Die Tochter des Komponisten - Andreas Liebert - E-Book
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Die Tochter des Komponisten E-Book

Andreas Liebert

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Beschreibung

Die Frau im Schatten des einzigartigen Musikers: Der fesselnde Roman »Die Tochter des Komponisten« von Andreas Liebert jetzt als eBook bei dotbooks. Leipzig, Anfang des 18. Jahrhunderts: Johann Sebastian Bach ist der bedeutendste Komponist seiner Zeit – von Kollegen und Adel gefeiert, ist er jedoch auch ein Gefangener seines Alltags. Bachs Tochter Catharina Dorothea aber ist ihm stets eine verlässliche Stütze: Während er sich mit einflussreichen Bürgern der Stadt entzweit und immer tiefer in seinen Kompositionen versinkt, ist es vor allem Catharinas Aufgabe, den Haushalt zu führen, ihre jungen Geschwister aufzuziehen und nach außen hin das Ansehen der Familie zu wahren. Zeit zu träumen und zu lieben war ihr bislang nicht vergönnt. Doch durch eine schicksalshafte Begegnung mit der Straßenmusikerin Barbara entspinnt sich ein Band der Freundschaft zwischen diesen so unterschiedlichen Frauen – und Catharina lernt auf einmal eine Art zu leben kennen, die sie nie für möglich gehalten hätte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende historische Roman »Die Tochter des Komponisten« von Andreas Liebert wird alle Fans der Erfolgsreihen »Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe« und »Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte« begeistern! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 510

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Über dieses Buch:

Leipzig, Anfang des 18. Jahrhunderts: Johann Sebastian Bach ist der bedeutendste Komponist seiner Zeit – von Kollegen und Adel gefeiert, ist er jedoch auch ein Gefangener seines Alltags. Bachs Tochter Catharina Dorothea aber ist ihm stets eine verlässliche Stütze: Während er sich mit einflussreichen Bürgern der Stadt entzweit und immer tiefer in seinen Kompositionen versinkt, ist es vor allem Catharinas Aufgabe, den Haushalt zu führen, ihre jungen Geschwister aufzuziehen und nach außen hin das Ansehen der Familie zu wahren. Zeit zu träumen und zu lieben war ihr bislang nicht vergönnt. Doch durch eine schicksalshafte Begegnung mit der Straßenmusikerin Barbara entspinnt sich ein Band der Freundschaft zwischen diesen so unterschiedlichen Frauen – und Catharina lernt auf einmal eine Art zu leben kennen, die sie nie für möglich gehalten hätte …

Ein Roman über das Genie Johann Sebastian Bachs, seine Söhne, die sich stets gegen ihn behaupten mussten – und seine Töchter, die nun aus dem Schatten der Geschichte heraustreten.

Über den Autor:

Andreas Liebert, von Kindheit an von Tübingen fasziniert und geprägt, ist Kulturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt 18. und 19. Jahrhundert. Seit Jahren arbeitet er als Schreibcoach für eine bundesweite Romanwerkstatt, gleichzeitig engagiert er sich als Lehrkraft im zweiten Bildungsweg.

Bei dotbooks veröffentlichte Andreas Liebert seinen Weinkrimi »Schwarze Reben« sowie seine historischen Romane »Die Pianistin von Paris«, »Die Töchter von Sankt Petersburg«, »Das Blutholz«, »Die Töchter aus dem Elbflorenz«, »Corellis Geige«, »Die Hexe von Rothenburg« und »Die Hexe von Tübingen«.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe März 2021

Dieses Buch erschien bereits 1999 unter dem Titel »Mein Vater, der Kantor Bach« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 1999 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / frantic00 / Lopolo / Marc Carrel / Jan Adler sowie © pixabay / andreaswdnr26

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-439-8

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Andreas Liebert

Die Tochter des Komponisten

Catharina Dorothea Bach und der Klang der Liebe

dotbooks.

»Mein ältester Sohn studiert Jura, die anderen beiden besuchen noch, einer die Prima, der andere die Secunda. Und die älteste Tochter ist auch noch unverheiratet. Die Kinder anderer Ehe sind noch klein und der Knabe als erstgeborener sechs Jahre alt. Insgesamt aber sind sie geborene Musiker, und ich kann versichern, dass ich schon ein Konzert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formieren kann – zumal meine jetzige Frau einen sauberen Sopran singt, aber auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschlägt.«

Johann Sebastian Bach an seinen Jugendfreund Georg Erdmann in Danzig am 28. Oktober 1730

Prolog

Noch während der Bewerber spielte, schüttelte Johann Sebastian Bach den Kopf. Und dies nicht bloß einmal, sondern mehrmals. Die hochwohlweisen Herren von Rat und Kirche, die er damit hinters Licht führen wollte, sollte nämlich nicht der geringste Zweifel plagen, dass ihr Leipziger Musikdirektor soeben wieder einen angehenden Organisten für unwürdig befunden hatte.

Die Stadtoberen saßen zwei Kirchenbänke hinter ihm und achteten auf jede seiner Kopfbewegungen, wobei ihnen die ablehnenden wichtiger waren als die zustimmenden.

Bach wusste dies nur allzu gut, und so freute er sich diebisch über seinen Streich, der ein richtiges Bubenstück zu werden versprach. Verschmitzt lächelte er vor sich hin, und hätte es die Situation erlaubt: Er, der weithin bekannte Thomaskantor und Musikdirektor, hätte am liebsten übermütig vor sich hin gebrummt.

Endlich war die Stunde gekommen, ein klein wenig Rache zu nehmen – und zwar dafür, dass die hochwohlweisen Herren sich über seine Vorschläge für die neu zu vergebenden zehn Freistellen an der Thomasschule hinweggesetzt hatten. Von seinen empfohlenen Anwärtern hatten sie nämlich nur fünf ausgewählt, die anderen Freistellen hingegen an musikuntaugliche Jungen vergeben, von denen einer gar die Dreistigkeit besessen hatte, sich nicht von ihm prüfen zu lassen.

Jetzt war die Gelegenheit gekommen, es der Obrigkeit heimzuzahlen – schlichtweg, indem er vor den Herren dort den Kopf schüttelte, wo er eigentlich hätte zustimmend nicken müssen.

Und sie, die nebeneinandersaßen, taten ihm prompt den Gefallen: Sie bewegten ihre Häupter nicht anders als ihr Herr Musikdirektor. Die imponierenden Allongeperücken knisterten auf dem Rockkragen und auf ihren Gesichtern malte sich jener selbstgerechte Ausdruck, der nichts anderes besagte als: Wir hätten nicht anders entschieden, im Grunde genommen stand unser Urteil schon nach den ersten Tönen fest. Beiläufig schauten sie auf ihren Zettel, wie der Prüfling hieß, und strichen seinen Namen aus ihrem Gedächtnis. Für sie stand damit der neue Organist an St. Nikolai so gut wie fest: Alles lief auf Adolph Scheibe oder den Coburger Johann Schneider hinaus. Caspar Vogler aus Weimar, der gerade spielte, hatte nur noch Bedeutung fürs Protokoll.

Die Vertreter des Rats und der Kirche hatten keine Vorbehalte, sich dem Urteil des Fürsten aller Orgelspieler anzuschließen. Was dessen mehr oder weniger musikkundige Kollegen sagen würden, die ebenfalls der Prüfungskommission angehörten, wog wenig – im übrigen hatten sie alle beobachten können, dass Bachs Kollegen an denselben Stellen nickten oder den Kopf schüttelten. Auch sie hörten anscheinend ganz mit Bachschen Ohren.

Darüber hinaus gab es noch eine Gemeinsamkeit: Man fröstelte. Denn es war Dezember, das Weihnachtsfest des Jahres 1729 stand vor der Tür. Neun Bewerbungsspiele hatte die Kommission über sich ergehen lassen, für Bach sechs zu viel. Schließlich waren zwei der Bewerber ehemalige Schüler von ihm, der dritte der Sohn des hiesigen Orgelbauers Johann Scheibe. Was nicht hieß, dass Adolph Scheibe Bachs Schülern das Wasser reichen konnte, aber er war immer noch besser als die anderen sechs.

Schlussakkord. Plenum, C-Dur. Die Musik war noch nicht verhallt, da krachte bereits das Kirchengestühl. Schuhe scharrten. Degen klirrten. Taschentücher wurden gezogen, verhaltenes Schnäuzen war zu hören, die hochwohlweisen Herren rieben sich die Hände. Bachs Kollege Homilius, Kantor an der Nikolaikirche, rollte mit den Schultern und warf sich die Pelerine über. Sein Blick, der Bach galt, sagte: kalt, viel zu kalt.

»Draußen, Kollege, ist es in der Tat wärmer«, sagte Bach und rieb sich die klamm gewordenen Finger. »Aber dass mir unser Prüfungschoral für den Rest des Tages die Ohren verstopft hat, ist mir beileibe noch ein Stück unangenehmer.«

»Sie würden mich enttäuschen, hätten Sie etwas anderes bemerkt«, scherzte Hieronymus Homilius, der mit seinen achtundfünfzig Jahren der älteste der Prüfungskommission war. Bach kam gut mit ihm aus, weil sich Homilius ihm in allen Belangen der Musik vorbehaltlos unterordnete.

