Die Oaknight-Chroniken (Bd. 1) - A. E. Leinkenjost - E-Book

Die Oaknight-Chroniken (Bd. 1) E-Book

A.E. Leinkenjost

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Beschreibung

Das Geheimnis der Familie Oaknight. Als ihre Eltern verschwinden, entdecken die Adelszwillinge Scott und Scarlett ein bisher gut gehütetes Familiengeheimnis: Sie stammen von einer langen Linie von Werwolfjägern ab! Ist dieses Vermächtnis vielleicht der wahre Grund dafür, warum ihre Eltern niemals von ihrer letzten Reise zurückgekehrt sind? Da bleibt nur eines – sich Hals über Kopf von Familienbutler Hamish ausbilden lassen und gemeinsam mit ihm in das geheimnisvolle Dorf reisen, in dem ihre Mutter und ihr Vater das letzte Mal gesichtet wurden. Dort stoßen sie auf die mysteriöse Spur einer legendären Bestie …

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Daniel,einen Freund,mit dem ich gern alt und grau werden will

5 4 3 2 1

eISBN 978-3-649-64959-5

© 2024 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung des Werkes

für das Text- und Data-Mining nach §44 b UrhG ist durch den Verlag

ausdrücklich vorbehalten und daher verboten.

Text: A. E. Leinkenjost

Illustrationen: Helge Vogt

Umschlaggestaltung: Frauke Maydorn unter Verwendung

einer Illustration von Helge Vogt

Lektorat: Anja Fislage

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64684-6.

Inhalt

Vorwort

Teil I Das Geheimnis von Oaknight Manor

Scott

Scarlett

Hamish

Scott

Scarlett

Scott

Scarlett

Scott

Scarlett

Teil II Ein verhängnisvolles Erbe

Scott

Arcanis Lupus

Scarlett

Scott und Scarlett

Die entschlüsselte Botschaft

Scarlett

Hamish

Scott

Heuler

Scarlett

Scott

Scarlett

Scott

Hamish

Scott

Vernarbter

Scarlett

Philippa

Scarlett

Scott

Hamish

Scarletts Traum

Scott

Teil III Die Mysterien von Bisclavret

Scott

Scarlett

Zavah

Schattenläufer

Hamish

Scott

Garwal

Hamish

Scarlett

Helga

Scarlett

Scott

Hamish

Scarlett

Khaled

Teil IV Der siebzehnte Schuss

Scott

Scarlett

Scott

Isegrim

Scarlett

Scott

Scarlett

Hamish

Scott

Scarlett

Scott

Denneval

Scarlett

Scott

Zavah

Teil V Die II der Schwerter

Scott

Scarlett

Scott

Die Bestie und der Jäger: Die Geschichte von Denneval und Reynard

Scott

Scarlett

Teil VI Blutmond

Scarlett

Scott

Scarlett

Denneval

Scarlett

Guillaume

Scott

Scarlett

Teil VII Bestia Enigma

Bestia Enigma

Scarlett

Hamish

Reynard

Scott

Scarlett

Hamish

Zavah

Scarlett

Reynard

Hamish

Scott

Scarlett

Hamish

Scott

Scarlett

Scott

Denneval

Scott

Scarlett

Teil VIII Das Herz des Infernos

Scott und Scarlett

Teil IX Vier Monate später

Denneval

Mrs Devonshire

Hamish

Scott

Scarletts Traum

Epilog: Lukasz

Danksagung

Über den Autor

Vorwort

Die Welt, in die du nun eintauchen wirst, hat ein Geheimnis. Sie mag aussehen wie unsere – wie im Jahr 1799 –, doch sie ist nicht dieselbe. Sie birgt Gefahren, die nur diejenigen überleben, die wagemutig sind. Sie beheimatet Rätsel, die nur du lösen kannst. Ihre Schatten sind so dunkel, so kohlrabenschwarz, dass sie dir lauschen können – also überlege dir gut, wem du von dieser Welt erzählst. Denn wer von den geheimen Chroniken der Oaknights weiß, der muss von diesem Augenblick an gemeinsam mit dir das gefährlichste Abenteuer bestehen, das du dir vorstellen kannst. Wenn du hier also sonderbaren Worten oder längst vergessenen Namen und fremd klingenden Orten begegnest, so lasse dich davon nicht aus der Ruhe bringen. Wenn du allerdings ein Heulen im Wind hörst oder ein scharrendes Kratzen an deiner Tür, dann lauf – und nimm dieses Buch mit dir, wenn du überleben willst.

Genug der Worte.

Du wurdest gewarnt.

Willkommen in den Oaknight-Chroniken!

Teil I

Das Geheimnis von Oaknight Manor

Oaknight ManorGeheimgang Nr. VIII, neben der Haupthalle

Am fünfzehnten April 1799 ereignete sich auf dem Anwesen von Oaknight Manor eine bis dahin unerhörte Kuriosität.

Es waren nicht die knallenden Pistolenschüsse im Festsaal, denn wie immer, jeden Mittwoch um dieselbe Uhrzeit, genoss der junge Master Scott es in aller Ausführlichkeit, seinen Schießlehrer mit unnötigen Diskussionen in den Wahnsinn zu treiben. Die Spuren der darauf folgenden Gewaltausübungen trugen in der Regel unschuldige Kürbisse davon, deren sterbliche Überreste anschließend vom Hauspersonal gereinigt und schließlich, nach einer angemessenen Schweigeminute, in eine hinreichend sättigende Cremesuppe verwandelt wurden.

Es waren auch nicht die schallenden Kampfgeräusche, die sich stets von der westlichen Halle für Leibesertüchtigung, dann durch das nördliche Treppenhaus und schließlich den zweiten Ostturm hinaufzogen. Dabei handelte es sich lediglich um die junge Lady Scarlett, die mithilfe des nicht unbeträchtlichen Familienvermögens einen weiteren unbescholtenen Fechtlehrer auf das Anwesen gelockt hatte, um ihn wahlweise entweder das Fürchten oder das Grauen zu lehren.

Wer die Gepflogenheiten des eigenartigen Brauchtums seiner Bewohner über einen angemessenen Zeitraum verfolgte, stellte schon bald fest, dass sich zuvor erwähnte Kuriosität in einem kleinen, fast unscheinbaren Detail äußerte: Hamish Balthazar Porter, der stets pünktliche Butler der Familie, trank seinen Fünfuhrtee bereits um skandalöse 16:45 Uhr.

Der Grund dafür war die Ankunft eines Briefes, den der breitschultrige Mann mit den ergrauten Schläfen und den stechend blauen Augen nun in seiner zitternden Hand hielt. Das darin enthaltene Schreiben sollte das Leben der in Oaknight Manor verbliebenen Mitglieder der Familie für immer verändern.

Scott

Stunden später lag Scott noch immer wach, obwohl er todmüde war. Nachdem er sich immer wieder hin und her gewälzt hatte, beschloss er, nach seiner Schwester Scarlett zu sehen. Er rieb sich mit seinen blassen Händen die silbergrünen Augen und setzte sich auf, um sein Haar zu einem Zopf zu binden. Dann nahm er sich die Laterne vom Nachttisch neben seinem Bett und wandelte durch das Treppenhaus. Selbst Mrs Devonshires hervorragende Arbeit hatte nicht ganz ausgereicht, um die Spuren der Verwüstung zu verstecken, die seine Schwester auf dem Flur hinterlassen hatte.

Vorsichtig trat Scott an Scarletts Schlafzimmertür und legte ein Ohr an das Holz.

Keine Albträume heute Nacht, dachte er erleichtert. Gut. Auch wenn er davon ausgegangen wäre, nach den Ereignissen des Tages. Behutsam öffnete er die Zimmertür.

Scarletts Schlafzimmer war eine exakte Kopie seines eigenen, nur auf der spiegelverkehrten Seite von Oaknight Manor: Es gab einen Kleiderschrank mit Schemel und Spiegel, teutonische Teppiche mit strahlend bunten Stickereien und ein großes Bett mit eigenem Baldachin, den man auf Wunsch seiner Mutter stets mit frischen Mistelzweigen verzierte, voll roter Früchte und moosgrüner Kraft. Silbernes Mondlicht floss vom großen Fenster hinein und fiel auf eine zerwühlte Decke und zwei aufgerissene Kopfkissen. Scarlett lag zusammengerollt auf dem Lammfell neben dem Bett und gab ein leises, unruhiges Schnurcheln von sich. Ihr scharf geschnittenes Gesicht war noch immer rot vom Weinen, was die feine Narbe an ihrer rechten Wange sanft aufleuchten ließ.

Scott schloss die Tür, schlich auf leisen Sohlen vorwärts und stellte die Lampe neben das Lammfell. Langsam zog er die Decken vom Bett, wickelte Scarlett damit ein und strich ihre finsterbraunen Haare aus dem Gesicht, so wie er es schon so viele Male zuvor in den letzten zwei Jahren getan hatte. Unter nicht geringer Anstrengung lehnte er ihren Oberkörper an sich und hob sie behutsam in die Höhe, dann setzte er Scarlett achtsam ab. Sanft lagerte er ihren Kopf und setzte sich neben dem Bett auf den Boden.

