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Drei Freunde.
Ein Fotoalbum aus dem Jenseits.
... was kann da schon schiefgehen?
Als Ignatia eines Nachts auf dem Dachboden ein altes Fotoalbum voller alter Polaroids findet, traut sie ihren Augen kaum: Haben ihre verstorbenen Eltern darin tatsächlich verborgene Nachrichten hinterlassen? Und warum tauchen ausgerechnet jetzt überall um Ignatia herum ruhelose Geister und unheimliche Fremde auf? Da bleibt nur eins!
Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Vic und dem geheimnisvollen Layton begibt sich Ignatia auf die Suche nach Antworten. Schnell wird klar: Die Spur führt direkt in eine neue, verborgene Welt hinein. Eine Welt, in der Monster lauern, von denen man längst glaubte, sie wären zurück in ihre Bücher verbannt worden ... doch an Halloween ist in Grace Falls scheinbar alles möglich.
Kann Ignatia das Rätsel um ihr Erbe rechtzeitig entschlüsseln, bevor ein uraltes (und echt übel riechendes) Grauen erneut zum Leben erwacht? Oder sollten einige Geheimnisse besser für immer begraben bleiben?
Finde es heraus!
Mit kurzen und knackigen Kapiteln - perfekt zum Gruseln, Lachen und Bingen!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Für Mama und Papa - ich liebe euch.
Dank euch bin ich in einem Haushalt aufgewachsen, in dem jeden Abend Zauberer aus Mittelerde und hochrangige Sternenflotten-Offiziere zum gemeinsamen Essen eingeladen waren - das habt ihr jetzt davon! :-)
... ich bin seit kurzem ein Magnet für Katastrophen und blutrünstige Ungeheuer. Dinge, die ich berühre, werden gerne auch mal substanzlos wie Rauch, so als wären sie nicht vorhanden. Manchmal kann ich sogar durch mein Spiegelbild hindurchsehen wie durch einen Geist. Wenn du also an deinem Leben hängst, winken wir uns vielleicht besser einfach nur nett zu. Oder noch besser: Vergiss, dass du mich gesehen hast. Vergiss, dass du diese Zeilen gelesen hast. Und vor allem – vor allem! – vergiss ein Wort.Mitterlicht. Diese Sorte von ›Problem‹ willst du nämlich nicht. Vertrau mir. Ich weiß, wovon ich rede. Und ich hatte schon genug Probleme, bevor ich wusste, dass ich eine Animantin bin. Wer ich bin? Mein Name ist Iggy, und bis vor kurzem hatte ich noch keine Ahnung, was in den Schatten meiner Stadt lauerte. Ich hatte keine Idee davon, wie tief die übernatürlichen Geheimnisse im Herzen dieses Ortes wirklich gingen. Doch eines Tages änderte sich das alles, denn ich beging einen folgenschweren Fehler. Ich öffnete einem Monster die Tür.
Ryker hatte sie gefunden. Er hätte sein gutes Auge darauf verwettet, dass sich seine Zielperson unter dem Lehrpersonal der Academy verborgen hielt. Wahrscheinlich als Schulpsychologe oder Seelsorger. Diese Abscheulichkeiten liebten solche ironischen Versteckspiele, bevor sie ihre Beute verschlangen. Doch er hatte sich geirrt. Er zog die Phiole aus seiner Jackentasche, entkorkte sie und schüttete sich den Inhalt in den Mund. Das Serum brannte heiß in seinem Hals. Wieder ein paar Momente gewonnen. Das Monster in ihm zurückgedrängt. Er sog die klirrende Abendluft ein. Ein früher Mond hing über der Stadt. Das anstehende Halloween blies rote und orangene Lichter in die Bäume der Alleen. Wie immer um diese Jahreszeit war das Gelände des Internats bis zur Unkenntlichkeit mit klassischen Horror-Dekorationen überzogen: Im Wind schwankende Kürbis-Laternen, lauernde schwarze Katzen, Vogelscheuchen mit Hipster-Bärtchen.Sie haben nicht die geringste Ahnung, was sie damit einladen, dachte Ryker.Dinge wie dich?, fragte eine weitere Stimme in seinem Kopf. Er stieß die Tür zum Wohnkomplex auf. Das Mädchen war hier, hier drinnen. Er konnte sie riechen.
Mann, war ich glücklich, drinnen zu sein. Ich saß auf dem Neun-Komfortzonen-Schreibtischstuhl meiner Mitbewohnerin in unserem kleinen Internatszimmer, hatte mich in meinen »ICH BIN GROOT«-Pullover gekuschelt und stopfte mir meine roten Locken in die Kapuze. Die letzten Strahlen der Sonne fielen auf die zahllosen Filmposter an den Wänden und die ausgefranste Tagesdecke auf meinem zerwühlten Bett. Auf meinem Schreibtisch dampfte eine Tasse Tee (Earl Grey, heiß). Daneben surrte Vickys Laptop vor sich hin und lud gerade die Fotografien für meine aktuelle Auftragsarbeit. Sie zeigten ein freundliches Paar bei einer kleinen privaten Geburtstagsfeier hinter ihrem Haus - die Jeffersons aus Granpas Nachbarschaft. Wenn ich mich reinhing, dann würden sie vielleicht noch zehn oder zwanzig Dollar drauflegen, dann könnte ich die Bücher für das nächste Halbjahr selbst bezahlen. Granpa etwas entlasten. Der ausdrückliche Wunsch der beiden waren fünf möglichst natürliche Partnerporträts. Ich hatte mit einem dicken Grinsen im Gesicht zugesagt - ich liebe Porträts. Ich liebe die Art, wie sie einen Teil des Wesens einfangen und für immer festhalten, so als könnten sie die Zeit einfrieren. Ich sag’s euch: Wenn ihr nach gefühlten fünfhundert Fehlschüssen dann plötzlich etwas vor Augen habt, dass ehrlich und unverfälscht ist … das ist unbeschreiblich. Ich weiß, dass ich mich jetzt noch gruseliger anhöre, als es euch meine Jahrbucheinträge glauben lassen würden, aber ... ich bin überzeugt davon, dass man in diesem Augenblick ein Stück Seele sichtbar macht. Ich wusste zwar noch nicht ganz, wo ich besagtes Stückchen Seele in all den Dateien finden würde, war mir aber sicher, dass es da war. Nachdem ich dem Nachbarshund, der im Hintergrund häufig neugierig über den Zaun lugte, einen fotorealistischen Zylinder und einen gekräuselten Schnurrbart gezaubert hatte, scrollte ich weiter und hielt inne. Ich legte den Kopf schräg. Meine Nackenhaare stellten sich sanft auf. Zwischen meinen Schulterblättern prickelte es. »Hab dich«, flüsterte ich. Manchmal, wie soll ich das beschreiben, da sehe ich Dinge. Wie hier: Mr und Mrs Jefferson hatten auf merkwürdig verletzliche Art und Weise die Arme umeinander gelegt. Die Kamera einen Moment lang vergessen. Ich konnte es fühlen. Hier lag etwas verborgen, etwas Echtes. Eine Geschichte. Ich drehte den Laptop so, dass er mit der Rückseite zu der Wand über meinem Bett zeigte. Da Vickys Eltern mehr Kohle hatten, als sie zählen könnten, hatte das Ding einen eingebauten Beamer. Ich schaltete das Licht aus und zog die Vorhänge zu. Das einzige, was den Raum jetzt noch erleuchtete, war das überlebensgroß an die Wand projizierte Bild. Zeit zum Eintauchen. Häufig sind es nur kleine Details: Der entscheidende Millimeter, den ein Mundwinkel noch zu einem ganzen Lächeln benötigt hätte, und der es als aufgesetzt entlarvte. Ein gedankenverlorenes Streichen über den mit Buntstiften bekritzelten Gartenzaun, so als ob das Kind, das diese Malereien hinterlassen hatte, noch immer dort war. Ein kleiner, braun angelaufener Fußball, der schon sehr lange nicht mehr getreten worden war. Ich ließ mich aus dem Stuhl hochfedern. Als ich stand, fiel der Umriss meines Schattens auf das überlebensgroße Bild. Zwischen zwei Eltern, die ein Kind verloren hatten. Langsam streckte ich meine Hand aus, meine Fingerspitzen nur noch wenige Millimeter von der Wand entfernt. Licht hinter mir. Dunkelheit vor mir. Da war es wieder, dieses alte Gefühl, wie ein Riss - ausgehend von meinem Hals, über meinen Brustkorb hinweg bis tief in meinen Bauch. Ich spürte, dass wenn ich diesen Weg weitergehen würde, an seinem Ende Tränen und Erinnerungen warteten. Und meine eigene Sehnsucht. Nach einer Zeit, in der sich das Leben anders angefühlt hatte als jetzt. »Ignaaatiaaa!«, krähte etwas Grausiges vor der Tür. Ich keuchte auf, fiel beim Versuch mich zu drehen über meine Füße und verhedderte mich semi-tödlich im Ladekabel von Vickys Laptop, der jetzt zu einem dreifachen Todessalto ansetzte. Mit der Eleganz eines kopflosen Hühnchens auf Blitzeis fing ich das Teil und fiel dabei rücklings aufs Bett. Der Beamer war aus. Es war stockfinster. Fingernägel kratzten an der Außenseite der Tür.