»Es war unklug von mir, meinen Ohren Liedfiguration, Choralextemporation samt Fugenimprovisation anhand nur einer Melodie zuzumuten«, setzte Bach verdrossen nach. »Vom Himmelhoch da komm ich her – unseres Martin Luther Kinderlied ist mir jetzt auf Monate hinaus verleidet.«

Bach meinte es ernst. Musik war für ihn wichtiger als Kälte und taub gewordene Gliedmaßen, Musik stand grundsätzlich an oberster Stelle. Das wusste Homilius genauso wie jeder andere Musiker Leipzigs. Trotzdem wunderte er sich immer wieder aufs Neue, dass Bach wirklich zu glauben schien, der Rest der Welt müsste es genauso sehen. Es war dies seine größte Schwäche und der Hauptgrund, dass er und die Obrigkeit gewöhnlich miteinander umgingen wie Hund und Katz.

»Aber für Sie steht unser neuer Nikolai-Organist fest? Ja?« Homilius war so durchgefroren, dass er ohne Umschweife zur Sache kam.

»Nein. Nur wer meines Ermessens hier in Zukunft nicht die Orgel schlagen sollte. Und von den neun Bewerbern sind das mindestens die Hälfte.«

Homilius schaute Bach prüfend an, doch dann nickte er zustimmend.

Bachs Mundwinkel zuckten. Er musste sich beherrschen, nicht überheblich zu grinsen. Sein Blick wanderte zu den Prüflingen, die sich auf der anderen Seite des Kirchenschiffes über die Bänke verteilt hatten. Am weitesten vorne saß Adolph Scheibe und stierte so unbeweglich auf den Altar, als wollte er mit seinem einen Auge dem Gekreuzigten drohen. Im Kindesalter war ihm in der Orgelbau-Werkstatt seines Vaters eine Orgelpfeife mit der Spitze voran ins Auge gefallen. Kein Arzt hatte mehr helfen können.

»Meine Einäugigkeit hat mich gelehrt, sorgfältig und bewusst zu handeln«, hatte Scheibe Bach einmal erzählt. »Und sie erinnert mich täglich daran, dass man mit Willenskraft gleichsam Berge versetzen kann.«

»Wille allein genügt leider nicht«, bekam er von Bach zur Antwort. »Zumindest nicht für einen Instrumentalisten. Und erst recht nicht, wenn er sich jenem Gebirge von Pfeifen stellt, das Orgel heißt.«

Bach mochte Scheibe nicht sonderlich, aber er achtete seinen Fleiß. Scheibes akademisches Gehabe hingegen wirkte auf ihn anmaßend. Vor allem, wenn dieser von Christoph Gottsched, Leipzigs vielbewundertem Poetik-Professor, schwärmte, regte sich bei Bach der Groll. Denn Gottsched war neben ihm die andere künstlerische Persönlichkeit Leipzigs, stand als Professor im Ansehen jedoch höher als selbst er, der Leipziger Musikdirektor und weithin geschätzte Orgelspieler.

Warum bloß hat Catharina sich ausgerechnet ihn ausgeguckt? fragte sich Bach, während er Scheibe beobachtete.

Catharina Dorothea war seine älteste Tochter und stand kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Bislang war sie eine der tragenden Säulen seines Hauswesens: eine gleichermaßen gute Wirtschafterin und Erzieherin wie Sängerin. Aber auch eigensinnig. Und manchmal zu verschlossen. Der Tod ihrer Mutter vor neuneinhalb Jahren hatte sie früh reifen lassen. Was sie tat, tat sie nie ohne Hingabe, aber Bach glaubte zu wissen, dass Catharina sich an nichts und niemanden in der Welt jemals ganz verlieren würde. Selbst nicht an die Liebe.

Bachs und Scheibes Blicke trafen sich. Im Gesicht des Kandidaten stand die Enttäuschung geschrieben. Aber auch Auflehnung.

Er ist zu selbstkritisch, um sich etwas vorzumachen, sagte sich Bach und fühlte einen Anflug von Sympathie. Nur, sinnierte er weiter, sein Stolz wird nicht zulassen, Catharina noch länger zu umwerben, wenn er hier nicht als Sieger hervorgeht. Er gehört nicht zu denen, die ohne Amt in die Ehe gehen. Trotzdem, er ist kein schlechter Mensch. Catharina könnte glücklich mit ihm werden.

Bach schob das leidige Thema der Existenzsicherung für einen Augenblick beiseite, aber als er sich vorstellte, in absehbarer Zukunft nach Haus zu kommen, ohne dass seine Tochter ihn begrüßte, setzte es ihm einen Stich ins Herz. Andererseits: ein Enkel …

»Der Herr Musikdirektor hat noch einmal alle Kandidaten vor seinem unbestechlichen Ohr passieren lassen?«

Der Vertreter vom Rat klang freundlich und ohne Arg: So gefiel es Bach – und durfte seines Erachtens auch nicht anders sein. Nichtsdestotrotz bewies er seinen Respekt und deutete eine Verbeugung an.

»Da haben Sie recht!« erwiderte er. »Aber ich werde unschwer der einzige gewesen sein?«

Bach warf Homilius und dem Ratsherrn einen vielsagenden Blick zu, Gottlieb Görner dagegen, der mit in den Kreis getreten war, weil auch er der Prüfungskommission angehörte, behandelte er wegen seiner ungenügenden orgelspielerischen Qualitäten wie Luft.

Görner wechselte im neuen Jahr auf eigenen Wunsch von der Nikolai-Orgel an die Orgel der Thomaskirche – in erster Linie deshalb, weil der Thomaskirchen-Organist freie Wohnung gestellt bekam, der Nikolaikirchen-Organist sie hingegen aus eigenen Mitteln bestreiten musste. Bach ahnte noch einen anderen Grund, und zwar einen rein musikalischen: Görner nämlich, so wurde geflüstert, fühle sich dem prächtigen Instrument der Nikolaikirche einfach nicht gewachsen. Auch Bach hatte ihm einmal die Perücke vor die Füße geworfen und getobt: Görner hätte lieber Schuhflicker werden sollen als Organist.

Tatsächlich lag dem immer Lächelnden mehr am guten Leben als an der Kunst. Doch aufgrund seiner gefälligen Kompositionen für die Universität und andere Leipziger Festivitäten war er eine feste Größe im Musikleben der Stadt.

»Der einzige, der zugehört hat, sind Sie freilich nicht, aber der Maßgebende«, sagte Görner launig. »Ohne natürlich unseren hochwohlweisen Herren von Rat und Kirche in die Kompetenzen hineinzureden.«

»Also?« fragte Bach.

»Nach unserer wenig maßgeblichen Meinung«, flüsterte der Ratsherr, »werden wir für Monsieur Schneider oder Scheibe votieren.«

»Ein Votum, dem ich mich anschließe«, sagte Görner selbstgefällig. Homilius nickte, sah Bach aber nicht an.

Und Bach? Schüttelte den Kopf. Gewichtig, langsam – in genau derselben Art wie vor ein paar Minuten. Seine Augen blitzten. Triumph und Spott spielten um seinen Mund. Die Gesichter des Rats- und des Kirchenvertreters versteinerten. Ihre Augen wurden eng, die Münder zu einem Strich. Homilius räusperte sich, wollte etwas Vermittelndes sagen, aber es war bereits zu spät. Bach referierte über die Bedeutung seines Kopfschüttelns.

»Ich fürchte, ich habe vorhin eine falsche Fährte gelegt«, entgegnete er leutselig und schaute abwechselnd den Ratsherrn und den Kirchenvertreter an. »Aber ich glaube, dass ich mich dessen nicht zu entschuldigen brauche. Habe ich möglicherweise zu heftig bei unserem letzten Kandidaten reagiert, liegt es daran, weil mich die Schnelligkeit seines Spiels hingerissen hat. Bekanntermaßen pflegt man ja ab und an den Kopf zu schütteln, wenn man gar nicht glauben will, was man erlebt. Im Sinne davon, dass es außergewöhnlich ist.«

»Was heißen will, dass Sie den« – der Ratsherr kramte seinen Zettel aus der Rocktasche – »den Monsieur Vogler präferieren?«

»Ich könnte es Ihnen auseinandersetzen …«

Bachs Stimme klang von oben herab, so, als wären die hochwohlweisen Herren wenig mehr als dumme Sekundaner der Thomasschule. Der Ratsherr bekam einen stieren Blick, seine Lippen zitterten. Hilfesuchend blickte er sich zu seinem Kollegen von der Kirche um, doch der war so perplex, dass ihm noch immer der Mund offenstand. »Aber alles ist halb so schlimm«, lenkte Bach ein. Er hatte seine Genugtuung gehabt, die hochwohlweisen Herren vorgeführt. »Mit den anderen beiden Messieurs wäre ich ebenfalls einverstanden. In unserer so frommen Stadt stiftet ihre Art des Orgelschlagens weniger Konfusion.«

Homilius ließ einen Seufzer der Erleichterung hören, die Gesichter um Bach herum entspannten sich. Die endgültige Entscheidung, schlug Görner vor, könne man ja in der Ratsstube treffen. Dort sei es schicklicher als hier im Kalten.

»Nein!« begehrte der Ratsherr auf. »Monsieur Bach war zwar so charmant, uns unsere Zurückhaltung vorzuwerfen. Aber wir sind Manns genug, von den dreien nun auch noch den glücklichen Sieger zu bestimmen.«

Bach machte eine zustimmende Geste und wies auf Homilius. Der zischelte »Schneider«, für den sich der Vertreter der Kirche und Görner ebenfalls entschieden. Der Ratsherr votierte für Scheibe. Ihm lag daran, dass der Sohn des Mannes, der diese Orgel vor ein paar Jahren wieder auf Vordermann gebracht hatte, das Instrument unter die Hände bekam. Aus Kostengründen. Scheibe war jünger und billiger, zudem hätte er kleinere Reparaturen selbst ausführen können.

