblen Sprache für die vorliegende Publikation sinnvoll: Der Gender-Doppelpunkt erleichtert die Lesbarkeit, alle Geschlechter sind mitgemeint. Angesichts der großen Mehrheit an Frauen wird die Grammatik am weiblichen Genus ausgerichtet.

In den folgenden Kapiteln werden acht Leitkonzepte der gegenwärtigen Kindheitspädagogik dargestellt, denen Bedeutung für die Verbesserung des Berufs, der Bildung von Kindern und der Chancengerechtigkeit zugesprochen wurde. Ausgehend vom Diskurs über die Kita-Qualität (▸ Kap. 2) geht es um die Akademisierung des Personals (▸ Kap. 3), die neue Fokussierung auf die professionelle Haltung (▸ Kap. 4), Kompetenzorientierung (▸ Kap. 5) und Selbstbildung (▸ Kap. 6) als veränderte Zugänge zum Lernen, um die damit assoziierte Stärkenorientierung (▸ Kap. 7), um Partizipation (▸ Kap. 8) und Diversity (▸ Kap. 9).

Schon mit der Wahl des Buchtitels und der Kapitelüberschriften soll einer einseitigen Sicht auf Vorteile und Chancen der Leitkonzepte, die den professionellen Diskurs dominiert, ein Gegengewicht gesetzt werden. Dazu werden die acht Leitkonzepte direkt mit den wahrgenommenen Ambivalenzen eingeführt und in akzentuierten Begriffen kontrastiert. Die Beschreibung der Leitkonzepte, die Darstellung der einschlägigen empirischen Ergebnisse oder erkennbaren Widersprüche zwischen Konzept und Umsetzung in den einzelnen Kapiteln bildet die Grundlage, um dann die Perspektive des Buchtitels aufzunehmen und Chancen, Risiken sowie Irrwege der neuen Kindheitspädagogik herauszuarbeiten.

Da Berufspraxis und Berufsausbildung miteinander verwoben sind, wird in allen Kapiteln versucht, beide Perspektiven aufzunehmen, wobei je nach Leitbegriff die Ausführlichkeit der Darstellung variieren kann. So sind beispielsweise die Kapitel zu Akademisierung, Haltung oder Kompetenzorientierung stärker mit Blick auf Fachschule und Hochschule verfasst, die weiteren Kapitel zu einem veränderten Verständnis von Bildung stärker im Hinblick auf die Kindertagesstätte, weil hier der Paradigmenwechsel deutlicher hervortritt als in der Ausbildung.

Die acht inhaltlichen Kapitel folgen einer bestimmten Logik, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden, weshalb kurze historische oder gesellschaftliche Bezüge in jedem Kapitel hergestellt werden. Aufgrund des umrissenen Formats der vorliegenden Publikation kann es nicht das Ziel sein, den Forschungsstand zu den einzelnen Leitkonzepten detailliert darzustellen, wohl aber die jeweilige Perspektive auf die Kindheitspädagogik so zu entfalten, dass eine Scharfstellung in Bezug auf Chancen, besonders aber auf Risiken und Irrtümer nachvollziehbar wird.

2 Kita-Qualität – Gütemaßstab oder Worthülse?

Bei einem neuen Thema in Unterricht und Lehre ist es hilfreich, Studierende nach ihrem Vorwissen zu fragen, so auch in Seminaren zur Kita-Qualität. Typisch sind die folgenden Antworten aus einer aktuellen Abfrage bei Studierenden, die an einem digitalen Campus sogar aus dem gesamten Bundesgebiet zusammenkommen und bereits mehr als eineinhalb Jahre in einer Kindertagesstätte tätig sind, weil sie dual studieren: »Noch nie davon in der Einrichtung gehört.« – »In unserer Einrichtung gab es das Thema bislang noch nicht.« – »Sehr geringes Vorwissen. Wir haben kein öffentlich zugängliches Dokument zu unserem Qualitätsmanagement, lediglich einige Regeln und Abläufe, an die wir uns halten sollen.« Antworten dieser Art fallen bei mehr als der Hälfte der Studierenden. Manche kommen an ihrer Arbeitsstelle mit Qualitätsthemen per Zufall in Berührung, ohne dabei aber ihre Beobachtungen einordnen zu können, weil sie nicht eingeführt wurden: »Wir überarbeiten gerade unser Qualitätshandbuch, ich kannte es bisher aber nicht.« – »An unserem Konzeptionstag haben wir über die Indikatoren gesprochen und ob wir die alle bei uns einhalten.« – »Ich habe davon auch noch nichts mitbekommen, außer, dass meine Chefin sich mal auf so einen Qualitätscheck in der Kita vorbereitet hat. Am nächsten Tag kamen dann welche vom Management und haben sich die Kita angeschaut und geprüft, wie alles läuft.« Selten hört es sich informiert an wie in der folgenden Äußerung: »Wir wurden frisch BETA-zertifiziert, von daher ist das Qualitätsmanagement in der Kita selbst bekannt.« In den vielen Jahren hat erst eine Studierende geantwortet: »An meinem ersten Arbeitstag hat mir die Leiterin das Qualitätshandbuch in die Hand gedrückt und gesagt, das solle ich mir durchlesen.«

Im folgenden Kapitel soll es um das Bestreben in Wissenschaft und Berufspraxis gehen, unter Nutzung des Begriffs ›Qualität‹ die Güte der Kindertagesbetreuung verbessern zu wollen.

