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Eine starke Frau zwischen Kunst und Schicksal: Der fesselnde Roman »Die Pianistin von Paris« von Andreas Liebert jetzt als eBook bei dotbooks. Paris, 1822. Mit ihrem virtuosen Klavierspiel und einer Stimme wie Samt steigt Marie-Thérèse am Königshof auf wie ein leuchtender Stern. Aber ist die blinde Pianistin vielleicht nichts anderes als ein Spielball ihres machthungrigen Onkels? Auch dem jungen Arzt Petrus Cocquéreau gibt sie Rätsel auf: Mit seiner Gabe für die Hypnose kann er Menschen tief in die Seele blicken, Marie-Thérèse jedoch scheint eine undurchdringliche Mauer um sich errichtet zu haben. Warum verwickelt sie die Zwillingsbrüder Ludwig und Philippe von Oberkirch in ein ebenso kokettes wie gefährliches Spiel? Als Ludwig bald darauf ermordet aufgefunden wird, beginnt Petrus zu begreifen, dass Marie-Thérèse ein dunkles Geheimnis umgibt, das auch ihn das Leben kosten könnte – und dennoch kann er sie nicht aufgeben … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Roman »Die Pianistin von Paris« von Andreas Liebert wird alle Fans der Reihe »Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 529
Über dieses Buch:
Paris, Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Arzt Petrus Cocquéreau wird von seinen Kollegen wegen seiner ungewöhnlichen Methoden belächelt. Doch es gelingt ihm, als Hypnotiseur spektakuläre Erfolge zu feiern. Als er die fast vollkommen erblindete Pianistin Marie-Thérèse trifft, scheint er jedoch mit seiner Kunst am Ende zu sein. Statt sie zu heilen, verliebt er sich in sie – und sieht sich bald als Detektiv gefordert. Denn ein Verehrer Maries wird tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden. Petrus versucht durch geheime Nachforschungen das Familiengeheimnis der Pianistin zu ergründen. Doch dann wird auf ihn selbst ein Anschlag verübt.
Ein Hypnotiseur wandelt zwischen Sein und Schein, um die Wahrheit über einen rätselhaften Mord ans Tageslicht zu bringen.
Über den Autor:
Andreas Liebert, geboren 1960, ist Kulturwissenschaftler, Lehrer und Schreibcoach für eine bundesweite Romanwerkstatt. Sein besonderes Interesse gilt dem 18. und 19. Jahrhundert.
Ebenfalls bei dotbooks erschien Andreas Lieberts Roman Das Blutholz. Weitere Romane sind für dotbooks in Vorbereitung.
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Neuausgabe Juni 2013
Copyright © der Originalausgabe 2004 Aufbau Verlag, Berlin
Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
Titelbildabbildung: © Giuseppe Tominz - Selbstportrait mit Bruder Francesco
ISBN 978-3-95520-298-9
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Andreas Liebert
Der Hypnotiseur
Roman
dotbooks.
Ich bin Petrus – und stand im Ruf, ein zu weiches Herz zu haben. Und dies allein deswegen, weil ich mich gegen die Gepflogenheiten wehrte, sogenannte Unbotmäßige in Zwangsjacken zu stecken, sie unmäßig zur Ader zu lassen oder sie unter kalten Duschen festzuschnallen und mit Opium zu betäuben.
Ich arbeitete im Pariser Vorort Charenton im Hospiz der Barmherzigen Brüder, wo noch heute einfache Sonderlinge wie auch schwer Geistesgestörte aus dem Bürgertum und niederem Adel einquartiert sind – wie zum Beispiel einst der von gewissen Libertins als „göttlich“ gepriesene Marquis de Sade. Vor der Revolution galt diese kirchliche Einrichtung als mustergültig, damals freilich, ich spreche vom Jahr 1822, zeichnete sich die Irren-Priorei von Charenton nur noch durch die hohen Beträge aus, die den Familien für ihre dort lebenden „Pensionäre“ abgeknöpft wurden. Eine fortschrittliche Psychiatrie gedieh anderenorts, und so kam es zwangsläufig dazu, dass ich nach zwei Jahren Dienst entsprechend desillusioniert war.
