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Zwischen den Schatten der Vergangenheit und dem Glanz der Gegenwart …
Die romantische Familiensaga für Fans von Lucinda Riley
Julia McLean ist nach mehr als einem Jahrzehnt Karriere in der internationalen Hotellerie zurück in Schottland. Sie träumt von der Eröffnung eines eigenen kleinen Hotels. Als sie eines Tages überraschend den Landsitz Eldridge Hall von ihrem Großvater Dr. Kenneth McLean erbt, scheint die Erfüllung ihres Traums in greifbare Nähe zu rücken. Doch dann taucht völlig unerwartet der nette und attraktive Sean Drumont auf – ihr angeblicher Halbbruder und Miterbe, der mit Haus und Grund ganz andere Pläne hat. Auf der Suche nach Antworten stößt Julia auf mehr als ein Geheimnis in ihrer Familiengeschichte und ihre Zukunft wird immer ungewisser …
Erste Leserstimmen
„berührender Liebesroman vor der traumhaften Kulisse Schottlands“
„Die Verstrickungen und Geheimnisse innerhalb der Familie sind absolut spannend und fesselnd!“
„Es war mir eine große Freude Julia nach Eldridge Hall zu begleiten.“
„dramatisch, bewegend und toll geschrieben“
„Wer auf Familiengeheimnisse steht, ist hier bestens aufgehoben!“
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Julia McLean ist nach mehr als einem Jahrzehnt Karriere in der internationalen Hotellerie zurück in Schottland. Sie träumt von der Eröffnung eines eigenen kleinen Hotels. Als sie eines Tages überraschend den Landsitz Eldridge Hall von ihrem Großvater Dr. Kenneth McLean erbt, scheint die Erfüllung ihres Traums in greifbare Nähe zu rücken. Doch dann taucht völlig unerwartet der nette und attraktive Sean Drumont auf – ihr angeblicher Halbbruder und Miterbe, der mit Haus und Grund ganz andere Pläne hat. Auf der Suche nach Antworten stößt Julia auf mehr als ein Geheimnis in ihrer Familiengeschichte und ihre Zukunft wird immer ungewisser …
Erstausgabe Dezember 2020
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-315-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-376-4
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Triff, © randy andy, © Oleksandr Kostiuchenko, © Nahlik, © Viktoria Bondarenko depositphotos.com: © olegbreslavtsev Lektorat: Astrid Rahlfs
E-Book-Version 30.11.2023, 12:03:43.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Julia: Anfang Oktober 2019
Morning has broken … ich wusste nicht, was Cat Stevens vor Augen hatte – aber als ich meine aufschlug, blinzelte ich in die grün leuchtende Digitalanzeige des Radioweckers. Sechs Uhr dreißig, draußen war es noch stockfinster, und der Moderator musste natürlich sofort in den Song hineinquatschen ‒ wer ihn alles gecovert habe, dass es eigentlich ein irisches Weihnachtslied sei und der neue Text von einer zu ihrer Zeit bekannten englischen Dichterin stammte. Ich vergaß den Namen sofort wieder und bei den ersten Tönen von Sun of Jamaica hieb ich dann entnervt auf den Off-Knopf. Der Hit der Goombay Dance Band war fast so alt wie ich. Ich wurde am Sankt Andreastag neununddreißig, doch wenn überhaupt, gefiel mir Pink Floyd weit besser. Es gab ein Foto im Album meiner Großmutter, das mich mit vier Jahren vor einer schrecklichen Tapete mit froschgrünem Rautenmuster zeigte, laut Another Brick in the Wall singend. Behauptete wenigstens die Bildunterschrift. Aber ich verband die Top Ten der Achtziger und Neunziger tatsächlich bis heute mit der Küche meiner Großmutter. Bei ihr lief auch jetzt, in ihrem Zimmer in der Seniorenresidenz, noch ständig das Radio, und in meiner Kindheit wäre ohne gar nichts gegangen.