»Iggyyy!« »J-ja?«, machte ich und pustete mir immer wieder die Haare aus dem Gesicht. Ein angestrengtes Stöhnen erklang, gefolgt von diversen, nur schwer übersetzbaren Gutturallauten. »Öffne die Tüüür!« Ich schluckte. Meine Finger krallten sich in den Laptop. »N-nein?« »Muahaha – argh.« Jemand hustete. »Mann, ist das schwer!« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Vic?«, rief ich. »Was?«, rief die Stimme. »Ähm. Neeeein! Ich bin das, was von Vic übrig ist!« Ich atmete auf und verdrehte lächelnd die Augen. »Vicky Hallows«, rief ich. »Du bist eine schreckliche Mitbewohnerin und ein furchtbarer Mensch, dass du mir so einen Schrecken einjagst!« Ich öffnete die Tür. Bevor ihr jetzt gleich das erste Mal meine beste Freundin trefft, sollte ich euch besser noch ein paar Dinge über sie erzählen. Vic - vollnamentlich Victoria Grace Hallows - hat mal einen Poetry Slam mit nichts weiter als kreativen Flüchen gewonnen. Sie hat sich selbst innerhalb von kürzester Zeit Französisch während eines Austauschprogramms beigebracht, mal ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet und hat in ihrem Zuhause ein Zimmer, das aussieht wie ein heiliger Tempel für alles, was mit Superhelden und dem »Herrn der Ringe« zu tun hat. Kurzum, ich liebe sie. »Du bist wieder da!«, rief ich grinsend. »Verdammt nochmal, was hockst du hier wieder mitten in der Dunkelheit, Fünkchen?« Vic trat zielsicher nach dem Lichtschalter und warf ihre zwei Rucksäcke samt Tragetasche auf ihr Bett, dann schenkte sie mir ein strahlendes Grinsen und umarmte mich innig. »Komm her, Fünkchen. Hab’ dich vermisst.« Meine Mitbewohnerin hatte weißblond gefärbtes Haar mit neongrünen Spitzen und Augen wie das arktische Meer. Sie war zwei Köpfe größer als ich, wog aber genauso viel, was ihre Arme und Beine nochmal länger aussehen ließ, als sie es eigentlich waren. »Mann, was hast du denn da alles drin?«, fragte ich. »Kostüme!«, sagte Vic stolz und öffnete ihre Sachen. »Für die Party!« »Wovon redest du da?«, lachte ich und half ihr beim Auspacken. »Was für eine Party?« »Die GFA-Halloween-Party, auf der wir als Frankensteins Monster und der Geist von Dr. Frankenstein gehen werden.« Ich stoppte. »Nein«, sagte ich und hob abwehrend die Hände. »Ohhh, nein. Keine Chance, Vic.« »Hey, mit mir an deiner Seite kann dir nichts passieren«, gab meine Mitbewohnerin zurück. »Weißt du noch, letzten Sommer, als ich dich auf meinem Rücken quer durch diese lebensfeindliche Steinwüste diesen Vulkan hinaufgetragen habe, damit wir diesen Ring ins Feuer werfen -« »Netter Versuch. Ich bleibe hier.« »Ist das dein Ernst?«, fragte Vic, dann nahm sie eine Superheldenpose ein, sah in eine imaginäre Ferne und vollführte eine weitreichende Geste. »Spaß wird gehabt werden! Legenden erzählt! Lieder gesungen! Memes geposted!« Ich hob eine Augenbraue. »Dann kannst du mir ja alles erzählen, nachdem du allein da warst.« Ich ging in Deckung, als Vic ihre Socken hinter sich warf wie ein Hund, der nach einer Stelle suchte, seinen Knochen zu verbuddeln. »Keine Widerrede! Potentielle Dates lernt man nicht kennen, indem man sich in seinem Zimmer einschließt.« »Das sind lediglich Präventivmaßnahmen gegen Sonnenbrand.« Meine Mitbewohnerin stapelte einen Satz Hoodies neben mir, dann stemmte sie ihre Hände in ihre Hüfte und sah mich großmütterlich an. »Komm schon, Fünkchen. Du bist eine gute Seele in einem wunderschönen Körper. Du vereinst sozusagen das Beste aus beiden Welten. Großartige Voraussetzungen für eine epische Quest.« Ich schaute müde an mir hinunter. Ausgetretene Chucks, zerfressene Jeans und mein ausgewaschener Pullover, unter dem sich deutlich mehr Bauch abzeichnete, als mir insgeheim lieb war. »Yay«, sagte ich nur. Vic schüttelte energisch den Kopf. »Du hast ein wundervolles Gehirn und Spiegel zerspringen nicht sofort, wenn du dich davor stellst. Besser?« »Awww. Und du hast mir noch nie Pralinen zu unserem Jahrestag geschenkt!« Vic grinste breit, dann fiel ihr Blick auf das aufflackernde Display des Laptops. Im Browser waren noch einige Fenster geöffnet. Meine Mitbewohnerin sah mich besorgt an. »Bist du heute wieder versunken?« »Definiere: Versunken.« Vic verzog nachdenklich den Mund. »Sich mit verheultem Eyeliner den ganzen Tag lang Bilder von verblühten Blumen reinziehen und dazu ’nen Song irgendeiner obskuren isländischen Band auf Dauerschleife hören, dessen einzige Lyrics ›the only eternal thing is death‹ sind?« »Okay, das wäre ziemlich versunken«, lachte ich. »So schlimm war es nicht. Aber … näher dran, als mir lieb ist.« Vic schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und legte mir einen ihrer langen Arme über die Schultern. »Dann kommt jetzt der Teil, in dem ich dir was total Weises sage wie … ähm, ›Was ist besser? Sich an die Vergangenheit klammern und dafür die Sicherheit zu haben, dass sich nie etwas verändern wird? Oder im Hier und Jetzt leben, sich auf die Zukunft freuen, aber sich dafür der Unsicherheit des Lebens stellen?‹« »Hast du das aus ’nem Glückskeks?« »Nope. Ist ein Victoria’sches Original, Patent bereits angemeldet. Also – was ist jetzt mit den Kostümen?« »Hartnäckig, was?«, lachte ich. »Sorry, Vic. Ich passe.« Vic wackelte pseudo-verführerisch mit den Augenbrauen - ihr Lieblingstrick – dann legte sie mir ihre Hand auf die Schulter. »Fünkchen. Du kannst das nicht für den Rest deines Lebens so durchziehen. Ernsthaft, was erwartest du denn? Das das Schicksal in Gestalt von Gandalf höchstpersönlich eines schönen, unverhofften Tages einfach an deine Tür klopft?«POCK-POCK-POCK! Vic und ich fuhren zeitgleich herum, dann starrten wir uns an. Warum sah sie dabei plötzlich so besorgt aus? Ich blinzelte. »Erwartest du jemanden?«, fragte sie. »Nein«, sagte ich.
Es klopfte wieder. Vic hielt für einen Moment grinsend meinen Blick, dann zuckte sie mit den Schultern. Irgendwie wirkte sie dabei merkwürdig. »Für dich! Ich packe weiter aus«, sagte sie. »Hallo?«, rief eine Jungenstimme von draußen. »Jemand zuhause?« »Sofort!«, rief ich zur Tür. Nachdem ich Vic einen giftigen Blick zugeschossen hatte, manövrierte ich mich durch diverse Klamottenstapel hindurch zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. »Was gibt - oh.« Es war nicht Gandalf. Es war ein Junge. Das Erste, was ich wahrnahm, war sein Geruch, wie ein Rausch aus Sandelholz, Leder und ... Nacht? Sein dunkles Haar wirkte sonderbar wild, und seine intensiven Augen erinnerten mich an die smaragdfarbenen Augen einer Katze. Doch das war bei weitem nicht das Merkwürdigste an ihm: Wer auch immer er war, er hatte die Ausstrahlung eines Jungen, der voller Tätowierungen und Abenteuer war, doch trug er dabei das verschüchterte Lächeln eines Poeten. Dadurch schien es beinahe, als sei er zwei Personen auf einmal. »Und, wer ist es?«, rief Vic. Moment mal, was trug er da um seinen Hals? Eine schwarze Kette? Nein. Sah eher aus wie eine heruntergezogene Augenklappe … Mein Herz machte einen Satz, als ich bemerkte, dass ich seit fünf Sekunden keinen Laut mehr von mir gegeben hatte, obwohl mich der späte Besucher schon längst gegrüßt hatte. Ich spürte, wie ich rot anlief.Sag’ was, Iggy. Irgendwas Normales! »Aber … wo ist dein Bart?«, sagte ich. Oh Gott! »Iggy?«, hörte ich hinter mir. »Du, dein Handy vibriert andauernd. Vielleicht - hallooo!« »Wirhambesuch«, flüsterte ich. »Wohersollichdaswissn!«, zischte Vic. Der Junge lächelte. »Ihr wisst schon, dass ich euch hören kann, oder?«, sagte er. »Ich glaube, er kann uns hören«, flüsterte ich zu Vic. Sie stieß mich unsanft an, räusperte sich lautstark und wandte sich an unseren Überraschungsgast. »Iggy!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wenn ein gutaussehender Fremder mit Augenklappe an unsere Tür klopft, sagen wir doch nicht: ›Wo ist dein Bart?‹ Wir fragen: ›Wo ist dein Papagei?‹« Ich warf meiner besten Freundin einen resignierenden Blick zu. Der Junge musterte mich aufmerksam. »Hallo, Ignatia«, sagte er. Seine Stimme lief mir knisternd über den Rücken. Wer zur Hölle war dieser Typ? »Du hast es mir wirklich sehr schwer gemacht, dich bis zu dieser Schule zu verfolgen. Ich muss schon zugeben, dich so zu verbergen, direkt vor den Augen aller? Ich bin beeindruckt.« Ich blinzelte heftig und legte den Kopf schief. »Ähm. Wie bitte?« »Ich bin hier, um dir etwas mitzuteilen, Ignatia«, sagte er. Ich erstarrte, als er sich vorlehnte. »Heute Nacht wirst du deinen ersten Fehler machen. Und wenn du das tust, werde ich ganz in deiner Nähe sein. Sehr nah.« Als der Junge das letzte Wort aussprach, hätte ich schwören können, dass seine Augen in zwei unterschiedlichen Farben aufflackerten. Dann, als wäre nie etwas geschehen, kehrte er uns den Rücken und spazierte seelenruhig den Flur hinunter. Nachdem er hinter der nächsten Tür verschwunden war, sagte Vic: »Was. War. Das. Denn. Bitte?« Ich wollte antworten, dass ich keine Ahnung hatte, als ich realisierte, dass mein Handywecker sich schon wieder meldete. Ich stöhnte auf und schlug mir die Hand an die Stirn. Na super. Typisch, Iggy. »Das darf doch nicht wahr sein!« Ich schnappte mir mein Handy, stellte den stummen Alarm ab und nahm meine Jacke vom Schrank. »Wieso vergesse ich grundsätzlich alle wichtigen Termine? Ich sollte längst unterwegs sein!« »Was? Wohin?«, fragte Vic. »Meine Therapiestunde bei Mrs Ward! Mann, sie hat sogar schon versucht, anzurufen.« Mein Kopf schwirrte. »Hast du hier irgendwo meine Handschuhe gesehen?« »Bist du immer noch sicher, dass du nicht mit zur Party willst?«, fragte Vic nachdenklich und sah den Gang hinunter. »Das gerade hätte als Anfrage für ein Date durchgehen können. Gut, eine ziemlich verkorkste, das stimmt, aber hey.« »Ist das dein Ernst? Jetzt erst recht nicht!« »Ach, Mann. Hätte ja klappen können.« »Lass uns doch einfach einen schönen Netflix-Abend machen, okay?« Vic warf die Arme hoch und pustete die Luft aus. »Na gut. Du weißt doch, dass ich dir nichts abschlagen kann, Fünkchen.« »Und ich würde nie auf die Idee kommen, das in irgendeinerweise zu meinem Vorteil zu nutzen«, sagte ich, grinste bis über beide Ohren und gab ihr noch einen schnellen Kuss auf die Wange. »Kannst mich ja abholen kommen!« Als mich die eisige Abendluft umarmte und meinen Atem zu Nebel werden ließ, hatte ich noch keine Ahnung davon, dass ich in vier Stunden vollkommen durchnässt auf der Tanzfläche der GFA-Halloween-Party stehen würde, und der gutaussehende Junge mit den leuchtenden Augen noch mein absolut geringstes Problem war.