»Und der Herr Musikdirektor?«

»Sprach mein Kopfschütteln nicht Bände?«

»Es ändert sich dadurch jetzt trotzdem nichts«, platzte Homilius dazwischen. »Es bleibt drei gegen zwei. Der neue Organist heißt demnach Johann Schneider.«

Der Mann vom Rat brummte etwas, dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. Er verabschiedete sich und strebte dem Sieger zu, um ihm kurz zu gratulieren. Sein Kollege von der Kirche folgte ihm auf dem Fuß.

In Bach regte sich Mitleid, als er sah, wie Scheibe emporschnellte, während die beiden Männer an dessen Kirchenbank vorbeieilten. Und so war sein Entschluss schnell gefasst. Noch während die Vertreter von Rat und Kirche sich zu Schneider in die Bank zwängten, ging er auf Scheibe zu. Die Stirn in Falten, aber die Hände gewinnend nach vorne gestreckt. Scheibe dagegen schaute ihn nicht weniger drohend an wie vor ein paar Minuten den Gekreuzigten. Und ergriff als erster das Wort.

»Was man hofft, ist nie dasselbe, was man ahnt. Aber wer soll auch gegen jemanden bestehen, der Ihren Unterricht genossen hat?«

»Sie können es glauben oder nicht: Mein Votum wurde überstimmt. Doch Sie waren in der engeren Wahl.«

Scheibe nickte und verzog verächtlich den Mund. Eine ganze Weile blieb er vor Bach stehen und versuchte, dessen forschendem Blick standzuhalten. Es gelang ihm nicht. Er senkte den Kopf und schluckte. Bach entging es nicht. Behutsam legte er Scheibe die Hand auf die Schulter. Gemeinsam gingen sie ein paar Kirchenbänke weiter, wo Johann Schneider, der Gewinner, die Glückwünsche seiner Konkurrenten entgegennahm.

Draußen rief Bach Scheibe über den Kirchhof nach, dass er hoffe, ihn bald in seinem Collegium Musicum willkommen heißen zu dürfen – dann ging er mit Homilius seines Weges. Die beiden Männer sprachen lange kein Wort, doch plötzlich erging sich Homilius in einem Schwall von Vorwürfen.

»Ich verstehe Sie nicht, Monsieur Bach! Sie haben sich mit Ihrem Streich doch nur selbst ein Bein gestellt! Und Caspar Vogler damit ebenfalls. Dass unsere hochwohlweisen Herren, so wie Sie sich verhalten haben, gegen ihn votierten, muss Ihnen doch klar gewesen sein! Das ist das eine. Aber das andere, noch Schlimmere ist, dass Sie dadurch höchstwahrscheinlich den Bräutigam Ihrer Tochter über den Styx geschickt haben. Wollten Sie das?«

»Was Sie alles wissen! Anscheinend mehr als ich!« Bach blieb unvermittelt stehen, ging aber einen Augenblick später weiter. »Aber wer gackert, muss auch legen. Was gibt es, das mir bislang verborgen blieb?«

Homilius lachte laut auf und hängte sich bei Bach ein.

»Zwei-, dreimal hab ich Ihre Tochter und unseren Monsieur Einauge in einer angeregten Unterhaltung gesehen. Ich betone angeregt, nicht vertraulich. Was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie ihm zum Abschied die Wange hingehalten hat.«

»Doch nicht meine Tochter?«

Es sollte entrüstet klingen, der Ton aber war alles andere als das. Bach schmunzelte sogar. Was Homilius ihm da gerade erzählte, deckte sich mit dem, was sein Sohn Friedemann ihm schon vor etlichen Wochen angedeutet hatte. Woraufhin er Catharina auf Scheibe ansprach und von ihr die sibyllinische Antwort erhielt: Es reize sie einfach, dass er nur auf einem Auge blind sei.

»Ihre Tochter«, betonte Homilius. »Das behaupte ich. Und nun lassen Sie mich mal für Sie denken: Vier Ihnen wohlgesinnte Männer hatten Augen und Ohren …«

»… vor allem Augen …«

»… Ohren genug, Schneider oder Scheibe den Lorbeer aufzusetzen. Alles lag in Ihrer Hand. Sie hätten vier Menschen glücklich gemacht: Scheibe senior und junior plus Ihre Tochter. Und nächstes Jahr sich selbst dazu, denn für einen Enkel braucht Gott nur neun Monate.«

Bach brauste auf und setzte Homilius wortreich auseinander, dass an erster Stelle die Leistung zu stehen habe und nicht der persönliche Vorteil. Er habe seine festen Prinzipien. Scheibe sei nun mal bloß ein Fink, Vogler jedoch eine Nachtigall.

»Aha. Und Schneider die Drossel.« Homilius machte sich von Bach los und sah ihn ungläubig an. »Ihnen ist die Kunst heiliger als das Glück Ihrer Familie?«

»Ich kann nicht anders als gerecht sein. Und ich sage Ihnen: Hätte ich entschieden, wie Sie es mir gerade versucht haben nahezulegen, innerhalb von weniger als einer Woche wäre mein Ruf der Unbestechlichkeit ruiniert gewesen. Und das kann ich meiner Familie erst recht nicht antun. Dafür heiße ich Bach. Und für den kann ich nichts.«

Homilius sah Bach nachdenklich an und zog dann den Hut. Die beiden Kantoren verabschiedeten sich freundlich voneinander. Bach machte einen Umweg. Er war aufgewühlt, denn er gestand sich ein, dass Homilius nichts Falsches gesagt hatte. War er diesmal mit seiner Gerechtigkeitsliebe zu weit gegangen? Bach führte Argumente dafür und dagegen auf, aber so sehr er für sich auch um eine Lösung rang: Er fand keine. Noch nie allerdings hatte er so intensiv über seine Tochter nachgedacht. Und es überraschte ihn, wie sein Herz bei dem Gedanken zu pochen begann, Catharina Dorothea nicht mehr in seinem Hauswesen zu wissen.

Nach dem Tod Maria Barbaras, seiner ersten Frau, war für sie die Kindheit zu Ende gewesen. Bis zur Selbstverleugnung hatte sie sich um ihre drei jüngeren Brüder gekümmert. Dabei war sie selbst noch ein Kind, keine zwölf Jahre alt. Nie hatte sie in seiner Gegenwart geweint, im Gegensatz zu Friedemann, der vor Schmerz beinahe zerbrochen wäre. Catharina allein hatte Friede trösten können. Nicht er oder Tante Friedelena, Maria Barbaras unverheiratete Schwester, die mit in der Familie lebte.

Was würden Friede, Carl und Bernhard sagen, wenn sie aus dem Haus ginge? Bach beschloss, seine Söhne zu fragen. Für alle drei war Catharina zu gleichen Teilen Schwester wie Ersatzmutter. Und so gut sie mit Anna Magdalena auskamen: Hatten sie Sorgen, gingen sie zuerst zu Catharina. Die redete dann mit ihm, er darauf mit Magdalena, und sie besprach dann noch einmal alles mit Catharina.

Konnte die Familie also überhaupt auf sie verzichten?

Natürlich! Bach gab sich einen Ruck. Seine Söhne waren schließlich so gut wie erwachsen. Bald einen Enkel zu haben war wichtiger. Selbst ein halber Bach war immer noch besser als gar kein Bach. Nein, er hatte dafür zu sorgen, dass Catharina das Los einer alten Jungfer erspart blieb. Seiner Tochter durfte es nicht so gehen wie seiner Schwägerin Friedelena. Die war bigott geworden und weinerlich, hatte dieses Jahr nur ein einziges Mal gelächelt: auf ihrem Totenbett. Wer aber kam noch als Bräutigam in Frage? Gerlach? Der Hässliche? Nun gut, wenn er als Vater ein bisschen nachhelfen würde …

Bach blieb vor einer Bretterbühne stehen, auf der eine junge Frau in blutrotem Kleid und weißen Handschuhen zu wilder Gitarrenmusik tanzte. Vaganten, fahrendes Volk. Bach hörte einen Moment zu und verzog dann angewidert das Gesicht. Nichts als Rhythmus. Keine Melodie. Für ihn nur Geräusch, um die Beine zum Trampeln zu bringen. Wenigstens hatte die junge Frau ihre Reize. Bach erlaubte sich ein paar sündige Gedanken. Erst als die Kirchenglocken zu schlagen begannen, ging er seines Weges.

Kapitel 1

23. Dezember 1729

Warum bin ich nicht weitergegangen? Schließlich waren die Körbe mit dem Kürbis so schwer, dass mir bereits der Nacken glühte. Außerdem mahnte die Uhr, dass ich längst mit der Zubereitung des Abendessens hätte beschäftigt sein müssen. Aber ich konnte nicht anders. Eine seltsame Macht zwang mich, dieser Vagantin zuzuhören. Sie stand auf einer Bretterbühne und gebärdete sich wie eine Opernprimadonna. Bestimmt war sie jünger als ich – und doch sang sie in ihrem blutroten Kleid und weißen Handschuhen lauthals von Liebe und Lust. Ihr Orchester waren zwei übel schnarrende Gitarren und die Pfiffe gaffender Burschen. Doch trotz des Lärms traf sie die Töne genau. Sie perlten ihr aus dem Busen, über dem sie effektvoll die Arme kreuzte – was immer neue Begeisterung provozierte. Dann wieder schrie sie, weinte, flehte und warf zornige Blicke. Unschön war einzig, wie sich ihr der Hals wellte, wenn sie Koloraturen anbrachte. Was die feurigen Rhythmen im übrigen nur selten zuließen.