Indes, so interessant es wäre, über Charenton und seine „Barmherzigen Brüder“ zu berichten, ich möchte davon nur erzählen, was für mich wichtig war. Denn meine Geschichte ist die eines Hypnotiseurs, der weit über ein Jahrzehnt gleichsam selbst hypnotisiert gewesen war und dreißig Jahre alt werden musste, um wieder selbstbewußt zu seiner suggestiv-hypnotischen Gabe zu stehen und mit ihr umzugehen. Darum ist meine Geschichte auch eine über Marie-Thérèse, die Liebe und mörderische Leidenschaften. Und nicht zuletzt eine über die Pariser Polizei, der ich mit meiner Gabe half, Verbrechen aufzuklären – was freilich alles erst möglich wurde, als ich im Herbst 1822 vom Prior des Hospizes in Charenton entlassen wurde.
Hatte ich mir etwas zuschulden kommen lassen?
Nein.
Andererseits, ja.
Jedenfalls begann alles mit einer Rangelei und zwei beißwütigen Hunden.
Es war Ende August, ein hochsommerlicher Freitagnachmittag. Da ich nicht zur Bereitschaft eingeteilt war, freute ich mich darauf, das Wochenende in Paris verbringen zu können.
In wenigen Stunden würde ich über die grünen Boulevards flanieren, auf denen die herausgeputzten Pariserinnen den Augen so gut schmecken wie dem Gaumen Wiener Konfekt. Es störte mich wenig, dass der Glanz der Kaiserzeit verblichen war und sich die Stadt mit ihrem Anspruch, Mittelpunkt der Welt zu sein, schwertat. Doch ob nun im Palais Royal die Holzgalerien vor sich hinrotteten oder Napoleons Triumphbogen am Ende der Champs Elysées abwechselnd aufgebaut und dann wieder niedergerissen wurde, die Verlockungen der Geschäfte, die Restaurants und Märkte, Kirchen, Paläste und Parks - all das ist verglichen mit der dörflichen Einöde Charentons wie pures Gold. Ich brauchte nur an die Cafés denken, in denen man so behaglich lauschen, lesen und sinnieren konnte, schon wurde mir warm ums Herz. So indiskret und verleumderisch die Pariser Zungen auch sein mochten und so schlecht das übrige Frankreich die moralischen Qualitäten der Pariser beurteilte, für mich gab es keinen geeigneteren Ort der Welt, um die Schatten der Vergangenheit zu vergessen.
Wenn ich durch Paris` Gassen spazierte oder über die Boulevards flanierte, dann wurde ich Teil der Seele dieser Stadt und bildete mir ein, nicht nur die in jedem Stadtführer aufgeführten Bauwerke zu lieben, sondern auch die Reize seiner ganz banalen Lebendigkeit: etwa die Armeen seiner Kamine, die Blumentöpfe auf den Fenstersimsen oder die Wachsdecken auf den Tischen der Straßencafés. Selbst der zuweilen knöchelhohe Pferdemist störte mich nicht, genauso wenig die rostigen Straßenlaternen, deren ausströmendes Gas nicht minder stinken konnte wie die entsetzlichen Latrinen von Montfaucon.
Aber eben Paris, seine Menschen! Ihnen zu lauschen und zuzugucken, sie zu erleben – für mich ist dies auch heute noch ein Abbild des Universums: rotwangige Laufburschen, die von Pontius zu Pilatus rennen, Büroangestellte mit makellosen Manschetten und Gesichtern wie zerknülltes Papier, die schiefen Münder der Spieler und Absahner, die frisch ondulierten Hochstapler, die Karrieristen mit Spiegelglatzen. Oder die torkelnden Säufer, desillusionierten Soldaten, die lüsternen und schwitzigen Dickerchen, die gehetzten Liebhaber und Betrüger, die langhaarigen Heuchler oder erfolglosen Künstler, hinter deren melancholischen Augen stets der Hochmut blitzt.