» ... Ignatia?« »Hm?« Durch den himmlischen duftenden Dampf meines frisch zubereiteten Chai Latte sah ich auf. Die Wärme tat unsagbar gut, nachdem ich mir mal wieder fast alles abgefroren hatte, was man für effiziente Fortbewegung benötigte. »Sorry, war kurz woanders. Was haben Sie gerade gesagt?« Granpa hätte zu Mrs Ward wahrscheinlich gesagt, sie sei ›der Hammer‹. Ihre Mom kam aus Japan und ihr Dad ursprünglich aus Südamerika. Sie trug ihre langen schwarzen Haare stets offen zu ihren Business-Outfits und hatte die beste Körperhaltung, die ich jemals gesehen hatte. Yoga und Tanzen, hatte sie mir mal erzählt. Eine Menge Jungs kamen nur her, um sie anzuhimmeln, und im Dezember hatte sie immer alle Hände voll damit zu tun, die Neuzugänge der männlichen Lehrer abzuwimmeln, die sie für die Neujahrsfeier der Schule nach einem Date fragen wollten. »Möchtest du noch einen?«, sagte Mrs Ward und deutete hinter sich auf einen dampfenden Topf, der den Raum mit verführerischem Aroma erfüllte. Sie saß in einem überdimensionierten Sitzsack, der vor anstatt hinter ihrem Schreibtisch stand, direkt neben mir, was ich total cool fand. »Nein, danke«, sagte ich und winkte grinsend ab. »Ich platze gleich. Das wäre echt zu schade um ihre Möbel.« Bevor ich das erste Mal hier gewesen war, hatte ich mir einen alten Raum mit verstaubten, deckenhohen Bücherregalen, schweren Vorhängen und einem Ledersofa zum Drauflegen vorgestellt, aber Mrs Wards Büro war das komplette, awesome Gegenteil davon: Statt Stühle gab es hier ausschließlich bunte Sitzsäcke, eine Lese- und Chill-Ecke, in der eine Fotobox stand (inklusive lustiger Brillen, Masken und anderer Accessoires für coole Schnappschüsse, die quer über den gesamten Raum verstreut lagen). Es gab sogar eine extrem ausgestattete Küchenzeile, in der Mrs Ward Kakao, Plätzchen und Kuchen zubereitete, wenn ihr danach war. Man fand ein paar Bücher über Psychologie, wenn man danach suchte, aber die meisten lesbaren Dinge, die hier standen, waren literarische Klassiker: Grimms Märchen, Bram Stokers Dracula oder sogar Mary Shelleys Frankenstein (Letzteres fand besonders Vic außerordentlich cool). Ich konnte gar nicht anders, als mich bei ihr wohl zu fühlen. Außer meiner besten Freundin war sie der Mensch, der am meisten von mir wusste: Dass die Stapel meiner unerledigten Strafarbeiten eigene Postleitzahlen hatten, dass mein Granpa drei Jobs für mich arbeitete, damit ich den Platz auf dem Internat der Grace Falls Academy behalten konnte, und sogar, dass ich meinen ersten und bisher einzigen Kuss von einem hyperaktiven Labradorwelpen bekommen hatte. (Mir war damals ganz warm ums Herz. Vielleicht, weil er mich dabei vollgepinkelt hat.) »Übrigens - mhm, lecker - hast du schon mal einen Blick in das Buch geworfen, das ich dir empfohlen habe?«, fragte sie und vernichtete ihren letzten Triple-Chocolate-Cookie. Das sie sich danach wie immer mit einer Serviette die Mundwinkel abtupfte wie eine britische Adelige, fand ich irgendwie total putzig. »Das über, ähm, Archetypen?«, fragte ich nach kurzem Nachdenken. »Genau. Könnte dich interessieren.« »Nein, noch nicht. Ehrlich gesagt habe ich im Moment andere Sachen im Kopf.« »Oh, oh!«, machte Mrs Ward. Sie stellte aufgeregt ihre Tasse auf den Schreibtisch neben uns und setzte sich gerade hin. »Das hört sich nach etwas an, wofür ich studieren gegangen bin. Und ich dachte schon, ich wäre umsonst in diesen ganzen Vorlesungen eingeschlafen.« Sie zwinkerte schelmisch. »Schieß’ los.« »Ach«, sagte ich. »Nichts wichtiges eigentlich. Vic möchte mit mir auf die Party heute Abend. Und ich glaube, ein Junge hat versucht, mich ebenfalls danach zu fragen. Bin mir da aber nicht sicher. Es war ein bisschen merkwürdig.« »Was war merkwürdig daran?« »Die Art, wie er es gesagt hat. Als ob ich eine Art Geheimagent oder sowas wäre und er versuchen würde, mich dazu zu kriegen, meine Tarnung aufzugeben.« Mrs Wards Augen schmälerten sich. »Kanntest du ihn denn?« »Ehrlich gesagt, nein. Ich habe ihn hier vorher auch noch nie gesehen. Das muss bei mir aber nichts heißen. Wahrscheinlich ist er schon seit drei Jahren hier oder so.« »Wie sah er denn aus?« Ich beschrieb ihn. Als ich bei den Augen ankam, ging ein kaum sichtbarer Ruck durch Mrs Ward, der so untypisch für sie war, dass ich mir dachte, ihn mir wahrscheinlich nur eingebildet zu haben. »Und, gehst du hin?« »Was?« »Auf mich macht es den Eindruck, dass du wegen Vic schon so ein bisschen ein schlechtes Gewissen hast. Und dieser Junge scheint ja doch Spuren hinterlassen zu haben.« »Mann, Mrs Ward. Das ist einfach nicht mein Ding.« »Und das ist vollkommen in Ordnung«, sagte Mrs Ward lächelnd. »Ich wette, du und Vic macht euch stattdessen einen Netflix-Abend mit Pizza?« »Sie können hellsehen, Mrs Ward.« Die Psychologin schmunzelte. Als sie mit ihrer Tasse zum noch immer dampfenden Topf in ihrer Küchenzeile ging, fiel mein Blick auf eines der Porträts, die Mrs Ward auf ihrem Schreibtisch stehen hatte. Es war grünlich-schwarz-weiß und zeigte eine etwas biedere Gruppe Menschen. In der Mitte stand Mrs Ward mit einem viktorianisch anmutenden Kleid und einer strengen Frisur. Sie sah da irgendwie ein bisschen durchsichtig aus, fand ich. Ich legte den Kopf schief. »Waren Sie da auf einem Steampunk-Festival oder sowas?«, fragte ich. »Ah«, sagte sie lächelnd. »Nein, nicht wirklich. Das ist eine Fotografie meiner Ur-Urgroßmutter und ihren engsten Freunden.« Ich verglich das Gesicht von Mrs Wards Vorfahrin mit dem der Schulpsychologin. Die Ähnlichkeit war verblüffend. »Wow«, sagte ich. »Sie sehen aus wie Zwillinge.« Mrs Ward Augen funkelten. »Das höre ich öfter.« Sie nippte an ihrem Chai, dann schien ihr etwas einzufallen. »Du, Ignatia, ich muss noch etwas mit dir besprechen.« »Ja?« »Ich habe jetzt bereits ein paar Mal versucht, deinen Großvater zu erreichen, um ihn darum zu bitten, einigen unserer Termine beizuwohnen. Er hat mitten im Gespräch aufgelegt und danach nicht mehr abgenommen. Hast du nochmal mit ihm darüber gesprochen?« Meine Laune verschlechterte sich schlagartig. »Warum möchten Sie überhaupt, dass er mitkommt?« »Manchmal ist es gut, wenn man den Erziehungsberechtigten eines Schülers genauer kennenlernt, weil - ob du es glaubst, oder nicht - ihr Verhalten stark beeinflusst, wie ihre Kinder denken und fühlen.« »Ich bin aber nicht sein Kind. Ich bin sein Enkelkind.« »Und er ist dein Großvater, der dich erzieht. Das macht ihn zu deiner primären Bezugsperson und gibt ihm damit eine sehr wichtige Rolle in deinem Leben.« Ich ließ mich tiefer in meinen Sitzsack sinken. »Er hält nichts von dem, was Sie machen.