Die Nordsee-Krimi-Reihe mit Theo Krumme: Deichmörder / Lügengrab / Küstenfluch - Hendrik Berg - E-Book

Die Nordsee-Krimi-Reihe mit Theo Krumme: Deichmörder / Lügengrab / Küstenfluch E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

Spannend und voller Nordsee-Atmosphäre: die ersten drei Fälle für Kommissar Theo Krumme.

»Deichmörder«: Kommissar Krummes erster Fall: Die junge Eva flüchtet mit ihrem Mann aus Berlin nach Nordfriesland. Hier, in einem kleinen Haus am Deich, will sie den Erinnerungen an die Bedrohung durch einen Psychopathen entkommen, der ihr monatelang nachgestellt hat – dem die Polizei jedoch nie etwas nachweisen konnte. Anfangs scheint das Paar in der Idylle Nordfrieslands seinen Frieden gefunden zu haben. Doch bald fühlt sich Eva erneut verfolgt und bedroht – und diesmal von weit mehr als nur der eigenen Vergangenheit ...

»Lügengrab«: Nach einem anstrengenden Fall sucht Kommissar Krumme auf der Hallig Hooge Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Auf der Fähre lernt er Swantje kennen, die auf der Hallig aufgewachsen ist. Vor drei Jahren verschwand ihr Verlobter auf rätselhafte Weise – einen Tag vor der Hochzeit! Anders als ihre Freunde glaubt Swantje an ein Verbrechen. Nun kehrt sie zurück und will die Wahrheit über ihre große Liebe herausfinden. Krumme versucht zu helfen. Doch schon bald gerät er selbst in Lebensgefahr und entdeckt während einer dramatischen Sturmflut ein schreckliches Geheimnis. Denn auf dem kleinen Eiland lauert das Böse ...

»Küstenfluch«: Als ein Orkan über Nordfriesland hinwegfegt, taucht ein Schiffswrack im Wattenmeer auf – und plötzlich häufen sich mysteriöse Todesfälle an der Küste. Der Bauer Jessen ist eines der Opfer. Doch war sein Tod ein Unfall oder Mord? Und was hat es mit Jessens kleinem Neffen Jan auf sich, der von furchtbaren Albträumen heimgesucht wird? Kommissar Theo Krumme ermittelt und stößt auf Ungereimtheiten in der Familie. Dann verschwindet Jan, der sich von dem Schiffswrack magisch angezogen fühlte. Seine Spur führt direkt ins Watt ...

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Über dieses Buch

Deichmörder

Kommissar Krummes erster Fall: Die junge Eva flüchtet mit ihrem Mann aus Berlin nach Nordfriesland. Hier, in einem kleinen Haus am Deich, will sie den Erinnerungen an die Bedrohung durch einen Psychopathen entkommen, der ihr monatelang nachgestellt hat – dem die Polizei jedoch nie etwas nachweisen konnte. Anfangs scheint das Paar in der Idylle Nordfrieslands seinen Frieden gefunden zu haben. Doch bald fühlt sich Eva erneut verfolgt und bedroht – und diesmal von weit mehr als nur der eigenen Vergangenheit ...

Lügengrab

Nach einem anstrengenden Fall sucht Kommissar Krumme auf der Hallig Hooge Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Auf der Fähre lernt er Swantje kennen, die auf der Hallig aufgewachsen ist. Vor drei Jahren verschwand ihr Verlobter auf rätselhafte Weise – einen Tag vor der Hochzeit! Anders als ihre Freunde glaubt Swantje an ein Verbrechen. Nun kehrt sie zurück und will die Wahrheit über ihre große Liebe herausfinden. Krumme versucht zu helfen. Doch schon bald gerät er selbst in Lebensgefahr und entdeckt während einer dramatischen Sturmflut ein schreckliches Geheimnis. Denn auf dem kleinen Eiland lauert das Böse ...

Küstenfluch

Als ein Orkan über Nordfriesland hinwegfegt, taucht ein Schiffswrack im Wattenmeer auf – und plötzlich häufen sich mysteriöse Todesfälle an der Küste. Der Bauer Jessen ist eines der Opfer. Doch war sein Tod ein Unfall oder Mord? Und was hat es mit Jessens kleinem Neffen Jan auf sich, der von furchtbaren Albträumen heimgesucht wird? Kommissar Theo Krumme ermittelt und stößt auf Ungereimtheiten in der Familie. Dann verschwindet Jan, der sich von dem Schiffswrack magisch angezogen fühlte. Seine Spur führt direkt ins Watt ...

Autor

Hendrik Berg wurde 1964 in Hamburg geboren. Nach einem Studium der Geschichte in Hamburg und Madrid arbeitete er zunächst als Journalist und Werbetexter. Seit 1996 verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Köln. Mehr unter: www.hendrik-berg.de

Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Deichmörder - Lügengrab - Küstenfluch

Deichmörder

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Küstenfluch

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Hendrik Berg

DeichmörderLügengrabKüstenfluch

Drei Nordsee-Krimis mit Kommissar Theo Krumme

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deichmörder: Copyright © 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Lügengrab: Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Küstenfluch: Copyright © 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München Covermotive: Deichmörder: Getty Images/Look/Hauke Dressler Lügengrab: Getty Images/Manuel Gutjahr; huber-images.de/Mehlig; plainpicture/David Carreno Hansen

HENDRIK BERG

Deichmörder

Ein Nordsee-Krimi

When the flood calls

You have no home, you have no walls

In the thunder crash

You’re a thousand minds, within a flash

Don’t be afraid to cry at what you see

The actors gone, there’s only you and me

And if we break before the dawn, they’ll

use up what we used to be.

(Peter Gabriel, Here comes the flood)

1

Früher

»Und wenn der Tag der Verdammnis kommt – und er wird bald kommen, da könnt ihr gewiss sein, ihr nichtswürdigen Schafe – dann solltet ihr euch alle fragen, ob ihr dem Herrn allzeit wohlgetan habt! Denn mit Seinem göttlichen Hammer wird Er die strafen, die in Seinem Angesicht gesündigt haben. Er wird sie mit Seiner nassen Hand zerschmettern und in die tiefsten Abgründe der Hölle schicken, auf dass sie ihr sündhaftes Leben bis in alle Ewigkeiten, bis ans Ende aller Zeiten bereuen! Hört ihr den Sturm, hört ihr Ihn?! Jawohl, das ist Er, der Einzige und Ewige! Er ruft euch! Und nur die, die ein Leben in Keuschheit und Demut vor Ihm gelebt haben, können Seinen Erzengeln entfliehen! Nur die, die Seinen Namen und den Seines Sohnes gepriesen, die ihr Leben nach Seinen strengen, aber gerechten Regeln gelebt haben, können auf Seine Gnade hoffen! Alle anderen wird das Meer in einer gewaltigen Woge hinwegspülen und auf den dunklen, kalten Grund der See hinabziehen! Also, tut Buße, ihr alle, tut Buße, jetzt!«

Die Balken im Dachstuhl knirschten und krachten. Nervös blickte die junge Frau in der dunklen Sonntagstracht nach oben. Der heftige Sturm, der draußen über der Marsch tobte, ließ die kleine Kirche bis in ihre Grundfesten erzittern. Blitze erleuchteten die Heiligenfiguren im Altar in grellen Farben. Der heilige Bonifatius, der heilige Severin, der heilige Martin, ja, der heilige Gottvater selbst, sie alle schauten streng auf sie und die anderen Männer, Frauen und Kinder herunter, die sich hier zum Gottesdienst versammelt hatten und voller Angst der Predigt lauschten.

Sie mochte Pastor Hermanns Predigten nicht. Wieso nur musste er immer mit fürchterlichen Strafen und der Hölle drohen? War das Leben denn nicht schon hart genug? Warum musste er ihnen solche Angst machen?

Sie betrachtete die anderen Dorfbewohner, die sich an diesem dunklen Tag zur Messe versammelt hatten. Die harte Arbeit auf den Feldern, der tägliche Kampf gegen die Urgewalten, gegen Kälte, Wind und die stürmische See, hatten tiefe Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Sie sah den alten Schroeder, der sein Leben lang Schafe gezüchtet hatte. Wenn er mit seinem langen Stock zwischen seinen Tieren auf dem Feld stand, sah er aus wie eine der schiefen Birken, vom Westwind gebeugt.

Neben ihm saß Bauer Heiner mit seiner Frau Agnetha, die bei der Sturmflut von 1857 nicht nur ihren Hof, sondern auch zwei ihrer Kinder an den Blanken Hans verloren hatten. Agnetha, eine Schwedin, die Heiner auf dem Markt in Schleswig kennengelernt hatte, hatte seitdem kein Wort mehr gesprochen.

