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Annie stürzt - und wird gerade noch gerettet: Auf starken Armen trägt Rourke Quinn sie vorsichtig zu ihrem kleinen Cottage am Meer, dort, wo die Brandung tost. Und plötzlich teilt die schöne Einzelgängerin mit diesem Traummann Tisch … und Bett!
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Seitenzahl: 196
IMPRESSUM
Die Quinns: Rourke erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2013 by Peggy A. Hoffmann Originaltitel: „The Mighty Quinns: Rourke“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEXYBand 95 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Almuth Strote
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 11/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733758592
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Ich verliere langsam die Hoffnung, dass wir sie je alle finden werden.“
Aileen Quinn ließ den Blick aus ihrem Bürofenster in den grauen Himmel wandern. Der Herbst ging bereits merklich in den Winter über und sie fürchtete sich vor der feuchten Kälte, die sich bald in ihre Knochen schleichen würde. Als sie noch jung gewesen war, hatte sie sich vor den kalten irischen Wintern oft nach Südfrankreich gerettet und sich an der Mittelmeerküste von der Sonne verwöhnen lassen. Doch inzwischen war sie schon seit Jahren nicht mehr gereist. Sie fühlte sich in ihrer vertrauten Umgebung einfach am wohlsten.
„Ich habe eine Spur zu Ihrem Bruder Diarmuid, die ich noch nicht ganz aufgeben möchte“, sagte Ian, während er seine Notizen durchging. „Aber was Lochlan betrifft, muss ich leider zugeben, dass ich auf fünf Kontinenten keine Spur von ihm finden kann. Als hätte es ihn nie gegeben.“
Aileen hatte Ian Stephens vor einigen Monaten engagiert, um mehr über ihre Eltern und den Teil ihrer Vergangenheit herauszufinden, der ihr bis heute ein Rätsel war. Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen und hatte viele Jahre gedacht, dass sie das einzige Kind einer mittellosen Witwe sei, die an Schwindsucht gestorben war – nachdem ihr Ehemann beim Osteraufstand 1916 ums Leben gekommen war. Doch Ians Recherchen hatten gezeigt, dass sie vier ältere Brüder gehabt haben musste – Geschwister, die sie nie gekannt hatte und die es nach dem Tod ihrer Mutter in alle Winde verschlagen hatte.
„Schon wieder bin ich ein Jahr älter geworden“, sagte Aileen und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich hatte nie vorgehabt, meinen siebenundneunzigsten Geburtstag zu erleben – Himmel, ich bin wirklich schon viel zu lange auf der Welt.“
„Sie sind die jüngste Siebenundneunzigjährige, die mir je begegnet ist“, sagte Ian lächelnd. „Sehen Sie sich doch an – wie Sie immer noch schreiben, immer noch aktiv ihr Leben bestimmen.“
„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber dieser alte Körper fühlt sich durch ihre Worte keine Minute jünger an.“ Aileen lächelte sanft. „In meinem Kopf bin ich immer noch eine junge Frau und wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne ich mich manchmal beinahe selbst nicht. Ich wünschte, ich könnte diese Jahre noch mal erleben.“
„Sie haben doch ein wunderbar ausgefülltes Leben gehabt, Miss Quinn. Ein bedeutendes Leben. Ihre Bücher bedeuten so vielen Menschen so viel – Sie sind eine der beliebtesten Schriftstellerinnen Irlands.“
„Und dennoch suche ich die ganze Welt nach einer Familie ab, die mir endlich Wurzeln geben würde – Wurzeln abseits meiner Bücher. Denn wenn ich meine Arbeit nicht immer in den Vordergrund gestellt hätte, hätte ich vielleicht sogar eine eigene Familie gründen können.“
Ian hatte die Nachfahren zweier ihrer Brüder ausfindig machen können – Tomas’ Familie bei Brisbane in Australien und Conals Familie in Chicago in den Staaten. Aber das war inzwischen auch schon fünf Monate her. Aileen hatte für die Feiertage ein riesiges Familientreffen geplant und dafür das komplette Ballyseede Castle mit seinen zweiundzwanzig Zimmern angemietet. Und diese Zimmer galt es nun zu füllen.