« »Verstehe.« Sie musterte mich aufmerksam. »Was glaubst du: Warum tut er das?« »Keine Ahnung. Ist wohl so ein Veteranen-Männerding von früher. Für ihn ist das alles auf dem selben Level wie mit magischen Kristallkugeln zu sprechen oder nur in Unterwäsche durch die Nachbarschaft zu spazieren. Ich habe ihm dann erklärt, dass man das mit der Unterwäsche erst beim zweiten Termin machen muss.« Mrs Ward lachte auf und hielt sich dabei sehr gesittet die Hand vor den Mund. »Das fand er wahrscheinlich nicht so lustig wie du.« »Sie hätten ihn mal sehen sollen. Er wollte sofort ein ganzes Jahr Termine machen, hat dann aber enttäuscht einen Rückzieher gemacht, als er hörte, dass ihre Kristallkugel nicht in Amerika produziert wurde.« Ich war selbst über die plötzliche Schärfe in meiner Stimme überrascht. Mrs Wards Ausdruck wurde ernst. Sie nickte langsam und strich sich die Haare hinters Ohr. »Ignatia - bist du dir darüber bewusst, dass du oft Humor als Verteidigungsmechanismus benutzt?« Ich schnappte mir eine der Pixel-Sonnenbrillen vom Schreibtisch und setzte sie auf. »Keine Ahnung, was Sie damit meinen«, antwortete ich und verschränkte die Arme. »Gut, du weißt es also«, sagte Mrs Ward. »Was glaubst du, wie nützt dir das?« »Spart mir das Geld für einen Bodyguard?« »Abgesehen davon?« »Ich habe immer noch die Möglichkeit, Stand-Up-Comedian zu werden, falls ich von der Schule fliege?« Mrs Ward sah mich einen Moment lang an, dann seufzte sie und stellte ihre Tasse ab. Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch hinüber, kramte in einer der Schubladen und nahm eine Akte mit meinem Namen darauf heraus. Sie deutete auf einen grünen Sticker, der von einer der vielen Seiten darin abstand. »Weißt du, wofür dieser grüne Klebestreifen steht?«, fragte sie. »Nope«, machte ich. »Das ist eine Erinnerung für mich«, erklärte Mrs Ward. »Daran, dass meine Patientin in ihrer Kindheit ein schweres Trauma erlitten hat.« Sie legte die Akte wieder zurück und setzte sich vor mich auf ihren Schreibtisch. »Daran, dass ich einem jungen Menschen dabei helfen möchte zu verstehen, wie sie ihr weiteres Leben bestreiten will.« Sie schien sehr bedacht nach Worten zu suchen. »Ignatia«, sagte Mrs Ward ruhig. »Du musst das alles nicht allein stemmen.« Ich kaute auf meiner Unterlippe. Keine Ahnung, warum, aber es fiel mir schwer, Mrs Ward ins Gesicht zu sehen, als sie weitersprach. Glücklicherweise trug ich ja noch meine Sonnenbrille. Meine Psychologin lehnte sich vor. »Ich weiß, dass man manchmal das Gefühl hat, man müsste der Dunkelheit allein gegenübertreten. Manchmal, weil man sich davor fürchtet, was mit den Menschen geschehen könnte die man liebt, wenn sie einen dorthin begleiten. Manchmal, um sich dort vor der Welt zu verstecken. Und manchmal sogar, um sich selbst zu bestrafen. Aber manchmal ist es wichtig, dass man diese Art von Verletzlichkeit zulässt, vor der du dich abschirmst.« Sie nahm mir behutsam die Sonnenbrille ab. »Denn wenn man sich in der Dunkelheit verläuft, ist es gut, von jemandem an die Hand genommen zu werden und eine schwere Bürde gemeinsam ins Licht zu tragen. Bevor man allein unter dem Gewicht zusammenbricht.« Mein Sitzsack knarzte. Der Herd in der Küchenzeile knackte leise. Die Uhr an der Wand kam mir mit einem Mal unerträglich laut vor. »Ich komme schon klar«, sagte ich mit trockener Kehle. »Ich kriege das gut alleine hin. Kein Problem. Alles cool.« Mrs Ward schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln, das ich roboterhaft erwiderte. Sie stand von ihrem Schreibtisch auf, legte mir freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und deutete auf meine Tasse. »Doch noch einen?«, fragte sie. Ich räusperte mich. »Ja, bitte.« Als ich auf den modern eingerichteten Flur des Lehrergebäudes trat und die Tür zu Mrs Wards Büro hinter mir schloss, hatte ich schon diese miese Vorahnung. Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, dass ich sowas öfter habe - woohoo, ich liebe mein Leben - aber leider hat mein Bauchgefühl ziemlich oft Recht. Ich zückte mein Handy. Ich hatte eine Nachricht von Vic. Fünkchen! STECKE in Schwierigkeiten. Vor dem Büro von Direktor Brisborne, bitte komm schnell!
Nach ein paar Abzweigungen und Treppen fand ich Vic. Ich wollte erst nicht so recht glauben, was ich sah: Sie hockte in einer total verdrehten Position vor einem Süßigkeitenautomaten. Ihr linker Arm steckte bis zur Schulter in der Ausgabeklappe. »Heda«, sagte Vic und zwinkerte geheimniskrämerisch. »Seid gegrüßt. Ich bereite ein Abenteuer vor und suche jemanden, der noch mitmacht.« »Vic«, keuchte ich und musste mir ein Lachen verkneifen. »Was machst du da?« Mit klopfendem Herzen versuchte ich, durch die Bürotür auf der gegenüberliegenden Seite zu spähen. Kein Licht. Keine Stimmen. Zum Glück. »Wenn dich hier jemand erwischt … « »Das ist der einzige Automat in der ganzen Schule, der noch prall gefüllt ist!«, beschwerte sich Vic und schielte besorgt den Flur hinunter. »Was ist denn bitte ein Netflix-Abend ohne ungesundes Futter?« »Wir müssen dich hier irgendwie rausholen«, murmelte ich. Ich ging neben Vic in die Hocke und drückte die Ausgabeklappe nach oben. »Vielleicht, wenn wir -« »Aua!«, machte Vic. »Wie zum Geier bist du überhaupt soweit ins Innere gekommen?« »Habe ’ne zwanzig gewürfelt«, ächzte Vic. »Das ist nicht lustig«, lachte ich. Ich schaute durchs Plastikglas des Automaten. Der Ärmel ihres Pullovers hatte sich verfangen. Ich stand auf und rieb mir stöhnend das Gesicht. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob man von innen versuchen könnte, deinen Arm zu befreien.« »Ähm«, meldete sich Vic zögerlich. Sie lächelte verlegen. »Es gäbe doch eine ganz bestimmte Möglichkeit, mit der wir das hinkriegen könnten, oder?« »Erleuchte mich.« »Du könntest … na ja … du weißt schon. Die Sache machen.« Mir wurde schlecht. Es war Vics Wort für … ihr wisst schon. Das, wovon ich euch schon zu Beginn erzählt habe. Mein kleines Geheimnis, das mir seit meinem zwölften Geburtstag unter den meisten Mitschülern den Spitznamen dieses eine komische Mädchen eingebracht hatte. Nur Vic wusste wirklich von meinen ›Fähigkeiten‹ und glaubt mir, das reichte vollkommen. Ich hatte die ersten Wochen nach dem ersten Ausbruch von morgens bis abends nichts anderes zu tun, als meine beste Freundin davon abzuhalten, sich a.) eine Superheldenidentität für mich auszudenken, b.) Experimente zur vollständigen Erfassung und Katalogisierung meiner Kräfte an mir durchzuführen und c.) einen Comic über mich zu zeichnen, dessen Veröffentlichung sie dann über Crowdfunding finanzieren wollte. »Nein, Vic - nein!