Sie blickte zur alten Trine. Ihr ganzes Leben hatte sie nur hinter dem Spinnrad gesessen. Ihre Hände, die sich jetzt angstvoll in das Gesangbuch krallten, waren voller Schwielen und Narben vom scharfen Garn. Ihre vom grauen Star getrübten Augen blickten ergeben zur Kanzel hinauf. Neben der Alten saß ihr Sohn Volker, dessen Augen im Gegensatz zu denen seiner fast blinden Mutter wie blaue Sterne leuchteten. Er war einer der Fischer des Dorfes. Das Salzwasser hatte ihm mittlerweile auch die letzten Haare vom kantigen Schädel gewaschen. Die Hände waren von der Arbeit mit den Netzen gezeichnet und von dicker Hornhaut überzogen. Zwei Finger fehlten; sie waren ihm vor vielen Jahren abgerissen worden, als sein Netz sich in einem Riff verfangen hatte, draußen vor der Tiefen Senke. Die Strafe für sein unzüchtiges Leben, wurde im Dorf gemunkelt. Sie hatte nie herausgefunden, warum, denn Volker lebte immer noch bei seiner Mutter und war fast jeden Tag alleine auf See.

Wieder ließ ein heftiger Donner die Kirche erzittern. Putz rieselte von der hohen Decke, die Kerzen auf dem Altar flackerten. Mehnert, der Bürgermeister, und Goedeke, der alte Schulmeister, blickten sich in der ersten Reihe nachdenklich an. Dahinter sah sie Mütter, die besorgt ihre Kinder an sich drückten, welche mit großen, ängstlichen Augen zu den im Sturm klirrenden Fenstern starrten.

»Und es kam ein anderes Ross daher, feuerrot, und dem, der auf ihm saß, wurde gegeben, den Frieden hinwegzunehmen von der Erde und dass sie einander hinschlachten, und es wurde ihm ein großes Schwert gereicht …«

Ein lauter Knall unterbrach den Pastor und ließ die Gemeinde zusammenfahren. Alle drehten sich erschrocken um: Der Wind hatte die Tür aufgeschlagen. Sofort brauste der Sturm wie ein unheimlicher Gast in die Kirche und blies einen Großteil der Kerzen auf dem Altar aus. Ein paar Kinder schrien erschrocken auf, während die Dorfbewohner zu der offenen, wild hin und her schwingenden Tür blickten, als erwarteten sie, dass Satan persönlich hereintreten und sie alle mit sich in den Abgrund der Hölle ziehen würde.

Aber das tat er nicht. Stattdessen sprangen zwei der Knechte, die auf der letzten Bank saßen, auf und drückten die schwere Holztür mit vereinten Kräften wieder zu. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Gemeinde, während Mehnert den beiden Burschen dankbar zunickte.

Die beiden setzten sich wieder zu ihren Freunden. Sie sah, dass einer der Knechte sie mit einem begehrlichen Grinsen anstarrte. Sie kannte ihn nur zu gut. Sein Name war Hans. Er arbeitete auf dem Mannsen-Hof, stammte aus Hallstedt und lebte erst seit zwei Jahren im Dorf. Vom ersten Tag an hatte er ihr Angst gemacht. Er war fast zwei Köpfe größer als sie. Seine Haare hingen ihm in wirren Strähnen über die breiten Schultern. Wenn er ihr auf diese unverschämte Weise direkt in die Augen blickte, bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut.

Aber er hatte es nicht bei Blicken belassen.

Vor drei Monaten, als sie nach dem Kirchfest alleine nach Hause gegangen war, hatte er ihr aufgelauert und sie brutal gegen eine Scheunenwand gedrängt. Mit seiner Schlangenstimme hatte er behauptet, sie würde ihm ständig freche Blicke zuwerfen. Dann hatte er seine riesigen Pranken auf ihre Brüste gelegt und versucht, sie in die Scheune zu schieben. Nie würde sie seinen Gestank, den Anblick seiner verfaulten Zähne und das böse Funkeln in seinen Augen vergessen. Sie hatte versucht, sich loszureißen, aber er war viel zu stark für sie gewesen. Zum Glück hatte sich in diesem Moment ein Bauer mit seinem Knecht genähert. Gesehen hatten sie nichts, aber es hatte gereicht, dass Hans von ihr abgelassen hatte und weggelaufen war.

Sie hatte sich bei Mehnert über den Knecht beschwert. Doch Hans hatte alles abgestritten, und der Bürgermeister hatte ihm geglaubt. Hans sei ein fleißiger Bursche, hatte Mehnert gesagt. Sein Bauer sei sehr zufrieden mit ihm und habe noch nie einen Grund zur Beschwerde gehabt. Mehr wollte Mehnert zu dem Thema nicht sagen. Sie hatte die leise Verachtung in den Augen des Bürgermeisters gesehen. Seit zwei Jahren wohnte sie jetzt schon hier im Dorf. Aber sie war noch immer eine Außenseiterin. Die meisten unterstellten ihr, etwas Besseres sein zu wollen, nur weil sie aus einer alten Föhrer Kapitänsfamilie stammte. Dummes Zeug, dachte sie und erinnerte sich voller Wehmut an ihre lieben Eltern und ihre Geschwister, an die stolze Insel mitten im Wattenmeer und an das schmucke Häuschen in Wyk, in dem sie aufgewachsen war. Oben vom Deich konnte sie die grüne Insel am Horizont sehen, trotzdem erschien ihr ihre alte Heimat an manchen Tagen unendlich fern. Hier im Dorf fühlte sie sich immer noch fremd. Es würde wohl noch Jahre dauern, bis ihre Nachbarn sie als eine der Ihren sehen würden.

Für einen kurzen Moment traf sich ihr Blick mit dem von Hans. Der Knecht verzog seinen Mund zu einem gierigen Lächeln. Hastig drehte sie sich weg.

Was für ein Widerling! Seit der Sache bei der Scheune ging sie nicht mehr alleine durch den Ort und schloss ihre Haustür doppelt ab. Immerhin, er hatte sie seit damals nicht mehr belästigt und nie wieder angesprochen. Er hatte ihr lüsterne Blicke zugeworfen, aber mehr war zum Glück nicht passiert. Vielleicht hatten Mehnert oder sein Bauer ihm gesagt, dass er sich von ihr fernhalten sollte.

Aber da war noch etwas anderes gewesen.

Vor zwei Wochen war ein junges Mädchen, nicht älter als sechzehn Jahre, das als Magd auf der Jessen-Warft arbeitete, in einen Pflug gestürzt. Ein tragischer Unfall, sagten alle. Aber sie hatte beobachtet, wie Hans ihr vorher auf einem Hochzeitsfest hinterhergesehen hatte, dann aufgestanden und ihr gefolgt war. Zwei Stunden später war das Mädchen tot gewesen.

Sie war wieder zu Mehnert gegangen und hatte ihm erzählt, was sie gesehen hatte. Doch der Bürgermeister hatte sie weggeschickt. Dummes Weibergeschwätz, hatte er geschimpft und sie aufgefordert, mit ihrem Getratsche nicht den Dorffrieden zu stören.

Aber sie wusste, was sie gesehen hatte. Und als Hans ihr später voller Genugtuung einen verächtlichen Blick zuwarf, wusste sie, dass sie recht hatte.

Sie schüttelte sich und versuchte sich auf einen Punkt am Altar zu konzentrieren, während sie seine begehrlichen Blicke in ihrem Rücken spürte. Zwischen den anderen Frauen auf der Bank fühlte sie sich völlig wehrlos. Verzweifelt schloss sie die Augen.

Boye, dachte sie voller Wehmut und Schmerz. Warum hast du mich alleine gelassen?

Instinktiv fasste sie sich ans Kopftuch, unter dem sie als verheiratete Frau eine mit Perlen bestickte Haube trug. Da merkte sie, dass etwas fehlte. Auch wenn sie jetzt auf dem Festland lebte, trug sie sonntags und zu den Feiertagen die Föhringer Tracht. Zu der gehörte normalerweise auch der Knooper, eine mit Silberschmuck verzierte Kette. Mit Rücksicht auf die eher ärmeren Bäuerinnen des Dorfes trug sie dieses Kettengeflecht nur selten, aber auf ein Schmuckstück verzichtete sie nie. Erschrocken tastete sie unter ihrem schwarzen Leinenkleid und befühlte ihren Hals.

Sie hatte die Kette nicht um!

Wie hatte das passieren können? Sie trug die Kette mit dem Medaillon immer, sogar bei der Arbeit im Garten, ja sogar wenn sie schlief!

Nur nicht, wenn sie ein Bad nahm. Ihr fiel ein, dass sie die Kette heute Morgen nach ihrem Bad noch nicht herausgeholt hatte. Dann hatte sie plötzlich die Gänse gehört. Irgendwas, vielleicht ein Fuchs, musste sie erschreckt haben. Sie erinnerte sich, dass sie hinaus in den Garten gegangen war, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei hatte sie die Kette komplett vergessen.

Ein warmes Gefühl der Scham durchströmte ihren Körper. Sie fühlte eine tiefe, bohrende Schuld. Das würde sie sich niemals verzeihen! Alles hätte sie auf dem Gang zur Messe vergessen dürfen, aber doch nicht seine Kette, das Medaillon mit seinem Bild.

War das ein erstes Zeichen dafür, dass sie Boye langsam vergaß? Dass er keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte? Keinen Platz mehr in ihrem Herzen hatte?