Kontexte und Begriffe

In den 1990er Jahren entwickelte sich im sozialen Bereich, der bis dato nach wohlfahrtsorientierten Vorstellungen konzeptualisiert wurde, eine Orientierung an wirtschaftlichen Kriterien (Wendt, 2017). Mit dem Ziel einer organisationsbezogenen Effizienz- und Effektivitätsorientierung erreichten vor ca. 20 Jahren Strategien des Sozialmanagements die Kindertagesstätte. Schrittmacher eines wissenschaftsfundierten Qualitätsdiskurses waren die Forschungsarbeiten zur Kleinkindpädagogik um den Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tietze. Ende der 1990er Jahre erzielten die Ergebnisse einer nur mittleren Qualität der Kindertagesbetreuung in Deutschland große Aufmerksamkeit (Tietze, 1998), die, weiter forciert durch die besorgniserregenden PISA-Ergebnisse, zu einer Bildungswelle mit Fokus auf Kindergarten und Krippe führte. In Kenntnis historischer Bezüge sei mit Berth (2015) herausgestellt, dass sich deutliche Parallelen zur ersten Bildungswelle in den 1970er Jahren auftun: Begründung mit einer Schulbildungsmisere, Fokus auf die Verbesserung der Kindertagesbetreuung und Konzeptualisierung des Kindergartens als Bildungsstätte, verbunden mit der Hoffnung, Bildungsdefizite von Grund auf beheben zu können. Allerdings sind einige Implikationen in den 2000ern anders als in den 1970ern: das Verständnis von Bildung, die Ausweitung auf sehr kleine Kinder und nicht zuletzt der hier interessierende Rekurs auf den Qualitätsbegriff.

Qualität kann als neutrale Beschreibungskategorie im Sinne einer »Gesamtheit von Eigenschaften eines Produktes oder einer Dienstleistung«, aber auch normativ in Bezug auf die »Erfüllung festgelegter Erfordernisse oder Ziele« (Soellner, 2022, o. S.) verstanden werden. Auf den Mediziner Avedis Donabedian geht die Unterscheidung in Struktur-‍, Prozess- und Ergebnisqualität zurück, die bereits in den 1960ern zur Bewertung medizinischer Leistungen eingeführt wurde (Donebedian, 2002). Der Aspekt Strukturqualität meint organisatorische, personelle und räumliche Rahmenbedingungen. Übertragen auf die Kindertagesstätte sind damit vielfältige Merkmale der Einrichtung gemeint: ihre Größe, die gewählte Gruppenstruktur und Altersmischung, das Vorliegen einer Konzeption, der Personalschlüssel und die Fachkraft-Kind-Relation, das Qualifizierungsniveau der Professionellen, die Lage der Einrichtung oder das Raumangebot bzw. verfügbares Beschäftigungsmaterial im Innen- und Außenbereich. Der Aspekt Prozessqualität bewertet dagegen die Güte der tatsächlich durchgeführten Aktivitäten oder Interaktionen, die sich zwischen Fachkraft und Kind abspielen oder von der Fachkraft für Kinder initiiert werden, adressieren also das einzelne Kind oder die Gruppe. Dabei kann es sich um allgemeine pädagogische Handlungen wie Essenssituationen oder Eingewöhnung, gleichermaßen aber auch um bildungsbereichsspezifische Aktivitäten wie z. B. Sprachbildung, Gesundheit oder Sozialkompetenz handeln. Prozessqualität bezieht sich meist auf das Kerngeschäft in der Kindertagesstätte, auf die pädagogische Arbeit mit Kindern, meint aber auch elternbezogene, teambezogene und Kooperationen betreffende Arbeitsprozesse, die letztendlich auf indirektem Wege der Förderung des Kindes zugutekommen. Der dritte Aspekt Ergebnisqualität fokussiert den erreichten und messbaren Outcome der institutionellen Kindertagesbetreuung, mit einem Konsens von am Kindeswohl orientierten Kriterien wie körperliche und psychische Gesundheit, eine altersgemäße Entwicklung sowie Lernkompetenzen im Übergang zur Bildung in der Schule, auch die Erwartung positiver Effekte auf Familien und eines gesellschaftlichen Nutzens werden artikuliert.