Gleichgültig, ob wir gemeinsam gekocht, im Garten Kräuter, Gemüse und Blumen geholt hatten oder ob sie mich und ein komplettes kalt-warmes Büffet für eine Hochzeitsfeier oder einen runden Geburtstag in ihren Pick-up gepackt hatte und mit mir zu einem Kunden gefahren war – immer hatte sie sofort ihren Lieblingssender eingeschaltet. Sie erkannte auch heute, nach zwei Worten, sämtliche Sprecher an der Stimme, wusste ihre Namen und lauschte mit Begeisterung ihren Kommentaren. Ich selbst mochte nach der ständigen Musikberieselung in Hotelfluren und Lifts eher Stille.
Oder ich bildete mir das wenigstens ein, während ich mich schniefend aus dem Bett hievte. Weichspüler-Pop linderte nachweislich Aggressionen. Man fragte sich, warum diese Art Musik dann nicht auch in den Küchen von Profis zum Einsatz kam. Ich konnte nicht behaupten, dass mir das Macho-Gehabe einiger Alphatiere, die ich im Lauf der Jahre kennengelernt hatte, oder das schlechte Arbeitsklima in meinem neuen Job als Ernährungsberaterin in New Haven, Schottland, gerade fehlten.
Draußen glühte der Morgen hinter den noch nachtschwarzen Bergen der Range herauf. Es war herbstlich kühl, die Außenthermometer behauptete fünf Grad über null, dafür herrschte ausnahmsweise kein Nebel. Meine Kollegen hatten mich bemitleidet, als ich ihnen vor sechs Monaten erzählt hatte, dass ich zurückgehen wollte. Schottland, das hieße doch ständig schlechtes Wetter und damit Trübsinn. Das konnte ich nicht bestätigen, mir setzte mehr die Muße zu. Ich war es auch nach einem halben Jahr noch nicht gewöhnt, dass ich nun in Ruhe dem brennenden Saum der Sonne dabei zuzusehen konnte, wie er sich langsam aus der Nacht über der Range hinter New Haven erhob. In meinem letzten Job in New York hätte ich um diese Zeit in einer der Suiten gestanden, mit einem Namensschild an der Jacke eines dunkelblauen Hosenanzugs.
Guten Morgen, Madam, Sir! Ich bin Julia McLean, Ihr persönlicher Butler. Darf ich Frühstück servieren?
Mir reichte heute fürs Erste Tee. Viel Tee! Ich putzte mir die Nase, tappte in die Küchenzeile und füllte den Wasserkocher. Es war schon die zweite Erkältung dieses Jahres, wahrscheinlich wollte jetzt alles aus mir heraus, das ich jahrelang mit Tabletten und Willenskraft unterdrückt hatte. Krank zu sein, das hatte ich mir in keinem meiner Jobs leisten können. Wie hatte einer meiner Ausbilder an der Schweizer Hotelfachschule noch so schön gesagt?
In unserem Beruf stehst du auf deinem Posten, bis sie dich mit den Füßen voran aus dem Haus tragen. Oder du bist hier falsch.
Ich ging ins Bad. Gott, ich sah wirklich ziemlich fertig aus. Kein Wunder, dass mich meine neue Chefin gestern, mit dem strengen Befehl zum Arzt zu gehen, nach Hause geschickt hatte.
„Schon dich ein paar Tage, um Himmels willen! Nicht dass daraus noch eine Lungenentzündung wird!“
Ein Schelm, wer Schlechtes bei dem Rat dachte, ich wurde pro Beratungsgespräch und abgeschlossenem Kochkurs bezahlt. Aber die Gute hatte recht, leichenblass, mit dunklen Ringen unter den Augen, überzeugte ich niemanden von gesunder Ernährung.
Hi! Mein Name ist Julia McLean. Wir werden die nächsten drei Tage zusammen eine Menge Spaß dabei haben, eine Reihe köstlicher Mahlzeiten aus der Vollwertküche zuzubereiten. Sie werden mit Ihrem Zertifikat, dass Sie an diesem Kurs teilgenommen haben, eine ganze Palette an Menüvorschlägen mit nach Hause nehmen, die Sie mühelos selbst nachkochen können.