«, platzte ich heraus. »Ich kann das nicht auf Kommando! Und selbst wenn, ich habe keine Ahnung, wie ich das steuern soll.« Ein dumpfes Geräusch unterbrach mich. Jemand schaltete Licht im Inneren des Büros an. Leise Stimmen schienen miteinander zu streiten. Mein Puls beschleunigte sich. »Sieht so aus, als ob wir keine andere Wahl hätten«, flüsterte Vic und schielte besorgt zur Tür herüber. »Bitte?« Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Stimmen wurden lauter. Vic sah mich flehend an.Okay. Okay. Ich krieg’ das hin. Irgendwie. Ich bog um den Automaten und meine Hände auf die Wand des Automaten. Sie war kühl. Ich spürte ein feines Surren, das von der Innenseite kam. Ich biss die Zähne aufeinander. Nichts geschah. »Läuft?«, fragte Vic. »Könnte besser sein«, antwortete ich und schluckte schwer. »Sorry, es - woah, warte!« Von meinen Unterarmen stieg bläulicher Nebel auf. »Was?«, flüsterte Vic und versuchte vergeblich, ihren Kopf in meine Richtung zu drehen. »Was verpass’ ich?« »Ich - ich glaube, es klappt!«, flüsterte ich aufgeregt. »Vic, es funktioniert!« »Oh, wie gemein! Ich will es auch sehen!« Hellblaues Licht umrandete meine Fingerspitzen, lief in meinen Handflächen zusammen und zog sich dann wie eine eiskalte zweite Haut meine Arme hinauf. Es knisterte leise, als ich vorsichtig meine Hände drehte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die Sache jemals so lang angedauert und dabei so stabil gewesen war. Das Licht, das ich ausstrahlte, traf die Oberfläche der Automatenwand und … ließ sie verschwinden. »Wahnsinn!«, flüsterte ich. »Vic, das musst du sehen!« »Sehr witzig, Fünkchen. Sehr witzig.« Vorsichtig machte ich einen halben Schritt vorwärts. Die Umrisse der Wand des Automaten machten einem hellblauen Leuchten Platz. Meine Arme drangen widerstandslos ins Innere ein und - Ich keuchte auf. »Alles in Ordnung?«, fragte Vic. Ich blinzelte. Das Leuchten war verschwunden. Oh, oh. »Ähm«, sagte ich. »Ich habe schlechte Nachrichten.« »Lass mich raten«, sagte Vic. »Du steckst fest.« »Mit beiden Armen.« »Mit beiden?« Ich rüttelte energisch an dem Automaten, der meine Ellenbögen gefressen hatte. Ich war mit dem Ding verschmolzen. Panik breitete sich in meiner Brust aus. »Spürst du noch was?«, fragte Vic. »Kannst du deine Finger noch bewegen?« Ich wackelte mit den Händen. »Gottseidank«, sagte ich. »Gut, dass du fragst. Hätte ja auch sein können, dass -« »Super! Kommst du an den Salty-Caramel-Riegel links von deiner linken Hand?« »Was stimmt nicht mit dir?« Ich stemmte den Fuß gegen den Automaten. Keine Chance. Vielleicht, wenn ich - »Woah!« Ein Lichtblitz blendete mich. »Iggy? Was passiert da?« Ich riss ungläubig die Augen auf. »Ähm.« Mein Schuh steckte neben den Kartoffelchips. Rauch quoll aus dem Automaten. Es roch nach verbranntem Plastik. »Was ist das für ein Gestank?«, flüsterte Vic angeekelt. In kopfloser Panik sah ich vor mir schwarzen Qualm zur Decke steigen. Zum Rauchmelder der Sprinkleranlage. »Pusten, Iggy! Pusten! Sonst verwandelt sich hier gleich alles in ein Spaßbad!« Vic sprenkelte die Scheibe vor sich mit Spucke, während ich mit dicken Backen pustend verzweifelt versuchte, den Qualm umzulenken. Ein trockenes - KNACK! – ertönte. Ich hielt inne. »Was - was war das?«, fragte ich atemlos. Vor mir drehte der Automat vollkommen durch. Er begann, wie irre zu rütteln und schleuderte sich von einem Bein aufs andere wie eine Waschmaschine im Turbo-Leerlauf. »Fünkchen? Keine Ahnung, was du da machst, aber hör’ sofort auf damit!« »Ich versuch’s ja!« Ich hing mich an das Monster aus Transfetten und Kohlenhydraten wie ein Rucksack, in der Hoffnung, es ruhig halten zu können. Der Automat wackelte sich in eine finale Rage, bäumte sich noch ein letztes Mal auf, und kam ruckartig zum Stillstand. »Ha!«, machte ich triumphierend. »Hey«, hörte ich Vic verblüfft sagen. »Mein Arm. Ich bin frei!« »Toll«, keuchte ich. »Jetzt müssen wir nur noch Schweißer-Werkzeug oder eine Stahlschere von der Feuerwehr auftreiben, und wir -«CHI-CHI-CHING! Mit einem spitzen Schrei stolperte Vic rückwärts auf ihr Hinterteil. Die Ausgabeklappe explodierte aus der Automatenfront und verkeilte sich in der Decke über uns, dann verteilte sich ein Platzregen aus Schokoriegeln, Chips und Keksen über den gesamten Flur. »Heiliger Optimus Prime!«, keuchte Vic ehrfürchtig. »Jackpot!« Die Stimmen aus dem Büro des Direktors verstummten. Vic und ich hielten inne. »Pssst«, machte ich und hüpfte unbeholfen auf meinem freien Bein herum. »Vic, ich stecke immer noch fest!« »Ich komme!« Vic sprang auf, rutschte beinahe auf einer aufgeplatzten Tüte Erdnüsse aus und begann, an mir zu zerren. Ich tat mein Bestes, mich wieder auf die Sache zu konzentrieren. Vielleicht, wenn ich einfach nur - Noch ein hellblauer Lichtblitz. Vic und ich krähten gleichzeitig auf, dann fielen wir auf eine Matratze aus Crackertüten, die uns – Pop! Pop! Pop! – mit einer Monatspackung Käse-Kruste eindeckten. »Bist du noch ganz?«, fragte Vic hustend und wedelte mit einer Hand die gelbe Wolke davon. »Glaube schon«, antwortete ich keuchend. Von der Tür des Direktors polterten schwere Schritte. Ich warf Vic einen auffordernden Blick zu. Sie nickte entschlossen. Dann begann sie damit, sich Zimtwaffeln in den Pullover zu stecken und Schoko-Rosinen in den Mund zu stopfen. »Dwie krwiegen unff niemalf lebendwigf!« »Vic! So habe ich nicht das doch nicht gemeint! Wir müssen hier weg!« Sie drückte mir gerade eine XXL-Packung Bonbons in die Hand, als die Tür zum Büro aufgerissen wurde. »Was ist das hier für ein Getöse?«, rief eine dunkle Stimme. »Ich bin hier in einer wichtigen Besprechung!« Keine Ahnung, wie das für unseren Direktor in diesem Moment ausgesehen haben muss: Die schwarze Gewitterwolke, in der sich angekokeltes Plastik mit brennendem Lakritz gemischt hatte. Der Automat, der noch immer sein Innerstes nach außen kehrte wie ein Springbrunnen mit Lebensmittelvergiftung. Zwei mit Käsecrackerkrümeln überbackene Schülerinnen, die sich wie Höhlenmenschen über den Inhalt hermachten. »Was ist hier passiert?«, bellte Direktor Brisborne, der wie immer in einen italienischen Maßanzug gehüllt war, während er seine wuchtigen Hände in seine grau melierten Haare krallte. »Ich verlange eine sofortige Erklärung! Wer sind Sie, und was tun Sie hier?« Ich lächelte nervös und sagte: »Hallo, sir! Ich bin Ignatia.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Ich benutze Humor als Verteidigungsmechanismus.« Brisborne blinzelte fassungslos. Dann sprang die Sprinkleranlage an.