„Was wissen Sie denn über Diarmuid?“, fragte Aileen.
„In einer kanadischen Volkszählung von 1945 sind wir über ihn gestolpert. Die Daten wie Alter und Geburtsort Irland passen. Er ist als Dermont registriert, aber das ist einfach die verenglischte Form vom gälischen Diarmuid.“
Aileen lehnte sich in ihrem Sessel nach vorn. „Das klingt doch gut.“
„Und wenn Dermont unser Mann ist, hat er sich als Fischer in Cape Breton niedergelassen und drei Söhne gehabt. Der älteste, Alistair, starb im zweiten Weltkrieg. Der nächste, Brian – genannt Buddy –, starb vor fünf Monaten, er war Junggeselle. Und dann gibt es noch Paul, der vor circa acht Jahren gestorben ist. Dessen Sohn Rourke ist der einzige Erbe.“
„Rourke?“
„Das ist wohl der Mädchenname seiner Mutter. Sie ist sehr viel jünger als sein Vater gewesen und inzwischen wohl wieder verheiratet.“
„Und wann können Sie mit Sicherheit sagen, dass Dermont Diarmuid ist?“
„Das ist nicht so leicht, aber wir kommen der Wahrheit immer näher. Ich habe da einen sehr guten Ahnenforscher in Halifax zur Hand, der nach Cape Breton fahren und die Akten genauer untersuchen wird.“
Es klopfte leise und Sally betrat das Büro. „Das Essen steht im Speisesaal bereit, wenn Sie hungrig sind.“
„Vielen Dank, Sally“, antwortete Aileen. „Wir kommen sofort.“ Sie sah Ian an. „Ich hoffe, dass Sie noch einen Moment bleiben – ich wollte Ihnen noch von meinen Plänen für die Weihnachtsferien erzählen, ich habe nämlich das gesamte Ballyseede Castle gemietet.“
Ian blinzelte überrascht. „Dieses Riesending? Nun, dann kann ich mir wohl keine weitere Unterbrechung leisten – auch kein Mittagessen mit Ihnen. Ich habe in den kommenden Wochen viel zu tun, wenn bis Weihnachten die Familie wiedervereint sein soll.“
„Natürlich wünsche ich, dass Sie an dem großen Familienfest auch teilnehmen“, sagte Aileen. „Sie sollen meine ganz private Autobiographie schreiben und dieses Fest soll das letzte, das finale Kapitel sein.“
„Ein perfektes Ende.“
„Und so viel schöner als eine schnöde Beerdigung – oder was meinen Sie?“, sagte Aileen und ihre Augen funkelten amüsiert. „Kommen Sie“, sagte sie und stand etwas mühsam auf. „Wollen wir doch mal sehen, was Sally für uns vorbereitet hat.“
Ian kam schnell zu ihr und stützte sie am Arm. „Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, dass sich dieser Fernsehsender an mich gewendet hat, als die von meinen Nachforschungen erfahren haben?“, fragte er. „Eine amerikanische Produktionsfirma möchte eine Doku über Ihr Leben machen.“
„Stellen Sie sich das einmal vor“, sagte Aileen erstaunt. „Das interessiert doch niemanden.“
„Da möchte ich widersprechen“, sagte Ian. „Es wäre ein wunderbares Projekt – und das habe ich der Produzentin auch gesagt, als sie mich angerufen hat.“
„Ach, ich weiß nicht. Nun habe ich es so viele Jahre lang geschafft, mein Privatleben für mich zu behalten. Wäre so eine Dokumentation nicht vielleicht … irgendwie unziemlich?“
„Ich denke, dass Ihre Leser unheimlich gern mehr über die Frau hinter den Büchern wissen würden.“
„Ich muss darüber nachdenken“, sagte Aileen. „Vielleicht können Sie mich beim Essen ja davon überzeugen.“ Sie gingen zum Speisesaal. „Außerdem können wir noch mehr Forscher einstellen, um doch noch etwas über Lochlan herauszufinden. Heutzutage verschwindet doch niemand einfach so, irgendetwas bleibt immer übrig, irgendeinen Hinweis werden wir finden. Und vielleicht weiß ja auch Diarmuids Zweig der Familie mehr über Lochlan.“
„Keine Sorge, wir werden alle zweiundzwanzig Zimmer in Ballyseede Castle gefüllt bekommen“, sagte Ian. „Das können Sie mir glauben.“
Im Baumarkt war die Hölle los, als Rourke Quinn den Laden betrat. Die Anwohner bereiteten sich auf den angekündigten Sturm vor und besorgten noch schnell alles, was man im Notfall zu Hause benötigen konnte, wenn einen Wind und Regen erst mal ans Haus fesselten.