Neunzig Prozent der Teilnehmer befolgten meine Vorschläge natürlich nicht. Tiefkühlpizza in den Backofen zu schieben oder gleich irgendwo ein Take-out mitzunehmen, ging leichter. Kochen verlangte wie jedes Handwerk vor allem zwei Dinge: Übung und Disziplin. Weshalb ich die einmal eingestellte Weckzeit gestern auch ohne Not beibehalten hatte. Außerdem wäre ich ohnehin hochgeschreckt. Mit Herzklopfen und dem deutlichen Gefühl, irgendwo zu spät zu kommen. Jahrelange Selbstprogrammierung löste sich nicht innerhalb von ein paar Monaten in Wohlgefallen auf.
Ich verließ das Bad mit den rotbraunen Kacheln, die in den Siebzigern bestimmt der letzte Schrei gewesen waren, und zog mich an. Die Ausstattung war nicht mein Geschmack ‒ im Schlaf- wie im Wohnzimmer nachgemachtes Chippendale vor unsäglichen Tapeten, in einem Raum braune, im anderen grüne Bambuszweige. Gleich würde Tarzan um die Ecke springen, aber ich hatte schon schlimmer gewohnt. Das möblierte Appartement war sowieso nur eine Übergangslösung. Ich konnte mir noch nicht vorstellen, mich irgendwo wirklich niederzulassen. Ich hatte lediglich den Dauerstress satt.
In meiner Branche war es ab einem bestimmten Level ziemlich egal, ob man in der Küche arbeitete, im Housekeeping, an der Rezeption oder als Butler. Nahezu jedes Hotel war knapp an Personal und das bedeutete für die, die einen Job hatten, Wechsel durch alle Posten und wenigstens phasenweise sieben Tage die Woche Dienst, oft mit sechzehn, manchmal sogar achtzehn Stunden Schicht am Stück. Hatte man frei, lag man nur noch irgendwo platt herum.
Mercer und Val, meine beiden letzten Assistenten, hatten behauptet, das mache nur eine Verrückte wie ich so lange mit. Aber sie hatten das in keiner Weise böse gemeint. Wir träumten alle den Traum vom eigenen Hotel, dem eigenen Restaurant. Ich wusste nur nach einem ausgedehnten Ausflug ins Controlling, dass es besser einer blieb.
Draußen hellte sich langsam der Himmel auf. Eine Schar Möwen zog kreischend landeinwärts. Wenn das Wetter hielt, wollte ich später einen Spaziergang zum Hafen machen. In meiner Kindheit hatten dort noch große Trawler ihren Fang angelandet. Schon nicht mehr für die örtliche Fischfabrik, die war schon vor dem Krieg geschlossen worden, und jetzt fuhren überhaupt nur noch einige hartnäckige alte Männer mit ihren Kuttern hinaus.
Ich schaltete den brodelnden Wasserkocher aus und brühte schwarzen Tee auf. Salbei oder Thymian wäre in meinem Zustand sicher vernünftiger gewesen, aber ich war morgens ohne meinen geliebten Broken Orange Pekoe zu nichts fähig. Ich trank ihn immer Englisch, mit Vollmilch und einem Teelöffel Zucker pro Tasse. Auch wenn ich mit Begeisterung Vollwertkost kochte, vegetarisch und vegan, und nicht nur, um meinen Klienten zu beweisen, dass auch noch etwas anderes als Fastfood schmeckte: Man musste es nicht übertreiben. Alles mit Maß und Ziel. Deshalb hatte ich nach meiner Rückkehr auch sofort diesen Job als Ernährungsberaterin angenommen. Finanziell war es ein Abstieg. Ich wusste allein in Schottland aktuell von mindestens vier High-End-Hotels, die händeringend Personal suchten. Jeder einzelne Personalchef in Edinburgh oder Aberdeen hätte mich mit meinen Referenzen ohne mit der Wimper zu zucken eingestellt. Aber ich ließ mich nicht noch einmal vom Stress auffressen. Damit war ich durch.
Ich trug das Teetablett zur Couch und machte es mir unter der Wohndecke der Vermieterin gemütlich, die Gott sei Dank nur auf einer Seite mit einem Leopardenmuster bedruckt war (ich Jane). Ich drehte es nach innen und spielte auf meinen nun dunkelbraun eingewickelten Knien mit dem Tablet Was wäre wenn.