»Becherdienst!«, grummelte Vic und hielt sich den Arm vor das Gesicht, als einer der flackernden Scheinwerfer an uns vorbei schwenkte. »Warum ausgerechnet Becherdienst?« »Sei froh, dass es nur das ist«, rief ich durch den künstlichen Nebel und warf ein klebriges Fundstück in meine grüne Papiertüte. Vic und ich trugen beide weiße Shirts mit dem Schriftzug ›B&B‹ - unserer schuleigenen Umweltschutz-Initiative. »Was ich viel furchtbarer finde: Warum ausgerechnet hier?« Ich wich einer kichernden Gruppe Mädchen in Feenkostümen aus. Jede davon starrte auf ihr Handy, auf dem Bildschirm das gepostete Foto eines gutaussehenden Hipstertypen. Das machte jetzt schon den ganzen Abend seine Runde. Sie verschwanden auf der Tanzfläche, wo eine bunte Mischung klassischer Monster zu Songs aus der Zeit von meinem Granpa tanzte. Eine Gang Cheerleader in Teufelchen-Kostümen redete keifend auf Dana ein, eines der wenigen Mädchen aus Vics und meinem Kunstkurs, mit dem wir uns verstanden. Typisches GFA-Drama. Ich seufzte. »Und ich kann nicht einmal so tun, als ob das hier ein Kostüm wäre«, sagte Vic. Ich hob eine Ladung dreckiger Servietten vom Boden. »Immer noch besser als die Alternative«, sagte ich. Wenn meine Psychologin nicht dafür gebürgt hätte, dass Vic und ich tatsächlich nur wegen meines Termins im Lehrergebäude gewesen waren und der kurzgeschlossene Automat uns auf eine ›harmlose Dummheit‹ gebracht hatte, säßen wir jetzt wahrscheinlich im Schulkerker und müssten Gedichtinterpretationen auf Altgriechisch schreiben. So mussten wir zum Glück nur hinter unseren feiernden Mitschülern aufräumen. Es war wirklich schade, dass ich nicht einmal die Chance gehabt hatte, mich richtig bei Mrs Ward zu bedanken. Vielleicht sollte ich … moment mal. War sie das dort vorne nicht? Verkleidet als Gespensterlady? »Hey Vic, sieh’ mal, da vorne ist Mrs Ward. Hey, Mrs Ward!« Ich winkte ihr zu, aber sie sah mich nicht. Sie schien in einen Streit verwickelt zu sein. Mit wem sprach sie da? Ich ließ meinen Beutel fallen. Es war der Junge mit den unheimlichen Augen. Er trug eine Art Dr.-Jekyll-und-Mr-Hyde-Kostüm, mitsamt Hut, einem viktorianischen Anzug und zwei unterschiedlich geschminkten Gesichtshälften. Eines seiner Augen wurde von einer Augenklappe verdeckt. Über seiner Schulter hing eine Schärpe voll bunter Glas-Phiolen. Seinen Gürtel schmückte ein blitzender Säbel. Ich kniff die Augen zusammen. Die beiden kannten sich definitiv. »Das ist der Junge von heute Mittag!« »Tatsächlich«, antwortete Vic. »Ähm, und?« »Sie hat mir gesagt, sie wüsste nicht, von wem ich rede.« Meine Mitbewohnerin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hast du ihn auch nur mies beschrieben«, sagte sie. »Interpretier’ da mal nicht zuviel hinein.« Mein Blick wanderte zurück zu Mrs Ward und dem Jungen. Sie hatte merkwürdig auf die Beschreibung seiner Augen reagiert. War das doch kein Zufall gewesen? Die Diskussion zwischen ihr und unserem Besucher fand ein abruptes Ende, als der Junge sich aufwendig verbeugte und aus der Halle rannte. Ich sah noch, wie er nach einer der Phiolen an seiner Schärpe griff, dann fiel die Tür hinter ihm zu und er war verschwunden. Als ich zurück zu Mrs Ward sah, war sie ebenfalls fort. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Was lief hier? »Hey Fünkchen, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Vic. Ich wollte gerade antworten, als in den Gästen vor uns Unruhe aufkam. Bevor ich verstand, was passierte, klatschte mir eine Sturzflut aus Erdbeerbowle ins Gesicht. »Oh, krass, tut mir leid!« Ich versuchte, durch meine klebenden Haare hindurch zu erkennen, wer mit mir sprach. Es war Dana. »Sorry, sorry, sorry! Ich wollte nur die Bowle hier rüber zum Tisch bringen. Kleio hat mich geschubst. Ist alles in Ordnung bei dir?« Die rote Suppe lief mir gerade den Nacken runter und in meine Unterwäsche. Alles an mir stank nach Sirup. Meine Augen tränten. »Klar, ich liebe Erdbeeren«, sagte ich. »Wie sehe ich aus, Vic?« »Wie Carrie auf ihrem Abschlussball.« »Du siehst zu viele Filme.« »Du meinst wohl, du siehst zu wenig.« Dana griff nach ein paar Servietten und begann, mich abzutupfen, während sie immer wieder Entschuldigungen murmelte. »Ist schon okay, Dana«, sagte ich abwehrend und fischte ein Pfefferminzblatt aus meinen Haaren. »Sicher?«, fragte sie unterwürfig. »Das tut mir so leid.« »Sicher«, sagte ich. »Nach einer Dusche bin ich wieder wie neu.« Als Dana sich mit gequältem Gesicht vom Acker gemacht hatte, drehte ich mich zu Vic. »Ich werd’ mal eben rüber und mich unter die Dusche hauen. Kommst du mit?« Vicky salutierte. »Ja, sir!« Wir kamen etwa zehn Meter weit, als sich uns der Sensenmann persönlich in den Weg stellte: Mr Haywire, unser Mathelehrer. »Wo denken Sie, gehen Sie beide hin?«, fragte er und baute sich vor uns auf. Aus einem Grund, den Vic und ich nie herausgefunden hatten, hasste er alles, was mit Kunst zu tun hatte - da waren eine Hobbyfotografin und eine angehende Illustratorin natürlich stets ein willkommenes Fressen. »Hier sind jeden Moment diese nichtsnutzigen Fotografen für die PR-Aufnahmen. Ich ging davon aus, Direktor Brisborne habe Sie ausreichend instruiert.« »Sie sehen ja selbst, was passiert ist«, sagte ich. »Ich will nur eben auf unser Zimmer und mich umziehen.« »Wo befindet sich Ihre Unterkunft?« »2A.« Mr Haywire schüttelte abschätzig den Kopf. »Sie haben zehn Minuten«, sagte er. »Ich sehe auf die Uhr.« »Sie machen Witze«, sagte Vic. »Die brauchen wir allein für den Hinweg.« »Das ist nicht mein Problem«, antwortete Haywire in herablassendem Ton. »Finden Sie eine andere Lösung. Sie sind doch hier unsere zwei Kreativköpfe, richtig?« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Neun Minuten, vierzig Sekunden.« Wenige Minuten später fanden wir uns auf einem der ewig langen Schließfächer-Flure der GFA wieder, unter kaum funktionierenden, dumpf surrenden Neonröhre. Ich steckte in einem viel zu großen roten Trainingsanzug von Vic und hatte mir meine verklebten Haare notdürftig zusammengebunden. »Danke«, sagte ich, nachdem ich mir Ärmel und Hosenbeine umgekrempelt hatte. »Bin bereit fürs Bankdrücken und Bizepstraining. Danach noch ein paar Runden durch den Park?« Ich wartete auf eine spielerische Antwort meiner besten Freundin, doch da kam nichts. Vic stand mit missmutigem Gesicht im fahlen Mondschein, der durch die große Fensterfront vom begrünten Innenhof aus hineinströmte und sich im frisch versiegelten Fußboden spiegelte. Sie starrte den Gang hinunter und deutete auf die letzte Neonröhre kurz vor dem Ausgang. Das Licht dort flackerte unregelmäßig. »Die Röhre da hinten gruselt mich schon seit unserem ersten Monat hier«, sagte Vic. »Wenn es der Dame genehm ist, würde ich mich jetzt gerne wieder verkrümeln.« Mir ging es ähnlich. Ich hatte zwar keine Lust darauf, den Rest des Abends mit Sirup in den Haaren zu verbringen, war aber froh, wenn wir hier weg waren. »Ich habe noch Trockenshampoo im Spind«, sagte ich. »Geht das nicht so?«, fragte Vic mit zerknautschtem Gesicht. Sie sah das Flackerlicht böse an. »Und du da hinten, könntest du bitte wenigstens einmal normal leuchten?« Ich kramte den Schlüssel für meinen Spind aus meiner zusammengefalteten Hose hervor und lächelte nervös. »Keine Sorge«, sagte ich. »Wahrscheinlich sitzen wir schon in fünf Minuten wieder drüben auf der Party und lachen darüber, wie unnötig wir uns gegruselt haben.« Kurz bevor ich den Schlüssel herumdrehte, fiel mir ein Handylicht hinter mir auf. »Vic, checkst du gerade Nachrichten?« »Nein. Ich stelle einen Wecker.« »Hä?« »Für in fünf Minuten. Damit ich mich bei dir beschweren kann, wenn ich dann noch nicht entspannt mit ’nem Hotdog und ’ner Cola in der Aula sitzen sollte.« »Ich liebe dich«, lachte ich. Ich öffnete den Spind. Mir fiel etwas vor die Füße. Es war ein Briefumschlag. Als ich ihn aufhob, schien sein Inneres schwach zu schimmern. »Vic, sieh’ mal«, sagte ich erstaunt und wendete den Umschlag. Die Schrift darauf war elegant und ausladend. Und wenn mich nicht alles täuschte, war sie mit blau fluoreszierender Tinte geschrieben worden. »Da steht: ›Absender: Dorian Gray‹.« »Uhhh«, machte Vic und ihre Augen leuchteten auf. »Her damit!« »Hey!« »Lass deine einsame beste Freundin gefälligst in deinem Liebesleben herumschnüffeln!« Sie schnappte sich den Umschlag und hielt ihn mit ihren langen Armen von mir weg. Ich fuchtelte chancenlos hinterher. »Superkräfte einsetzen ist unfair!«, meckerte ich. Ich seufzte resignierend, dann drehte ich mich zu meinem Spind und kramte genervt nach dem Trockenshampoo. »Dann lies’ ihn mir wenigstens vor.« »Mann, ist das aufregend«, hörte ich Vic sagen. »Ich wette, er ist von jemanden, der sich für die Party als Dorian Gray verkleidet hat und -« Sie verstummte. »Hm?«, machte ich. »Alles in Ordnung? Vic?« Ich drehte mich um. Mein Herz setzte für einen Schlag lang aus. Meine beste Freundin hatte jede Farbe aus dem Gesicht verloren. Ihre Hände zitterten. Ihre Augen zuckten hin- und her. Sie blickte den Flur hinunter und schien komplett vergessen zu haben, dass ich überhaupt neben ihr stand. »Vic, hey! Was ist los?« »Hast du - hast du das gehört?«, fragte sie. Ich lauschte aufmerksam, doch da war nichts. »Und da vorne, was ist das?« Ich kniff die Augen zusammen. Was sah sie dahinten? »Iggy?« Ich fasste sie sanft an den Schultern. »Victoria Grace Hallows, du beruhigst dich jetzt wieder. Was hast du?« »Da!«, fiepte sie. »Schon wieder! Iggy, ich will hier nicht mehr sein.« Sie hielt mir den Brief hin. »Hier - da steht - ich meine, wenn das ein Witz sein soll, ist das echt nicht -« Ich nahm ihr das aufgefaltete Papier ab. In der ersten Zeile stand leuchtend:DU SOLLTEST SEHR, SEHR GROßE ANGST HABEN »D- da, schon wieder! Bitte sag mir, du hörst das auch!« Ich blendete den Teil meines Verstandes aus, der mir vorgaukelte, ich würde tatsächlich ein Geräusch hören. Ein Geräusch, als ob … jemand einen metallischen Gegenstand an den Spinden entlangzog. Und näher kam. Langsam. Ich schüttelte den Kopf. »Was soll das?«, fragte ich Vic. Sie sah sich schluckend um, dann nickte sie zum Brief. »Lies weiter.«SIE SIND MONSTER Wieder. Krrraaatzen. Nein. Ich weigerte mich, das zu hören. Ich bildete mir ein, dass es kalt geworden war. Ich bildete mir ein, dass die knisternde Luft sich in meinen Lungen entfaltete wie ein Schmetterling aus Bitterfrost. Ich bildete mir ein, dass eine fremde Macht mich dazu zwang, meine Augen zurück auf das Papier in meinen Händen zu richten … SIE KOMMEN Etwas knallte am Ende des Flurs. Ich riss meinen Blick hoch und sah gerade noch, wie die restlichen Einzelteile einer Lichtröhre funkensprühend durch die Luft tanzten. Das Geräusch hallte durch die Gänge. Mein Atem stockte. Irgendetwas in meinem Kopf schaltete auf Autopilot und stieß die Realität von mir fort. »V- Vic«, machte ich. »Vic?«LAUF Das zweite Licht explodierte. »Vic!« »Fünkchen!« Wir klammerten uns aneinander. Wir waren nicht mehr allein.