Langsam fiel sein Blick auf das Kopfteil des Bettes und die Gravuren im Holz – dieselben, die auch sein eigenes Bett schmückten. Da waren Bilder von Märchengeschichten, die Mutter und Vater mit ihnen gemeinsam in den harten Wintern von 1793 und 1794 geschnitzt hatten. Erzählungen von Jägern, Wölfen und bedrohlichen Wäldern, wie es sie um das Anwesen von Oaknight Manor gab. Von Wahrsagerinnen des fahrenden Volkes und edlen Rittern aus magischen Welten …

Die Kraft, die der Tag Scott gekostet hatte, zollte ihren Tribut. Regentropfen begannen, leise an das Fenster zu prasseln. Scotts Lider wurden schwer und sein Kopf sank an die Wand. Die Kälte des Gemäuers zog in seine Beine und seinen Rücken.

Nicht wichtig, dachte eine leiser werdende Stimme in seinem Kopf. Ich werde hier Wache halten und die Schatten verjagen, wenn sie kommen.

Wenn die Albträume seine Schwester wieder heimsuchen wollten, mussten sie dafür erst an ihm vorbei …

Er hatte gehofft, dass seine eigenen Träume ihn vor der Realität schützen würden, ihm eine Zuflucht vor dem schenken könnten, was dieser Tag seiner Schwester und ihm gebracht hatte. Doch stattdessen ließen sie ihn grausamerweise noch einmal alles durchleben, bis ins kleinste Detail.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten, Mr O’Riley, Sir«, sagte Hamish, postierte sich neben dem uralten Schreibtisch des großzügigen Verwaltungszimmers und bot dem Notar den ledernen Sessel dahinter an, damit die Testamentsverlesung beginnen konnte.

Scott musterte besorgt seine Schwester, die schweigend neben ihm auf einem der beiden erblassten Stühle vor dem Schreibtisch saß. Wer sie kannte, sah in ihren bernsteinfarbenen Augen, wie lichterloh ihr Innerstes in Flammen stand. Behutsam nahm Scott ihre Hand. Ich bin da. Scarlett atmete kaum hörbar aus und ihre Schultern senkten sich, wenigstens ein kleines Stück. Sie drückte Scotts Finger zusammen. Danke.

»Und Sie sind sich wirklich sicher?«, murrte O’Riley, rückte den Sessel zurecht und faltete seinen Mantel über die Armlehne.

Hamish nickte. »Gewiss, Sir. Mr und Mrs Oaknight pflegten in der Regel kurz nach ihrer jeweiligen Ankunft an einem Ort jemanden zu bestimmen, mit dem sie innerhalb einer bestimmten zeitlichen Frist korrespondierten. Sollte die Frist überschritten werden, so sollte die jeweilige Person einen an dieses Haus adressierten Brief verfassen, der uns vom … Ableben Mr und Mrs Oaknights unterrichten sollte.«

»Und wer hat den Brief geschickt?«, fragte O’Riley. »Wo kam er her?«

»Aus Veta Gallia, Sir. Ein gewisser Mr Jacques Savieraux, seines Zeichens Vorsteher eines Personenbahnhofes. Er war scheinbar der letzte Kontakt, den die hohen Herrschaften Oaknight auf ihrer Handelsreise pflegten.«

»Ah, ja«, sagte O’Riley und nickte, während er eine lederne Tasche entpackte. »Richtig, richtig. Ich erinnere mich.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Diese modernen Geschäftsleute …« Er seufzte angestrengt und öffnete einen versiegelten Briefumschlag, aus dem er etwa ein Dutzend Blätter Papier hervorzog, allesamt vollgekritzelt.

Scotts Herz machte einen Satz. Er spürte, wie beim Anblick des Testaments ebenfalls ein Ruck durch Scarlett ging.

Das würden sie sein.

Die letzten Worte, die Mutter und Vater ihnen hinterlassen hatten.

Hoffentlich versöhnlicher als die, die Scott ihnen kurz vor der letzten Abreise an den Kopf geworfen hatte. Würden diese letzten Worte ihnen Trost spenden? Würden sie eine Entschuldigung für all die versäumten Geburtstage der Vergangenheit – all die schönen Momente, die sie hätten teilen können – beinhalten?

»Dann wollen wir mal«, sagte der übermüdete Notar und runzelte die Stirn. Er hob das erste Blatt, ließ mit hochgezogenen Augenbrauen den Blick darüber tanzen und nickte, dann holte er tief Luft und las vor:

Das Geschäft der Oaknight & Partners Organisation – Inhaber Connor und Elizabeth Oaknight – das gesamte Familienvermögen in jedweder Form, die Ländereien und die damit einhergehenden Titel, sowie Übernahme der Arbeitsverhältnisse sämtlicher Angestellter geht zu gleichen Teilen in den Besitz von Scott und Scarlett Oaknight, beide geboren am 11.6.1785, über. Bis zu ihrer Volljährigkeit übernimmt ihr gesetzlicher Vormund das Erbe, Mister Hamish Balthazar Porter.

O’Riley sah auf.

Das Holz des alten Schreibtischs knackte. Vor den Fenstern heulte der Wind. Irgendwo im Hauptsaal schlug die alte Kuckucksuhr zu Mitternacht.

Hamish räusperte sich leise und O’Riley sah kurz von ihm zurück zu Scott und Scarlett. »Den Rest des Testaments werde ich auf den hier ausdrücklich niedergeschriebenen Wunsch Ihrer beiden Eltern ausschließlich mit Mr Porter besprechen. Unter vier Augen.«

Scott sah betreten zu Boden, innerlich hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, es genau so erwartet zu haben, und der verletzten Hoffnung auf … auf mehr. Schließlich nickte er, wie um sich selbst zu sagen, dass er es hätte kommen sehen müssen.

Ihr musstet es so weit kommen lassen, oder?, dachte er bitter. Ihr habt von all den Krankheiten gehört, den marodierenden Deserteuren, den ungesicherten Pfaden und den Tücken der See. Die Welt war euer Zuhause. Wir waren einfach nur der Ort, an den ihr alle paar Monate zurückgekehrt seid.

»Verstehe«, sagte er mit trockener Stimme, ohne aufzusehen.

»Warten Sie.« Scarlett blinzelte kopfschüttelnd. Sie sah verwirrt und wütend zugleich aus. »Ist das … das ist alles? Es muss doch irgendjemanden geben, der die Schuld daran trägt!« Sie sah Scott hilflos an, dann riss sie die Hand von ihm fort.

Scott spürte einen tiefen Stich in seiner Brust, als er verstand, was gerade mit dem Herzen seiner Schwester geschah. Er warf dem Notar einen flehenden, aber auch warnenden Blick zu.

O’Riley schien nicht nachvollziehen zu können, was seine Worte angerichtet hatten. Er sah flüchtig noch einmal auf das Papier vor ihm, dann blickte er Scarlett in die glänzenden Augen.

»Wie erwähnt, junge Lady. Alles Weitere ist nicht für Ihre Ohren bestimmt.«

»Nicht für unsere –«, begann Scarlett, kniff die Augenlider zusammen und presste die Zähne aufeinander. Sie verzog den Mund, den Kopf hochrot, und stand ruckartig auf. »Soll das heißen, da ist gar nichts? Kein Brief? Keine Abschiedsworte? Mama und Papa sind einfach … einfach weg und haben uns allein gelassen?« Ihre Augen flackerten kupfern und füllten sich mit Tränen. »Wer? Wer hat –«

»Red«, versuchte Scott zu erklären und sprach sie damit bewusst bei dem Spitznamen an, den nur er für sie benutzen durfte. »Versteh doch. Wir sollten –«

»WAS!«, platzte Scarlett. »Wir sollten was, liebes Bruderherz? Schert dich das nicht? Kümmert es dich nicht, dass sie jetzt nie mehr zurückkommen?«

Scott war selbst überrascht davon, wie wütend ihn die Worte seiner Schwester machten.

»Wenn du es genau wissen willst«, sagte er scharf. »Ich wusste immer, dass es eines Tages so kommen würde. Darüber bestand für mich nie ein Zweifel. Und jetzt ist es wirklich geschehen, und wir müssen damit zurechtkommen, dass –« Scott schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sofort ergoss sich eine Welle aus Reue über sein Inneres. Scarlett stapfte wutentbrannt zur Tür und riss sie so hart auf, dass diese gegen ein Bücherregal krachte. »Ich meine das nicht so, wie du es dir jetzt denkst, ich – Red, warte!«

Scott biss sich auf die Zunge, dann folgte er ihr. Seine Schwester preschte an Mrs Devonshire und einigen anderen der tief betroffenen Bediensteten vorbei, die anscheinend gelauscht hatten und nun in einem kleinen Knäuel gemeinsam über die Türschwelle fielen.