Wenn ich ein eigenes Bio-Hotel eröffnen wollte, wer würde mich dann mit regionalen Lebensmitteln beliefern? Welcher Landwirt baute im Umkreis von fünfzig bis maximal hundert Kilometern Kräuter, Gemüse oder Obst an, wer war bio-zertifiziert? Ich hatte nicht wirklich vor, mich selbstständig zu machen, dazu wusste ich zu genau, wie schnell sich Fixkosten zu einem Albtraum entwickelten, sobald die Kunden ausblieben, aus welchen Gründen auch immer. Dass selbst renommierte Häuser in manchen Jahren knapp am Bankrott vorbeischrammten. Die Spitzengastronomie ließ sich ohne weiteres mit einem der großen Fußballclubs vergleichen: Manchester United konnte ohne eine stetige und vor allem verlässliche Geld-Pipeline durch einen Sponsor nicht mehr existieren.
Gut, ich besaß ein finanzielles Polster, das ich in die sprichwörtliche Waagschale werfen konnte, wenn ich mich doch in dieses Abenteuer stürzte. Aber dann nur als Einzelkämpferin. Personalkosten fraßen einen auf.
Ich schenkte mir Tee nach. Draußen durchkreuzten jetzt breite himbeer- und erdbeerrosa Kondensstreifen das immer heller werdende Blau. Der Himmel war wolkenlos, hoch und klar. Über New Haven kreuzten die Routen nach Dublin, Edinburgh und London. Mich überfiel bei dem Anblick Fernweh. Hier steppte nicht gerade der Bär, doch ich hatte meine Zelte auch nicht dafür wieder in der kleinen Hafenstadt an der Westküste Schottlands aufgeschlagen, in der ich geboren war. Meine Grandmère wurde demnächst fünfundachtzig. Sie kurvte zwar immer noch mit Begeisterung in der Weltgegend herum, versäumte keinen Gesellschaftsabend, den ihre Seniorenresidenz anbot, ging ins Theater und ins Konzert. In Rock-Konzerte wohlgemerkt, sie war die Generation Elvis. Aber sie war alles, was ich noch an Familie besaß, und ich wollte in ihrer Nähe sein. Auch wenn sie meinen Entschluss, meine internationale Karriere zu beenden, zuerst nur sehr ungnädig aufgenommen hatte.
„Geh mir bloß nicht damit auf die Nerven, Liebes! Wenn ich aus der Schnabeltasse trinken muss, kannst du dich immer noch um mich kümmern, und dann überlässt du das auch besser den Pflegern hier. Wir haben hier ein paar echt knackige.“
Ich lächelte in Erinnerung an das Gespräch still vor mich hin. Das Personal war durchgehend nett und sehr professionell, doch die Aussage „knackig“ unterschrieb ich nicht. Das war aber auch nicht der Punkt. Ich wollte einfach nicht mehr achtzehn Stunden im Flieger verbringen, um sie einmal im Jahr besuchen zu können. Ich blies auf meinen Tee.
Das zarte Zitronengelb und der Hauch Orange über der Range verblassten immer mehr. Im Zenit überwog schon tiefes Blau, in dem winzige Verkehrsmaschinen strahlend weiße Kondensstreifen hinter sich herzogen.
Ich wandte mich wieder dem Tablet zu. Ich hatte nichts zu tun und keinerlei Zeitdruck, zum ersten Mal seit Jahren, und wenn ich auf der gemieteten Couch von einem eigenen Bio-Hotel träumte, schadete das niemandem.
Es durfte nichts Großes sein. Eher ein Bed & Breakfast als ein Hotel, höchstens sechs Doppelzimmer, die Möbel natürlich schadstofffrei, Kapok-Matratzen und die Wäsche aus Baumwolle oder sogar Leinen. Alle Mahlzeiten marktfrisch zubereitet, aus der Region, täglich wechselnde Menüs, aber kein À la carte-Service. Wer zu mir käme, würde essen müssen, was auf den Tisch kam. Ich würde natürlich auf Sonderwünsche eingehen und mich vorher nach Allergien der Gäste erkundigen. Und da bei meinem Budget garantiert nur ein Altbau drin war, konnte ich gleich auf Vintage-Stil setzen, mit Geschirr und Gläsern vom Flohmarkt. Richtig eingesetzt sah das sehr schick aus.