Auf einmal wurde es so urplötzlich still, dass ich zusammenzuckte. Worauf diese Vagantin mit einem langen Triller einsetzte, um darauf mit einem Glissando zu einer schmachtenden Kantilene überzuleiten: eine Klage von unerfüllter Liebe, die einem das Herz aus dem Leibe reißen konnte, mich aber mit Sehnsucht erfüllte.

Wie ich sie auf einmal beneidete! Sie, die nur ein Luder ist, eine von den Fahrenden, darf singen. Ich, Catharina Dorothea Bach, die hochanständige Tochter des Leipziger Musikdirektors Bach, dagegen nicht. Was einer Vagantin erlaubt ist, ist mir verboten. Und das einer Bach! Seit vielen Generationen steht dieser Name für Musik. In Thüringen hieß es früher: Holt die Bache, wenn irgendwo ein Fest gefeiert werden sollte. Und die Bache kamen! Gehörten sie doch selbst einst zu den Fahrenden! Klampften, dudelten, sangen, hackbretterten, fiedelten. Ist es da nicht verständlich, dass ich stehenblieb und zuhörte?

Statt Beifall zu spenden, hetzte ich los. Eine Viertelstunde bevor Vater das Tischgebet zu sprechen pflegte, war ich an unserer Haustür. Ein Tertianer lungerte dort herum, schob mir einen Brief unter die Achsel. Ich überflog ihn, bevor ich in die Wohnung trat – und schluckte den Kloß herunter, der mir die Luft nahm. Auch eine aufwallende Bauchschwäche konnte ich noch abwehren. Was aber nur gelang, weil ich Magdalena den Brief an den Kopf warf. Sie wartete bereits ungeduldig. Zum Glück war sie nicht begriffsstutzig. So rief sie bloß mitleidig meinen Namen, statt mir auch noch meine Verspätung vorzuhalten.

Nun denn – jetzt hast du es schriftlich, einen Tag vor Weihnachten!

Adolph schrieb: Ich, die Mademoiselle Bach und verehrte Freundin seines Herzens, möge ihm verzeihen, wenn er aus Scham über sein berufliches Versagen von nun an darauf verzichte, mir seine Gesellschaft anzutragen.

Schluss! Aus! Vater kann sich freuen. Adolph Scheibe, den er ja nie so recht leiden konnte, hat resigniert. Sein Probespiel gestern hatte nicht überzeugen können.

Zum Verzweifeln blieb keine Zeit. Ich musste Brot und Schinken auftragen und für die Kleinen noch schnell ein paar Äpfel schälen.

Tante Friedelena ist einfach zu früh gestorben!

Jetzt bin ich dazu auserkoren, Magdalena zur Hand zu gehen. Weil sie wieder schwanger ist. Im achten Monat. Erwartet ihr siebentes Kind, das, wie Vater ulkte, hoffentlich nicht der Faulpelz der Familie wird, wo doch selbst Gott sich am siebten Tag nach der Weltschöpfung ausgeruht habe.

Auch wenn wir heute Abend unter uns waren – nur zu neunt –, gelang es mir doch, meine Verzweiflung zu verbergen. Im übrigen legt Vater ja sowieso Wert darauf, dass Malaisen beim Essen nicht besprochen werden.

Aber eigentlich muss mein Gesicht Bände gesprochen haben! Schließlich schlug es dreiviertel acht. Vater beendete die Abendtafel. Magdalena bekam einen Kuss, ich einen Nasenstüber. Friede und Carl packten die Noten zusammen, dann verabschiedeten sich alle drei zum Zimmermann ins Kaffeehaus.

Noch heute Mittag wollte ich unbedingt mit, weil Vater ein neues Konzert auf dem Cembalo geben wollte, doch jetzt war mir alles verleidet.

Apathisch lauschte ich auf das Krachen der Hoftür, die seit Wochen nur noch mit Gewalt ins Schloss gezogen werden kann, da drückte Magdalena mir ihr Notenbüchlein in die Hand. Gib dich zufrieden und sei stille – Paul Gerhards Worte und Vaters Melodie als Trost. Gleich zweimal hatte er dieses Lied hineingeschrieben, die hohe Lage für Magdalena, die tiefere für mich. Doch so sehr ich das Lied auch schätzte: Es ärgerte mich auf einmal, dass Vater für Magdalena, Friede und Carl Notenbücher angelegt hatte, für mich aber nicht.

»Glaubst du, dass mich das noch tröstet?« fragte ich Magdalena trotzig, die mich an die Hand nahm und ans Cembalo zog. »Nein«, sagte sie, während sie ein paar Einleitungstakte improvisierte, »aber das Singen wird dir ein paar Tränen entlocken, und das erleichtert bekanntlich das Herz. Glaub mir. Dein Vater sieht es genauso.«

»Ich werde nicht weinen!«

»Du darfst aber.«

Ich schaffte keine zwei Takte. Dann schoss mir das Wasser aus den Augen, als hätte ich zwei Brunnen im Gesicht. Aber ich sang. Zittrig zwar und mit gelegentlich versagender Stimme, aber immer a tempo – wie es sich für das älteste Kind eines Musikdirektors gehört.

Die Vagantin kam mir in den Sinn, und plötzlich schämte ich mich vor mir. Sie sang vom Leben, ich dagegen säuselte fromme Lieder. Wut kam auf, Trotz. Und das gab mir Kraft.

Immer nur so tun als ob, befahl ich mir. Deine Tränen, Catharina, dürfen fließen, aber nicht, weil du wirklich verzweifelt bist. Magdalena rang mir sämtliche Strophen ab, begann alles von vorn und spielte so lange, bis ich die Melodie laut und klar herausbrachte. Für sie musste dies so sein – aus Hochachtung vor Vaters Musik. Bevor nicht alles richtig war, durfte keiner, der Bach hieß, aufgeben.

Hätte sie geahnt, dass es eine Vagantin mit blutrotem Kleid und weißen Handschuhen war, die mir wieder zu sauberer Stimme verhalf – ich glaube, Magdalena hätte mich als liederlich beschimpft. Aber war ich nun getröstet? Etwas geläutert, ja, aber mehr auch nicht.

Nicht einmal die Vagantin wäre das an meiner Stelle gewesen, entschuldigte ich mich, hielt aber Magdalenas prüfendem Blick stand. Und die las in meinen Augen, was sie darin lesen wollte. Sie nickte zweimal, blätterte ein paar Seiten um und hämmerte mir darauf ihre Musette in die Ohren, dieses Dudelsackstück, das sie gelegentlich spielte, wenn irgendeines von den drei Kleinen herumplärrte.

Aha – jetzt also hatte ich geplärrt, du große Schwester Stiefmutter. Mit dem Unterschied, dass ich nicht fünf bin wie Heinrich, drei wie Liese oder eins wie Regina, sondern fast einundzwanzig.

Endlich war Stille. Soweit bei uns im Haus mit sieben Kindern und – jetzt übertreibst du – einem halben Dutzend Schülern überhaupt von Stille gesprochen werden kann. Magdalena erhob sich schnaufend, um in die Küche zu gehen. Auf der Türschwelle wandte sie sich noch einmal um und sagte:

»Dein Vater hat deines Herzensfreundes Reaktion übrigens vorausgesehen. Der Scheibe, hat er gesagt, wird meiner Catharina den Laufpass geben, wenn sein Anlauf auf den Orgelposten hier missrät. Schon deshalb, weil du eine Bach bist.«

»Das ist nicht wahr!«

»Aber du weißt, was wahr ist, ja?«

Es klang ungewöhnlich hart und geringschätzig.

Ich musste mich zusammennehmen, um nicht etwas Gehässiges zu erwidern. Doch dafür keimte in mir ein Gefühl auf, das mir bislang unbekannt war: Hass.

Hören Sie, Madame Bach, geborene Anna Magdalena Wülcken! Sie, Frau Ex-Hofsängerin, haben mich wie ein dummes Kind heruntergemacht! Weil Sie in mir immer nur die Haushaltskraft sehen wollen, aber neidisch sind auf meine Musikalität. Und eifersüchtig dazu. Weil Ihr Herr Gemahl Ihnen nämlich gestern Abend angekündigt hat, mir an meinem einundzwanzigsten Geburtstag ebenfalls die Schlüsselgewalt über das Haus zu erteilen.

Aber auch du, Vater! Lass mich lieber richtig singen lernen! In Dresden oder Italien. Von mir aus auch in Weißenfels. Dort könnte ich immerhin bei den Schwiegereltern wohnen!

Catharina, bescheide dich.

Ja – das muss ich wohl.