Und erst die Frauen! Weiber, fett, faul und gefräßig wie Karpfen in einem See, aber auch dürre und fade Xanthippen. Dann Weibchen, so fein wie Porzellan, Schönheiten, die mit den Blumen der ganzen Welt wetteifern, aber habsüchtig sind wie verrückt gewordene Hamster. Pariser Frauen! Fremdgängerinnen, Büßerinnen, verschlagene Dummgänse, brillante Rhetorikerinnen, gutmütige Schafe, Einsame, Schwindsüchtige, Flehende, derbe Arbeiterinnen und gleichgültige Betthasen. Kurtisanen mit Tripper, Dirnen mit Syphilis, zahnlose Greisinnen, kluge Beobachterinnen.
Pariser Männer, Pariser Frauen – eitel sind sie alle, und ich selbst bin keine Ausnahme: Schlank und breitschultrig gewachsen, achte ich auf saubere Rasur und habe eine Vorliebe für feste Stoffe. Meine Anzüge und Hemden duften stets ein wenig nach Jean-Marie Farinas Eau de Cologne, dessen leichte Zitronen-Bitterorange-und-Bergamotte-Kreation mir einen vornehmen und sauberen Eindruck verleihen sollen. Schon Napoleon hat diesen Duft vor allen anderen geschätzt.
»Ihm half es, polnische Gräfinnen zu erobern, mir nützt es, um von meiner Narbe abzulenken.«
So pflegte ich zu antworten, wenn ich auf meinen Duft angesprochen wurde, und wischte mit dem Rücken meines Zeigefingers flüchtig über meine rechte Wange – ganz so, als wolle ich damit andeuten, dass meine Wangennarbe über ihre Äußerlichkeit hinaus auch meine Persönlichkeit und Seele zeichne.
Was mich hingegen wirklich von anderen unterscheidet, ist meine dichterische Redekraft, die sich aber nur dann entfaltet, wenn ich neben meiner Stimme auch meine Augen einsetzen kann. Marie-Thérèse meint heute, meine Augen seien kastanienbraun, damals jedoch ein wenig heller, nämlich haselnußbraun gewesen. Ich kann es nicht beurteilen, aber da Natur und Schicksal mir nun einmal beschieden hatten, als Hypnotiseur zu wirken, paart sich die Farbe meiner Augen mit außergewöhnlicher Klarheit. Passend dazu wurde ich – so Marie-Thérèse, die es vor allen anderen beurteilen kann – mit einer wohltemperierten Samtstimme beschenkt, die so warm und magisch wirke, wie ein „Ballett dunkler Edelsteine“.
Kurz und gut, eigentlich hätte ich damals, im Sommer 1822, ein überaus erfolgreicher Psychiater sein müssen: mit einer großen Praxis an einer der Boulevards, einem Dutzend Angestellten, eigenem Fuhrpark und einer schönen Gattin. Die Wahrheit ist eine andere: Mein von den Geisteskranken so geschätztes weiches Herz, meine Bescheidenheit und die Last, die auf meiner Seele lag, hatten damals jede Karriere verhindert. Ich war mit meinen dreißig Jahren nur ein einfacher Psychiater, der weder gut noch schlecht verdiente, wenig Geld ausgab und sich in diesem August 1822 hauptsächlich damit beschäftigte, einen geeigneten Verlag für einen Gastronomieführer ausfindig zu machen.