„Hey Rourke! Bleibst du etwa noch hier? Das soll der stärkste Sturm der letzten zehn Jahre werden – sagen zumindest die Experten.“
Rourke wandte sich zur Ladenbesitzerin um und warf Betty Gillies ein Lächeln zu. „Nein, ich bin schon so gut wie weg. Wenn der Sturm kommt, will ich längst auf dem Festland sein. Ich brauche nur noch ein paar Batterien für meine Kamera, weil ich gern noch ein paar Bilder von der Küste schießen würde, bevor ich die Insel verlasse.“
„Wir werden dich hier ziemlich vermissen“, sagte sie. „Verdammt, ich werde dich vermissen – du hast meiner Kasse immer so gut getan“
Rourke lachte in sich hinein. „Das glaube ich sofort.“
Er war jetzt seit ungefähr drei Monaten an der Ostküste von Cape Breton, um hier den Nachlass seines Onkels zu regeln. Die Familie seines Vaters hatte beinahe hundert Jahre lang auf dieser Insel gelebt und als Fischer den Atlantik durchkämmt. Aber irgendwann war nur noch Onkel Buddy übrig gewesen und nach seinem Tod galt es nun, sein Cottage zu verkaufen.
Rourke war in den USA zur Welt gekommen, seine Mutter war Amerikanerin, sein Vater Kanadier. Dadurch hatte er sich immer ein wenig zerrissen gefühlt zwischen dem kanadischen Teil seiner Familie und der ländlichen Cape-Breton-Kultur und seinem lauten Großstadtleben in New York, wo er aufgewachsen war. Sein Onkel hatte das gewusst und Rourke nahm an, dass er ihm deshalb sein Cottage hinterlassen hatte – damit er irgendwann wieder „nach Hause“ kommen könnte.
Früher hatte Rourke jedes Jahr die Sommerferien damit verbracht, seinem Onkel beim Fischen zur Hand zu gehen. Sein Vater Paul unterstützte es, dass Rourke das Leben eines Arbeiters kennenlernte. Doch als Rourke älter wurde, zog es ihn immer stärker zum Unternehmen seines Vaters hin – bis er die Sommerferien lieber dort verbrachte und in den Ferien quasi Bauingenieurswesen studierte. Seine Zeit mit Onkel Buddy wurde dadurch tiefer und tiefer in die letzten Augustwochen verdrängt.
Wie immer fühlte Rourke sich ein wenig schuldig, als er sich daran erinnerte – aber diesen Gedanken schob er schnell beiseite. Er hatte die letzten drei Monate damit verbracht, Buddys Zuhause zu renovieren und es perfekt für eine moderne Familie einzurichten. Er hatte auch schon mit ein paar Immobilienmaklern gesprochen, aber das Cottage noch nicht auf den Markt gebracht – vielleicht war es doch klüger, das Haus erst mal nur zu vermieten?