Vor ein paar Monaten trug ich Vater meinen Wunsch vor, aber er war nicht in der Laune, mich ernst zu nehmen. Wir hätten doch schon eine Hofsängerin in der Familie, scherzte er. Im übrigen sänge ich nicht schlechter als Magdalena. Er zog mich an sich, nahm meinen Kopf in seine Hände und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich seufzte unverstanden auf – aber Vater war bereits wieder dabei, irgendwelche Choralausarbeitungen auf Oktav- und Quintparallelen zu durchforsten. Weil ich seine Komponierstube nicht verließ, sagte er schließlich, ohne vom Schreibtisch aufzublicken: »Im übrigen brauchst du dich deswegen nicht mit Magdalena zu zanken. Vergiss nicht: Sie hat schon mit fünfzehn vor Hofleuten gesungen und in deinem Alter immerhin die Hälfte von dem Geld bekommen, das ich damals als Köthener Hofkapellmeister verdient habe.«

»Weshalb du sie ja auch …«

Vater fuhr herum. Ich hatte mir zu spät auf die Zunge gebissen, und der Rest war so laut gedacht, dass es für Vater gleichsam ausgesprochen war. Eine Ungeheuerlichkeit, eine geradezu babylonische Sünde, was ich ihm da unterstellte!

Ich durfte mich über seine Strafe nicht beschweren. Geh! hatte er todkalt gesagt und dann einen Monat nicht mehr mit mir gesprochen. Es waren die schrecklichsten Wochen meines Lebens. Papa, dieser Geselligkeitsmensch und liebe, gerechte Mann: Er schwieg mich an. Mit einer Wucht, die schlimmer war, als jeden Tag eine Strafpredigt anzuhören. Sein Schweigen wirkte auf mich von Tag zu Tag beredter, so dass ich mir bald einbildete, Punkt und Komma darin ausmachen zu können – bis ich mich zum Schluss in den Wahn verstieg, seine stummen Reden enthielten dieselben Scheltworte, wie sie mir in meinem Kopf herumgeisterten.

Vater selbst hob die Strafe auf, indem er mich irgendwann bat, das Tischgebet zu sprechen. Ich kam mir vor wie neu geboren und tat für mich den Schwur, Vater nie wieder auf Magdalena und diese seine zweite Ehe anzusprechen. Es ging mich ja auch tatsächlich nichts an. Aber muss es wirklich immer so sein, dass die Tochter weniger wert ist als ihre Stiefmutter?

Heute schien Magdalena mir dies wieder demonstrieren zu wollen. Aber diesmal reagierte ich ziemlich heftig und sagte, dass sie erstens bestimmt genauso wenig wisse, was wahr sei, und zweitens Adolph Scheibe mir gar keinen Laufpass verabreicht haben könne, weil – auch wenn er mir nicht gleichgültig war – ich ihm mit keinem Wort irgendwelche Hoffnungen gemacht hätte.

Das zweite war kräftig gelogen. Wir küssten uns nämlich seit Mai. Beim Fischerstechen …

Ich stürmte an Magdalena vorbei, band mir die Schürze ab und schmiss sie in die nächstbeste Ecke. Polterte das Treppenhaus hinunter und eilte durchs Pförtchen auf die Promenade.

Im Winter hat man sie ja ziemlich für sich allein.

Ich musste unbedingt raus – Haushalt hin oder her. Glücklicherweise war es nicht allzu kalt. Außerdem ging ein leichter Wind, der die letzten an den Linden verbliebenen Blätter noch einmal rascheln ließ.

Meine Wut flaute ab.

Aber dafür wehte es mir einen hässlichen Groll auf Vater ins Gemüt.

War es nicht wirklich so, wie Adolph es einmal vor Friede bitter herausgerutscht war? Seine Schüler protegiere der Herr Musikdirektor wie Fürsten ihre Mätressen, hingegen er für den Autodidakten und Herzensfreund seiner Tochter nur das Kompliment übrig habe: Im Vergleich zu den hervorragenden Orgeln, die sein Herr Vater baue, spiele er dessen Instrumente bereits halb so gut.

Diese grausame Aufrichtigkeit!

In puncto Instrumentenkünsten urteilt Vater so unerbittlich, wie es der heilige Johannes in der Offenbarung schreibt: Und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken.

Schon mit zwanzig – in Arnstadt – hat er bekanntlich, um sich gegen einen Gymnasiasten zur Wehr zu setzen, den er einen Zippelfagottisten geschimpft hatte, lieber den Degen gezogen, als irgend etwas Versöhnliches zu sagen. Wenn es um musikalische Dinge geht, gibt er eben keinen Pardon. Koste es, was es wolle, ist die gängige Floskel. Vater würde sich eher an den Pranger stellen lassen, als in solchen Dingen einen Kompromiss einzugehen.

»Seit ich in Tönen denken kann, Catharina, ist das so. Und wird so bleiben. Gott ist mein König. Niemand anders. Psalm vierundsiebzig, Vers zwölf. Meine erste Kantate, die ich komponiert habe, heißt nicht umsonst so. Dies ist mein Glaubensbekenntnis.«

Weiß ich, Vater! Deshalb hast du in Arnstadt ja auch weiterhin deine wunderlichen Variationen und fremden Töne ins Choralspiel gemischt – das Konsistorium mochte es verbieten, so viel es wollte. Denn, so ist dein Credo: Erste Pflicht eines Organisten ist, mit seiner Kunst Gott zu dienen und damit der zweiten Pflicht zu genügen: die allzeit träge Gemeinde aus ihrem Grabgesang zu reißen.

Trotzdem: Von Anfang an warst du gegen meinen Scheibe immer merkwürdig launisch, geradezu bissig eingestellt. Warum? Ich glaube, es liegt daran, dass Adolph sich die Freiheit genommen hat, dich nicht um Unterricht zu bitten. Einmal sagte er sogar, dass er sein musikalisches Treiben nicht um jeden Preis mit einem Musikamt krönen müsse. Denn die Welt sei groß, und Geld zu verdienen ginge bekanntlich auch ohne Noten. Da wollte er dir etwas entgegensetzen. Das einzige Pfund, mit dem er wuchern kann, ist die Universität. Er studiert – dir blieb dies verwehrt.

Deine Waffe ist in solchen Fällen die Bescheidenheit.

Die dann freilich schnell wirkt wie eine Ohrfeige.

»Ich habe fleißig sein müssen. Wer es ebenso hält, wird es genauso weit bringen.«

Dein Leitspruch. Nur, dass du ihn heute nicht einmal Friede, deinem Liebling, zugestehen würdest. Einem Johann Adolph Scheibe erst recht nicht, selbst wenn der es irgendwann zum Hofkapellmeister bringen würde.

In der Zwischenzeit war der Wind so kräftig geworden, dass mich zu frösteln begann. Längst war ich die Promenade zurück, aber nicht in der Laune, schon nach Hause zu gehen. So schlenderte ich noch über den Marktplatz, bog dann aber kurz entschlossen in die Catharinenstraße. Die Uhr schlug halb zehn.

Das Örtelsche Haus! Hat es mich also doch hierher gezogen!

Vater, Friede und Carl musizierten dort. Sollte ich hineingehen? Niemand würde es mir als Unschicklichkeit auslegen. Schon ein paarmal hatte ich mir den Spaß gemacht, Vater zu überraschen. Er hatte nie etwas dagegen gehabt. Dabei hat er erst im Frühjahr die Leitung des Collegium Musicum übernommen. Nun ist Leipzig wieder um eine Attraktion reicher. Ja, in dieser Hinsicht lässt er mir große Freiheiten.

Und mein Groll? War der plötzlich verflogen? Ich lauschte in mich hinein, schüttelte langsam den Kopf.

Nein!

Oder doch?

Die Tür geht auf. Der Gerlach! Leipzigs frischgebackener Organisten-Stern an der Neu-Kirche. Selbstverständlich Vaters Schüler – zwei Empfehlungen.

»Wieder einmal den Herrn Papa abholen?«

»Stünde ich sonst hier?«

»Da stehen Sie aber ein ganzes Weilchen zu früh hier, Mademoiselle Bach.«

Ich kann mich nicht erinnern, wann Gotthelf Gerlach mich das letzte Mal gegrüßt hat. Was seinerseits tatsächlich ein Kompliment ist. Glaubt er doch fest, dass wir, die wir uns schon seit den ersten Leipziger Tagen kennen, auf solche Höflichkeiten verzichten können.

Vater will dies immer nicht glauben. Es passt nicht in das Bild, das er von seinen Schülern hat. Für ihn ist Gerlach schlicht der beste Orgelspieler neben Johann Schneider und Caspar Vogler. Der damals in Weimar allerdings ununterbrochen gegrüßt hat – dafür dann aber auch gegenüber Mutter immer besonders vertraulich tat.

Vogler! Dieser Schuft!

Weißt du’s noch? Sein Besuch in Köthen? Wie er einmal in der Küche unser Mädchen … während sie Karotten schälte?

Ich bin richtig schadenfroh. Weil er gegen Schneider versiebt hat! Morgen besucht er uns. Bleibt über Weihnachten. Will natürlich von Vater eine neue Empfehlung.

Gott, was hab ich damit zu tun. Jetzt ist der Gerlach dran! Er liebt es, vor Magdalena und mir in besorgtem Schauspielerton zu sprechen. Weil er glaubt, sich den »teuren Damen« damit interessant zu machen. Vor allem mir, der »treuen« Catharina, die er als gute Partie so gern zum Altar führen möchte.

Das kann er sich abschminken. Trotzdem bekam ich auf einmal Lust, ein bisschen mit ihm zu spielen.