Nein, dachte sie und stöhnte leise. Niemals, Boye war in ihren Gedanken immer bei ihr, und er würde es auch immer bleiben.

Unsicher blickte sie zu den anderen Mädchen und Frauen, die neben ihr auf der Bank saßen. Ob eine ihre Schuld bemerkt hatte? Für eine Hure würden sie sie halten, wenn sie von ihrem Fehler wüssten.

Aber keine achtete auf ihre Seelenpein. Alle waren mit ihren eigenen Gefühlen und Ängsten beschäftigt und lauschten ängstlich dem Sturm, der immer heftiger um die Kirche donnerte. Das ungeduldige Scharren in den engen Bankreihen wurde immer lauter. In den Gesichtern der Männer und Frauen konnte sie den deutlichen Wunsch erkennen, dass Pastor Hermann mit seiner Predigt bald zum Ende kommen möge. Alle hatten den Wunsch, nach Hause zu ihren Häusern und Höfen zu gehen und nach dem Rechten zu sehen.

Wieder blickte sie besorgt nach oben zum leise stöhnenden Gebälk. Mittlerweile schien es, als wenn der Orkan, der draußen über dem Meer und über der Marsch tobte, jeden Augenblick den kompletten Dachstuhl davontragen könnte.

Der Pastor bemerkte die Angst seiner Schäfchen. Aber noch wollte er sie nicht ziehen lassen. Im Gegenteil, endlich war er sich ihrer uneingeschränkten Aufmerksamkeit sicher. Mit seinen dicken Händen hielt er sich an seiner Kanzel fest und beugte sich nach unten zu seiner Gemeinde:

»Dieser Sturm, er ist eine Prüfung, eine Strafe und eine Chance zugleich. Der Herr, der über uns allen oben im Himmel wacht, er schickt euch Seine Flut, um euch zu reinigen, um euch den Schmutz abzuwaschen, den Gestank von Unzucht, Missgunst und Völlerei …«

In diesem Augenblick wurde die Kirchentür wieder aufgestoßen. Wieder schoss eine Windböe in den Innenraum und brachte die noch brennenden Altarkerzen zum Tanzen. Der Regen peitschte herein, und durch die offene Tür konnte sie sehen, dass der Himmel mitten am Tag pechschwarz geworden war.

Doch dieses Mal war es nicht der Wind gewesen, der die Tür aufgestoßen hatte. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Gemeinde, als sie die dunkle Gestalt in dem langen Mantel im Eingang sah.

Dann schob der Mann die Kapuze zurück und zeigte den Dorfbewohnern sein von Schweiß und Regen tropfendes Gesicht.

Die junge Frau kannte den Mann. Es handelte sich um Gustav, den Großknecht des Deichgrafen. Er war völlig erschöpft und schien eine lange Strecke gelaufen zu sein. Schwankend hielt er sich am Türrahmen fest, als er seine Botschaft in die Kirche rief:

»Der Deich …«, stöhnte er, und die Stimme versagte ihm für einen Moment, »der Deich bricht!«

2

Eva konnte ihr Glück nicht fassen. Sie waren schon mal hier gewesen. Aber da hatte es in Strömen geregnet, und graue Wolken hatten den Himmel bedeckt. Doch jetzt, an diesem warmen Sommertag, mit dem grenzenlosen Blau über sich und der frischen Brise, fühlte sie sich wie in einem Traum.

Sie standen zusammen vor dem Haus, und alles war voller Licht und sah so unglaublich kuschelig und schön aus, dass es einfach nicht wahr sein konnte.

Ihr neues Zuhause war eine kleine Friesenkate direkt hinterm Deich. Ein über 150 Jahre altes Kunstwerk. Die weiß verputzten Wände leuchteten in der Sonne und bildeten den perfekten Hintergrund für die Rosenbüsche, die in sanften Schwüngen hinauf bis zum Dach rankten. Die vier Fenster der Vorderfront harmonierten perfekt mit der grün-weißen Eingangstür, die sich unter einem gemauerten Torbogen befand. Darüber erhob sich die Giebelluke in der ersten Etage – und das alles unter einem heimeligen Reetdach.

Und erst der Garten! Geschützt von einem moosbewachsenen Wall aus Natursteinen blühten Rosen, Sonnen- und bunte Feldblumen. Der Rasen war grün und frisch gemäht, und neben der kleinen Terrasse bewegte sich eine Kinderschaukel sanft im Wind.

Eva spürte, wie Till nach ihrer Hand griff.

»Und? Gefällt es dir immer noch?«

»Ich liebe es«, seufzte sie und fiel ihrem Mann in den Arm.

Die Vorbesitzer, eine vierköpfige Professorenfamilie, die zurück nach Hamburg gezogen war, hatten nicht nur bei der Renovierung der Außenfassade viel Liebe zur Tradition bewiesen. Hamburger Lehrern sei es zu verdanken, dass die friesische Kultur erhalten worden war, hatte der Makler gesagt. Denn während die Einheimischen froh waren, wenn sie sich neue, moderne Höfe leisten konnten, hätten sich seit Anfang der siebziger Jahre viele Akademiker aus der Hansestadt heruntergekommene Bauernhäuser in Nordfriesland als Wochenendhäuser hergerichtet. Auch bei der Gestaltung der kleinen, verwunschenen Innenräume hatte die Familie aus Hamburg sich bemüht, alles Alte zu bewahren oder mit viel Hingabe wiederherzustellen. Im Wohnzimmer gab es sogar noch einen Alkoven, eine kleine Kammer in der Wand, in der die Bewohner des Hauses früher geschlafen hatten. Die alten Holzdielen waren sorgfältig gesäubert und geschliffen worden. An den Wänden war zum Teil auf Putz und Tapete verzichtet worden, um den Blick auf das alte, jetzt neu verfugte Mauerwerk freizulegen. Und in der Küche hingen noch immer die über hundert Jahre alten weiß-blauen Fliesen mit handgemalten Windmühlen, Segelschiffen und anderen friesischen Motiven.

Hand in Hand und andächtig schweigend gingen Eva und Till durch die noch leeren Räume ihres neuen Zuhauses.

»Wie ein Puppenhaus, findest du nicht?«, meinte Eva.

Till nickte gedankenverloren, während er sich vergewisserte, dass die Handwerker die gewünschten zusätzlichen Steckdosen installiert hatten.

Eva betrachtete ihn nachdenklich und gab ihm dann einen Kuss auf die Wange. »Danke«, sagte sie.

»Wofür?«

»Dass du mit mir hierhergezogen bist. Und dich mit mir auf dieses Abenteuer einlässt.«

Er küsste sie auf den Mund und grinste. »He, wer ist denn hier der Fischkopp? Ich bin hier praktisch zu Hause.«

»Aber du kommst aus Hamburg. Das ist nicht das Gleiche.«

»Hauptsache Nordsee. Mehr brauche ich nicht.«

Bis vor 130 Jahren hatten die Wellen hier direkt auf der anderen Seite des Deichs gegen das Land geschlagen. Immer wieder hatten verheerende Sturmfluten viele Menschen das Leben gekostet. Dann war ein besserer, moderner Deich weiter draußen im Meer gebaut worden. Nach und nach war das Land zwischen dem alten Sommerdeich und dem neuen Seedeich kultiviert und bepflanzt worden. Heute war im nach dem damaligen Deichgrafen benannten Michael-Hansen-Koog nichts mehr vom ehemaligen Meeresgrund zu sehen. Stattdessen weideten dort Schafe und schwarz-weiße Kühe.

Eva sah aus dem Küchenfenster auf die Marschlandschaft, die hinter ihrem Grundstück auf der dem Deich abgewandten Seite begann. Nichts zu sehen von den sonst allgegenwärtigen riesigen Windrädern. Stattdessen breiteten sich vor ihren Augen fruchtbare Felder wie ein endloses, grünes Tuch aus, nur unterbrochen von schmalen Wassergräben. Die nächsten Häuser waren ein gutes Stück entfernt, genau wie die Straße, die in den verträumten Kleebüller Ortskern führte.

Till schaute ihr über die Schulter: »Nicht viel los hier, was?«

»Meinst du, es könnte langweilig werden?«

»Bestimmt nicht. Endlich kann ich in Ruhe arbeiten. Außerdem soll es in Husum sogar ein nettes Café geben, falls wir mal ein bisschen Abwechslung brauchen.« Er zwinkerte zum Zeichen, dass er nur Spaß machte.

»Also machen wir das Richtige?«

Er schwieg einen Moment und sagte dann mit fester Stimme: »In meinem Leben hat sich noch nie was so richtig angefühlt wie das hier.«

Glücklich ließ sie sich von ihm in den Arm nehmen. Ein Neuanfang, das war es. Und sie würde alles dafür tun, dass es ein guter Neuanfang wurde nach all den schlimmen Monaten, die sie hinter sich hatten.

Für einen Moment lauschten sie der Stille, dann küsste Till sie zärtlich in den Nacken.

»Wollen wir uns mal das Schlafzimmer anschauen?«, schnurrte er, als sie ein Hupen von der Straße hörten.