„Eine einzige Entscheidung kann dein ganzes Leben verändern“, sagte er leise zu sich selbst. Buddy hatte immer solche kurzen Weisheiten parat gehabt und dieser Satz war einer seiner liebsten.
Als Rourke noch jünger gewesen war, hatte er seinen Onkel mit seinen Sprüchen gerne etwas aufgezogen. Klar, das sticke ich mir sofort auf mein Kissen, hatte er zum Beispiel oft gesagt. Doch heute begann er zu verstehen, wie wahr viele Sätze seines Onkels waren – und wie sehr sie häufig auf sein eigenes Leben passten.
Nach der Highschool war er der Firma seines Vaters beigetreten. Nachts und am Wochenende verdingte er sich als Bauzeichner in Pauls Büro, tagsüber studierte er Ingenieurswesen. Auch wenn sein Vater es hatte geheimhalten wollen, wusste Rourke schnell, dass das Geschäft nicht besonders gut lief und sein Vater jede Hilfe gebrauchen konnte. Und mit jedem Jahr, das verging, fraß der Stress Paul mehr und mehr einfach auf.
Rourke hatte auch nach dem plötzlichen Herzinfarkt seines Vaters weiter im Unternehmen gearbeitet und gehofft, die Firma und das Erbe seines Vaters wieder in Gang zu bekommen. Doch ohne die Unterstützung der zwei anderen Gesellschafter, die abgesprungen waren, war es aussichtslos gewesen. Also hatte Rourke einen Tag, nachdem er von Buddys Tod erfahren hatte, gekündigt.
„Du willst das Cottage also verkaufen, stimmt’s?“, fragte Betty.
„Das habe ich noch nicht entschieden“, antwortete Rourke und nahm die Packung Batterien aus dem Regal vor sich. „Ich möchte nichts überstürzen.“
„Das wär’s?“, fragte sie und zeigte auf die Batterien.
Rourke nickte und fischte sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Doch während er das Geld herausnahm, wurden alle um ihn herum plötzlich ganz still. Betty starrte auf etwas hinter ihm und Rourke drehte sich langsam um.
Jeder im Ort kannte Annie Macintosh. Ihre Familie lebte genauso lang an der Ostküste der Insel wie die Quinns. Ihr Urgroßvater hatte den Leuchtturm bei Freer’s Point gebaut und geführt, doch dann war das Unglück über ihre Familie gekommen.
Annies Eltern waren gestorben, als sie noch sehr klein gewesen war, beide ertranken unter mysteriösen Umständen. Danach war sie zu ihrer Großmutter gekommen und in dem hübschen Leuchtturmwärter-Häuschen aufgewachsen, von dem aus man einen so unglaublichen Blick über den Atlantik hatte.
Als Kind war sie ein beliebtes Ziel für diverse Hänseleien gewesen. Die Angriffe der anderen Kinder zielten auf ihr Stottern und ihre Klamotten, die nie zueinander zu passen schienen, und häufig auch auf ihre ungezähmte rotbraune Mähne, die umso mehr auffiel, weil sie einen sehr hellen Teint hatte. Warum war damals eigentlich nie jemand für sie eingetreten, fragte Rourke sich manchmal. Er hatte es selbst einmal versucht, was jedoch darin geendet hatte, dass er von sechs Dorfjungs übel verprügelt worden war.
Er sah sie immer noch vor sich, wie sie umringt von sechs großen Typen wütend ihre Meinung verteidigte und ihr Stottern dabei zu ignorieren versuchte – was die Jungs nur zu noch mehr Hänseleien provoziert hatte. Das war das Mutigste, was er damals in seinem Leben gesehen hatte, und es war einer dieser Augenblicke gewesen, die Buddy gemeint haben musste. An diesem Tag hatte er erkannt, dass er sich sein Leben nie von anderen vorschreiben lassen würde und dass er ein Entscheider war, kein Mitläufer.