»Zu früh?« fragte ich zuckersüß und setzte bewusst provokant hinzu: »Müssen wir also hineingehen und wollen gemeinsam ein bisschen lauschen?«

»Nichts täte ich lieber, Catharina.«

»Auf einmal nicht mehr Mademoiselle Bach? Warum sind Sie denn überhaupt vor die Tür gekommen?«

»Der Tabak, die Luft und der saure Rotwein.«

»Heißt das, ich soll zu Hause Tee kochen?«

»Wenn Sie einen mittrinken …«

Wie er auf einmal strahlte! Wenn er bloß nicht so hässlich wäre! Dagegen wirst du, Vater, bestimmt besonders heftig anreden. Womit du ja recht hast. Aber ich bring’s nicht fertig mit ihm. Und je mehr du mit Argumenten kommst – schließlich hätte ich jetzt das rechte Alter, Gerlach sei vergleichsweise gut bestallt, habe darüber hinaus eine treffliche Zukunft zu erwarten, sei aufrichtig und würde, wenn ich ihn nur ordentlich lieb hätte, auch an äußerer Schönheit gewinnen –, je vernünftiger du und Magdalena reden werdet: nein, nicht Gerlach.

Denn glaubst du wirklich, Liebe könne man sich, wenn man es nur fleißig wolle, so aneignen wie deine Schüler den Generalbass oder das Daumenuntersetzen beim Klavierspiel?

Mutter und Magdalena: Haben sie dich ohne Liebe im Herzen geheiratet? Wäre dir dies egal gewesen?

Immerhin, Gerlach kann galant sein. Er bot mir den Arm und führte mich an seinen Tisch, den er sich – Gott wollte heute grausam gegen mich sein – mit Johann Schneider teilte! Ausgerechnet Schneider! Der Sieger! Ebenfalls Vaters Protegé, eine Empfehlung. Nächstes Jahr neuer Organist an St. Nicolai.

Was Adolph wohl jetzt macht? Ob er sich mit Wein tröstet? Oder schon mit einer anderen?

Schneider erhob sich, ohne die Miene zu verziehen und machte eine so tiefe Verbeugung, als wäre ich von Stand. Ich war zu angegriffen, geschmeichelt zu sein, war aber doch so schwach, freundlich zu nicken. Dabei hätte ich ihm am liebsten die Augen ausgekratzt! Schneider winkte nach der Bedienung und bestellte einen Kaffee für mich. Dabei bohrte er seine Augen in die Gerlachs, was wohl heißen sollte: Du, mein Freund, blechst gefälligst die Hälfte, wenn du sie hier schon anschleppst.

Und Gerlach? Strahlte! Das machte ihn mir sympathisch. Denn er hätte den Kaffee auch allein gezahlt. Tatsächlich ist er ziemlich großzügig. Beschenkt Magdalena mit ihren gelben Lieblingsnelken, Liese und Heinrich bekommen hin und wieder sogar ein Bonbon. Schneider dagegen ist so geizig, wie er lang ist, sagt selbst Vater. Im Moment ist er noch Violinist in Weimar. Dass er da weg will, wird jeder verstehen, der Vaters Erfahrungen mit dem Herzog kennt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Catharina, du bist wieder viel zu gutmütig!

»Un café pour Mademoiselle Bach, s’il vous plait.«

»Merci.«

Im gleichen Moment entdeckte mich Vater! Wahrscheinlich redet er oben in seinem Bett jetzt immer noch auf Magdalena ein und malt ihr aus, einen von beiden … »Weißt du, ich glaube, sie wird allmählich vernünftig. Ich muss dem Scheibe richtig dankbar sein, dass er so miserabel gespielt hat.«

Wenn du wüsstest!

Jedenfalls: Vater lächelte.

Ich nicht.

Wollte ihm auf diese Weise meinen Groll zeigen.

Vater schaute mich überrascht, nein, prüfend an, sich aber weitere Gedanken zu machen, ließ sein Programm nicht zu. Denn er griff zur Violine. Kaum erklangen die ersten Töne, war es um mich geschehen. Die Schatten auf meiner Seele zerstoben zu einem Nichts. Nennt man so etwas Gottes Fügung? Bei andächtiger Musik ist Gott mit seiner Gnade allezeit gegenwärtig: Vaters feste Überzeugung. Wie nah musste Gott also bei diesen Klängen sein? Ich versank in den Himmel von Vaters schönstem Orchesterstück: die Air. Wobei das Überwältigende war, dass er sie bearbeitet hatte. Die Kantilene der Oberstimme war jetzt der Solovioline übertragen, während erste und zweite Violine im Einklang begleiteten. Mir wurden die Augen feucht, ich begann innerlich zu zittern. Die Klänge waren wie ein reinigendes Bad, Zauber und Trost.

Was natürlich auch daran lag, dass Vater die Violine spielte! Er, der Tastenvirtuose!

Für mich ist Papa jedoch ein ebenso meisterhafter Violinspieler! Nicht von ungefähr wurde er in Weimar als Geiger angestellt. Dem, wie er es nennt, »Mechanischen« des Spiels gab er dort den letzten Schliff, und so konnte er seine Air jetzt mit einem Schmelz spielen, dass niemandem im Saal die Augen trocken blieben. Jede Note schien ihm unmittelbar aus dem Herzen zu kommen, und der Ton, den er aus seiner Stainer-Geige zog, war von makelloser Delikatesse.

Wie er in seinem rotbraunen, goldbeknopften Rock dastand! Ruhig und selbstbewusst, ganz ein Mann von Welt. Es sah aus, als musiziere er ohne innere Regung. Aber wer Vater kennt, der weiß, was in seiner Seele vorgeht. Seine Augen lodern nach innen, von ihrem graubraunen Funkeln bleibt nach außen nur ein matter Schimmer. Die Kurzsichtigkeit, die ihm die Stirn manchmal heftig zusammenzieht und sein Gesicht so schroff macht, ist in solchen Minuten völlig vergessen. Das kämpferisch vorgereckte Kinn wirkt dann bloß wie eine Stütze für sein angedeutetes Lächeln, und selbst die Schatten, die sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln eingegraben haben, verblassen.

Ich schaute zu Schneider und Gerlach, die genauso hingerissen waren. Vater wirkt immer imponierend. Obwohl er eher klein ist – Magdalena ist gleich groß –, hat er eine Ausstrahlung, die anderen Männern fehlt. Selbst wenn sie Rektor, Ratsmitglied oder sogar von Adel sind.

Ich applaudierte beinah sans contenance! Wie Gerlach. Nur, dass der mich anstrahlte – im Gegensatz zu Papa!

»Wie stolz nur müssen Sie sich fühlen, Catharina, solch einem Vater anzugehören«, sagte er und schaute mich dabei so bewundernd an, als wäre wirklich ich der Grund für seinen Applaus. »Ich habe mir gerade erlaubt, mir vorzustellen, wie Sie einmal dort vorne stehen und singen, während Ihr Herr Vater oder Ihr Bruder Friedemann Sie begleiten. In dieser Stadt wäre es nicht anstößig, sich hören zu lassen.«

»Schon! Aber nur meine Brüder sind dazu auserwählt, in der Musik den Zweck des Lebens zu sehen, Monsieur Gerlach«, hörte ich mich merkwürdig verzweifelt sagen. Und plötzlich war es wieder da: das Bild der Vagantin.

»Mir wird man dies nicht so ohne weiteres zugestehen. Anders gesagt, glaube ich nicht, dass mein Vater über eine solche Möglichkeit nachgedacht hat.«

Meine Begeisterung war verflogen. Gerlachs Worte hatten mir einen Stich versetzt. Mit Herzklopfen schaute ich zu, wie die Musiker zusammenpackten, Vater seine Stainer in Flanell wickelte und Friede das Cembalo verschloss. Carl machte einen Scherz, die Studenten lachten. Schneider zückte seine Börse, sagte eine Zahl. Gerlach brummte deren Hälfte, Münzen klimperten, die Bedienung bedankte sich. Die Vagantin – wieder die Vagantin. Ich hörte ihre Klage, sah ihre Handschuhe …

»Wir wollen ihn fragen, Catharina!« riss mich Gerlach aus meiner Versunkenheit und griff nach meiner Hand.

Wie kann man bloß so strahlen! Hat sich heute anscheinend endgültig in mich verguckt.

Etliche Sekunden zu spät entzog ich ihm die Hand. Gerlachs Augen feuerten, als wähnte er sich bereits mit mir im Ehebett. Aber es wäre ungerecht, ihm einen Vorwurf zu machen. So redete ich mir ein, der Himmel habe mir diesen Fratz geschickt, um Vater jetzt gleich diese eine Frage zu stellen: Wann singe ich hier, wann überhaupt vor einem Publikum?

»Glauben Sie wirklich …«

»Catharina! Wahrscheinlich hat mich der Himmel deshalb vor die Tür getrieben. Nur Mut!«

So sehnsüchtig also sah ich aus, dass Gerlach meine Gedanken lesen konnte.

Noch drei Schritte, zwei … Friede grinste, und Carl war so frech, dass er hinter Gerlachs Rücken die Lippen schürzte – wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt nicht mehr am Leben.

»Nun? Zustimmung kann ich in deinen Augen nicht lesen, Catharina«, sagte Vater mit gespielter Strenge, während er mich kurz umarmte, Gerlach dabei aber nicht aus den Augen ließ. »Steht mir die Violine etwa nicht mehr? Oder geriet die Bearbeitung zu süß? Der Applaus wäre dann erklärlich. Hat sich der Musikdirektor Bach mit der Zuckerbäckerei versippt? Gerlach?«

»Musik hat im Endzweck an erster Stelle Gott zu loben und zu ehren und als Nebenabsehen die Zuhörer zu bewegen und ihnen das Gemüt zu ergötzen – so haben Sie es uns gelehrt, Meister. Diese Air traf das Nebenabsehen nicht minder glücklich, als ich Ihnen unterstelle, jeder Note den vorrangigen Endzweck befohlen zu haben.«

»Kanzleikompliment, Gerlach! Für einen Organisten viel zu gewunden. Aber damit kommt man heute weiter als mit allem Registrierzauber. Meinst du nicht auch, Catharina?«

Vaters Augen blitzten und seine Mundwinkel zuckten verräterisch. Offenbar sah er mich schon unter der Haube. Mit Spitzbauch und Kuhaugen.