Natürlich leistete ich mir auch dann und wann ein Mädchen, schließlich war ungebunden, aber das soll in keinem Fall heißen, ich verdiente das Schimpfwort „Hurenbock“. Andere Zeitgenossen, wie zum Beispiel mein Chef Roger Collard, trieben es ärger. Er prahlte oft damit, dass er beim Eintritt in ein Etablissement die häßlichste Hure auswähle, die er finden könne, und sie dann, den Zylinder noch auf dem Kopf und eine Zigarre im Mund, vor aller Augen vögele. Sich derartig zu vergnügen war mein Geschmack nicht! Trotzdem widersprach ich nicht, als Collard einmal feststellte: »Wir, Petrus, müssen sogar in die Puffs. Denn erstens dienen unsere Besuche mehr der Selbstfindung und Befreiung als der Befriedigung, und zweitens sind sie schlicht und einfach notwendig, um unter den Barmherzigen Brüdern zu überleben, anders gesagt, um nicht selbst verrückt zu werden.«
Ich hatte bereits angedeutet, dass die Methoden der Irrenbehandlung in Charenton antiquiert waren – was vornehm ausgedrückt ist. Tatsächlich hatten sie mehr mit Barbarei zu tun. Die humanistischen Therapien des Pariser „Irren-Papstes“ Philippe Pinel und seines Schülers Jean Etienne Dominique Esquirol fanden keine Anwendung, was bedeutete, dass zum Beispiel Tobsüchtige nach wie vor von den Barmherzigen Brüdern mißhandelt wurden. So war es an der Tagesordnung, bereits leichte Aufsässigkeiten mit dem Ochsenziemer zu ahnden. In gesteigerten Fällen wurde bis zur Bewußtlosigkeit zur Ader gelassen, und nach wie vor gab es „Brüder“, die für ein paar Sous ihre Schützlinge zur Belustigung gelangweilter Touristen wie Affen an der Kette vorführten.
Alle zwei, drei Tage passierten irgendwelche Exzesse, und an jenem Freitagabend war es wieder besonders schlimm gewesen.
Wie gesagt, ich wollte nach Paris.
Zuvor hatte ich einem der „Schließ-Brüder“ eine saftige Standpauke halten müssen, weil dieser einem Dementen, der bei der Essensausgabe nicht mit ihm beten wollte, den Ochsenziemer durchs Gesicht gezogen hatte. Immerhin, wenigstens versprach der „Bruder“ für die Zukunft behutsameren Umgang. Aber, hatte er zu bedenken gegeben, beim Beten müsse sich auch ein Dementer zusammenreißen.
»Die Hände zu falten und einmal Amen zu brabbeln – Herrgott, das darf ein Barmherziger Bruder doch verlangen. Oder nicht? Schließlich haben wir dafür zu sorgen, dass auch Pensionäre ihren Anteil am Glauben, der Kirche und dem Himmelreich bekommen.«
»Einem Dementen können Glauben, Kirche und Himmelreich aber niemals mit dem Ochsenziemer vermittelt werden. Zur Hölle mit dem Ding!«
Ich war ich noch immer aufgebracht, als ich auf dem Marktplatz in den Coiffeur-Salon trat - ein Laden, der genau wie das Hospiz noch nicht im 19. Jahrhundert angekommen war. Mich erinnerte er an die Coiffeur-Kaschemmen des Ancien Regime, wie sie einst Mercier geschildert hatte: Die verschmierten Fensterscheiben wehrten erfolgreich das Tageslicht ab, waren überdies mit einer feinen Schicht Puder überzogen. Spinnen hingen leblos in weißbestäubten Netzen, in den Ecken der Fensterbänke lagen tote Fliegen. Auf einem rohen quadratischen Tisch stand nebst einer Tonvase voller Kämme und Scheren ein offener Tiegel mit fliegenumschwirrter Pomade. Doch trotz dieser wenig einladenden Staffage hatte Coiffeur Baptiste Marchand Kundschaft: Ein triefäugiger Arbeiter aus der nahen Papierfabrik ließ sich fürs Wochenende rasieren. Frisch eingeseift verharrte er bewegungslos unter einem Wachstuch und krähte mir zu, Meister Marchand sei dabei, warmes Wasser zu holen.
Natürlich hatte ich nicht die leiseste Lust, auch nur eine Minute länger als nötig in dieser Lichtfalle zu warten.
»Verzeihung Monsieur«, sagte ich, »könnten Sie dem Meister bitte ausrichten, sich am Montag mit Werkzeug im Hospiz zu melden?«
Anstelle einer Antwort zerbrach klirrend eine Scheibe. Ich rannte ins Freie und brüllte den drei flüchtenden Jungen hinterher, sie sollten gefälligst stehenbleiben.
»Ihr Feiglinge! Glaubt ihr, ihr seid unsichtbar? Ich kenne euch doch! Hab ich Recht, Sébastien?«
Der Angerufene blieb stehen, mit ihm seine Kameraden. Ich winkte die Übeltäter zu mir.