»Ihr solltet nicht hier sein«, raunte eine Stimme hinter uns. »Waaah!«, quietschten Vic und ich zeitgleich. Irgendwie brachten wir es fertig, einen gemeinsamen Hüpfer rückwärts mitsamt einer Drehung zu machen, ohne uns dabei auf die Nase zu legen. Vor uns stand der Junge im Jekyll-und-Hyde-Kostüm. Ich riss die Augen auf und fuchtelte nach ihm. »Bist du irre?«, sagte ich. »Willst du, dass wir ’nen Herzinfarkt kriegen?« »Nein«, sagte der Junge trocken. »Du verstehst das nicht. Ihr solltet nicht hier sein.« »WAS DU NICHT SAGST, SHERLOCK!«, antwortete Vic. Der Junge hob eine Augenbraue. »Layton ist der Name«, sagte er. »Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?« »Ähm, Victoria und Ignatia?«, sagte ich und sah ihn schief an. Mein Blick zuckte immer wieder in die Dunkelheit des Flures. »Heute? Das spontane Anklopfen an unserer Zimmertür?« Layton musterte mich verwirrt. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Da … war ich wohl nicht ganz bei mir.« »Mal was anderes«, krächzte Vic. »Dir ist schon klar, dass du in dem Aufzug jemanden zu Tode erschrecken könntest, oder?« Sie sah schnell atmend den Gang hinunter, in dem die Neonröhre geborsten war. Layton schüttelte verwirrt den Kopf. »Aufzug?«, sagte er verwirrt. Dann hielt er inne, als er sein Gesicht im Spiegel meiner offenen Spindtür sah. Er betastete seine geschminkte Gesichtshälfte. »Also, das ist ja wohl … ! Das kann nur dieser elende Störenfried schuld sein. Natürlich! Er empfindet solcherlei, ähem, Geschmacklosigkeiten als außerordentlich unterhaltsam.« Ich verstand nur Bahnhof. »Diese Sachen eben, die Geräusche und all das - warst das du?«, fragte ich. Laytons Blick verfinsterte sich. »Ich fürchte nicht«, sagte er. »Wie ich bereits erwähnte, ihr solltet nicht hier sein.« »Leute?«, quietschte Vic und zeigte hinter uns. Vom anderen Ende des Flurs drang jetzt lautes Stöhnen. Mein Puls verdoppelte sich schlagartig. Neben mir zog Layton seinen Säbel. Die Klinge schimmerte silbern. Es sah nicht so aus, als hätte er die Waffe zum ersten Mal in der Hand. »Was in aller Welt läuft hier?«, fragte ich. Laytons freies Auge verengte sich. Die nächste Lampe platzte Noch eine. Die Finsternis, die sich unter den glitzernden Staubwolken ausbreitete, war dunkler als Nacht. »Nicht. Bewegen.«, flüsterte Layton. »Das ist nicht dein Ernst!«, flüsterte ich. Die Finsternis jagte näher. Bumm. Drei Lichter.Bumm. Vier.Bumm! Bumm! Bumm! Dann sah ich ihn. Ich würde den Anblick nie wieder vergessen. Er schwebte über der Erde und sah aus, als hätte er einen dreihundert Jahre alten Kostümverleih überfallen - und wäre danach mehrere Male hintereinander von einer Klippe gestürzt. Sein monströser Bart und seine langen Haare beherbergten eine zerschundene Fratze. Wo seine Augen sein sollten, gähnten schwarze Krater. »Wir müssen hier weg!«, krächzte ich, paralysiert. »Wir müssen -« Seine Hand, mit großen Ringen geschmückt, knöchrig wie der älteste Zweig eines sterbenden Baumes und mit Fingernägeln so lang wie meine Unterarme, hob sich wie unter Wasser. Langsam streckte er seinen Zeigefinger ... Und deutete auf etwas. Auf mich. Mein rauschender Puls ertränkte jedes andere Geräusch, und für einen Augenblick war ich überzeugt davon, das alles hier nur zu träumen - dann zerschnitt ein marksaugendes Kreischen die Illusion. »Hraaaaaaagh!« Die Erscheinung preschte nach vorn. Ich packte Vic und rannte los. Blindlings schlitterten wir über den frisch polierten Boden. Rechts und links von uns explodierten reihenweise Schließfächer. Layton preschte an uns vorüber. »Beim Salze des ersten Eliciums«, rief er außer Atem. »Es kann mit der physischen Ebene interagieren!« Hinter uns wütete ein Sturm aus Sportklamotten und Turnschuhen. »Ach wirklich?!«, keifte Vic. »Layton!«, keuchte ich. »Wie können wir das Ding aufhalten?« »Gar nicht!«, rief er. »Wir müssen uns verstecken, bis es das Interesse verliert!« »Wohin?«, schrie ich. »Da vorne!«, schrie Vic und deutete auf eine Tür am Ende des Flures. Wie von der Tarantel gestochen sausten wir unserer Rettung entgegen. Wir prallten zeitgleich gegen die Tür. In einem Durcheinander aus Armen und Beinen schlitterten wir über nach beißend-künstlicher Limone stinkende Fliesen. Wir waren genau da gelandet, wo Vic und ich niemals, niemals im Leben freiwillig hingehen würden: Das Jungenklo. »Ihhh«, sagte Vic und verzog das Gesicht. »Hier ist es ja noch übler als bei uns!« Eine Hand in einem zerpflückten Spitzenhemdärmel waberte aus dem Spiegel neben uns hervor. »Keine Zeit für Plaudereien«, zischte Layton. »Rein da!« Er trat krachend die erstbeste Kabine auf und bugsierte uns hinein. Ich erstarrte. »Worauf wartet ihr noch?«, zischte Layton. »Ähm«, machte ich. »Wir haben noch ein Problem.« Die Kabine war besetzt. Von Direktor Brisborne. Sein Kopf lehnte an der Wand hinter ihm. Er war mit einer Tageszeitung in den Händen eingeschlafen, die zum Glück alles Wichtige abdeckte. Er döste unbekümmert vor sich hin. »Jetzt!«, knurrte Layton. »Nie im Leben!«, gaben Vic und ich kopfschüttelnd zurück. Layton fluchte, dann schob er uns vorwärts und schloss die Kabinentür hinter sich. Wir quetschten uns zu dritt an die Wände der Toilette und versuchten krampfhaft, nicht zu weit nach unten zu schauen. »Ich werde sterben und das letzte was ich vor Augen habe, ist das hier?«, flüsterte Vic. »Ruhe!«, zischte Layton. Draußen hörte man ein langgezogenes Stöhnen. Anscheinend hatten wir es gerade noch rechtzeitig geschafft, uns zu verstecken. Ausgerechnet da regte sich Brisborne. Ich riss entsetzt die Augen auf. »Hmja, mhm, muss wohl eingeschlafen sein …«, gab er von sich. »Verdammtes Halloween … verdammte Teenager …« »Jetzt?«, zischte Vic flüsternd. »Jetzt wird er wach?!« Ich tätschelte Brisbornes Kopf mit spitzen Fingern und schüttelte mich vor Ekel. Es schien zu funktionieren. Er driftete wieder weg. Mehrere Sekunden verstrichen, in denen unser körperloser Verfolger vor der Tür umherspukte, dann wurde es totenstill. Voller Anspannung hielten wir den Atem an. Draußen tropfte ein Wasserhahn. Eine der Kabinentüren klapperte leise. Brisborne schnurchelte leise - und eine Melodie zerriss die Stille.If there’s something strange in your neighbourhood - who you’re gonna call? Ghostbusters! Vickys Handywecker. Den hatte ich komplett vergessen. Entsetzt starrten ich und Layton meine Freundin an. Vics Ausdruck pendelte irgendwo zwischen absolutem Horror und schuldbewusster Hysterie. Wie durch ein Wunder schien Brisborne von all dem nichts mitzubekommen. »Hrgh?«, kam es von draußen. »Hrgh!« In nervenaufreibender Zeitlupe zog Vic ihr Handy, wischte mit dem Daumen darüber und beendete den Alarm. Verlegen lächelte sie und gab uns einen Daumen hoch. Sorry, formten ihre Lippen. Meine Augen hefteten sich an die Kabinentür. Jeder weitere Herzschlag war ein Hammer auf dem hauchdünnen Eis meines Verstands. Aus Augenblicken wurden Momente, aus Momenten wurden Minuten. Nichts geschah. »Puh«, machte Layton schließlich. Er ließ die Schultern sinken und atmete auf. Vic und ich taten es ihm gleich. »Das war knapp. Für einen Moment lang dachte ich -« Der Geist explodierte durch die Kabinenwand. »WOAH!«, machte ich. Die Welt gefror. Mehr aus Schreck als aus Heldenmut versuchte ich, ihn mit den Händen wegzustoßen, doch dann geschah schlagartig etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte: Meine Arme leuchteten auf wie blaue Flutlichter. Der Fußboden, auf dem wir standen, verschwand, ebenso wie der Geist. Unter uns wurde die Sicht auf einen uralten Heizofen und eine Reihe staubiger Regale frei - das Kellergeschoss der Schule. Für einen merkwürdig meditativen Moment schwebten wir, die Toiletten und die Kabinenwände frei in der Luft ... Dann fielen wir. Ich spare euch hier mal die Details, aber eines versichere ich euch: Es war hart, schnell und echt eklig. Es dauerte einen Moment, bis ich mich in dem frisch gebackenen Hybrid aus Jungenklo und Heizungskeller orientieren konnte. Mit Beinen wie aus Wackelpudding richtete ich mich auf. Erleichtert stellte ich fest, dass weit und breit keine Spur von der Geistererscheinung zu sehen war. Ich wischte mir den Inhalt eines Seifenspenders aus den Haaren und hustete grauen Staub. Neben mir wurde Vic aus einem Berg von Klopapierrollen wiedergeboren. Über mir lachte Layton, der auf der Tür einer herausgebrochenen Kabine hockte, die halb umgestürzt an der Wand über dem alten Ofen lehnte. Er zwinkerte uns verschwörerisch zu. Er hatte seine Augenklappe verloren. »Ihr zwei«, sagte er, grinsend wie ein glückliches Honigkuchenpferd, »seht aus, als bräuchtet ihr einen Urlaub.« Er zückte zwei Karten - Visitenkarten? - und warf sie mir und der verdatterten Vic hin. Wir fingen die Karten auf.Die Nachtlagune Wellness & Spa Resort -Näher, als Sie denken- »Was soll das sein?«, fragte ich, doch als ich wieder zu ihm hochsah, war er verschwunden. Einfach weg. Ich blinzelte verwirrt. »Sag mal, wo ist eigentlich Brisborne?«, hörte ich Vic fragen. Ich fuhr zusammen, als hinter mir eine halbe Klotür beiseite flog. »Ms Hallows! Ms Infernalia!« Oh. Da war er.