»Das klingt gerade so, als würdest du einräumen, dass es bei Organistenprüfungen wichtiger ist, Komplimente zu machen, als eine Fuge zu extemporieren. Was ich mir, solange du einer Prüfungskommission angehörst, allerdings nicht vorstellen kann.«

Es sollte selbstbewusst klingen, kam dann aber doch nur im Ton einer blassen Jungfer heraus.

Ich hätte mich ohrfeigen können! Wenn Magdalena ein Kompliment macht, klingt es immer fordernd, manchmal geradezu ungeduldig.

Wo bloß hatte ich meinen Stolz gelassen? Hatte Gerlach ihn mir weggestrahlt?

Immerhin – die Worte selbst waren gut gewählt. Vater trat einen Schritt zurück und musterte mich verblüfft. Doch dann fasste er Gerlach mit sorgenvoller Miene ins Auge und sagte, indem er abwechselnd ihn und mich anschaute:

»Meiner Catharina gelingen da Komplimente, die ein Jesuit kaum besser herausbringen würde. Mit dem Unterschied, dass für Jesuiten der Zölibat gilt. Wem Gott aber die Verantwortung und Freuden der Mutterschaft möglich gemacht hat, der sollte dem gezierten Reden besser Valet sagen, nicht wahr?«

Ich lief rot an und spürte, wie mir der Groll aufschäumte.

Warum bloß hältst du daran fest, Vater, dass Frauen mit Verstand letztlich nichts anderes als aus der Art gefallene Evastöchter seien? Selbst wenn du es immer nur halb ernst meinst und dich, wie vorhin, der Schalk gekitzelt hat!

Gerlach wenigstens bewies soviel Courage, den Kopf hin und her zu wiegen. Worauf er völlig überraschend nach meiner Hand griff und bedeutsam sagte:

»Dem gezierten Reden, ja. Aber nicht dem gezierten Singen. Ihre Tochter, Meister, sollte ihre köstliche Stimme endlich den Leipzigern bekannt machen. Ich erlaube mir daher, sie Ihnen persönlich als neues und großes Talent zu empfehlen.«

Meine Hand fiel in die Vaters wie ein Stück Eis. Er führte sie spöttisch an seine Lippen und musterte Gerlach mit ungemeinem Wohlgefallen.

Aber bestimmt nicht wegen seines Vorschlags.

Und du selbst?

Standest da, wusstest nicht aus noch ein, fühltest nur die Last, Gerlach für seinen Einsatz irgendwie danken zu müssen.

Mein Herz klopfte, dass man es hätte hören müssen. Vater anzusehen, wagte ich nicht.

Statt dessen fing ich einen Triumphblick Gerlachs auf. So als ob er meinte, die Belohnung für diese Intervention müsse nun endlich mein Jawort sein.

Und Vater?

»Dein Vorschlag, Gerlach«, begann er bedächtig, »würde meinen Plan durchkreuzen, als nächsten Bach Bernhard zu präsentieren. Er wird mir gewiss keine Schande machen. Denn du weißt, er spielt favorabel.«

»Mit Verlaub, Meister, Ihr Sohn ist gerade vierzehn, Catharina dagegen wird einundzwanzig.«

»Meine Frau ist sogar achtundzwanzig, zudem Hofsängerin und hat hier auch noch nicht gesungen«, erwiderte Vater ungerührt. »In unserer Familie haben die Bache von sich reden gemacht, nicht die Bachinnen. Davon einmal abgesehen, dass Magdalena aus Schicklichkeitsgründen hier gar nicht auftreten dürfte. Und auch Catharina – sie wäre die erste Frau, die in einem Leipziger Kaffeehaus auftritt. Willst du sie in die Zeitung bringen und eitel machen?«

»Aber du, Vater, bist es gewesen, der Mutter entgegen allem Brauch auf dem Chor in Arnstadt hat singen lassen. Sogar vor eurer Hochzeit. Das Konsistorium damals zeigte sich darüber sehr befremdet. Wenn du also damals schon nicht einsehen wolltest, dass die Frauen in der Kirche zu schweigen haben, wieso sollten wir Bachinnen es hier in einem Kaffeehaus tun? Leipzig ist schließlich nicht Arnstadt und das Kaffeehaus nicht St. Bonifaz.«

Nichts als der Mut der Verzweiflung ließ mich derart vehement gegen Vater anreden. Sollte Bernhard doch debütieren. Was sollte ich dagegen haben? Er war ein ausgezeichneter Cembalist.

Aber wo bleibe ich? begehrte ich stumm auf.

Du, Vater, bist stolz, dass ich so gut singe wie Magdalena! Warum willst du mir verwehren, was sie hat leben dürfen? Bin ich wirklich weniger wert als deine Söhne? Zu hässlich, um auf einer Bühne zu stehen?

Warum? Alles in mir empörte sich – und doch stand ich steif, wie vom Donner gerührt.

Gerlach schaute mich bewundernd an. Wenn du, Vater, dies nur halb so hingebungsvoll getan hättest, wäre ich zufrieden gewesen. Du aber runzelst die Stirn, schiebst das Kinn vor und blinzelst mich vorwurfsvoll an. Dass du wenige Sekunden später alles wiedergutmachen würdest: Habe ich das Gerlach zu verdanken oder Gott?

»Ihr sollt euren Willen haben«, sagtest du gleichmütig. Wohl eine Minute dauerte es, bis ich dies begriffen hatte. »Ich glaube, es wird sich etwas finden. Aber ich behalte mir vor, wo und wann ihr auftretet.«

»Ein Familienkonzert zur Weihnacht? Kompliment, Catharina!« Gut, dass Friede sich in das Gespräch einmischte. Er zog so die Aufmerksamkeit auf sich, bekam einen Kniff in die Wange. Das erste Mal, dass nicht ich ihm, sondern er mir geholfen hat.

Gerlach und ich waren verabschiedet. Wir nuschelten noch irgendeinen Dank und gingen an unseren Tisch zurück, wo ich den eiskalten Kaffee hinunterstürzte. Köstlich! Draußen wollte Gerlach mir seinen Mantel überlassen, aber ich lehnte ab.

Schweigend gingen wir nebeneinanderher. Wie zeigte ich mich am schnellsten und einfachsten erkenntlich? Ich schaute mich um. Vater, Friede und Carl waren ein paar Dutzend Schritte hinter uns. Gerlach vor ihnen einen Kuss zu geben wäre einem Eingeständnis gleichgekommen. Also beschleunigte ich meine Schritte, bis das Dunkel der nächstbesten Gasse uns verschluckte.

»Sie rennen so, Catharina, dass ich beinahe zu hoffen beginne, Sie kochten wirklich noch einen Tee«, wurde er gleich vertraulich – nachdem auch er sich umgedreht hatte. Gleich mehrmals übrigens. »Nein. Was Sie von mir kriegen, ist das hier.«

Es ging so schnell, dass Gerlach gar nicht stehenzubleiben brauchte. Und noch bevor er etwas sagen konnte, rannte ich los. »Es hat nicht direkt mit Ihnen zu tun!« rief ich vor mich hin. »Nichts. Aber ich bin glücklich!«

Zu Hause weinte Regina. Magdalena schlief bereits. Ich beruhigte die Kleine, legte Holz nach und deckte den Frühstückstisch für den nächsten Morgen. Auf Heinrichs Hose war ein Flicken zu nähen. Die Ausgehröcke Vaters, Friedes und Carls waren ebenfalls noch auszubürsten. Zum Schluss der obligatorische Zimmerrundgang: Überall das Licht gelöscht, Mademoiselle Bach?

Du willst jetzt in unregelmäßigen Abständen Tagebuch führen? Wirklich? Ob du es durchhältst?

Jetzt bist du glücklich. In einem Monat auch noch?

Soviel wie heute wirst du aber bestimmt nicht wieder schreiben.

Und wirst du die Vagantin wieder vergessen?

Ich glaube, nein.

Kapitel 2

2. Februar 1730,Mariae Reinigung

Wie es war, das weihnachtliche Familienkonzert? Wie ich gesungen habe? Es ist nicht wichtig. Oder, besser gesagt, mir ist es nicht mehr wichtig.

Falsch!

Es ist dir, Catharina, nur klargeworden, dass dein Aufbegehren von nichts als dem dreisten Gesinge einer Vagantin ausgelöst worden ist. Sicher – du würdest auch gern einmal vor Publikum auftreten. Doch bedenke die Umstände! Du als bürgerliches Mädchen im nichthöfischen Leipzig: Singen ist ja schön und gut, dies dann aber bloß in Kaffeehäusern? Die Tochter des Musikdirektors Bach eine umherziehende »Kneipennachtigall«?

Die Kirche ist uns Frauen versperrt, die Oper hier vor neun Jahren eingegangen, vor wenigen Monaten sogar vollständig abgerissen. Bliebe nur das Theater anderswo. Aber da weißt du genau, dass Vater, zum Beispiel wenn es um Dresden geht, taub wird. Mit Friede dort einmal die Liederchen, wie er so harmlos sagt, zu besuchen, ist ihm zwar vergnüglich, aber sonst hat er für sie nur Spott übrig. Das Kastratenwesen ist ihm ein Gräuel, und von den Primadonnen und Hofsängerinnen hält er noch weniger. Weil sie für ihn allesamt nur Mätressen sind.