»Ich habe nicht geworfen«, murrte Sébastien.
Er war der Sohn des Bürgermeisters Soulé, vierzehn Jahre alt und für sein Alter reichlich hoch aufgeschossen. Seine Augen hatten irgendwie etwas Fanatisches an sich, einen harten Glanz, wie ihn auch einige Pensionäre zeigten, die ich zu den Psychotikern zählte.
»Gut, du hast nicht geworfen. Wer dann und wieso überhaupt?«
»Michel. Überhaupt war´s eher ein Unfall. Aber da Marchand ein Hugenotten-Schwein ist, kann es so schlimm gar nicht sein.«
Für den Fortgang der Ereignisse spielt es zunächst keine Rolle, ob Sébastien pöbelhafte Vorurteile hatte oder nicht. Michel sprang ihn wie ein Wolf an und riss ihn zu Boden. Gut zwei Jahre älter und bulliger überschüttete er Sébastien mit allen Schimpfwörtern, die er kannte. Doch Sébastien wollte seine Ehre als Sohn des Bürgermeisters verteidigen. Er nahm den Kampf auf, wild entschlossen, sich nicht bäuchlings aufs Pflaster drücken zu lassen. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, einen Katzenbuckel zu machen und schaffte es sogar, sich aus Michels Umklammerung zu befreien, doch der änderte daraufhin seine Taktik und wurde noch ein Stück rabiater.
»Gib auf!«, rief er, packte Sébastien am Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken.
»Du dreckiger Krähenfresser!« Sébastien brüllte auf vor Schmerz. »Und doch bist du ein armer dreckiger Krähenfresser!«
»Schluß!«, befahl ich.
An anderen Tagen hätte ich die Jungen sich noch eine Weile prügeln lassen, doch heute war für mich das Maß an Gewalt erschöpft. Michel und Sébastien dachten allerdings gar nicht daran, aufzuhören.
Sébastien ging in die Knie und robbte ein Stück auf dem Pflaster. Michel ließ ihn einen halben Meter krabbeln – aber nur, um ihn plötzlich in den Schwitzkasten zu nehmen und ihm den Kopf brutal in den Dreck zu drücken.
»Kannst du nicht hören?« Michel konnte es offenbar nicht. Also musste er fühlen: Ich riss ihn an den Haaren zurück und verpaßte ihm eine saftige Ohrfeige. Hasserfüllt brüllte Michel auf, während Sébastien sich schniefend und den Tränen nah, den Dreck aus dem Gesicht wischte. »Du fängst dir gleich noch eine ein, Michel!«
»Sie sind tot!« zischte Michel. »Warum mischen Sie sich ein!«
»Was hast du da gerade gesagt, Freundchen? Noch einmal: Was – hast – du – da – gerade – gesagt?«
Überraschung ist ein wesentliches Mittel der Hypnose. Und so klang meine Stimme entgegen Michels Erwartung weder wütend noch aggressiv, sondern nur sanft und weich - ein Effekt, der mehr bewirkte, als hätte ich aus Leibeskräften gebrüllt. Verblüfft riss Michel den Mund auf und starrte mich an, als hätte er eine Erscheinung. Mein Blick tat ein übriges. Was genau dieser suggestiv-hypnotische Blick auslöst, vermag ich nicht zu sagen. Marie Bonet jedoch verdanke ich eine ungefähre Vorstellung davon. Sie beschrieb mir einmal, was sie empfindet, wenn wir Sitzung abhalten - ganz ähnlich muss es also Michel ergangen sein und den vielen anderen Menschen, die ich später hypnotisierte: Sie bilden sich zum Beispiel ein, dass die Augen vor ihnen wie frische Kastanien duften, gleichzeitig erscheinen sie ihnen so klar wie das Wasser eines schmelzenden Eiszapfens.