»Red!«, rief Scott. »Bleib stehen, ich bitte dich!«

Die einzigen Antworten blieben ein entnervtes Brüllen und ein Schniefen.

Zwecklos. Scarletts Schritte verhallten bereits im Treppenhaus. Sie würde sich in ihr Zimmer einschließen, es verwüsten und irgendwann einschlafen. Scott fluchte innerlich, dann zwang er sich dazu, Haltung anzunehmen. Gut. Wenigstens wusste er, wo er sie finden würde.

Noch während Scott sich für den weiteren Abend verabschieden wollte, sah er aus dem Augenwinkel, wie Hamish die Tür zum Verwaltungszimmer schloss und dabei wirkte, als müsse er schon bald die gesamte Welt auf seinem Rücken tragen, so wie einst der mythische Atlas …

Ein Klirren riss Scott aus dem Schlaf.

Poltern und Krachen schallten durch die offene Tür zum Treppenhaus in das Schlafzimmer. Blitze zuckten. Die Regenfront über Oaknight Manor hatte sich in einen Gewittersturm verwandelt. Scott griff zur Lampe. Als er sich mit schlagendem Herzen umsah, brannte sich ein Schrecken in seine Glieder.

Scarlett war fort.

Scarlett

Wer auch immer der Eindringling war, er stank nach Kohlenkeller und Hafenbecken. Scarlett hatte Fensterglas klirren gehört, dann einen dumpfen Aufprall. Ihr leichter Schlaf hatte ihr keine Wahl gelassen. Dem Splittern von Holz nach zu urteilen, war er im Kaminzimmer … doch das Wühlen und Rascheln, das von dort an Scarletts Ohren drang, hörte sich an, als würde er einen von Papas alten Schreibtischen ausräumen.

Das Problem war nur, dass es im Kaminzimmer nichts dergleichen gab.

Sie ließ den Flur hinter sich und balancierte barfuß das Treppengeländer hinab. Blitze warfen ihren Schatten in irrwitzigen Winkeln durch die Empfangshalle. Donner vibrierte über dem Anwesen und zitterte in den aufgestellten Härchen in Scarletts Nacken.

Gut, dass sie Scott zurückgelassen hatte!

Er würde ihr jetzt wahrscheinlich einen nervigen Vortrag darüber halten, wie unvorsichtig sie sei, allein einen Einbrecher stellen zu wollen.

Sie spürte, wie sich der unbändige Zorn auf ihre Mutter und ihren Vater – und das gesichtslose, namenlose und ungreifbare Etwas, das ihr ihre Eltern weggenommen hatte – wie ein Funke auf ihr Herz hinabsenkte und es entflammte.

Irgendjemand musste dafür büßen, wie sie sich bei dieser schrecklichen Testamentsverlesung gefühlt hatte! Und Scarlett wusste schon ganz genau, wer.

Du bist am falschen Tag in das falsche Haus eingebrochen.

Nasse Fußabdrücke auf den blutroten Burgunder-Teppichen. Sie führten in Richtung Kaminzimmer. Es roch nach Asche und Regen und ein eisiger Wind wand sich von der Halle nach dort hindurch. Scarlett schlich sich an der Wand entlang zum Eingang des Kaminzimmers, dann spähte sie blitzschnell um die Ecke.

Zwei miteinander kämpfende Umrisse wüteten am anderen Ende des Zimmers in einem Raum, den Scarlett noch nie zuvor gesehen hatte. Überall tanzten angerissene Blätter mit Notizen, Zeitungsartikeln und Zeichnungen durch die Luft wie ein aufgestobener Schwarm weißer Fledermäuse. Eines der Bücherregale stand schief, beinahe als ob …

Eine Geheimtür?, dachte Scarlett. Sie hatte in den letzten Monaten immer öfter so ein merkwürdiges, dumpfes Geräusch gehört. In den Wänden. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, Schritte im Gemäuer zu hören, doch immer wenn sie jemand anderen darauf aufmerksam gemacht hatte, hatte sie nur verwirrte Blicke geerntet. Endlich hatte sie eine Erklärung dafür.

Sie lehnte sich weiter in den Raum hinein. Der kalte Wind biss in ihren Rücken, jagte mit einem Stück ihrer Körperwärme davon und rauschte in das Kaminzimmer. Instinktiv fror Scarlett inmitten ihrer Bewegung ein und presste sich zurück an die Wand.

Ein ohrenbetäubender Knall zerfetzte die Luft. Grellweißes Licht warf sich auf den Teppichboden. Ein Blitz? Mündungsfeuer? Ein Schuss!

»Was zur Hölle machst du hier!?«, zischte es neben ihr. Scarlett fuhr zusammen. Scott stand mit vorwurfsvoll erhobenem Zeigefinger vor ihr. Ein weiterer Schuss peitschte durch Oaknight Manor. Ohne zu zögern, packte Scarlett ihren verdutzten Bruder an den Schultern und riss ihn vom Türrahmen fort.

»Sei still, du Idiot!«, presste Scarlett zwischen den Zähnen hervor. »Oder willst du dir eine Kugel einfangen? Hast du die Schüsse nicht gehört?«

Jemand stieß ein unterdrücktes Knurren aus – dann krachte es laut.

Scott blinzelte verwirrt. »Was – wer ist das?«

Scarlett hielt ihn mit einer Hand aus der Schusslinie heraus. »Weiß ich nicht! Ich dachte, ich habe einen Einbrecher gehört!«

Jemand schrie auf.

Scarlett riss die Augen auf. »Hamish! Das ist Hamish!«

Scott fuhr zusammen. »Wir – wir müssen ihm helfen!« Sein Blick zuckte in den Raum, dann wieder zurück. »Über dem Kamin hängen Pistolen und zwei von diesen gekreuzten Schwertern, die du so toll findest!«

»Das sind Rapiere!«, flüsterte Scarlett.

»Das ist einfach nur ein unsinniges, neumodisches Wort für einen Stichdegen!«, meckerte Scott. »Und Stichdegen sind immer noch Schwerter! Gut, sie sind dünner und leichter und man mag sie vielleicht mit einer Hand führen können, aber –«

»Willst du mir jetzt ernsthaft schon wieder einen Vortrag halten?!«, knurrte Scarlett. Sie ignorierte ihr bis zum Hals schlagendes Herz. Ihr schnelles Atmen. »Also, auf drei – drei!«

»Warte!«, zischte Scott. »Aber was ist der Plan –«

Scarlett stürmte das Kaminzimmer, trotz allem bedacht darauf, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen. Ihr Blut schien vor Aufregung zu kochen, als sie langsam ihre Hand nach einem der Rapiere ausstreckte.

Wieder erschütterten Donner und Blitz den Himmel über Oaknight Manor. Für den Bruchteil einer Sekunde gab das Unwetter den Blick auf einen schwarz gekleideten Mann frei, der einen leblosen Körper hinter sich herschleifte. Das groteske Bild brannte sich in Scarletts Iris, dann versank es wieder in der Dunkelheit.

»Was zum … !«, entfuhr es ihr. Wie eingefroren starrte sie in die Finsternis und wollte das Rapier fallen lassen, ihre wahnwitzige Idee beenden, doch ihre Finger verkrampften sich und schlossen sich nur noch fester um den Griff mit dem verzierten Handschutz.

»W-war das etwa –«, stammelte ihr Bruder neben ihr und zielte mit zwei zitternden Pistolen in die Dunkelheit. »Meine Güte, war das etwa Hamish?«

»Ich – ich weiß nicht!«, antwortete Scarlett stoßartig.

Ein Knarren ertönte, das Geräusch von Stein auf Stein – dann ein dumpfes Poltern. Eine massige Silhouette schälte sich durch den kurzen Gang zwischen Büro und Kaminzimmer, der enorme Brustkorb hob und senkte sich schwer. Sie trat ins Mondlicht, das durch das Fenster hineinfiel. Scarlett starrte mit weit aufgerissenen Augen hinüber zum Angreifer und wartete in Angriffsposition darauf, dass er sich bewegte.

Scott stellte sich schützend vor sie, ging aber rückwärts. »Sir? Sie brechen leider zu einem ungünstigen Zeitpunkt ein! Verlassen Sie umgehend dieses Haus, oder ich sehe mich gezwungen, von verhältnismäßiger Gewalt Gebrauch zu machen!«

Scarlett schlug ihrem Bruder auf die Schulter. »Und du meinst, das würde funktionieren?«

Scott starrte sie entrüstet an. »Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung! Haben Mylady das bereits ausprobiert?«

»Was? Wieso sollte ich – nein!«

»Aha! Und woher willst du dann wissen, ob es nicht doch vielleicht funktioniert?«

»Wieso musst du immer alles so kompliziert machen?«

Die Gestalt trat vor.