Ich hatte schon oft Gerüchte über eine rote und eine grüne Liste im Schreibtisch von Direktor Brisborne gehört. Angeblich führte er regelmäßig Einträge darüber, wer zu allen öffentlichkeitswirksamen Anlässen erschien, unauffällig blieb und wenig Sachschäden verursachte - die grüne Liste. Das hieß, so munkelte man, bessere Noten, weniger Hausaufgaben und sogar weniger Monatsbeiträge an die Academy. Wer das Ideal nicht hielt, durfte mit dem exakten Gegenteil rechnen - die rote Liste, mit allen dazugehörenden Nachteilen. Wie sich herausstellte, gab es so etwas tatsächlich. Die rote Liste las sich wie das Telefonbuch einer Großstadt mit nur einem einzigen Einwohner - mir. Brisborne hielt mir eine halbstündige Standpredigt ohne Chance mich zu verteidigen, nachdem er Vic zwei Minuten lang in die Mangel genommen und schließlich rausgeworfen hatte. Ehrenamtliche Förderprojekte. Facharbeiten für jedes Unterrichtsmodul. Erhöhte Beiträge, die höchsten, die jemals eine Schülerin seit Gründung der Schule hatte leisten müssen. Zwei Wochen Suspension. Granpa würde mich umbringen, wenn es mein schlechtes Gewissen nicht vorher tun würde. Als ich an der Bushaltestelle gegenüber vom Haus meiner Eltern ausstieg, hatte ich bereits einen Kloß im Hals. Die Wirkung hatte mein Zuhause immer auf mich, aber dieses Mal war es zehnmal schlimmer. Ich hatte keine Ahnung, ob die Schulverwaltung bereits angerufen hatte, aber insgeheim wünschte ich es mir. So wäre wenigstens nicht ich der Überbringer der schlechten Nachrichten. Ich hatte die neuen Zahlen gesehen und wusste, was Granpa im Monat verdiente. Mit brennenden Augen und einem hässlichen Druck auf meiner Brust stellte ich an der Haustür fest, dass ich meinen Schlüssel in der Academy gelassen hatte. Großartig. Im Schneckentempo marschierte ich hinter unser Haus und umrundete die von meiner Mom nie fertiggestellte Hundehütte. Bevor ich euch gleich meinen Granpa vorstelle, sollte ich euch vorher noch ein paar Dinge über ihn erzählen. Damit er sich seinen ersten Eindruck bei euch nicht direkt selbst wieder versaut. Mein Granpa, mit bürgerlichem Namen Charles T. Quest, war in seiner Kindheit ein ›Störenfried‹, wie er immer sagte, bevor er dann später eine Karriere als Boxer, Soldat und danach als Leibwächter für berühmte Sänger in Las Vegas antrat - die Stadt, in der er schließlich bis zu seinem Umzug nach New Byron Bay als Privatdetektiv arbeitete. Er lernte dort meine Grandma kennen. Sie kaum aus einer Indianerfamilie kam und war mit ihrer Spiritualität eigentlich das komplette Gegenteil von ihm, aber die beiden verliebten sich ineinander und heirateten vor Ort. Leider starb Grandma, als meine Mom noch ein Kind war, aber darüber redete Granpa nicht viel. Grundsätzlich redete Granpa nicht viel, wenn ich so darüber nachdachte. Er stand am Zaun, mit dem Rücken zu mir, als ich im Garten ankam. »Hey«, sagte ich heiser. Meine Beine waren wie aus Götterspeise. Ich stellte die Tasche und den Rucksack neben mir ab. Granpa hielt inne und drehte sich um. Sein Gesicht hellte sich auf, als er mich erkannte. Es füllte sich mit Wärme, die es bitter nötig hatte - denn mit einer Nase, die man schon mehrfach gebrochen hatte, riesigen Händen mit vernarbten Knöcheln und einem kleingedrückten linken Ohr, dem ein Stück fehlte, konnte man ziemlich schnell mal unfreundlich rüberkommen. »Iggy!«, sagte er verwundert. »Was machst du hier?« Ich lächelte, und kämpfte meine aufkommenden Tränen hinunter. »Überraschung«, sagte ich leise und breitete die Arme aus. Einen Moment lang hoffte ich, wenn ich einfach nur lange genug so stehen bleiben würde, dann würde Granpa bestimmt die letzten zwei Schritte zu mir tun, mich in seine schützenden Arme schließen und mir sagen, dass alles in Ordnung sei. Das die Welt nicht kopfstünde. Das es keine Geister gäbe. Dass wir das mit dem Geld schon zusammen hinbiegen würden, egal was geschehen war. Ich sah es hinter Granpas Stirn arbeiten. Schließlich schüttelte er enttäuscht den Kopf. Die Wärme verschwand aus seinen Augen. »Ich glaube das nicht«, sagte er. »Schon wieder?« »Vielleicht?«, antwortete ich und lächelte hilflos. Es sah beinahe aus, als würde es ihm wehtun, mich anzusehen. Ich ließ meine Arme sinken. »Hach, was haben wir denn da?«, fiepte eine künstlich wirkende Stimme hinter Granpa. »Köstlich, das Mädchen, wirklich, herzallerliebst, Charles!« Ich blinzelte verdutzt. Ich hatte mich so sehr auf Granpa konzentriert, dass ich die hutzelige alte Dame mit den Schweinsäuglein auf der anderen Seite des Zaunes überhaupt nicht bemerkt hatte. »Ich bitte um Verzeihung, aber kenne ich Sie?«, fragte ich. Und geht es Sie auch nur das Geringste an, was ich hier mit meinem Großvater zu besprechen habe?, wollte ich hinzufügen. »Ignatia«, sagte Granpa, »das ist Ms Gretel, unsere neue Nachbarin. Ingrid, das ist meine Enkeltochter. Ignatia.« Ms Gretel faltete die Hände und legte sie über den Zaun. »Was hast du denn nun schon wieder angestellt, Liebes?« In meinem Bauch kochte Wut hoch. Ich sah zu Granpa. »’Ingrid’?«, sagte ich ungläubig. »Habe ich irgendetwas wichtiges verpasst?« »Sie ist vor etwa einem Monat drüben eingezogen«, erklärte Granpa. Seine Stirn legte sich in Falten. »Ignatia, ich denke, wir sollten beim Abendessen weiterreden.« Er nickte Ms Gretel zu. »Ingrid.« Es lag wahrscheinlich nur an dem Schatten, den ihre seltsamen Augenbrauen auf ihr faltiges Gesicht warfen, aber als ich die Verandatür hinter mir schloss und Ms Gretel noch einen giftigen Blick zuwarf, waren ihre Augen schwarz wie frischer Teer. »Wirklich, ganz entzückend, Charles!,« rief sie uns hinterher. »Sie ist zum Anbeißen.« Neben unserem Kamin lag eine acht Jahre alte Zeitung, die nie zum Anzünden genutzt worden war. Davor stand Moms schiefe Galerie, und folgte man der Spur der hellblauen Acrylflecken auf dem Teppich, fand man auf dem Wohnzimmertisch das letzte Forschungsprojekt meines Dads - ein unveröffentlichtes, historisches Manuskript mit dem Titel ›Die Rose von Asphodel‹. Wenige Schritte weiter fand man ein schiefes Regal, auf dem ein zerkratzter CD-Player stand. Darin schlummerte noch immer das gemeinsame Lieblingsalbum meiner Eltern. Manchmal wachte ich morgens auf und roch Dads Pfeffer-Eukalyptus-Aftershave, von dem er jeden Morgen vergaß, es zu schließen. Moms Vanilleshampoo aus dem Holzbottich mit dem kleinen Loch. Jeder Raum hier barg spürbare Erinnerungen. Unangetastet von der Zeit.