»Ihre völlige Ruhe«, so Madame Bonet, »überträgt sich fast sofort und lässt in einem die Sehnsucht wachsen, auf der Stelle vor ihnen zu kapitulieren. Gleichzeitig ergreift einen das Gefühl, irgendwo in deinem Kopf habe sich ein Leck aufgetan, aus dem alle Gedanken ins Nirgendwo strudeln.«
Sagte ich eingangs, dass ich meine hypnotische Gabe damals gleichsam eingebüßt hatte, darf dies nicht absolut verstanden werden. Ich räumte ihr nur keinen besonderen Platz ein, weil ich unter einer Art Bann stand, der erst gebrochen werden musste. Mithin war es eher ein aus einer grimmigen Laune heraus geborenes Spiel, dass ich Michel hypnotisierte. Mit fatalen Folgen, wovon später noch zu erzählen sein wird.
Zunächst aber hatte ich Erfolg. Michel war wie gefangen, fast schon gelähmt – nicht aber Sébastien Soulé, dieser hinterhältige Sohn des Bürgermeisters.
»Du bist ein Krähenfresser, Michel«, ahmte er teuflisch geschickt meine Stimme nach, womit er seinen Kombattanten zurück in die Wirklichkeit riss.
Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Denn da Michel noch an meinen Augen hing, glaubte er, ich habe ihn beleidigt. Es nützte nichts mehr, dass ich Sébastien ohrfeigte. Michel rannte davon, als wären die Furien hinter ihm her, und nichts sah danach aus, dass er sich mir schon eine halbe Stunde später wieder in Erinnerung bringen sollte. Wenigstens gelang es mir, Sébastien soweit zu bringen, sich zwischenzeitlich bei Meister Marchand zu entschuldigen. Ich fragte dann noch in der Fischräucherei nach, warum nicht, wie vereinbart gewesen war, mittags die Aale im Hospiz angekommen seien. Die freche Antwort trieb meinen Blutdruck gleich wieder hoch, und als ich kurz darauf Michel wiedertraf, der von zwei Riesenschnauzern begleitet wurde, dämmerte es mir, dass das Schicksal wohl heute Besonderes mit mir vorhatte.
Zwei Hunde. So also sah Michels Rache aus. Die Köter reichten einem ausgewachsenen Mann ein gutes Stück über das Knie, waren also nicht zu groß, aber eben auch alles andere als klein. Das wenig freundliche Trio hatte sich vor meinem Häuschen versammelt – in einer Seitenstraße der Pariser Chaussee, unmittelbar am Rand des Bois de Vicennes.
Bis zur Abfahrt des Omnibus-Wagens nach Paris war es noch eine halbe Stunde. Ich musste mich beeilen.
»Sieh da!«, rief ich launig. »Der Michel und sein Empfangskomitee. Sehr einladend. Richtig nobel.«
Ich tat, als könnte mich nichts einschüchtern, und marschierte, ohne den Schritt zu verlangsamen, auf mein Domizil zu, in der Nase den Duft wunderbar gelbgrüner August-Äpfel. Auf den ersten Blick schienen die Hunde sogar friedfertig, zumindest knurrten sie nicht. Doch Michel war so durchtrieben wie bösartig. Ohne ein Wort zu sagen, haschte er nach meiner Apfeltüte, die prompt zerriss. Die Äpfel fielen in den Sand.
»Du Satan! Ich werde dir zeigen …«
Der erste Schnauzer entschied sich, anzugreifen. Noch einen Apfel in der Hand, hatte ich keine Zeit, länger zu überlegen. Mein Apfel traf den Schnauzer am Schädel. Der Köter jaulte auf und suchte das Weite, nicht so jedoch der andere. Panisch trat ich zur Seite, bückte mich und opferte zwei weitere Äpfel. Doch die trafen nicht, und so konnte ich nur zusehen, wie der Hund allmählich schneller und schneller wurde und schließlich in einem ungeheuren Sprung auf mich zuflog. Ich schlug mit meinem Zylinder um mich, aber eine solche Waffe taugt natürlich nicht gegen ein gefletschtes Hundegebiß. Im ersten Augenblick spürte ich nur den Druck der sich verkrampfenden Kiefer, doch dann kam der Schmerz. Das Viech riss an meinem Arm, grollend, die Schnauze schaumig, Mordlust in den Augen.