»Der Möbelwagen!« Eva lächelte.

»Glück gehabt!«, knurrte Till, nahm sie an die Hand und ging mit ihr auf den Hof, von dem aus ein schmaler Sandweg zur Kleebüller Dorfstraße führte.

»Klasse Arsch!«

Hauptkommissar Holger Mannsen guckte mit deutlichem Missfallen zu seinem jungen Kollegen, der neben ihm am Steuer saß und mit einem Fernglas zu dem kleinen Haus am Deich hinübersah. Sie hatten ihren Passat ein Stück entfernt im Schatten einer Eiche geparkt. Bis jetzt hatte das junge Ehepaar nicht ein Mal zu ihnen herübergeschaut.

Todde bemerkte den vorwurfsvollen Blick seines Vorgesetzten. »Was denn?«, fragte er unbeeindruckt. »Jetzt tun Sie nicht so, als wenn der Ihnen nicht aufgefallen wäre.«

Mannsen schüttelte nur den Kopf und sah wieder zu dem Friesenhaus am Ende der Straße. Er beobachtete, wie die neuen Besitzer die Möbelpacker begrüßten, die ihren Lkw mit Berliner Kennzeichen direkt vor dem Eingang geparkt hatten, hinter dem schwarzen Porsche-Cabrio, das dem jungen Paar gehörte.

Natürlich war ihm aufgefallen, wie hübsch die junge Frau war. Eine richtige Schönheit. Die langen schwarzen Haare reichten ihr bis zur Hüfte. Und so wie er es von hier aus mit dem Fernglas erkennen konnte, hatte sie ein freundliches, offenes Gesicht mit großen, dunklen Augen. Die engen Jeans brachten ihre sportliche Figur zur Geltung. Er sah, wie auch die Möbelfahrer ihr ganz offen auf den Hintern starrten. Mannsen seufzte. Die junge Frau würde hier in Kleebüll bestimmt für einige Unruhe sorgen. Und er hasste Unruhe.

Jetzt begrüßte der Mann die Möbelpacker mit Handschlag und führte sie ins Haus.

»Wer sind die beiden denn?«, fragte Todde.

Der Kommissar packte eine Salamistulle aus und biss hinein. »Eva und Till Becker. Sie ist Kindergärtnerin und er Werbetexter. Kommen aus Berlin«, sagte er mit vollem Mund.

Todde nickte mit starrer Miene. Er brauchte eine kleine Weile, bis er die Information gespeichert hatte. »Und was ist mit ihnen?«, erkundigte er sich und kratzte sich an der Nase.

Mannsen zögerte und starrte weiter zum Möbelwagen. Wenn er seinem jungen Kollegen alles erzählte, konnte er gleich ein Flugblatt an die Dorfbewohner verteilen. Todde war die größte Plaudertasche an der nordfriesischen Küste.

»Chef?«, hakte Todde noch einmal nach, weil er nicht sicher war, ob Mannsen ihn verstanden hatte. »Warum wollen Sie, dass wir die beiden bespitzeln?«

»Von Bespitzeln war nie die Rede. Ich möchte einfach nur ein Auge auf sie haben.«

»Warum?«

»Ein Gefallen. Ein Kollege aus Berlin hat mich gebeten, ein wenig auf sie … aufzupassen.«

»Aufpassen? Wieso das denn? Was soll ihnen denn ausgerechnet hier passieren?« Todde glotzte ihn mit seinen Kuhaugen weiter verständnislos an. Immerhin, hartnäckig war er, dachte Mannsen spöttisch, vielleicht machte er ja doch noch Karriere bei der Polizei. Er überlegte, wohin er das Butterpapier seiner Stulle stopfen sollte, und entschied sich schließlich für den Spalt zwischen Tür und Sitz. Dann wischte er sich die Hände an der Uniform ab und legte sie anschließend auf seinen mächtigen Bauch.

»Er kennt die beiden eben und will, dass es ihnen hier gut geht.«

Toddes Miene war deutlich anzusehen, dass ihm diese Antwort immer noch nicht reichte. Aber er begriff, dass sein Chef nicht mehr zu dem Thema sagen wollte. Also hielt er seinen Mund, beobachtete das Friesenhaus und kratzte sich dabei wieder an seiner Nase.

Mannsen betrachtete ihn von der Seite. Warum war er nur so dumm gewesen, diesen Trottel in seine Wache aufzunehmen? Natürlich wusste er, warum: weil Toddes Vater Polizeirat in Kiel war. Ohne die »Unterstützung« für seinen Sohn hätte Mannsen die Mittel für die Renovierung der Wache in Bredstedt nie so zügig zugesichert bekommen.

Er wandte sich wieder den Beckers zu. Mittlerweile hatten die Möbelpacker begonnen, die Sachen in das Haus zu tragen. Till Becker hatte den Arm um seine Frau gelegt. Mannsen sah, wie er ihr etwas ins Ohr tuschelte, worauf sie lachte und ihn verliebt ansah.

Hübsches Paar, dachte Mannsen und erinnerte sich daran, wie besorgt der Berliner Kollege am Telefon geklungen hatte. Krumme hieß der Mann. Er hatte ihn vor ein paar Jahren auf einem Fortbildungsseminar in Hamburg kennengelernt. Ein erfahrener Kriminalhauptkommissar aus Neukölln, der im Gegensatz zu ihm täglich mit Schwerstkriminalität zu tun hatte. Die beiden hatten nur ein, zwei Worte miteinander gewechselt, und er hatte damals nicht den Eindruck gehabt, dass ihm der Kollege aus der Hauptstadt besonders viel Respekt entgegenbrachte. Umso überraschter war er gewesen, als er ihn auf einmal am Telefon hatte.

Mannsen beobachtete das glückliche Paar, das händchenhaltend ins Haus ging. Auf einmal hatte er so ein seltsames Gefühl im Magen, so ähnlich wie Sodbrennen. Er stöhnte leise und schob seinen schweren Körper auf dem durchgesessenen Sitz hin und her. Dann wandte er sich an Todde: »Lass uns zurückfahren. Ich glaub, wir kriegen Sturm.«

Todde startete den Motor, blickte dabei aber irritiert in den Himmel. Es war keine Wolke zu sehen.

3

Abends frischte es auf. Nachdem die Möbelpacker gefahren waren, beschlossen Eva und Till, einen Spaziergang auf dem Deich zu machen. Dort wurden sie von einer Brise begrüßt, die heftig an ihren Jacken zerrte. Dazu verwandelte ein spektakulärer Sonnenuntergang den Himmel in ein Meer aus roten und gelben Flammen. Hand in Hand spazierten sie in einem langen Bogen auf dem Sommerdeich entlang, bis sie schließlich den Seedeich erreichten, der nur etwas höher, aber deutlich breiter war und sanft Richtung Meer abfiel.

Aber das Meer war gar nicht da.

Es war Ebbe. Vor Evas und Tills Augen erstreckte sich das Watt, eine endlose graubraune Landschaft, unterbrochen durch ein Labyrinth aus kleinen Bächen und Prielen, in denen glitzerndes Wasser abfloss. Am Horizont konnten Eva und Till die Halligen Hooge und Gröde ausmachen, winzige Inseln mit nur wenigen Häusern, die sich vor dem Abendhimmel wie kleine Schlösser erhoben und in der flimmernden Luft zu schweben schienen.

»Hallo«, sagte Eva leise mit Blick auf das Watt.

Till sah überrascht zu ihr.

Sie lächelte. »Ich wollte nur unsere neue Heimat begrüßen.«

Er fasste sie zärtlich an der Hand.

»Das können wir ab jetzt jeden Tag haben«, flüsterte er, als wenn er Angst hätte, diesen erhabenen Moment zu zerstören.

Schweigend gingen sie weiter auf dem Deich entlang und folgten schließlich einem kleinen Pfad, der sie am Ende des Michael-Hansen-Koogs landeinwärts zurück auf den Seedeich führte. In der Ferne konnten sie die ersten Lichter von Kleebüll sehen, die sich wie eine Perlenkette an der Dorfstraße aneinanderreihten. Dahinter erhob sich der rot-weiße Leuchtturm von Dovelbüll mit seinem sanft pulsierenden Licht.

Als Eva und Till nach einer Stunde in ihr Haus zurückkehrten, funkelten schon die ersten Sterne. Die Möbelpacker hatten die Möbel und die Kartons in die richtigen Zimmer gebracht und zum Teil sogar schon aufgebaut, so dass sich das Umzugschaos in Grenzen hielt. Erschöpft von so viel ungewohnter frischer Luft ließ sich Eva im Wohnzimmer auf das Sofa fallen. Till legte seinen Kopf in ihren Schoß. Versonnen kraulte sie in seinen Locken und blickte zum Fenster, wo der letzte goldene Streifen der Sonne gerade verschwand.

Für einen langen Moment schwiegen beide und lauschten der Stille.

»Soll ich uns noch ein paar Brote machen?«, fragte sie.