Annie ging ruhig zum hinteren Kühlschrank, in dem sich alles fürs Sportfischen befand. Als sie wieder nach vorn kam, hatte sie zwei große Boxen tiefgefrorene Heringe dabei.
Rourke lächelte ihr zu.
Sie lächelte zurück und für einen kurzen Moment verschlug es ihm den Atem – aus dem kleinen, etwas wilden Mädchen war eine regelrechte Schönheit geworden. Ihre Augen, die schon immer unergründlich blau, beinahe dunkelgrün und von langen schwarzen Wimpern umrahmt gewesen waren, übten plötzlich eine völlig unerwartete Wirkung auf ihn aus. Und obwohl ihr Haar vom Wind zerzaust war, fiel es ihr zugleich in vollen, weichen Wellen über die Schultern. Sie trug einfache Kleidung, eine Jeans, die ihre langen Beine versteckte, ein ausgewaschenes T-Shirt und eine leichte Leinenjacke.
Er schaffte es nicht, den Blick von ihrem herzförmigen Gesicht zu nehmen – er saugte alle Details auf, die er sich einprägen konnte, bis sie ihren Einkauf beendet hatte. Auf dem Weg zur Tür trat er einen Schritt beiseite und ließ sie durch. Sie drehte sich mit ihren Heringen unterm Arm noch mal kurz zu ihm um. „Danke“, murmelte sie leise, als ihre Blicke sich trafen und beide für einen Moment alles um sich herum vergaßen. Ihre Mundwinkel umtanzte ein weiteres, etwas zögerliches Lächeln.
Irgendwie spürte er, dass sie sich nicht für das Vorbeilassen bedankte, sondern für die Geschichte damals, vor vielen Jahren, als er verprügelt worden war. Mit zwei Schritten hatte er sie eingeholt. „Kann ich dir tragen helfen?“, fragte er und griff nach den Boxen unter ihrem Arm.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich um seine ausgestreckten Arme herumzuwinden. Dabei entglitten ihr die Boxen jedoch und schlitterten über den Holzboden des Ladens davon.
Rourke sprang vor, um sie aufzuhalten – doch Annie hatte den gleichen Gedanken und als sie sich nach unten beugten, stießen sie mit den Köpfen aneinander und fielen zu Boden. Schnell griff er ihre Einkäufe und half ihr auf. „Wo parkst du?“, fragte er sie.
Doch sie nahm ihm leise fluchend die Kisten ab und huschte hinaus, ohne ihm noch einen weiteren Blick zuzuwerfen. Rourke starrte ihr sprachlos hinterher und fragte sich, was ihr seltsames Verhalten bedeuten konnte. Und allen anderen Kunden schien es genauso zu gehen.
Er atmete tief durch, ging zur Kasse zurück und zahlte endlich seine Batterien. „Das war seltsam“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
„Das kannst du wohl laut sagen“, antwortete Betty.
„Was hat sie wohl mit den ganzen Heringen vor?“
„Das meine ich nicht – eben habe ich sie wohl das allererste Mal reden gehört!“
Rourke runzelte die Stirn. „Im Ernst? Ich weiß, dass sie früher sehr ruhig war, aber ich hätte nicht gedacht, dass das immer noch so ist.“
„Sie spricht mit niemandem. Die macht nur ihren eigenen Kram. Dass sie gar nicht einsam ist, wie sie so alleine da draußen lebt.“Betty machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung neben ihrer Schläfe. „Manche denken, dass sie dadurch ein wenig durchgeknallt ist.“
„Ich war seit Jahren nicht mehr am Freer’s Point“, sagte Rourke. „Keine Ahnung, ob ich den Weg noch finden würde.“
„Du musst einfach bei der großen Reklametafel an der Küstenstraße abbiegen“, sagte Betty und sah ihn fragend an. „Willst du etwa da raus fahren?“
Rourke zuckte mit den Schultern, steckte die Batterien ein und verabschiedete sich. Obwohl er die Stadt eigentlich noch vor Ausbruch des Sturms hatte verlassen wollen, kreisten seine Gedanken plötzlich nur noch um Annie Macintosh. Während im Ort alle gemeinsam ihre Häuser wetterfest machten – wer dachte da an sie? Wer half ihr? Hatte sie überhaupt irgendwelche Freunde auf der Insel?