Mit dem Mut der Verzweiflung warf ich mich auf den Boden und wälzte mich mit allem Schwung herum. Der Schnauzer kugelte damit in eine Art halbe Rückenlage, wodurch es mir irgendwie gelang, ihm meinen freien Arm auf die Brust zu dreschen und ihn dabei unter mir zu begraben. Ein einziger, unbändiger knurrender und geifernder Muskel lag jetzt unter mir, aber meine Schenkel waren wie ein Schraubstock.
Ich herrschte den Hund an, aber nicht hysterisch oder gar verzweifelt. Wahrscheinlich sah es aus, als wollte jetzt ich dem Viech meine Zähne in den Hals schlagen oder es hypnotisieren. Tatsächlich konzentrierte ich mich darauf, alle Kraft in meine Faust zu legen. Ich kroch ein Stück nach vorn, Blitze und Donner in meinem Blick - dann krachte meine Faust auf den Hundeschädel, einmal, zweimal. Der Beißkrampf lockerte sich, ich bekam den Arm frei. Ein letztes Mal sammelte ich meine Kräfte, schob mich noch einmal ein Stück vor und rammte dem Hund das Knie unter die Schnauze. Er jaulte auf, begann zu röcheln. Seine Kraft war gebrochen. Und genau in diesem Moment ergriff mich der Hass. Während ich mit dem Knie nachdrückte, verkrallte ich mich in die Nackenhaare - und schmetterte den Kopf mit einem entschlossenen Ruck nach hinten. Mit widerlichen Knacken brach das Genick. Michels Schnauzer erschlaffte und fühlte sich mit einemmal nur noch an wie ein schlecht ausgestopftes Balg.
Erst nachdem ich wieder einigermaßen zu mir gekommen war, erinnerte ich mich daran, wem ich dieses Spektakel verdankte. Ich schaute um mich, doch niemand hatte den Kampf bemerkt. Und Michel war bereits wieder verschwunden.
Noch eine Viertelstunde bis zur Abfahrt des Omnibus-Wagens nach Paris. Der Ärmel meines Rocks hing in Fetzen, das Hemd darunter war blutdurchtränkt.
Ich taumelte ins Haus. Mein Mund war ausgetrocknet, und mein Arm brannte bei jeder Bewegung. Zum Glück war der Wasserkrug im Schlafzimmer noch voll. Ich leerte ihn in die Waschschüssel und tauchte das Gesicht hinein. Nachdem ich meine Stirn gekühlt hatte, ließ die Hitze nach, und die Selbstbeherrschung kehrte zurück. Ich wand mich aus Gehrock und Hemd, zog ein frisches Taschentuch aus dem Nachtschrank und tränkte es mit Franzbranntwein. Als ich es auf die Wunde legte, überfiel mich sofort große Erleichterung. Das Blut war bereits geronnen, mit ein bisschen Glück würde es keine Komplikationen geben. Denn Michels Schnauzer waren zwar beiß-, nicht aber tollwütig.
Der Omnibus-Wagen!
Ich lauschte auf das Rasseln und Hufeschlagen, den kurzen Moment der Stille, zählte die Sekunden, bis die Peitsche knallte und die Pferde wieherten. Trappeln, Ächzen, rollende, sich entfernende Räder. Dann eben morgen, dachte ich und sah im Geist die sich immer schneller drehenden Speichen. Wenigstens half der Franzbranntwein. Nach einer Weile ebbten die Schmerzen ab und verschwammen zu einem dumpfen Pulsieren. Ich wickelte etwas Leinen um meinen Arm und gönnte mir zur weiteren Beruhigung sechs Tropfen Laudanum. Ich legte mich sofort ins Bett. Es dauerte keine Minute, da war ich eingeschlafen.
Als ich erwachte, fühlte ich mich elend. Doch nicht der Wundschmerz plagte mich, sondern mein Gewissen. Ich machte mir Vorwürfe wegen des toten Hundes. Ausgerechnet ich, der ich nicht müde wurde, Milde bei den Barmherzigen Brüdern einzufordern, hatte einer Kreatur das Genick gebrochen. Ich hätte mit Michel sprechen, freundlicher sein sollen. Andererseits, hatte ich eine andere Wahl? Der Schnauzer hätte mich zerrissen, wäre er stärker gewesen.