»Hamish!«, keuchte Scarlett erleichtert, dann hielt sie inne.

Sie hatte noch nie so einen Blick in seinen Augen gesehen – nicht wütend, nicht ängstlich, sondern beinahe … krank vor Sorge. Außerdem sah er aus, als wäre er mehrere Male hintereinander einen Abhang voller Dornenbüsche hinuntergestürzt.

»Sie beide sollten nicht hier sein«, sagte der Butler.

Scott sah fragend zu Scarlett, sein Atem ging noch immer rasend.

»Hamish, was hat dieses Chaos zu bedeuten?«, fragte er und deutete auf die im Zimmer verteilten Bücherseiten und Teile des zertrümmerten Schreibtisches. Der Butler maß ihn mit einem Blick, der voller Widersprüche zu sein schien, und machte sich dann wortlos daran, die Papierfetzen aufzusammeln.

»Wer in Himmels Namen war das?«, rief Scarlett. »Was hat dieser Mann gewollt?«

»Hamish!«, wiederholte Scott eindringlich.

Der Butler hatte seine Arbeit offensichtlich beendet und lief mit einem Stapel Papiere an ihnen vorbei, warf diese in den kleinen Gang zum zerstörten Bürozimmer und zog dann das Bücherregal davor. Es rastete dumpf wieder in seine verborgenen Angeln ein.

Scott räusperte sich und hatte anscheinend bereits wieder die Fassung gewonnen.

»Mein lieber Hamish«, sagte er und baute sich vor dem Butler auf. Scott reichte ihm kaum bis zur Brust. »Ich verlange auf der Stelle eine Erklärung!«

»Raus mit der Sprache!«, verlangte Scarlett.

Hamish musterte Scarlett und ihren Bruder aufmerksam. Ein Wetterleuchten tauchte den Raum für einen Moment in blasses Licht. Noch nie, erinnerte sich Scarlett, war ihr Butler ihnen so lang eine Antwort schuldig geblieben. In seinem wie immer höflich-ausdruckslosen Gesicht rangen deutlich widersprüchliche Emotionen miteinander.

»Master Scott, junge Lady Scarlett«, begann Hamish schließlich. Er suchte sichtlich nach Worten. Seine Stimme war streng und distanziert. »Ich werde Sie jetzt beide um etwas bitten.«

Scarlett neigte verwirrt den Kopf. »Sicher, Hamish. Aber …«

Scott wollte etwas einwenden, doch der Butler schnitt ihm mit deutlichem Unbehagen das Wort ab.

»Egal wann, was, wo oder von wem Sie beide dazu befragt werden, was sich soeben hier ereignet hat, ich verlange von Ihnen, dass Sie niemals ein Wort darüber verlieren, verstanden?«

Scott zog die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«

Scarlett verstand die Welt nicht mehr. »Aber, Hamish! Dieser Raum, dieser Mann –«

»Kein Wort mehr, habe ich gesagt!«, sagte der Butler. »Niemals! Zu niemandem! Haben wir uns verstanden?«

Scarlett tauschte einen vollkommen konfusen Blick mit ihrem Bruder. Rufe und Gespräche wurden vor dem Kaminzimmer laut. Lampen flackerten vom Treppenhaus her.

»Ich lasse Sie schwören, wenn es sein muss!«, sagte Hamish. Sein Blick fügte hinzu: Ich flehe Sie an – bitte! Er war, für seine Verhältnisse, außer sich. »Habe ich Ihr Wort?«

Wieder sahen Scarlett und ihr Bruder einander an, dann nickten beide.

»In – in Ordnung«, sagte Scott. »Ich …« – er sah zu Scarlett herüber – »Ich schwöre es. Meine Lippen sind versiegelt.«

»Meine auch«, sagte Scarlett und runzelte verwirrt die Stirn. »Sie … Sie haben mein Wort.«

Hamish nickte und sah aus, als hätte er sich gerade dazu überwunden, Scarlett und ihren Bruder zu schlagen.

»Oh, mein Gott!«, rief Theodore, einer der jüngeren Butler. Als er gemeinsam mit dem Hausmädchen Maryanne um die Ecke bog, fielen ihm sämtliche Züge aus dem Gesicht. »Hamish, was um aller Welt ist hier denn passiert?«

»Nichts!«, rief Hamish und stampfte aus dem Kaminzimmer. Jetzt waren auch der grauhaarige Gutsverwalter Archibald und seine Frau Mrs Devonshire hereingekommen. »Es ist absolut nichts passiert!« Er deutete zu Scarlett und Scott herüber. »Ich überraschte den jungen Lord und seine Schwester lediglich bei einer Übungsstunde, in deren Verlauf eines der Fenster zu Bruch ging. Ich fürchtete zunächst, es würde sich um einen Einbrecher handeln. Glücklicherweise … war dem nicht so.« Er drehte sich um und warf Scarlett einen ernsten Blick zu, dann lief er durch die kleine Menschentraube hindurch und verabschiedete sich in Richtung Treppenhaus. »Ich denke, wir werden uns morgen um die entstandenen Schäden kümmern.«

Sprachlos starrten Scarlett und Scott dem ehrlichsten und aufrichtigsten Mann hinterher, den sie je in ihrem Leben kennengelernt hatten, und beobachteten ihn dabei, wie er seelenruhig zurück in Richtung seiner Schlafkammer spazierte.

Hamish

Hamish Balthazar Porter ging in seinen Privatgemächern auf und ab, während die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster fielen. Das Klopfen der jungen Herrschaften an seiner Tür, das erst nach einer halben Stunde aufgehört hatte, hatte er ignoriert.

Erschöpft stieß Hamish die Luft aus.

Sein Plan war, nun ja, in geradezu katastrophalem Ausmaß entgleist.

Es reichte schon, dass Theodore und Maryanne ihn mit allerlei Fragen gelöchert hatten. Das Letzte, was Hamish jetzt brauchte, war, einen gesammelten Haushalt davon abzuhalten, das am zweitbesten gehütete Geheimnis der Familie Oaknight ans Tageslicht zu bringen. Wahrlich, die Ereignisse überschlugen sich mehr und mehr … zuerst war da dieses geheimnisvolle Paket, von dem er noch immer nicht verstand, was dessen Inhalt eigentlich darstellen sollte. Alles, was feststand, war, dass das Paket scheinbar aus Veta Gallia geschickt worden war – doch von wem? Den verstorbenen hohen Herrschaften Oaknight? Es war wahrscheinlich zum Besten gewesen, diesen Sachverhalt gegenüber den jungen Herrschaften zu unterschlagen.

Dann schließlich, nur wenige Tage später, die schreckliche Mitteilung von dem Vorsteher eines Bahnhofs, der sich quasi überall in Veta Gallia befinden konnte.

Und dann waren da auch noch die verwirrenden Zeilen des Testaments, die nur er hören durfte und die für ihn noch immer nicht den geringsten Sinn ergaben. Sätze wie ›Lausche, oh Bartloser!‹, oder ›Bügle erst das Eselsohr, sonst kommst du dir dämlich vor!‹ ergaben beim besten Willen keinerlei Sinn! Handelte es sich dabei um einen makabren Scherz?

Und jetzt auch noch dieser finsternächtliche Einbruch, so kurz nach der Verlesung, als hätte dieser vielleicht sogar etwas damit zu tun gehabt.

Hamish blieb stehen. Ermattet rieb er sich mit den gewaltigen Händen die Augen. Mit äußerster Sorgfalt legte er seinen Frack ab und krempelte sich die Ärmel hoch, dann machte er sich auf den Weg zu Geheimgang Nr. II.

Er musste handeln.

Schnell.

Scott

Am nächsten Tag, zur Mittagszeit, starrte Scott in seinem Tageszimmer auf einen Punkt in der Mitte seines Schreibtisches. Vollkommen übernächtigt wälzte sein Verstand noch immer die gleichen Fragen, über die er sich gestern noch die ganze Nacht mit seiner Schwester den Kopf zerbrochen hatte.

Was hatte der nächtliche Eindringling gesucht? Wieso war er so plump dabei vorgegangen? Hatte der harmlose Hamish tatsächlich vor ihren Augen einen Eindringling ins Jenseits geschickt? War der Mann, den Scott und seine Schwester seit ihrer Geburt kannten, etwa ein kaltblütiger Killer? Hatte er sie mit seiner komischen Bitte vor irgendetwas schützen wollen?

Mit brennenden Augen rieb Scott sich die Schläfen. Leider war sein Kopf nicht das Einzige, was durch die aktuellen Geschehnisse ganz und gar ausgelaugt war. Auch sein Herz war vollkommen überfordert. Die Nachricht vom Tod seiner Eltern schwebte noch immer über ihm, unwirklich und merkwürdig bizarr, so als sähe er sich selbst in einem Theaterstück zu. Ein Teil von ihm konnte – wollte nicht verstehen, was das bedeutete. Und eine kleine, kaum wahrnehmbare, aber immer lauter werdende Stimme in seinem Hinterkopf flüsterte ihm noch etwas anderes zu.