Till nickte. Eva stemmte sich hoch und ging in die Küche. Zum Glück hatte sie das Essen für den ersten Tag in einen Extrakorb gelegt. Sie schmierte ein paar Brote mit Käse und Schinken, den sie gestern Abend noch im Supermarkt in Schöneberg gekauft hatte. Sie dachte an den Lärm und die endlose Schlange vor der Kasse, die Rückfahrt zur Wohnung in der verstopften U-Bahn und konnte sich gar nicht vorstellen, dass das alles gerade mal einen Tag her war. Berlin und der ganze Stress der Großstadt, all die schlimmen Erlebnisse der letzten Zeit, das kam ihr jetzt vor wie ein anderes, dunkles Leben auf einem fernen Planeten.

Schließlich kehrte sie mit dem Teller zurück ins Wohnzimmer – und fand Till selig schlafend auf dem Sofa. Sie lächelte und weckte ihn mit einem Kuss auf die Wange.

Eine Viertelstunde später lagen beide aneinandergekuschelt in ihrem Bett im Schlafzimmer direkt unter dem Reetdach. Till war nach der kurzen Störung sofort wieder eingeschlafen und schnarchte Eva jetzt direkt ins Ohr. Sie überlegte, ob sie ihn in die Seite knuffen sollte, damit er endlich still war, aber schon nach wenigen Augenblicken war sie selber eingeschlafen.

Der Wind rauschte um das Haus, rüttelte an den Fenstern und drückte die Gardinen in das Zimmer. Die Balken, die das Reetdach stützten, knarrten wie morsche Gelenke.

Eva streckte sich stöhnend. Sie konnte nicht schlafen. Müde setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Wie schrecklich! Auch in ihrem neuen Haus, viele hundert Kilometer von Berlin entfernt, spürte sie seine Gegenwart.

Plötzlich war es wieder da, das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie schluckte, hustete. Spürte einen immer stärkeren Druck auf ihrem Hals, ein Gewicht auf ihrer Brust, das ihr den Atem aus der Lunge presste. Ihr schwindelte, das Zimmer drehte sich, sie glaubte, jeden Moment die Besinnung zu verlieren. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, um den Alptraum zu verscheuchen. Und tatsächlich: Als sie die Augen wieder öffnete, war der Druck verschwunden.

Sie atmete auf. Vorsichtig versuchte sie ein Stück Bettdecke von Till zurückzuerobern. Ohne Erfolg. Sie zerrte heftiger, aber Till wälzte sich mit der Decke nur weiter Richtung Bettkante. Wenn sie nicht mehr frieren wollte, musste sie ihn wecken.

Sie zog die Knie an. Die Fenster mussten undicht sein, sie spürte einen kühlen Lufthauch, der sie erschaudern ließ. Ohne Decke kam sie sich völlig wehrlos vor.

Plötzlich hörte sie ein Knarzen. Jemand kam die kleine Holztreppe herauf, langsam, ganz langsam, Schritt für Schritt.

Sie erstarrte. Was, wenn er ihr von Berlin hierher gefolgt war? Sie wollte Till an der Schulter packen, ihn aufwecken, aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie gelähmt lag sie auf dem Rücken und starrte zur Tür, deren Knauf sich langsam drehte …

Mit einem leisen Stöhnen setzte sie sich auf.

Sie hatte geträumt, schon wieder.

Erschöpft wischte sie sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Ihr Nachthemd war völlig durchgeschwitzt und klebte an ihrem Körper. Eva blickte auf den kleinen Wecker auf ihrem Nachttisch und stellte fest, dass sie gerade mal zwei Stunden geschlafen hatte. Es war mitten in der Nacht. Seufzend warf sie ihren Kopf ins Kissen und starrte an die Decke. Es war zum Weinen. Nach dem schönen Tag war sie sich sicher gewesen, dass sie ihre Schlafprobleme in Berlin gelassen hatte. Sie hatte gehofft, dass sie wenigstens nicht wieder von Ihm träumen würde. Aber sie hatte sich getäuscht.

Eva schaute zu Till, der friedlich neben ihr schlummerte. Beneidenswert. Er konnte immer und überall schlafen, wenn er müde war. Sie dagegen wurde schon beim kleinsten Geräusch wach.

Das war nicht immer so gewesen.

Sie lauschte. Der Wind war stärker geworden. Wie gemütlich es hier war. Die schräge Decke des kleinen Schlafzimmers war nur einen Meter von ihrem Kopf entfernt. Sie schliefen praktisch im Dach. Kein Vergleich zu Berlin, wo die Decke in ihrer Altbauwohnung über vier Meter hoch gewesen war.

Till seufzte im Schlaf. Ohne die Augen zu öffnen, drehte er sich auf Evas Seite, legte seinen Arm um sie und schmiegte sich ganz dicht an sie. Im Nacken konnte sie seinen Atem spüren, in ihrem Rücken seinen warmen Bauch.

Schluss mit den düsteren Gedanken! Jetzt begann ein neues Leben, hier in diesem Häuschen im Paradies. Hier, in Tills Armen, war sie in Sicherheit, sie musste keine Angst mehr haben. Das Dunkel lag hinter ihr, hinter ihnen. Jetzt würde alles wieder gut werden.

Nein, falsch. Als sie Tills Körper roch, den frischen Limonenduft der Bettwäsche, dazu den intensiven Holzgeruch ihres neuen Zuhauses, da wurde ihr auf einmal klar, dass alles schon gut war!

Mit dieser Erkenntnis im Herzen konnte sie sich endlich entspannen. Schon nach wenigen Augenblicken war sie in einen tiefen Schlaf gefallen.

Auch das laute Kreischen der Möwe direkt vor dem Schlafzimmerfenster konnte sie nicht wecken. Sanft ließ sich der Vogel vom Wind in die Höhe heben, hinauf in den funkelnden Sternenhimmel der warmen Spätsommernacht, und sah hinunter auf das kleine Dorf, auf die Marsch, auf der Kühe und Schafe träumten. In den Kanälen glitzerte friedlich das Wasser im Mondlicht. Doch da war etwas, ein dunkler Schatten auf der Deichkrone.

Ein Tier? Ein Baum, der sich im Wind bewegte?

Nein, es war kein Tier. Es war ein Mann, ein großer Mann. Er trug einen langen Mantel, der im Mondlicht glänzte. Die Haare hingen ihm bis über die Schultern und verdeckten sein Gesicht. Regungslos stand er auf dem Deich, die Hände tief in den Taschen vergraben, und starrte hinunter auf das kleine Reetdachhaus.

4

Eva.

Ihr Bild strahlte wie ein helles Licht in einem dunklen Tunnel. Es gab ihm immer Kraft, zeigte ihm den Weg aus dem Schatten zurück auf die gute Seite.

Aber nicht heute Abend.

Er saß im dunklen Zimmer alleine auf seinem Ledersofa, der Rücken kerzengerade, die Hände auf den Knien. Regungslos starrte er die weiße Wand an und ließ die Gedanken treiben.

Durch die hochgeklappte Jalousie fiel das kalte Licht der Straßenlaterne in dünnen Streifen herein und ließ seine kleine Wohnung wie ein Gefängnis erscheinen.

Ein sehr aufgeräumtes Gefängnis.

Er hasste kaum etwas mehr als Unordnung. Herumliegende Bücher, aufgeschlagene Illustrierte, Schlüssel oder auf dem Tisch vergessene Briefumschläge gab es bei ihm nicht. Es machte ihn verrückt, wenn sich nicht alles an seiner richtigen Stelle befand.

Eva.

Er schloss die Augen und versuchte sich auf ihr Bild zu konzentrieren. Und tatsächlich: Langsam verblassten die Erinnerungen an das, was heute passiert war. Der schrille Schrei. Der dumpfe Aufschlag. Quietschende Bremsen. Seine Wut, vor allem seine Wut. All das verschwand, wenn er an ihr Gesicht dachte. Auf einmal fühlte er sich ihr wieder ganz nah. Er sah ihre leuchtenden Augen, spürte ihre warme Nähe, roch den Duft ihrer Haare.

Eva.

Wo bist du? Kannst du mich hören?

Er sprach mit ihr. Seine Lippen bewegten sich kaum merkbar, als er versuchte zu erklären, was er heute getan hatte. Dass es nicht seine Schuld gewesen war. Aber so sehr er sich bemühte, es wollte ihm nicht gelingen.

Aber musste sie überhaupt alles wissen? Es gab Dinge, die sollte sie gar nicht erfahren. Sie war ein Engel. Sie war die Einzige, die ihn retten konnte. Dafür war es seine Aufgabe, sie vor den Grausamkeiten des Lebens zu beschützen. Irgendwann. Wenn sie wieder an seiner Seite war. Und er war sicher, ganz sicher, dass das nur eine Frage der Zeit war.

Stille.

Von außen drangen die nächtlichen Geräusche der Stadt in sein Zimmer. Autos fuhren über das feuchte Pflaster. Die Schritte einsamer Passanten. Fernes Hupen. Ein weinendes Baby. Musik aus einer Eckkneipe. Der Wind.