»Also, in dubio pro reo.«
Ich setzte mich auf und stierte von der Bettkante aus vor mich hin. Vielleicht bin ich wirklich zu weich, sprach ich mit mir selbst. Vielleicht ist es ja ganz normal, zu töten. Jäger tun es täglich, der Henker auch und Soldaten sowieso. Im Waschkrug entdeckte ich mein verzerrtes Spiegelbild, versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln. Doch mein Kopf war leer. Schaffe das Viech unter die Erde und dann vergiß diesen mißratenen Tag. Wozu sonst gibt es volle Weinflaschen?
Statt im Schuppen nach einem Spaten zu suchen, blieb ich jedoch sitzen. Noch einmal rief ich mir die Bilder ins Gedächtnis, wie ich sie so oder ähnlich immer wieder erlebte: Michel, der unter meinem Blick gefügig wurde wie eine Wachspuppe und der Schnauzer, der sich für Momente davon hatte irritieren lassen.
»Und du kannst es doch.«
Was ließ ich mich irre machen! Was zweifelte ich! Das Geheimnis der rätselhaft erscheinenden Dinge besteht zu oft darin, dass es kein Geheimnis gibt. Ich wusste doch um meine Augen und meine Stimme! Sie waren mein Kapital, und ich lebte von den Zinsen. Allein dieser Gabe verdankte ich meinen guten Ruf bei den Pensionären, wegen ihr konnte ich fast völlig auf Repressionsmittel wie Zwangsjacken und Duschbäder verzichten. Der Haken war, dass mir dieses Kapital bislang viel zu wenig Zinsen eintrug, denn Prior de Coulmier und Chefarzt Collard sahen keinen Grund, diesen natürlichen Schatz angemessen zu vergüten. Dabei hatten sie selbst mehrfach erlebt, wie leicht es mir gelang, selbst Tobsüchtige zu zähmen. Langes ruhiges Anblicken genügte, und wenn ich dabei mit meiner Stimme zauberte und sagte: Es wird gut und besser, alles schwimmt im Fluss davon, das Böse, der Zorn, der Hass dann verloren sich Aggressionen wie kochender Dampf im Wind.
Freilich gab es auch Psychopathen, die mich, wo immer sie mich witterten oder sahen, am liebsten auf der Stelle zerrissen hätten. Leider war genau dies der Grund, weshalb Chefarzt Roger Collard meiner suggestiver Gabe so wenig zutraute und im Grund seines Herzens nichts von ihr wissen wollte. Rückwirkend betrachtet ließ sich schon damals nicht leugnen, dass mein Wirken in Charenton in eine Sackgasse geraten war. Allein, dass ich fünf Tage die Woche in dieser ländlichen Langweiligkeit verbringen musste, war ein Opfer. Es bedeutete, fünf Tage lang Einsamkeit zu ertragen und gegen Abstumpfung zu kämpfen. Denn dort, am Bois de Vincennes, lebte man ganz und gar irdisch. Und zwar von Holz, Jagd und Fischerei. Zusätzlich ernährte die Marne noch zwei Müllerfamilien und eine Papier- und Sägemühle. Man arbeitete für Paris, besaß als einzige Attraktion eine klobige Brücke und konnte sich ansonsten nur rühmen, seit 1660 Geisteskranke zu beherbergen, zu denen im Ancien Régime auch politisch Unbequeme gezählt worden waren. Einzig aus diesem Grund hatte König Ludwig XVI. 1785 befunden, die Gegebenheiten und therapeutischen Gepflogenheiten Charentons wären für die Pensionäre günstig eine Einschätzung, die bis 1792 selbst die Revolutionäre geteilt hatten. Trotzdem kamen sie im säkularen Überschwang überein, die Institution im April zu schließen. Freilich nur bis zum Juni 1797, denn nicht alle Familien wollten, dass ihre Irren in den damaligen Höllen von Bicêtre oder der Salpêtrière im eigenen Unrat verreckten.
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