Es gibt ein Geheimnis in diesem Haus, sagte die Stimme. Unddieser Einbruch, ausgerechnet am Tag der Testamentsverlesung, hängt damit zusammen. All das ist kein Zufall.

Scott trat an seinen Schreibtisch.

Er sah auf das auseinandergeknüllte Stück Papier hinunter, das er in der Nacht vor Hamishs Blick abgeschirmt und sich heimlich in die Tasche gesteckt hatte. Er sah das Bild des vermissten Mädchens darauf an und den Zeitungsausschnitt darunter. Immer und immer wieder hatte er die Zeilen in den vergangenen Stunden gelesen. Diese Aufzeichnungen, da war er sich sicher, waren der Schlüssel zum Beantworten all ihrer Fragen.

Scarlett

»Soll ich dir nun den Rest vom Lamm warm machen oder nicht, Liebes?«, fragte Geraldine und warf eine Portion Würstchen in die Pfanne. Die kleine Köchin mit den großen Augen warf Scarlett einen amüsierten, aber auch besorgten Blick zu. »So wie dein Bauch knurrt, könnte ich dir wohl gleich einen ganzen Braten zubereiten.«

Scarlett wusste nie, wann ihr Magen wirklich hungrig oder sie einfach wieder einmal wütend war – irgendwie traten die beiden Zustände fast immer zusammen auf. Sie grinste breit.

»Ich nehme alles, was noch da ist«, sagte sie, nahm sich selbst ein Holzbrett und Besteck und machte es sich in der Küche gemütlich. Im Speisesaal mit fünf verschiedenen Garnituren Besteck eine halbe Scheibe getoastetes Brot zu bearbeiten war eher etwas für ihren Bruder. »Hab einen Mordshunger. Liegt bestimmt an –«

Beinahe wäre ihr herausgerutscht, was gestern Abend geschehen war. Geraldine drehte sich herum und begann, Tee aufzusetzen.

»Ja, Liebes?«, sagte die Köchin.

»Nichts«, sagte Scarlett und sah betreten auf ihr Besteck hinunter. Sollte sie mit Geraldine über das sprechen, was sie und Scott gesehen hatten?

»Ich stelle dir das Lamm in den Ofen – du und dein Bruder, ähm, ich meine, seine junge Lordschaft –«

»Du kannst ihn auch einfach Scott nennen.«

»Ihr habt uns einen gehörigen Schrecken eingejagt, weißt du das?«

Scarlett nahm sich ein Stück trockenes, altes Brot und biss ein Stück ab.

»Jap«, sagte sie mit vollem Mund und bemühte sich, die Steine über dem Ofen zu zählen. Warum fiel es ihr immer so schwer, Dinge für sich zu behalten?

Geraldine musterte sie misstrauisch und verschränkte die Arme.

»Kein Grinsen? Keine schnippische Antwort? Was verheimlichst du mir, junge Dame?«

Scarlett schnappte sich etwas, was sie für einen Apfel hielt, und biss hinein. Sag einfach was, dachte sie. Das Erste, was dir einfällt!

»Hast du Hamish heute schon gesehen?«, sagte sie unschuldig und verzog das Gesicht. Kein Apfel – Zwiebel, igitt!

»Ms. Winterbottom!«, räusperte sich eine gebieterische Piepsstimme. Es war Mrs Devonshire. »Master Scott erwartet sein, ähem, Frühstück im Speisesaal.« Sie sagte nichts weiter, maß Scarlett und Geraldine allerdings mit einem höchst ungehaltenen Blick. Sie hielt bekanntlich nicht besonders viel davon, wie formlos die Köchin mit ›Ihrer Durchlaucht, der jungen Lady Oaknight‹, verkehrte.

»Ehrlich gesagt«, machte eine Stimme neben der im Türrahmen stehenden Haushälterin. Mrs Devonshire fuhr zusammen, legte eine Hand auf ihre Brust und knetete aufgebracht das Kreuz an ihrer Kette. Scott lehnte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen in die Küche hinein und ließ seinen Blick belustigt durch den Raum streifen. »Ich befinde mich zurzeit neben der Suche nach einer kräftigenden Mahlzeit auch auf der Suche nach meiner Schwester. Schmeckt dir die Zwiebel, Red?«

Scarlett starrte ihren Bruder an und biss herausfordernd ein weiteres Mal in die Zwiebel.

»Dies ist kein Ort für einen jungen Lord, Sir!«, protestierte Mrs Devonshire.

»Das ist mein Haus!«, protestierte Scott. Als er das aussprach, schien ihn eine Erinnerung zu treffen, und er ließ die Schultern hängen. Er sah genau so furchtbar aus, wie Scarlett sich fühlte.

»Das haben Sie uns ja wohl letzte Nacht hinreichend bewiesen«, beschwerte sich Mrs Devonshire, streckte ihre Nase in Richtung Decke und bereitete ein Frühstückstablett vor. »So eine Unordnung. Und das nach so einem Tag! Also wirklich!«

Scott schien sich beinahe zu verschlucken. »Ähm, finden Sie nicht auch, dass Hamish sich komisch verhält?« Er versuchte, sich neben Scarlett auf einen Schemel zu setzen. So unbeholfen, wie er dabei aussah, war es wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben.

Scarlett betrachtete das Trauerspiel noch einen Moment lang, dann zog sie ihren Bruder an seiner Weste auf den Stuhl.

Mrs Devonshire seufzte müde und goss Milch von einem Behälter in ein Kännchen.

»Unter normaleren Umständen würde ich das entschieden verneinen«, sagte sie. »Aber – ja. Nicht einmal einen spitzzüngigen Kommentar hat er der bizarren Situation gestern Nacht abgegeben! Und heute Morgen tut er jedem gegenüber so, als wäre nichts passiert! Dann macht er sich auch noch aus dem Staub, irgendetwas besorgen. Pah! Wer weiß schon, was in diesem Mann vorgeht! Außerdem ist es ja nicht erst seit gestern, dass er sich sonderbar verhält.«

Mrs Devonshire bekreuzigte sich, nachdem sie dreimal auf den Boden gespuckt und eine Prise imaginäres Salz hinter sich geworfen hatte.

Scarlett fühlte, wie sie sich instinktiv vorlehnte.

Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

Mrs Devonshire stellte die Milchkanne ab und wischte den Griff mit einem Lappen ab, dann sah sie sich mit sichtlich schlechtem Gewissen um.

»Wissen Sie, es hat – es hat eigentlich schon angefangen, nachdem vor drei Wochen dieses seltsame Paket hier ankam«, sagte sie.

Scarlett tauschte einen aufmerksamen Blick mit Scott. Davon hat er uns nichts erzählt.

»Was war dadrin?«, fragte Scarlett. Sie spürte, wie abermals Hoffnung in ihr aufkeimte. Dieselbe Hoffnung wie vor dem Moment, als ihr Bruder ihr den Brief mit der unheilvollen Neuigkeit vorgelesen hatte – dass sich Mama und Papa einfach nur auf der Rückreise verspätet hatten, noch dort draußen waren. Und wenn nicht das, dann wenigstens die Hoffnung auf mehr als die Worte aus dem Testament. »War das für uns? Eine Nachricht vielleicht?«

»Nein«, sagte Mrs Devonshire und wirkte unsicher. »Es war ein Kochbuch.«

Scott lehnte sich neugierig vor. »Ein Kochbuch? Was für ein Kochbuch?«

Die Haushälterin überlegte. »Eines für Spezialitäten. Gallisch, glaube ich.«

Gallisch. Wie der Brief des Bahnhofsvorstehers, dachte Scarlett und sah zu ihrem Bruder hinüber. Scott saß plötzlich kerzengerade.

»Was war sonst noch in dem Paket?«, fragte er.

»Sonst nichts«, sagte Mrs Devonshire.

»Sind Sie sicher?«

Die Haushälterin klatschte mit dem Lappen auf den Tisch. »Master Scott, Sir! Selbstverständlich bin ich sicher!«

Scott zuckte zusammen. Scarlett schmunzelte.

»Und seitdem hat Hamish angefangen, sich komisch zu verhalten?«, fragte Scarlett.

Mrs Devonshire nickte eifrig.

»Ich habe es seitdem auch nicht mehr gesehen«, sagte sie und wrang energisch den Lappen aus. »Und wenn Sie mich fragen, junge Lady, dann ist das auch gut so. So ein Fraß kommt mir gar nicht erst auf den Tisch!« Sie schüttelte sich.

Geraldine, die bisher nur alles schweigend mitverfolgt hatte, unterdrückte sichtlich ein Lachen.