Gegen zehn war ich bei der zweiten Kanne Tee angelangt und steckte tief in Google. Puh, es gab wunderschöne Tapeten. Aber neunhundertachtzig Euro für eine einzige Wand, das war natürlich schon eine Hausnummer.
Ich wollte gerade trotzdem eine Bookmark speichern – für alle Fälle – als es an der Wohnungstür klingelte. Um diese Zeit konnte es nur die Post sein, ich erwartete keinen Besuch. Auch keine Briefe oder Päckchen, wahrscheinlich suchte der Zusteller nur ein Opfer, dem er eine Sendung für einen der Nachbarn aufdrängen konnte, die alle berufstätig waren. Ich wickelte mich aus der Decke und ging öffnen. Es brachte bestimmt gutes Karma, wenn ich die Sendung entgegennahm.
„Sie sind Julia McLean?“ Der Zusteller musterte mich.
„Ja.“
„Ich habe hier eine Zustellung erster Klasse, die nur dem Empfänger persönlich ausgehändigt werden darf. Ihren Personalausweis, bitte.“
„Moment …“
Der Ausweis steckte zum Glück in meiner Tasche, die an der Garderobe hing. Ich drehte mich um, angelte ihn heraus und wollte ihn dem Postboten geben. Dummerweise wurde mir dabei schwindelig. Ich musste mich am Türrahmen festhalten.
„Hier.“
„Sie sind ganz schön kurzatmig. Grippe? Stecken Sie mich bloß nicht an.“ Der Zusteller nahm meinen Ausweis mit spitzen Fingern entgegen und tippte auf seinem Lesegerät herum.
„Hier bitte, unterschreiben.“
Er hielt mir das Display hin, ich kritzelte meine Signatur darauf und damit hatten wir es beide hinter uns. Der Zusteller händigte mir den Brief aus, ich schloss die Tür und zog mich wieder auf die Couch zurück.
Der Absender auf dem Umschlag lautete Notare Connolly, White & Carmichael, New Haven. Ich konnte mir nicht denken, was die Herren von mir wollten, und als ich das Schreiben las, wurde meine Verwunderung sogar noch ein Stück größer. Es besagte kurz und knapp, dass ich zur Eröffnung des Testaments von Doktor Kenneth Albert McLean eingeladen wurde. Termin war der vierzehnte Oktober, der Montag in zwei Wochen.
Nun, ich wusste natürlich, dass es sich bei dem alten Herrn um meinen Großvater väterlicherseits handelte. Viel mehr jedoch nicht. Die Ehe meiner Eltern war schon kurz nach meiner Geburt geschieden worden und danach hatte bei uns zu Hause über dieses Thema totale Funkstille geherrscht. Ich erinnerte mich noch gut an das Gesicht der Sekretärin bei meinem Wechsel auf die Boarding School in Glasgow, in der meine Mutter Musik lehrte, als sie ihre Mutter, also meine Grandmère, als zweite Ansprechpartnerin für mich vorschlug.
Das ging nicht. Die Sekretärin äußerte Verständnis für die ganze Situation. Doch sie bräuchte den Namen und die Anschrift meines Vaters. Das sei Vorschrift.
Ich war total überrascht. Nicht so sehr, weil ich in einer richtigen Ehe geboren worden war. Das hatte ich mir schon zusammengereimt, schließlich hießen meine Mutter und ich McLean, anders als meine Großeltern, deren Nachname Hollander lautete. Aber ich hatte mit meinen neun Jahren geglaubt, mein Vater sei tot. Nun erfuhr ich, dass er höchstens verschollen war. Meine Mutter nannte der Sekretärin auch nur sehr widerwillig seinen Namen: Alec McLean, aber sie kannte seine Adresse nicht.