Im Rahmen der erwähnten Studien zur Kita-Qualität wurden weitere Qualitätsdimensionen eingeführt. Mit Orientierungsqualität werden Einstellungen, Ziele und Werte bezeichnet, die einrichtungsübergreifend über Kita-Bildungspläne transportiert werden oder für eine Einrichtung tragend sind, die in einem möglichen Leitbild verfasst werden und sich im pädagogischen Selbstverständnis und den Fördereinstellungen der pädagogischen Fachkräfte äußern. Mit Kontextqualität werden die externen Unterstützungssysteme über Fachberatung oder Fortbildung berücksichtigt (Tietze u. a., 2013; Viernickel, 2022b). Teamqualität beschreibt die Zufriedenheit mit den kollegialen Beziehungen und der Arbeitssituation (Becker-Stoll u. a., 2020). Wie schon bei Donebedian werden auch in der einschlägigen Kita-Forschung Struktur- und Orientierungsqualität sowie die verschiedentlich zwischengeschalteten anderen Qualitätsdimensionen als Bedingungen für Prozessqualität und diese wiederum als Bedingung für Ergebnisqualität angesehen.

Qualitätssicherung in der Kindertagesstätte

Schaut man auf die Berufspraxis in den Kindertagesstätten, dann haben sich Konzeptionsentwicklung und Qualitätsmanagement in den letzten 20 Jahren offiziell durchgesetzt und vielfältig ausgestaltet. Kita-Konzeptionen als Beschreibungen des Selbstverständnisses der einzelnen Einrichtung, der Handlungsmodelle, Programme und Vorhaben sind mittlerweile per Gesetzgebung vorgeschrieben und durch umfangreiche Bildungspläne in den Bundesländern inhaltlich vorstrukturiert. Ein Kita-Qualitätsmanagement sichert die Abstimmung der Qualifikationsziele einer Einrichtung mit den tatsächlichen Leistungen unter Einbezug von Prüfkriterien, die intern oder auch extern evaluiert werden. Mittlerweile wurden zahlreiche Zertifizierungsverfahren mit Qualifizierungsmaßnahmen für Auditor:innen etabliert, die entweder die Kindertagesstätte als Organisation betreffen (u. a. Das deutsche Kindergartensiegel von Pädquis, Evangelisches Gütesiegel BETA, Qualitätssiegel einzelner katholischer Bistümer, z. B. TRIQM) oder einzelne Entwicklungs- und Bildungsbereiche (u. a. Sprach-Kita, Bewegungskita, Ernährungskita), was dann wiederum der Außendarstellung von Kita-Förderschwerpunkten dient. Eine betriebswirtschaftlich ausgerichtete Organisationsentwicklung (z. B. Corporate Identity oder Design) sowie Marketing- und Fundraising-Strategien, die ebenfalls typisch für den Einzug von Sozialmanagement in die Kindertagesstätte sind, werden zunehmend umgesetzt (seit Längerem: Gestaltung der Homepage, seit Kurzem: einheitliche Kleidungsstücke der pädagogischen Fachkräfte, z. B. bei repräsentativen Terminen).

Sowohl in der wissenschaftlichen Erforschung als auch in der Umsetzung des Qualitätsmanagements in der Kindertagesstätte lassen sich Top-down- und Bottom-up-Prozesse unterscheiden. Besonders der Versuch, einen Nationalen Kriterienkatalog mit 20 Qualitätsbereichen zu etablieren, drückt das Bemühen aus, Qualitätsentwicklung normativ auszurichten (Tietze & Viernickel, 2016). Bei diesem als ›struktural-prozessural‹ bezeichneten Qualitätsmodell werden der gesetzliche Auftrag, politische Interessen und eine Expertise über Wohlbefinden, Entwicklungs- und Lernförderung von Kindern gleichermaßen zur Standardisierung der pädagogischen Praxis berücksichtigt und über Best-Practice-Einrichtungen verbreitet.

Im Gegensatz dazu betonen ›relationale‹ Qualitätsmodelle die Rekonstruktion bestehender pädagogischer Prozesse zur Qualitätsbestimmung, ›relativistische‹ wiederum die Aushandlungsprozesse in der Einrichtung zwischen allen Akteur:innen (Schelle & Friederich, 2020; Viernickel, 2022b). Ein Beispiel für Bottom-up-Prozesse in der Qualitätsbestimmung einer Kindertagesstätte stellen die Arbeiten von Peter Erath (2001) dar. Ein »einrichtungsspezifisches Qualitätsversprechen« (Erath u. a., 2005, S. 165) gelingt bei kollegialer Verständigung auf ein gemeinsames Leitbild, das dann eine hohe Orientierungsqualität entwickeln kann, sowie bei kollegialer Erarbeitung von pädagogischen Standards durch die Mitarbeitenden selbst. Aus dem wohlgemeinten Einbezug des gesamten Teams können in der Umsetzung dann dennoch Top-down-Prozesse resultieren, wie aus der Praxis häufig berichtet wird, wenn (isolierte) Qualitätszirkel, die Leitung, Fachberatung oder Trägervertreter:innen ohne Kontakt zum Team die gesetzlichen Auflagen der Qualitätssicherung erledigen. Besonders in Bezug auf die Entwicklung eines Leitbildes werden reine Top-down-Prozesse als kritisch beurteilt (Klaußner, 2016; Kühl, 2017).