»Schnecken essen diese Hinterwäldler, wussten Sie das? Schnecken!« Die Haushälterin murmelte eine Schutzformel, küsste das silberne Kreuz an ihrer Halskette und stampfte dreimal auf. »So, und nun entschuldigen Sie mich bitte – ich habe Ihren Haushalt zu führen!«

Nachdem Mrs Devonshire gegangen war, frühstückte Scarlett schweigend neben ihrem Bruder, der Geraldine immer wieder lächelnd zunickte und darauf zu warten schien, dass sie ebenfalls ging. Die Köchin sah fragend und mit einem Schmunzeln im Gesicht zu Scarlett hinüber. Scarlett nickte, dann wartete sie, bis Geraldine sich mit einem Knicks entschuldigte und die Küche verließ.

»Spuck’s aus«, sagte Scarlett und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Du platzt ja gleich.«

Scott kniff verschwörerisch die Augen zusammen und vergewisserte sich, dass ihn niemand hörte.

»Mein liebstes Schwesterherz –«

»Das gefällt mir jetzt schon nicht!«

»Ich brauche deine Hilfe bei … einer heiklen Angelegenheit.«

Scott

»Wir haben lediglich versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen«, sagte Scott und grinste.

»Und ich werde den Teufel tun und dieses Versprechen brechen«, sagte Scarlett. Sie sah wütend zur Seite. »So was macht man nicht. Niemals.«

Scott drückte die Fingerspitzen aneinander, sah sich unschuldig um und lehnte sich vor. »Wir haben jedoch nicht versprochen, uns in dem Zimmer nicht noch einmal umzusehen.«

Scarletts Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Laut einer Nachricht an Archibald kommt Hamish um zwanzig nach zwei wieder zurück«, sagte Scott. »Und du kennst ihn. Erinnerst du dich noch daran, wie er letzten Herbst einmal sieben Minuten vor seiner vereinbarten Ankunftszeit ankam und, anstatt einfach hereinzukommen, noch sieben Minuten im Regen gewartet hat, damit er auch ja pünktlich ist?«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Scarlett und verschränkte die Arme. »Ich weiß trotzdem nicht, was ich davon halten soll.«

»Interessiert es dich denn nicht, wonach der Einbrecher gesucht hat?«

»Natürlich tut es das! Trotzdem!«

Scott kramte den Zettel aus der Tasche seines Fracks hervor.

»Sieh dir das einmal an«, sagte er. Scarlett warf einen flüchtigen Blick auf das vergilbte Papier, neugierig, aber auch sichtlich mit einem schlechten Gewissen.

»Was soll das sein?«, sagte sie und sah wieder weg. »Wer ist das da auf der Zeichnung?«

Scott grinste.

»Das, meine Liebe, ist eine sehr alte Vermisstenanzeige«, sagte er. Er hielt das Papier hoch, auf dem die grobe Kohlezeichnung eines Mädchens zu sehen war. Dem Bericht zufolge stammte sie aus Sarlibré, einem Ort an der Grenze zwischen Veta Gallia und Lemagna. »Schon wieder Veta Gallia. Wie der Brief an Oaknight Manor. Wie das mysteriöse Kochbuch, das Hamish so nervös gemacht hat. Ein ganz schöner Zufall, meinst du nicht?«

»Glaubst du, das hat etwas mit dem Einbrecher zu tun?«

»Ich bin mir sogar sicher.«

Scarlett zog die Augenbrauen zusammen. »Und was genau?«

»Das ist Teil des großen Mysteriums«, sagte Scott. Er tippte mit dem Zeigefinger auf das zerknüllte Papier. »Sieh, hier, was Vater daneben gekritzelt hat … ›verschwunden 7. März → siebtes Opfer?‹«

»Warum sollten unsere Eltern so etwas sammeln?«, fragte Scarlett. »Ich meine, sie waren doch nur Kaufleute. Richtig?«

»Ich – ich bin mir nicht mehr sicher«, sagte Scott leise. Er suchte nach Worten. »Hör zu, Red. Vielleicht –«

»Weißt du, was das Schlimmste ist?«, sagte Scarlett bitter und sah durch ihn hindurch. »Sie waren jetzt schon so oft und so lange fort, dass sich all das hier anfühlt wie immer.« Sie runzelte die Stirn und ihre Augen wurden glasig. »Hier hat sich nichts verändert. Ich meine, es müsste hier doch irgendwo in diesem Haus zu erkennen sein – irgendetwas, das anzeigt, dass sie … fort sind.« Sie sah auf und vollführte eine einschließende Geste. »Es ist viel zu leicht, einfach so zu tun, als wäre nie etwas geschehen. Jeden Tag so zu bestreiten, als würden sie wieder länger von zu Hause fortbleiben als geplant. Verstehst du?«

Während seine Schwester sprach, nickte Scott unwillkürlich. Scarlett sah ihn an, und da war diese Hilflosigkeit in ihrem Blick, die er selbst zwar nicht zeigte, aber genauso fühlte wie sie.

»Doch, es gibt etwas«, sagte er und wunderte sich darüber, wie heiser seine Stimme dabei klang. »Es gibt etwas, das zeigt, dass etwas hier falsch ist. Und es liegt versteckt hinter einer geheimen Tür im Kaminzimmer.«

Scarlett sah ihn durchdringend an.

Scott musste sie gar nicht erst fragen.

Erstaunlich, dachte Scott und hielt fasziniert seine Hand an das rangierte Bücherregal des aufgeräumten Kaminzimmers.

»Findest du es nicht auch merkwürdig, dass wir erst jetzt etwas davon mitbekommen haben?«, fragte Scott und sah sich vorsichtshalber noch einmal um. Sie hatten einen guten Zeitpunkt abgepasst. Alle Angestellten hatten zu tun. »Du hättest doch schließlich schon viel früher diesen Windzug spüren können, oder?«

Scarlett zog eine Augenbraue hoch und unterdrückte ein Lachen.

»Dafür hätte ich vor diesem Regal stehen müssen«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Sie schüttelte sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Und um das zu tun, müsste ich mich für Bücher interessieren.«

»Das ist eine beunruhigend gute Erklärung«, sagte Scott und nickte anerkennend.

»Und du?«, fragte Scarlett. »Ich dachte, du hast jedes dieser Dinger hier tausendmal gelesen?«

Scott richtete sich auf. »Selbstverständlich. Mein Geist bedarf stetiger Stimulation!«

Scarlett schmatzte und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Autsch! Was soll –«

Noch einen Klaps.

»Hey!«

Scarlett grinste. »Ich stimuliere Euren Geist, Eure Lordschaft.«

Scott verzog das Gesicht und rieb sich den Hinterkopf. »Du hast wirklich Glück, dass du meine Schwester bist, weißt du das?«

Scarlett gab ihm einen Kuss auf die Wange und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich habe Glück, so einen Bruder zu haben.«

Scott seufzte. Nie kann ich ihr lange böse sein.

Er strich mit den Fingern über das einzige Buch, das er tatsächlich noch nie gelesen hatte.

»Jetzt weiß ich, warum ich den Schalter nie aus Versehen betätigt habe«, sagte er und deutete auf den Titel. »›Gründtliche Beschreibung der freyen Ritterlichen und Adelichen Kunst des fechtens‹. Das würde ich nie freiwillig lesen.«

Scarlett riss die Augen auf. »Es gibt Bücher über das Fechten?«

»Aha, aha! Sieh mal einer an! Könnte man dich so etwa doch noch für das Lesen begeistern?«

»Machst du Witze?«, lachte Scarlett. »Wer ist bitte schön lebensmüde genug, das Kämpfen aus einem Buch zu lernen?«

»Warum nicht? Darin finden sich gewiss einsichtsreiche Theorien über –«

Scarlett schloss ruckartig die Augen und stieß ein lautes Schnarchen aus, dann zog sie an dem Buchrücken. Ein leises Surren ertönte, dann ein metallisches Knacken. Ein finsterer Durchgang tat sich hinter dem Bücherregal auf. Scarlett ging vor.

»Ja, ja, spotte du nur über deinen Bruder!«, sagte Scott. »Also, rein hypothetisch betrachtet, kann man aus einem Buch hervorragend –«

Scarlett blieb wie angewurzelt stehen. »Bruderherz?«

»Ja?«

Das verborgene Bürozimmer stand leer.

Irgendjemand hatte es so sauber ausgeräumt, dass man nicht einmal mehr Staub auf dem Boden fand. Scott betrat den Raum, der kaum mehr als fünf mal fünf Fuß maß, und sah sich um. Da waren nur kalte, nackte Steinwände, sonst nichts.

Scarlett schnaubte. »Wäre ja auch zu einfach gewesen.«

Scott sah zurück zum Gang. »Hm. Keine Schleifspuren. Spinnennetze teilweise noch intakt.«

»Wann in aller Welt hat Hamish das getan?«, fragte Scarlett.

»Nachts«, murmelte Scott und fuhr mit den Fingern über das Gemäuer. Er klopfte jeden Stein kräftig ab. Hoffentlich ruinierte das nicht seine sensiblen Knöchel. »Und er kam nicht durch denselben Eingang wie wir. Es muss hier noch einen weiteren Zugang geben. Spürst du zufällig noch –«

Plock! – Plock!