»Ihre Gurgeln sind so geläufig wie ihre Tugenden.«

»Danke für das Kompliment, Sebastian.«

Magdalena war beleidigt, Vater und Vogler aber haben gelacht. Wobei Vogler die Frechheit besaß, mir einen Blick zuzuwerfen, der von schmutzigen Gedanken nur so strotzte.

Die Oper scheidet also auch aus. So frei ich mich bewegen und benehmen darf: Vater besteht auf Sittsamkeit – ob hier, in Dresden, an einem Hof oder sonst wo in der Welt.

Schlag dir die Singerei also aus dem Kopf, Catharina! Zumindest berufsmäßig. Und überhaupt: Was sind die schönsten Opernarien Italiens gegen Vaters Schlummert ein …? Geplärr und Geleier.

Du singst nur dann überzeugend, wenn du von dem, was du singst, selbst gerührt bist. Wenn ich also von Schlummert ein … gerührt bin, wie sollte ich da jemals mit, wie Vater sagt, Liederchen Erfolg haben, die mich kaltlassen? Und lässt mich nicht vieles kalt? Auch von Vater?

Du würdest also nie Erfolg haben, Catharina. Perfekt deduziert. Schlummert ein, ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu. Es klingt in mir, klingt und klingt und klingt: das Herzstück von Vaters Kirchenkantate Ich habe genug. Heute hast du es singen dürfen: Das ist wichtig!

Nein – es ist ein Stück Paradies.

Sie war schon länger Magdalenas Lieblingsarie gewesen, heute jedoch war sie von meinem Gesang so bewegt, dass sie mir gestand, sie werde die Arie in ihr Notenbüchlein eintragen. Vater hat sie, um Magdalena eine Freude zu machen, für unser heutiges Hauskonzert in den Sopran transponiert, aber Magdalena entschied, dass ich singen sollte. Noch sei sie Melodie und Text nicht gewachsen – Christiane Benedictas wegen. Vor einem Monat haben wir sie begraben, Vaters »Faulpelz«.

Sie habe es richtig gemacht, hat er gesagt. Sich schlafen gelegt, wie es sich für einen »Faulpelz« gehört. Das brachte ihn auf die Idee, die Arie für Magdalena zu transponieren. Schlummert ein, ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu – ich weiß bestimmt, dass es auf der Welt nie mehr eine Arie geben kann, in der der Schlaf so innig angerufen und das Zufallen der Augenlider so schlicht und doch so eindringlich beschworen wird.

Aber ich will mir nicht selbst ausweichen: Wie war dein Auftritt, Demoiselle Bach? Willst du ihn nicht deinem Tagebuch anvertrauen? Doch. Aber im Grunde genommen war er lächerlich. Von der Warte Friedes oder irgendeines anderen Cembalisten aus gesehen ungefähr so, als wenn er mit des Herrn Vaters Anfängerpräludien angetreten wäre. Doch davon einmal ganz abgesehen: Mein Gesinge war mehr privat als öffentlich. Denn Vater hatte entschieden, mich bei den Boses »debutieren« zu lassen. Also nicht im Kaffeehaus, sondern unsrer Wohnung schräg gegenüber. Anfangs war ich sehr geschmeichelt!

»Die Boses? Ist das dein Ernst?«

»Glaubst du, ich lasse zu, dass meine Tochter ihre Stimme zwischen Kaffee schlürfenden Kaufleuten und weinseligen Studenten verschleißt? Du gegen Karten klopfende Ignoranten und Tabakschwaden ansingst?«

Ich fiel Vater um den Hals. Aus Übermut und einem spontanen Glücksgefühl heraus. Boses sind quasi unsere Freunde und so ziemlich die reichsten Leipziger dazu. Ihr Garten und ihre Orangerie draußen vor der Stadt zählen zur Zierde Sachsens, und der Festsaal, wo ich auftrat, ist wie in einem Schloss: mit vier riesigen eingemauerten Spiegeln an den Seiten, einer mit Stukkaturen umfassten Decke samt ovalem Gemälde und sogar einer kleinen Galerie mit Balustrade.

Publikum waren wir Bache, Vogler, Gerlach – wozu aber alle aufzählen. Man war vom Rat, der Universität, der Kirche, Schule, Kaufmannschaft oder Bürgerschaft. Jeder kannte irgendwie jeden, und alle waren hochwohlgeboren und hochanständig. Als Vater mit Vogler ein Doppelkonzert gab, verflüchtigte sich mein Stolz jedoch von Takt zu Takt. Denn da begriff ich, als was ich in diesem Kreis wirklich angesehen wurde. Ich war nichts als die Tochter des städtischen Musikdirektors. Die Jungfer Bach, die so reizend war, einmal mit ihrer Silberstimme aufzuwarten.

So wohlwollend wurde ich angeschaut, dass mir bald ein Licht aufging: Meine Wenigkeit, Catharina Dorothea Bach, wurde nicht als neue Sängerin betrachtet, sondern allein als zukünftige Ehefrau. Ich war die noch zu Habende aus dem Hause Bach, eine gute Partie, singender Köder.

So war’s. Aber ja! Ihr Vater lässt sie singen, damit endlich einer anbeißt. Schwiegersohn gesucht! Musikdirektor Bach will endlich Enkel! Weswegen mein Debüt auch nur aus drei züchtigen Liedern nebst einer Arie bestand.

Den Anfang machten vier Strophen von Vaters Choral Dir, dir Jehova, will ich singen, der schickliche Einstand für die Kantorentochter, schlicht, aber auf seine Art à la mode. Darauf gab ich das Weihnachtslied Uns kommt ein Schiff geladen, dann, als Verbeugung vor der Vergangenheit, einen Christmetten-Satz, der ebenso altbacken wie kindlich war. Bei Nummer eins begleitete mich Friede aus Respekt vor Vaters Komposition, wie es die Noten vorschreiben, bei Nummer zwei, als gelte es, einen Improvisationswettbewerb zu gewinnen, und bei Nummer drei mit vollgriffigen Pfund-Akkorden. Als wir fertig waren, gab es satten Applaus. Trotzdem kam ich mir vor wie die läppische Stimmdreingabe zu Friedes Tastenzauber.

Höhepunkt war die Blockflötenarie aus Vaters Jagdkantate. Schafe können sicher weiden – eine seiner bestimmt schönsten und lieblichsten Erfindungen, aber ich kam mir dämlich vor. Denn wer war das Schäfchen? Ich doch! Eins, das sicher im Haushalt weiden und walten wird, wenn es nur einen guten Hirtengatten bekommt! Oh, wie waren die Herren und Damen Hochanständig alle entzückt! Allerdings wundert´s mich, dass ich bis heute noch keinen Antrag bekommen habe. Wahrscheinlich, weil Vater mit seiner neuen Vivaldi-Konzertbearbeitung alle irre gemacht hat. Vogler, Friede, Gerlach und er an je einem Cembalo: ein Tastenfest! Klang- und Augenrausch in einem.

Gut so, Vater! Damit hast du dir selbst ein Bein gestellt! Dein Feuerwerk hat mein Lichtchen so wunderbar gründlich überstrahlt, dass ich anschließend bei den Boses gar nicht mehr vorhanden war.

Aber noch etwas verrate ich dir jetzt: Ich bleibe unbemannt. Werde nie Braut!

Gute Nacht, Vater!

***

Bach wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber der Schlaf kam nicht. Eifersüchtig hörte er eine Weile auf die gleichmäßigen Atemzüge Magdalenas und war schon versucht, sie zu wecken – aber im letzten Augenblick entschied er sich anders. Denn plötzlich fiel ihm ein, warum er nicht zur Ruhe fand. Du hast Durst, sagte er leise. Zu wenig Wein und zu viel Matjes. Und die wollen schwimmen. Das ist es.

Bach schlüpfte in seine Filzpantoffeln und strich das Nachthemd glatt. Zum Glück schien der Mond. Er brauchte nicht mit der Hand an der Wand zur Tür zu tapsen und konnte dadurch rechtzeitig der Wiege ausweichen, in der Regina Johanna leise vor sich hin keuchte. Bach strich ihr über die Wange und murmelte ein kurzes Gebet, dann sah er noch einmal nach Magdalena, die sich gerade auf die Seite drehte. Aber sie tat ihm nicht den Gefallen, wach zu werden. Bach verzog enttäuscht das Gesicht. Er hatte plötzlich Lust, mit Magdalena zu plaudern, sie zu streicheln und …

Als er sich den Rest vorstellte, schlich sich ihm ein Knittelvers aus seinem Hochzeitsquodlibet in den Sinn: Große Hochzeit, große Freuden, große Degen, große Scheiden, große Jungfern, große Kränze, große Esel, große Schwänze. Wie war die Musik dazu? Bach überlegte angestrengt, während er in die Küche ging, und ballte die Fäuste, als er in den Wasserkrug sah. Er musste sich beherrschen, nicht wütend aufzuschreien. Das Wasser nämlich reichte gerade noch für ein dreiviertel Glas. Die Söhne hatten sich vor ihm bedient! Die letzten beiden Stunden hatte er sie mehrmals durch die Wohnung schlurfen gehört, Friede beschäftigt mit Selbstgesprächen, Bernhard rülpsend.