Ich schenkte mir eine neue Tasse ein. Nun war mein Großvater Kenneth McLean, der Vater meines Vaters, also gestorben. Ich machte mir keine Illusionen, dass er mir etwas hinterlassen hatte. Wahrscheinlich war einfach nur gesetzlich vorgeschrieben, dass ich bei der Testamentseröffnung anwesend sein musste. Welche Ironie, nun lernte ich meinen Vater also doch noch kennen. Nach beinahe vierzig Jahren! Das musste ich meiner Grandmère erzählen! Ich griff zum Smartphone.
„Aber Liebes!“ Meine Großmutter lachte herzlich. „Alec ist doch schon seit fünf Jahren tot! Habe ich dir das etwa nicht erzählt? Ich hoffe, du hast es nur vergessen, sonst habe ich Alzheimer. Doch halt! Ich weiß, warum das unterging. Der Unfall war in dem Jahr, als du auf den Philippinen nach diesen beiden furchtbaren Tropenstürmen über einen Monat lang verschollen warst. Ich hatte damals schreckliche Angst, dass ich dich nie mehr wiedersehe.“ Ihre Stimme zitterte, doch sie fing sich wieder. „Weißt du, du wärst ohnehin nicht rechtzeitig zur Beerdigung gekommen. Ich habe auch keine Ahnung, wo die war, ob in New Haven oder London, wo er gelebt hat. Schließlich habe ich auch erst nach Wochen zufällig davon erfahren. Du weißt doch, wie die Dinge stehen …“
Wir schwiegen beide kurz. Dann räusperte sich meine Großmutter. „Vielleicht war es besser so. Dass du den alten Kenneth und Lady Elinor nie kennengelernt hast, meine ich. Die besonders nicht! Aber wenigstens erbst du jetzt Eldridge Hall.“
„Wie bitte?“
„Na, den Landsitz über der Stadt! Du wolltest doch schon immer ein eigenes kleines Hotel. Jetzt hast du es!“
Kathleen: Ende Juli 1979
Wenn man sich in New Haven abends treffen wollte, konnte man das eigentlich nur in einem Pub tun. Vor der Fischereikrise hatte es angeblich mehr als ein Dutzend allein rund um den Hafen gegeben, das behauptete wenigstens Barrys Cousin. Der wieder einmal nuschelte, als habe er heute schon alle vier besucht, die jetzt noch existierten. Aber das George’s war nach Kathleens Meinung und auch der ihrer Clique der einzige Pub, der sich lohnte. Obwohl man dort immer Gefahr lief, auch den eigenen Eltern zu begegnen. Sie heute zwar nicht: Ihr Dad und ihre Maman waren bei den Carmichaels eingeladen, einem älteren Ehepaar, mit dem sie seit ewigen Zeiten befreundet waren. Aber dafür stand Pauls Mutter an der Theke und die interessierte sich mit Leidenschaft für alles und jeden – Kathleen konnte sich darauf verlassen, dass sie allen heute nicht anwesenden Eltern bis spätestens morgen Mittag detailgenaue Berichte über das Betragen ihrer Sprösslinge ins Haus liefern würde. Ihr Dad nannte Pauls Ma nicht umsonst die Ich-will-aber-nichts-gesagt-haben. Und gab in der Regel erst einmal nichts auf ihre Berichte.
Wenn du etwas angestellt hast, wirst du es mir schon selbst erzählen, Kathy-Kind.
Sie trank einen Schluck Cola. Es war Freitag und der Pub war brechend voll. Sie hatten nur noch direkt beim Eingang einen Barhocker ergattert, den sie nun als Abstellfläche für ihre Gläser benutzen. Mit ihr, Barry und seinem Cousin standen Matt, Bernard, Will und Anne darum versammelt. Heute waren sogar die Tische besetzt, die Gordy Whittaker normalerweise für die Gäste reservierte, die in seinem Pub etwas essen wollten. Das Angebot im George’s änderte sich nie, aber Gordys Frau frittierte jede Portion Fisch und Chips frisch, ihre Fleischpastetchen waren berühmt und für Wagemutige bot sie sogar einen Shrimps-Cocktail an, über den Kathleens Maman allerdings die Augen rollte.
Mon dieu! Meeresfrüchte, Mayonnaise, Ketchup und Dosenmandarinen, furchtbar!