Bevor er verschwand, würde er noch einmal nach ihr sehen, nahm er sich vor. Ein paar weitere Stunden auf der Insel würden nicht schaden, der Sturm sollte die Küste nicht vor Mitternacht erreichen und es war erst drei Uhr nachmittags.
Unterwegs tankte er den Wagen voll und besorgte noch ein paar Snacks, dann fuhr er zur Küste und bog auf die kurvige Straße zum Leuchtturm ein, den er bald vor sich aufragen sah. Rourke hielt am Straßenrand und lehnte sich auf das Lenkrad. Was hatte er eigentlich vor?
Er fragte sich, ob dies wieder einer dieser Momente war. Ging es ihm wirklich einfach nur darum, ein guter Nachbar zu sein? Oder ging es vielmehr um diese seltsame Anziehungskraft, die Annie Macintosh auf ihn ausübte? Für einen Moment wäre er am liebsten wieder umgekehrt und abgehauen. Er war ja schließlich alles andere als ein Ritter in strahlender Rüstung, gekommen, um sie zu retten. „Komm schon, Buddy, gib mir ein Zeichen“, flüsterte er.
Genau in diesem Augenblick landete eine Schwalbe auf seiner Kühlerhaube. Eine Böe musste sie zur Landung gezwungen haben. Der Vogel sah ihm durch die Windschutzscheibe direkt in die Augen, Rourke hielt die Luft an. Nach einem letzten Blick flog das Tier fort.
Er fluchte leise und fuhr weiter auf den Leuchtturm zu. Es war so viel Zeit vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Ob sie sich wirklich noch an ihn erinnerte? Oder hatte er sich dieses Blitzen in ihren Augen nur eingebildet?
Er fuhr ein ganzes Stück weiter die unebene Straße entlang, bis das Haus des Leuchtturmwärters zu erkennen war. Erneut hielt er an und betrachtete den Freer’s Point.
Das Cottage hatte schon bessere Tage gesehen. Die Veranda war zur einen Seite leicht abgesackt, der Schornstein schien in sich zusammenzufallen und die Fensterläden, die das Haus vor dem herannahenden Sturm hätten schützen sollen, fielen aus den Angeln.
Als er das Haus erreichte, schob er seine Zweifel beiseite und stieg aus dem Truck. „Hallo!“, rief er laut.
In der Ferne bellte ein Hund, während er über die maroden Stufen zur Veranda hinaufstieg. Rourke klopfte an die Tür und wartete. „Hallo, jemand zu Hause?“, fragte er vorsichtig und nur einen kurzen Augenblick später kam ein Bordercollie um die Ecke geschossen und raste auf ihn zu. Rourke fragte sich einen Sekundenbruchteil lang, ob er es bis zu seinem Auto schaffen könnte, bevor der Hund ihn anfiel.
Doch direkt vor seinen Füßen stoppte der Hund abrupt, drehte sich um und lief wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein paar Meter weiter stoppte er erneut und sah Rourke direkt an. Er schien ihn dazu aufzufordern, ihm zu folgen. Als der Hund wieder auf ihn zukam, streckte Rourke die Hand aus und das Tier stupste ihn aufgeregt an.
„Weißt du, wo sie steckt?“
Der Hund lief davon und Rourke folgte ihm auf einem kleinen Pfad in Richtung Küste. Der starke Seewind, der seit ewigen Zeiten die Küste bearbeitete, hatte keinen Strauch stehen und keinen einzigen Baum auf diesem Stück Land je in die Höhe wachsen lassen. So gab es nichts, was den Leuchtturm und das Wärterhäuschen vor den Böen schützte, die selbst bei ruhigem Wetter sehr stark waren.