»Hast du was?«

»Ich denke schon!«, sagte Scott und trat zurück. »Aber wie …« Er drückte kräftig gegen den hohl klingenden Stein. Zuerst schien er sich gut bewegen zu lassen, dann stieß er gegen einen Widerstand. »Na los … hrrrr!«

»Lass mich mal«, sagte Scarlett ungeduldig und stieß ihn beiseite. Sie biss die Zähne aufeinander und presste, dann hielt sie inne und schien zu lauschen. Sie machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Das Ding ist blockiert.«

Scott klatschte sich die Hand an die Stirn. »Natürlich! Von der anderen Seite.« Er verzog nachdenklich den Mund und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich fürchte, Hamish kennt uns einfach zu gut.«

Scott schloss angestrengt die Augen und begann, langsam im Kreis zu laufen.

»Warte«, sagte er und öffnete die Augen wieder. »Warte. Hamish ist in der Nacht nicht mehr im Treppenhaus gewesen, richtig?«

Scarlett sah sich zweifelnd um. »Nein. Das hätte ich gehört.«

Scott rieb sich das Kinn. »Er ist direkt hoch in sein Zimmer gegangen und hat es die ganze Nacht lang nicht mehr verlassen.«

»Und trotzdem alles leer geräumt? Wie denn?«

Scott blieb stehen.

Dann sahen er und seine Schwester sich gleichzeitig an und sagten: »Ich weiß, wo der Zugang ist!«

»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte Scott aufgeregt.

In genau diesem Moment schlug die Uhr im Kaminzimmer Viertel nach zwei und beantwortete damit seine Frage.

Ihnen blieben fünf Minuten.

Scarlett

»Lass mich raten«, feixte Scarlett, warf einen schnellen, achtsamen Blick den Flur hinunter und beobachtete dann wieder amüsiert ihren Bruder. »Du hast das mal in einem Buch gelesen?«

Scott gab sich sichtlich Mühe, sein errötendes Gesicht vor ihr zu verbergen, und stocherte hoffnungslos mit den beiden Haarspangen weiter.

»Ja«, sagte er kleinlaut. Er räusperte sich. »Die Beschreibung in dem Abenteuerroman war übrigens superb, darf ich anmerken. Mir fehlt es wohl lediglich an, ähem, an Praxis.«

»Wie war das letzte Wort?«, fragte Scarlett grinsend. »Es war so leise, dass ich es fast nicht verstanden habe.«

»An Praxis«, knirschte Scott leise.

»Also, rein hypothetisch betrachtet«, begann Scarlett feixend und griff in ihren Ärmel, »fehlt es dir wohl eher an dem hier. Sie lässt ihn immer im Südflügel hinter der Statue von Uronkel Mortimer hängen, wenn sie ihre Pause macht.«

Scott riss die Augen auf. »Mrs Devonshires Generalschlüsselbund?« Er sah sich ängstlich um, dann flüsterte er zischend. »Bist du von Sinnen? Wenn sie merkt, dass er weg ist – nicht auszudenken, was sie mit meinem Frühstückstee anrichten könnte!«

»Ach, komm schon. Sie wird dich schon nicht vergiften.«

»Schlimmer«, sagte Scott unheilschwanger. »Den Kandiszucker weglassen.«

Scarlett ging vor dem dicken Schloss in die Hocke und versuchte, abzuschätzen, welcher der gefühlt zwanzig Schlüssel passen könnte.

»Den Tee könntest du dir doch selbst holen«, sagte sie und versuchte den ersten. Er passte nicht.

Scott spähte um die Ecke. »Ähm, ja das könnte ich. Durchaus.«

»Lass mich raten«, sagte Scarlett und versuchte den nächsten. Unter ihren Fingern klickte es. Sie grinste. »Du hättest nicht die geringste Ahnung, wo du suchen müsstest, nicht wahr?«

»Ich würde viel mehr in diesem Haus wiederfinden, wenn es sinnvoll geordnet wäre!«, protestierte Scott und hob den Zeigefinger. »Erst neulich schlug ich vor, eine Schublade für Gegenstände mit kristalliner Struktur – wie beispielsweise Zucker – anlegen zu lassen. Ich wurde jedoch eindeutig vom Küchenpersonal überstimmt. Soll einer verstehen, warum!«

Scarlett drehte den Schlüssel langsam mit beiden Händen, um kein Geräusch zu verursachen.

»Wir haben es«, sagte sie triumphierend. »Und jetzt rein, bevor uns jemand sieht!«

Scott

Seine Eingebung hatte sich als Volltreffer herausgestellt. Hamishs spartanisch eingerichtete Kammer sah aus, als hätte seit Tagen niemand mehr darin gelebt oder etwas angefasst – bis auf den leicht offen stehenden Kleiderschrank des Butlers. Ein kühler Windzug erfasste in unregelmäßigen Abständen die mit Gold verzierte Holztür und ließ sie leise klappern. Bei näherer Inspektion stellte sich heraus, dass zwar eine Kollektion Schlafanzüge dahinter beheimatet war, doch die Rückwand des Schrankes fehlte und somit den Blick auf eine gähnende Dunkelheit dahinter freigab.

»Bist du sicher?«, fragte Scarlett unsicher und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Woher wissen wir, dass es nicht gefährlich ist, da reinzuspazieren?«

Scott winkte ab und schob die Garderobe beiseite.

»Pfff – gefährlich?«, sagte er. »Ist das dein Ernst?« Er nahm sich eine Lampe von Hamishs Nachttisch und entzündete sie. »Du kennst doch Hamish!« Er winkte auffordernd hinter sich her und tat den ersten Schritt in die Dunkelheit. »Du wirst schon sehen, hier ist alles vollkommen sich-aaah!«

Alles, was Scott vor einem Sturz in den sicheren Tod rettete, war Scarletts blitzschneller Griff an seinen Zopf. Für einen Moment wirbelte Scott wild mit den Armen über einem gähnenden Abgrund, dann zog seine Schwester ihn zurück und die beiden fielen auf ihre Hinterteile.

»Du sagtest?«, keuchte Scarlett.

Scott blinzelte, den Schrecken noch immer in den Gliedern. »Ähm. Nach dir, Schwesterherz …«

Nachdem die Lampe eine metallene Leiter aus der Dunkelheit geschält hatte, ging Scarlett voraus. Etwa siebenundzwanzig Sprossen später erreichten sie den Boden des verborgenen Gemäuers und fanden sich in einem Korridor wieder, an dessen Ende sich eine mächtige, zweiflügelige Eichentür befand, über deren Rahmen man mannigfaltige Symbole in silberner Schrift eingraviert hatte. Der kühle Wind, der eindeutig von hier unten kam, sauste an den feucht wirkenden Wänden vorbei und ließ Spinnennetze schweben wie ein Meer aus Seidentüchern.

»Einladend«, kommentierte Scarlett.

Zögerlich hielt Scott die Lampe vor sich und tat einen Schritt nach dem anderen. Sein Blick wanderte über den Fußboden. Warum sollte jemand sich die Mühe machen, in so einem heruntergekommenen Tunnel solch kunstvolle, quadratische Bodenplatten mit dem Familienwappen der Oaknights auszulegen?

»Worauf warten wir eigentlich noch?«, rief Scarlett und marschierte vorwärts. Scott riss erschrocken die Augen auf, zog seine Schwester zurück und deutete mit Nachdruck auf den Boden.

»Darauf!«, keuchte er. Die Platte, die seine Schwester kurz zuvor betreten hatte, rastete mit einem trockenen KRACK! in den Boden ein. Nur einen Sekundenbruchteil später sausten aus verborgenen Schlitzen in den Wänden riesige Hellebarden mit blitzenden Klingen von links nach rechts. »Du kannst nicht immer einfach so drauflos rennen, Schwesterherz!«

Grummelnd nahm Scarlett seine Hand von ihrem Arm. »Ja, ja, schon verstanden.« Sie beäugte missmutig die Nischen. »Was schlagen Euer Durchlaucht vor?«

Scott kniff die Augen zusammen und rieb sich seinen nicht vorhandenen Bart.

»Es muss ein Muster geben«, sagte er, kniete sich hin und leuchtete über den Boden. »Es gibt immer ein Muster.«

»Wovon redest du da?«

Scott nickte hinüber zu den einzelnen Platten. »Davon. Sieh mal, die Platte da vorn ist viel abgewetzter als die anderen. Und die zwei Schritte daneben ebenfalls, beinahe, als hätte man sie poliert. Was schließt du daraus?«

»Dass Mrs Devonshire den Laden hier unten niemals zu Gesicht bekommen hat? Sonst wäre hier alles gleich sauber poliert.«

Scott zog eine Augenbraue hoch. »Ähm, ja, tatsächlich – aber das meinte ich nicht! Ich denke, dass man unbeschadet durch diese Vorrichtung treten kann, wenn man den Weg entlang der abgescheuerten Platten nimmt. In etwa … so.«

Er schluckte, lehnte sich vor und setzte mit spitzen Zehen einen Fuß auf die poliert aussehende Bodenplatte. Langsam gab er mehr Gewicht an das Bein ab, bis er schließlich vollständig auf der Platte stand.