Wie lange saß er schon so auf seinem Sofa? Zehn Minuten? Eine Stunde? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Das plötzliche Zuschlagen einer Autotür ganz in der Nähe riss ihn aus seiner puppengleichen Starre. Er blinzelte und erhob sich langsam vom Sofa.

Er schluckte mühsam und fuhr sich mit der Hand über die Kehle. Er hatte Durst. Seit Stunden hatte er nichts mehr getrunken. Wie ein Gespenst schlich er durch die dunkle Wohnung in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Licht strömte in den Raum und blendete ihn. Mit immer noch starrer Miene begutachtete er seine Vorräte. Gemüse, Joghurt, Käse und Aufschnitt, alles lag sorgfältig sortiert jeweils in einem Fach. Er bemerkte, dass ein Bund Frühlingszwiebeln falsch abgelegt war, und schob es an die richtige Stelle im untersten Fach. Dann nahm er eine Flasche Mineralwasser heraus und goss sich ein großes Glas ein.

Als er den Kühlschrank wieder schloss, stand er sofort wieder im Dunkeln. Mit gierigen Schlucken leerte er das Glas. Das eiskalte Wasser tat ihm gut. Auf einmal war er wieder im Hier und Jetzt.

Er beschloss, ins Bett zu gehen, auch wenn er wusste, dass er auch heute kaum Schlaf finden würde.

Er ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Wieder musste er die Augen zusammenkneifen, als er auf den Lichtschalter drückte. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, griff er nach seiner Zahnbürste, hielt dann aber inne und sah in den Spiegel.

Eigentlich war er ein attraktiver Mann. Er achtete auf sein Äußeres. Darauf, dass seine Haare und seine Augenbrauen immer gepflegt aussahen. Er ging mindestens einmal im Monat zum Friseur, joggte regelmäßig an der Spree und achtete auf gesunde Ernährung und modische Kleidung.

Doch jetzt sah er im Spiegel einen alten Mann, unrasiert, mit Schatten unter den Augen und zerzausten Haaren.

Gut, dass Eva ihn nicht so sah.

Ungläubig strich er mit der Hand über seine eingefallenen Wangen. Wie konnte ein Mensch sich so schnell verändern?

Er stöhnte, es klang wie ein leises Grunzen. Langsam drehte er den Kopf und verzog dabei angewidert das Gesicht. Er wollte nicht so aussehen. So schwach. So gebrechlich. Jeder Idiot konnte erkennen, was mit ihm los war.

Plötzlich schlug er seinen Kopf hart gegen den Spiegel. Einmal! Zweimal! Mit einem lauten Krachen zersplitterte der Spiegel, pendelte hin und her und hing schließlich schief an der Wand.

Voller Verachtung blickte er auf sein jetzt zerrissenes Spiegelbild. Und sein Spiegelbild sah voller Verachtung zurück.

Auf seiner Stirn war zunächst nur ein kleiner blauer Fleck zu erkennen. Dann löste sich ein Blutstropfen und lief ihm langsam das Gesicht herunter.

Ungeduldig verschmierte er das Blut über die ganze Stirn.

Aber er spürte keinen Schmerz. Gar nichts.

Schon hatte er sich wieder im Griff. Wo eben noch Hass und Verachtung sein Gesicht verzerrten, war jetzt nur noch eine unergründliche Fassade.

Ohne den Blick von dem zerstörten Spiegel zu lassen, griff er nach einem Handtuch und wischte sich das Blut von der Stirn.

Dann schaltete er das Licht aus und ging ins Bett.

5

»So, Kinder, jetzt wollen wir Frau Becker ganz herzlich mit dem Lied von Lütt Matten bei uns begrüßen, das wir gestern geübt haben.«

Die 20 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren begannen ein plattdeutsches Kinderlied zu singen, das heißt: Eigentlich sang die Kindergärtnerin, die meisten Kinder murmelten nur leise den Text oder bohrten gedankenverloren in der Nase.

Eva war trotzdem so gerührt, dass ihr fast die Tränen kamen. Von dem Inhalt des Liedes verstand sie kaum ein Wort – aber was für süße Kinder! Fast alle waren hellblond und hatten Namen wie Bente, Volkmar, Malte, Inga oder Nils. Mit großen Augen sahen sie ihre neue Erzieherin an.

Kumm laat uns tosam!

Ik kann as de Daam!

De Kreih, de speelt Fidel,

denn geiht dat kandidel,

denn geiht dat man scheun

op de achtersten Been!

Als das Lied zu Ende war, verneigten alle sich vor Eva. Die applaudierte kräftig und bedankte sich bei jedem einzelnen Kind mit einer Umarmung. Anschließend begleitete sie die Gruppe zusammen mit ihrer neuen Kollegin nach draußen auf den kleinen Spielplatz, der zu dem Gelände des evangelischen Gemeindekindergartens »De lütten Krabben« gehörte. Lächelnd beobachtete sie, wie ihre neuen Schützlinge davonflitzten. 20 Kinder aus Kleebüll und den umliegenden Dörfern, mehr gab es in diesem Kindergarten nicht. In Berlin waren es vier Mal so viele gewesen.

»Soll ich uns einen Kaffee holen? Dann können wir uns auf die Bank setzen und ein bisschen plaudern«, meinte die neue Kollegin freundlich. Sie hieß Wibke, war Anfang zwanzig und etwas kräftiger in den Hüften, was ihr aber sehr gut stand. Außerdem hatte sie kaum zu bändigende, strohblonde Haare, strahlend blaue Augen und ein offenes Gesicht mit Sommersprossen. Sie war Eva auf den ersten Blick sympathisch gewesen.

Wibke ging zurück ins Haus, während Eva sich auf die Bank setzte und zufrieden die frische Luft einsog, die deutlich nach Meer schmeckte.

Sie begutachtete ihren neuen Arbeitsplatz. Der Kindergarten befand sich in einem ehemaligen Pfarrhaus, das direkt neben einer entzückenden kleinen Kapelle stand. Das Pfarrhaus selbst hatte wie die meisten Häuser in Kleebüll ein Reetdach und war nur ein bisschen größer als ihr neues Zuhause am Deich. Der Rasen auf dem Spielplatz war grün und saftig, alles leuchtete in kräftigen Farben, war sauber und gepflegt.

Einige Minuten später erschien Wibke wieder mit zwei dampfenden Bechern und hielt Eva eine Milchtüte unter die Nase.

Eva lächelte. »Nur einen Spritzer, bitte.«

Wibke setzte sich zu ihr. Gemeinsam sahen sie den Kindern beim Spielen zu.

»Ihr habt es wirklich unglaublich schön hier«, seufzte Eva.

»Ja, wenn die Sonne scheint, kann man es gut aushalten.«

»Nicht nur dann, finde ich. Gestern Abend, als es so windig war, haben wir einen Spaziergang gemacht, über den Deich bis zur Düne. Das war so … toll, so unglaublich intensiv.«

»Intensiv? Dann pass mal auf, wenn es hier richtig stürmt und der Wind dich fast von den Füßen pustet.«

»Ich kann’s kaum erwarten.«

»Und ich kann’s kaum erwarten, von Berlin zu hören. Erzähl mal! Das muss doch total spannend sein. Ich meine: das Nachtleben, die vielen Partys und dann noch die coolen Promis überall – wieso bist du da nur weg?«

»Wir hatten eben genug von der Stadt«, sagte Eva ruhig. »Wir wollten mal was Neues probieren.«

»Aber warum ausgerechnet in Kleebüll?«

»Bist du hier groß geworden?«

Wibke seufzte. »In Büsum. Dann hat meine Familie ein paar Jahre in Niebüll gewohnt. Dann noch ein paar Jahre Ausbildung in Husum und Kiel, das war’s. Am Ende bin ich hier in diesem Kaff gelandet.«

»Kaff? Findest du es denn nicht schön hier?«

Wibke zögerte einen Moment. »Doch, schon …«

»Warst du schon mal in Berlin?«

»Nur einmal, Schulausflug. Und das war super!«

Wibke wollte nun alles von Eva wissen: wo genau sie in Berlin gewohnt hatte. Was für Kneipen und Diskotheken in der Nähe waren. Ob sie oft in Konzerte gegangen war. Und ob sie irgendwelche Promis in der Hauptstadt kannte. Zwar hatte sich Eva eigentlich vorgenommen, alles, was zu Berlin gehörte, zu vergessen, aber nach anfänglichem Zögern konnte sie Wibkes Interesse für die Großstadt und ihr altes Leben nicht widerstehen.

Schließlich rückte Wibke noch etwas näher zu Eva. »Und was ist mit den Männern?«, erkundigte sie sich mit verschwörerischer Miene.

Eva sah sie verständnislos an.

»Na komm schon, raus mit der Wahrheit: Wie sind die Berliner Männer?«

»Was soll ich sagen? Ganz gut, denke ich.« Eva lächelte unsicher.

Wibke sah sie mit herausfordernder Miene an. Sie wollte mehr hören.

Eva seufzte: »Die Männer in Berlin sind in Ordnung. Aber ich stehe mehr auf den norddeutschen Typ. Mein Mann kommt aus Hamburg.«

»Du bist verheiratet?« Wibke klang irgendwie enttäuscht.