Die Wellen peitschten die Küste entlang und kündigten einen kraftvollen Sturm an. Rourke suchte den Horizont nach einem Zeichen von Annie ab und fand sie. Sie stand auf einer schmalen Felszunge, die ins Wasser ragte.
Die Gischt spritzte um sie herum in die Höhe. Sie musste völlig durchnässt sein, doch davon schien sie überhaupt nichts mitzubekommen. Sie starrte völlig regungslos auf das dunkelgraue Wasser hinaus. Der Wind ließ ihre Haare flattern und das aufgelöste Bellen des Hundes schien sie nicht ansatzweise wahrzunehmen.
Eine weitere Welle brach sich an den Felsen, auf denen sie stand, und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. „Was zur Hölle tust du da?“, murmelte er und rannte in ihre Richtung, laut ihren Namen rufend.
Zu seiner Erleichterung hatte sie ihn endlich gehört, doch gerade als sie sich zu ihm umdrehte, rollte eine riesige Welle über ihren Vorsprung und riss sie mit sich. Rourke konnte nicht erkennen, ob sie ins Wasser gefallen war, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Innerhalb von Sekunden hatte er die Felszunge erreicht und kletterte hinaus, den Blick immer auf den braunen Fleck gerichtet, der ihre Jacke sein musste. Als er Annie erreichte, lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und er beugte sich tief über sie, um zu spüren, ob sie noch atmete. Als er sah, wie ihre Brust sich hob und senkte, hob er sie auf und trug sie zur sicheren Küste zurück. Er legte sie ins hohe Gras und prüfte, ob sie sich verletzt hatte. Tatsächlich hatte sie eine Platzwunde am Hinterkopf, aus der sie stark blutete. Der Hund umkreiste sie jaulend und stupste sein Frauchen immer wieder an.
Annie seufzte auf und öffnete die Augen, mit flatternden Lidern starrte sie Rourke eine ganze Weile lang einfach nur an. Sie stöhnte leise und schloss die Augen wieder.
Er legte seine Arme erneut um sie und versuchte, sie so vorsichtig wie möglich zum Haus zurückzutragen. Als er die hintere Veranda erreichte, trat er die Tür mit dem Fuß auf, die sich ohne Widerstand öffnete.
Der riesige Raum, in dem sie direkt standen, schien einmal die Küche gewesen zu sein. Eine Wand wurde von einem Kamin dominiert, direkt daneben stand ein alter Schaukelstuhl an einem kleinen Tisch, auf dem eine Öllampe stand. Auf der anderen Seite war ein altes, großes Bett in eine Nische hineingeschoben worden. Auf dem Holzboden des Raums lag ein geflochtener Teppich, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Rourke legte Annie auf ihr Bett, beugte sich über sie und rieb ihre Hände in seinen. Himmel, selbst in diesem Zustand war sie wunderschön. Ihre Lippen waren perfekt geschwungen und ihre Haut war so makellos und sah so weich aus … er konnte dem Impuls nicht widerstehen und strich ihr sanft mit der Hand über die Wange.
Als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, öffnete sie die Augen und sah zu ihm auf. „Warum bist du hier?“, murmelte sie.
Ihr Stottern war verschwunden und der Klang ihrer Stimme ließ ihn erzittern. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen, dachte er. Als sie sprach, spürte er, wie sich alles, was ihn bisher ausgemacht hatte, um 180 Grad drehte. Und er wusste mit einem Mal so sicher wie nichts anderes, dass sein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.
Annies Kopf schmerzte und ihr war so kalt, dass sie nicht klar denken konnte. Sie griff sich an den Hinterkopf und betrachtete ihre Finger. „Ich blute.“