»Ha!«, machte Scott und nahm den zweiten Fuß dazu. »Siehst du? Wenn man sich einen Moment Zeit zum Nachdenken lässt, dann –«

Scarlett hechtete an ihm vorbei, direkt auf die übernächste Bodenplatte, dann tanzte sie von einer zur nächsten und kam wackelnd in der Mitte des Korridors auf der letzten davon zum Stehen.

»Euer Durchlaucht wollten sagen?«, fragte sie mit einem Grinsen und verbeugte sich theatralisch.

Scott zog eine resignierte Grimasse.

»Schätzesokannmanesauchmachn«, grummelte er.

Achtsam verfolgte er die Spuren unter sich. Er trat einmal fast daneben und verlor die Lampe, doch schließlich erreichte er unbescholten das andere Ende.

Scarlett grinste breit. »Lahme Ente.«

Scott klopfte sich den Staub vom Frack. »Ja, ja, mach dich nur lustig. Sei froh, dass ich der Umsichtige in unserem Zweiergespann bin –«

Scott wollte gerade noch einen spitzzüngigen Kommentar hinzufügen, als er mit der Schulter gegen einen knackenden Widerstand an der Wand stieß. Etwas dahinter rastete lautstark ein, dann herrschte Totenstille.

»Ähm«, machte Scott und fror mitten in der Bewegung ein. »Schwesterherz?«

Scarlett legte den Kopf schief. Ihre Ohren zuckten, ihr Blick verfinsterte sich – dann riss sie erschrocken die Augen auf.

»Renn!«, rief sie.

Scott runzelte die Stirn. »Rennen? Hast du mir eben überhaupt zugehör – woah!«

Scarlett packte ihn an seinem Arm und preschte vorwärts.

»Manchmal muss man einfach rennen statt denken – glaub mir!«

»Aber –!«

Hinter Scott schallte ein stakkatoartiges Geräusch aus dem Korridor – pockpockpockpock! – von links und rechts hagelte es einen wahren Mahlstrom aus Armbrustbolzen, abgefeuert aus verborgenen Schießscharten. Der einzige Ausweg blieb die Eichentür.

»Meine Güte!«, rief Scott und sprintete los. »Renn!«

»Sag ich doch schon die ganze Zeit!«, keuchte Scarlett neben ihm.

»Du hättest dich deutlicher ausdrücken müssen!«, tadelte Scott. Eine Pfeilspitze pfiff an seinem Ohr vorbei.

»DEUTLICHER AUSDRÜCKEN?!«

»Dann hätte ich nicht so viel Zeit mit Herumstehen vergeudet und – oh, nein!«

Ein Spalt im Boden zischte lautstark, dann öffnete sich einige Meter vor ihnen ein gähnendes Loch, direkt vor der mächtigen Eichentür.

»Ernsthaft?!«, schrie Scarlett und bremste direkt vor dem Abgrund ab.

»Was jetzt? Was jetzt?«, rief Scott und warf die Lampe hinter sich.

»Wir könnten weiter stehen bleiben und nachdenken!«, zischte Scarlett sarkastisch.

»Was? Bist du vollkommen übergeschnappt?«

»Wir müssen springen!«

»Aber die Tür ist geschlossen!«

»Das ist jetzt auch egal – komm, los, los, los!«

Das schaffen wir nie!, schoss ihm durch den Kopf. Die Türgriffe! Sie mussten die Türgriffe mit dem Sprung erreichen!

»Türgriffe!«, riefen Scarlett und er synchron – und sprangen.

Scarlett

Scarlett krachte gegen die Tür.

Für den Bruchteil eines Augenblickes fürchtete sie, einfach abzuprallen – dann bekam sie ächzend einen der beiden Knäufe zu fassen. Sie zappelte wie wild mit den Beinen, als sie vergeblich versuchte, Halt mit ihren Füßen zu finden. Was gäbe sie jetzt für ein Paar ordentlicher Krallen!

»Scott!?«, rief sie atemlos und sah sich um. Ihr Bruder baumelte eine Armlänge neben ihr am zweiten Türknauf und hatte die Augen weit aufgerissen. Unter ihnen gähnte ein schwarzer Abgrund. Scarletts Fingergelenke waren schneeweiß, knackten und zitterten vor Anstrengung. »Kannst du dich halten?!«

»J-ja, denke ich! Solange niemand die – uaaah!«

Scarlett keuchte auf, als ihr Türknauf anfing, sich zu drehen, und jemand von der anderen Seite kraftvoll die Flügeltüren aufstieß. Dabei wurde Scarlett von dem Schwung der Bewegung erfasst und herumgeschleudert, bis sie mit dem Rücken an die Wand klatschte. Ihrem Bruder wurde davon auf der anderen Seite hörbar die Luft aus den Lungen geprügelt.

»Um Himmels willen! Master Scott? Lady Scarlett?«, fragte eine bekannte Stimme besorgt. »Ich bin untröstlich!«

»Hamish!«, keuchte Scarlett und strampelte mit den Beinen. »Bist du das?«

»Ich fürchte ja, Mylady. Sind Sie verletzt?«

»Es geht mir gut, aber ich kann mich nicht mehr lange halten!«

»Und der junge Lord Oaknight? Ist er ebenfalls unversehrt?«

»Mein Frack ist ruiniert!«, ächzte Scott von der anderen Seite her.

»Hamish?«, rief Scarlett und verzog das Gesicht. »Tun Sie mir einen Gefallen und treten Sie kräftig gegen den gegenüberliegenden Türflügel?«

Glücklicherweise hatten Mama und Papa immer schon ein großartiges Gespür dafür gehabt, welche Angestellten gut zur Familie passten – einen Diener mit der Kraft eines Bären zum Beispiel. Hamish hatte Scarlett und ihren Bruder mit jeweils nur einem Arm von den Türen geangelt. Kurz darauf fanden sie sich in einem kleinen, abgedunkelten Kellergang wieder, in dem Hamish mehrere Hebel umlegte, die ein kaum wahrnehmbares Rütteln, Klicken und Knirschen im umgebenden Gemäuer auslösten.

Als der Butler seine Laterne vor das Gesicht hob, um mit ihnen zu sprechen, erschrak Scarlett.

Er sah furchtbar aus – für Hamishs Verhältnisse jedenfalls. Mindestens drei seiner Haare standen in spitzen Winkeln von seinem Kopf ab und dunkle Ringe umrahmten seine Augen. Als er sich vergewissert hatte, dass es Scarlett und ihrem Bruder auch wirklich gut ging, sagte er: »Ich werde Sie beide jetzt umgehend wieder zurückbringen und anschließend darum bitten, nie wieder auch nur einen Fuß in diese Katakomben zu setzen! Folgen Sie mir bitte!« Mit diesen Worten drehte er ihnen den Rücken zu und ging voraus. Scarlett wechselte einen fragenden Blick mit Scott.

»Moment mal! Das würde Ihnen wohl so passen!«, gab ihr Bruder zurück. Scarlett und er folgten dem Butler. »Was wird hier gespielt? Was ist das für ein Ort?«

»Sie wandeln gegenwärtlich durch das Gemäuer der altehrwürdigen Wehranlage von Oaknight Castle, Sir«, erklärte Hamish kühl.

Scarlett kniff rätselnd die Augen zusammen. »Die hat man doch schon vor Jahrhunderten abgefackelt?«

»Offensichtlich nicht«, stellte Scott fasziniert fest und sah sich staunend um. »Ich habe Vater einmal einen alten Grundriss der Burg betrachten sehen. Damals dachte ich, dass man Oaknight Manor als Erinnerung an die Historie dieser Burg errichtet hat, aber … meine Güte, sie bildet sozusagen die Grundmauern, nicht wahr? Hamish, wie um alles in der Welt hat man das angestellt?«

»Hier entlang, bitte, Sir«, antwortete Hamish nur und schnaubte ungeduldig.

»Wozu das alles?«, fragte Scarlett und erkannte in den Schatten des finsteren Treppenhauses etliche Türen und Gänge. »Was ist hier unten?«

Scott zog den Kopf ein, nachdem sie durch einen alten Torbogen gelaufen waren.

»Ich fürchte, Sie sind uns mehr als nur ein paar Antworten schuldig, mein lieber Hamish«, sagte er und verlor empört den Ringkampf mit einem Spinnennetz, das sich in seinen Haaren verfangen hatte.

»Nein!«, antwortete Hamish. Er schien heftig mit sich selbst zu kämpfen. »Ich habe geschworen, Sie beide zu beschützen.«