Eva hielt die Hand mit dem Ehering hoch und nickte: »Seit vier Jahren.«

»Und? Immer noch verliebt?«

»Du möchtest aber alles ganz genau wissen, was?«

»Entschuldigung, ich will dir nicht auf die Nerven gehen.« Wibke wurde rot.

»Ach was, schon gut. Ja, ich liebe ihn immer noch. Till ist mein Traummann.«

»Wie ist es mit Kindern?«

»Noch nicht. Till mag Kinder, will aber noch ein bisschen warten. Und ich …«, sie zeigte ein wenig verlegen auf die spielenden Kinder in der Sandkiste, »habe hier ja sowieso genug.«

Für einen Moment schwiegen beide. Eva merkte, wie Wibke sie nachdenklich musterte. Ob sie gemerkt hatte, dass sie bei der Frage, ob sie immer noch verliebt sei, ganz kurz gezögert hatte? Eva spürte, wie das schlechte Gewissen an ihr nagte. Ja, sie hatte gezögert. Aber nicht, weil sie Till nicht liebte. Sondern weil … eben alles nicht so einfach war.

Aber das war vorbei. Jetzt wurde nach vorne geschaut. Sie hatten so viel gemeinsam durchgestanden, da musste es doch Liebe sein, wenn man gemeinsam weit weg von zu Hause ein Haus kaufte und aus der Stadt in ein kleines Dorf zog.

»Wie ist es mit dir?«, fragte sie Wibke. »Gibt es da jemanden?«

Wibke schüttelte den Kopf. »Nee. Irgendwie lerne ich nur Idioten kennen. Und hier oben gibt es sowieso keine interessanten Kerle.«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Alles Bauern. Treckerfahrer. Krabbenfischer. Und das war’s.«

»Quatsch! Wenn ich hier so mit dem Fahrrad durch die Gegend fahre, sehe ich immer viele attraktive Typen.«

»Aber wenn du sie ein bisschen näher kennenlernst, merkst du schnell, dass sie ihre Klappe nicht aufkriegen. Wenn du willst, fahren wir mal zusammen nach Husum in die Disko. Dann beweise ich es dir.« Wibke grinste.

»Abgemacht!«

Im selben Moment hörten sie lautes Weinen aus der Sandkiste. Ein kleiner Junge hatte einem Mädchen die Schaufel auf den Kopf gehauen.

Wibke knurrte. »Volkmar schon wieder. Ständig macht der Stunk.«

Eva stand sofort auf und wollte hingehen, aber Wibke hielt sie am Arm fest.

»Ich mache das schon.«

»Aber ich muss doch nicht den ganzen Tag hier nur so rumsitzen.«

»Das nächste Kind gehört dir. Aber Volkmar ist ein jähzorniger kleiner Bock. Auf dich wird der nie hören. Trink lieber deinen Kaffee zu Ende.«

Wibke drückte die unschlüssige Eva wieder auf die Bank und lief schnell zur Sandkiste, wo das kleine Mädchen wie am Spieß schrie. Eva sah voller Mitgefühl zu der Kleinen hinüber. Volkmar stand mit der Schaufel immer noch neben ihr. Auf Wibkes strenge Zurechtweisung reagierte er nur mit trotzigem Grinsen.

Eva lächelte. Die Kinder wuchsen hier im Paradies auf, aber kleine Teufelchen gab es überall. Sie nippte an dem erkalteten Kaffee und lehnte sich behaglich zurück. Zufrieden schloss sie die Augen und genoss die frische, nach Meer und einer wunderbaren Zukunft duftende Luft.

Im Nachhinein war sie nicht sicher, ob der Mann schon länger auf der anderen Straßenseite gestanden hatte. Aus dem dunklen Schatten einer Eiche blickte er zu ihr herüber. Trotz der warmen Temperaturen trug er einen langen, dunklen Mantel und schwere Schuhe. Eva erschrak, als sie ihn zum ersten Mal bewusst sah.

Sie konnte sein böses Grinsen erahnen.

Er ist es.

Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag. Ihre Hände zitterten, ihre Beine verkrampften sich.

Aber das konnte doch nicht sein! Wie hatte er sie hier gefunden?

Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Nur seine Augen blitzten aus dem Schatten kurz auf. Eva schüttelte benommen den Kopf. Auf einmal war sie von einem Dröhnen umgeben, das alle Geräusche um sie herum wie ein dunkles Tuch erstickte.

»Eva? Alles in Ordnung?«

Mit einem leisen Schrei drehte sie sich zu Wibke um, die jetzt – mit Volkmars Schaufel in der Hand – neben ihr stand und sie besorgt ansah.

»He, ganz ruhig. Was ist denn los mit dir?«

Eva fühlte sich wie ertappt. »Nichts ist los«, stammelte sie. »Ich habe mich nur gefragt, was der Mann da drüben macht.«

Sie zeigte auf die andere Straßenseite – und stutzte. Der Platz unter der Eiche war leer. Nur eine einsame Holzbank stand dort unter dem Baum. Der Wind wirbelte lautlos ein paar Blätter auf. Keine Spur von einem Mann.

Hastig sprang Eva auf, lief zu dem mannshohen Maschendrahtzaun und sah rechts und links die Straße entlang. Kein Mensch zu sehen. Nur eine Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen spazieren fuhr.

Wibke war zu ihr an den Zaun gekommen.

»Was ist los? Wen hast du denn gesehen?«

»Ich … ich weiß nicht. Da war ein …« Ein Mann mit einem dunklen Mantel, aber das behielt sie lieber für sich.

»Nichts«, seufzte sie und schüttelte den Kopf. »Hab wohl geträumt.«

»Geträumt?« Wibke sah sie ungläubig an. »Sag bloß, du bist eingenickt?«

Mittlerweile hatten die Kinder bemerkt, dass etwas mit ihrer neuen Erzieherin nicht stimmte, und standen neugierig um sie herum.

Eva zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich hab nur letzte Nacht nicht so gut geschlafen.« Sie blickte freundlich in die Runde zu den Kindern. »Ich war so aufgeregt, weil ich euch heute alle zum ersten Mal sehen würde.«

Keiner sagte etwas. Auch Wibke wirkte nicht überzeugt. Sie warf Eva einen aufmunternden Blick zu und klatschte dann in die Hände: »Kommt, Kinder, es ist nichts passiert, ihr könnt weiterspielen. Und du, Volkmar, lässt Biene endlich in Ruhe!«

Damit gab sie ihm die Schaufel zurück und ging mit ihm zur Sandkiste, um ihm noch einmal klarzumachen, dass er aufhören sollte, kleine Mädchen zu verprügeln. Die anderen Kinder liefen zurück zu ihren Spielsachen und hatten den Zwischenfall sofort wieder vergessen.

Nur Eva blieb alleine am Zaun zurück. Wie peinlich. Ihr erster Arbeitstag, und sie führte sich gleich wie eine hysterische Kuh auf. Vor den Kindern!

»Hast du Angst vor dem schwarzen Mann?«, fragte sie auf einmal ein kleines Stimmchen. Irritiert drehte sie sich um. Vor ihr stand die kleine Inga und sah sie neugierig an. Eva ging in die Knie, um dem Mädchen in die Augen zu schauen.

»Sag bloß, du hast ihn auch gesehen?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Sie musste schlucken, bevor sie einen Ton herausbekam. Aber das Mädchen antwortete nicht.

»Inga, hast du den Mann gesehen? Da hinten, unter der Eiche?«

Das kleine Mädchen starrte Eva nur mit großen Augen an. Plötzlich streichelte es Eva zärtlich über die Wange, ganz zart, als wenn es sich vergewissern wollte, dass sie wirklich da war. Dann lächelte Inga und lief zurück zu ihren Freundinnen, die schon ungeduldig mit ihren Puppen warteten.

Eva sah ihr sprachlos hinterher.

6

Kriminalhauptkommissar Theo Krumme hasste Baumärkte. Es mochte sein, dass andere Männer hier sofort den Drang verspürten, die Wände ihrer Wohnung einzuschlagen, das Bad herauszureißen oder mit einer neuen Motorsäge die Bäume im Garten zu fällen. Er jedoch fühlte sich in diesen Kathedralen für Hobbyhandwerker völlig verloren. Es war ihm ein Rätsel, wo all diese Heimwerker die Muße fanden, so viel Energie für die Verschönerung ihrer Häuser, Wohnungen und Gärten zu verschwenden, während er es noch nicht einmal schaffte, sich selbst in Schuss zu halten. Er dachte an seine unaufgeräumte Wohnung und daran, dass er schon wieder vergessen hatte, sich zu rasieren.

Endlich hatte er die Abteilung für Bad- und Sanitärbedarf gefunden. Und da war auch schon der Mann, den er sprechen wollte. Gerade versuchte er einem Kunden die Vorteile einer rahmenlosen Duschkabine zu erklären.

Für Krumme Gelegenheit, ihn sich noch einmal aus der Entfernung genauer anzusehen.

Stein war ein recht attraktiver Mann. Groß, kräftig, breite Schultern, die schwarzen Haare sauber geschnitten. Während des Kundengesprächs strahlte er keine besondere Herzlichkeit aus, dafür aber Seriosität und Selbstbewusstsein. Höflich hörte er dem Kunden zu, um ihm dann sein Angebot zu erklären, ganz ruhig, mit einer seltsam weichen Stimme, die Krumme an warmen, klebrigen Honig erinnerte. Anders als viele Angestellte in dem Baumarkt trug Stein keinen Arbeitsanzug mit Firmenlogo, sondern Jeans und ein weißes, perfekt gebügeltes Hemd.

Endlich hatte er sein Gespräch beendet. Als er zu seinem Tresen zurückkehrte, ging Krumme zu ihm.

»Guten Tag, Herr Stein.«

Stein blickte irritiert, für einen kurzen Moment sogar erschrocken zu ihm. Dann hatte er sich wieder gefasst und schenkte ihm ein betont freundliches Lächeln.

»Herr Kommissar? Das ist ja eine Überraschung!«

Krumme gab ihm die Hand und sah ihm dabei tief in die Augen. »Eine gute oder eine schlechte?«

»Kommt drauf an. Wenn Sie ein neues Bad suchen, würde ich mich freuen, Sie beraten zu dürfen.«

»Tut mir leid, aber ich fürchte, wir müssen über ernstere Dinge sprechen als über meine Badewanne.«

Stein nickte nur. Krumme versuchte in seinem Gesicht Zeichen von Angst zu erkennen, konnte aber nichts finden. Stein führte ihn zu seiner Büroecke, wo sie etwas mehr Ruhe hatten.

»Was kann ich dieses Mal für Sie tun, Herr Kommissar?«, erkundigte er sich, während er sich einen Kaffee eingoss. Sie hatten sich schon öfter miteinander unterhalten. Bei aller Höflichkeit war Steins Ton anzumerken, dass er auf Krummes Gegenwart gut verzichten konnte.

»Was haben Sie denn da an der Stirn?«, erkundigte sich Krumme.

Stein fasste sich verlegen an den Kopf. »Hab mich gestoßen. Am Schrank.«

»Sieht schlimm aus.«

»Nur eine kleine Platzwunde.«

»Am Schrank, sagen Sie?«

Stein nickte. Krumme musterte ihn skeptisch. Dann entschied er sich, zum eigentlichen Thema zu kommen.

»Herr Stein, wo waren Sie gestern Abend?«

»Zu Hause, wieso?«

»Kann das jemand bezeugen?«

»Ich war alleine und habe ferngesehen.«

»Vorher waren Sie nicht zufällig joggen?«

»Nein, wieso?«

»Im Rudolph-Wilde-Park?«

»Nein, ich sagte doch …« Stein stutzte und schien auf einmal zu verstehen. »Es geht um die Joggerin, die letzte Nacht gestorben ist. Ich habe es im Radio gehört.«

Krumme nickte kaum merkbar und ließ Stein dabei nicht aus den Augen.

Der sah ihn verständnislos an. »Denken Sie, ich habe was damit zu tun? Das Mädchen ist vor ein Auto gelaufen.«

Krumme zog ein Foto aus der Jacke. Es zeigte eine junge, fröhliche Frau mit langen schwarzen Haaren.

»Ist sie das?«, fragte Stein, blickte aber nur flüchtig auf das Bild.

Krumme nickte.

»Süß.«

»Sie haben sich das Foto ja gar nicht richtig angesehen.«

Stein schluckte. Dann betrachtete er mit unbewegter Miene das Foto. Krumme bemerkte, wie Stein die Lippen aufeinanderpresste.

»Anja Görling. 22 Jahre alt. Studierte Medizin an der FU. Der Lkw hat sie zwanzig Meter mitgeschleift, bevor er halten konnte. Der geschockte Fahrer hat gesagt, ihr zerquetschter Körper habe noch fünf Minuten lang gekrampft, bevor sie auf der Straße gestorben ist.«

Stein hob den Kopf. »Was soll das?«, fragte er verärgert. »Warum erzählen Sie mir das?«

Krumme zeigte noch einmal auf das Foto.

»Ein hübsches Mädchen, oder?«

Stein nickte nur. Wieder blickte er nur kurz auf das Bild.

»Finden Sie nicht, dass sie genau wie Eva Becker aussieht?«

Stein zuckte, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen. Aber nur kurz, dann sah er den Kommissar wieder mit kühl-arroganter Miene an.

»Wollen Sie mir etwa den Tod dieser jungen Frau anhängen?«

Auch Krumme blieb ganz ruhig.

»Ich will Ihnen nichts anhängen, Stein. Mir ist nur aufgefallen, dass dieses arme Mädchen in genau dem Park gejoggt ist, in dem Sie auch Frau Becker aufgelauert haben.«

»Ich habe ihr nicht aufgelauert! Ich wollte nur mit ihr sprechen!«

»Blödsinn. Sie haben Frau Becker verfolgt, überfallen und fast erwürgt.«

»Nein! Das habe ich nicht! Sie haben doch keine Ahnung, was zwischen uns beiden passiert ist!«, rief Stein und schlug dabei so laut auf den Tisch, dass sich ein paar Kunden irritiert nach ihnen umschauten.

Ihm wurde bewusst, dass er sich zu sehr hatte gehen lassen. Mit einem verärgerten Seufzer zog er sein Hemd glatt.

»Ich habe Eva nichts tun wollen. Das war alles nur ein Missverständnis.«

Er drückte den Rücken durch und nippte an seinem Kaffee. Krumme betrachtete ihn nachdenklich.

»Sie hängen immer noch an ihr«, stellte Krumme fest.

Stein schien etwas erwidern zu wollen, schwieg dann aber und spielte lieber gedankenverloren mit einem Schraubenzieher, der auf seinem Tisch lag. Krumme konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.

»Haben Sie mal wieder von ihr … gehört?«, fragte Stein.

»Nein. Sie?«

Stein sah Krumme verächtlich an. »Nein, habe ich nicht. Wie auch? Seit dem Urteil halte ich Abstand zu ihr.«

»Und? Wie schwer fällt Ihnen das?«

»Das geht Sie gar nichts an. Ich muss mit Ihnen doch nicht über meine Gefühle reden.«

»Nicht, wenn es nur bei Gefühlen bleibt.«

»Was ist das hier eigentlich? Ein richtiges Verhör ja wohl nicht, sonst hätten Sie mich ins Präsidium bestellt. Oder wären mit einem Kollegen gekommen.«

»Vielleicht hole ich das ja noch nach.«

»Machen Sie, was Sie wollen. Ich habe das Mädchen nicht angerührt.«

»Also geben Sie zu, dass Sie im Park waren?«

Stein sah Krumme einen Moment lang regungslos an. Dann stemmte er sich hoch und stand auf.

»Tut mir leid. Wenn Sie Ihre Zeit mit einem Autounfall verschwenden wollen, kann ich Ihnen auch nicht helfen. Aber ich für meinen Teil muss arbeiten. Einen schönen Tag noch.«

Damit ging er zu dem älteren Ehepaar, das sich eben noch nach ihm umgedreht hatte, und fragte, ob er helfen könne.

Krumme blieb alleine am Tisch zurück und sah ihm schlecht gelaunt hinterher.

Mehr konnte er nicht machen. Tatsächlich hatte er keinen echten Beweis, dass die junge Joggerin gestern Abend umgebracht worden war. Nur die Aussage eines Junkies, dass sie vorher gerufen hätte, ein Mann würde sie verfolgen. Die Polizei hatte den Park sofort abgesucht und keine verdächtige Spur gefunden.

Aber Stein war dort gewesen, da war Krumme ganz sicher. Stein war ein Psychopath. Und dieses arme Mädchen war sein Opfer. Und nicht nur sie.

Stein dozierte derweil über verschiedene Arten der Badezimmerisolierung. Für einen Augenblick kreuzten sich ihre Blicke. Nur ganz kurz meinte Krumme tatsächlich so etwas wie Wut, Verachtung und auch Angst zu erkennen, dann widmete Stein sich wieder seinen Kunden, als wenn nichts gewesen wäre.

Krumme hatte genug gesehen. Er nahm seine zerknitterte Jacke und ging.

Kaum hatte der Kommissar sich auf den Weg gemacht, ließ Stein die Kunden einfach stehen und sah Krumme hinterher, wie er mit seltsam unrunden Schritten Richtung Ausgang lief. Voller Verachtung presste er die Lippen zusammen – und merkte gar nicht, dass er dabei den Schraubenzieher so fest in seinen Daumen presste, dass er einen dicken Tropfen Blut herausquetschte.

7

War das ein Reh? Eine riesige Orchidee? Oder ein alter Mann, vielleicht der liebe Gott selbst, der mit gütigen Augen auf sie heruntersah?

Von angenehmer Schläfrigkeit umhüllt lag Eva auf dem von Schafen kurz gefressenen Rasen des Seedeichs, sah in die blau-weiße Unendlichkeit des friesischen Himmels und beobachtete, wie die Wolken landeinwärts trieben.