Aber den Gästen schmeckte es. Gordy trug schon das zweite Tablett mit hohen, mit einem Salatblatt ausgelegten Kelchgläsern aus der Küche zu den Tischen. Meist stellte er sie vor Leute, die Kathleen noch nie im George’s gesehen hatte. Sie waren sicher für den Gig gekommen. Freitags gab es bei Gordy Whittaker immer Livemusik, rechts und links der kleinen Bühne waren auch schon die Scheinwerfer eingeschaltet. Kathleen hoffte nur, dass er nicht wieder eine Gruppe eingeladen hatte, die traditionelle Folkmusik spielte. Wenn die Band, Gott behüte, einen Reel spielte, wollten Bernard und Will todsicher wieder mit ihr tanzen und dann wurde es peinlich. Die Jungs grinsten sie über ihre Biergläser hinweg schon wieder an. Sie war zwar in New Haven geboren, aber das war es dann auch schon, was sie mit Schottland verband. Kathleen hatte mit dem altmodischen Reihentanz nichts am Hut. Ihre Eltern waren auch keine Einheimischen, beide hatte es nach dem Krieg eher zufällig nach New Haven verschlagen. Ihr Dad war eigentlich Amerikaner und ihre Maman stammte gar aus La Baule. Das lag auf der anderen Seite des Ärmelkanals, in der Bretagne, und wenn sie beide allein waren, sprachen sie miteinander Französisch.
Die Tür des Pubs ging auf, brachte neue Gäste und einen Schwall nasskalter Luft in Haus. Kathleen schloss ihren Sweater. Es stimmte nicht, dass es in Schottland dreihundert Tage im Jahr regnete, aber draußen ging gerade wirklich ein Wolkenbruch nieder, der beinahe den Geräuschpegel im Pub toppte. Kathleen hoffte, dass es bald wieder aufklarte. Paul, der ein genauso furchtbarer Besserwisser war wie seine Mutter, behauptete, nach der Sperrstunde würden Sternschnuppen fallen und wenn sie sich dabei etwas wünschte, würde es in Erfüllung gehen. Sie dürfe den Wunsch nur niemandem verraten. Kathleen glaubte nicht an solche Märchen, aber die Sternschnuppen hätte sie tatsächlich gerne gesehen. Sie zog den Kragen ihres Sweaters noch ein bisschen höher. Hoffentlich war der ältere Herr, der mit seiner Begleiterin in der offenen Tür des Pubs stand, bald mit dem Ausschütteln seines Schirms fertig. Es zog.
Nicht nur sie und ihre gesamte Clique, sondern auch andere Gäste seufzten erleichtert, als er das tropfende Ding zusammenklappte, im Schirmständer deponierte und endlich die Eingangstür schloss. Er reichte der Dame ritterlich den Arm. Beide gingen dicht an Kathleen vorbei in den Pub.
„Wollen wir uns an einen der Tische vor der Bühne setzen, Ellie?“
„Meinetwegen.“
Kathleen streifte ein gleichgültig-hoheitsvoller Blick. Die Dame schien direkt von einer Fuchsjagd zu kommen. Sie trug die typische rote Jacke für einen Parforceritt, Breeches mit ledernem Hosenboden, hohe Stiefel und eine Schirmkappe mit Kinnriemen. Fehlten nur noch Jagdhorn und Peitsche, meine Güte! Beide, die Dame und ihr Mann schienen aber wichtige Persönlichkeiten zu sein. Kathleens Musiklehrerin, Miss Ortiz, ließ Pauls Mutter an Gordys Tresen stehen, mit der sie bis zum Eintreffen des älteren Paars geplaudert hatte, und ging ihnen zur sichtbaren Empörung der Ich-will-aber-nichts-gesagt-haben bis zur Mitte des Pubs entgegen. Sie befanden sich damit zu weit entfernt, als dass Kathleen etwas von der Begrüßung verstanden hätte. Aber sowohl ihre Musiklehrerin wie Gordy verhielten sich fast unterwürfig.
„Wisst ihr, wer die sind?“
„Nein. Auch eine?“ Matt, der neben ihr stand, fischte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Brusttasche und bot ihr daraus an.
„Danke. Du weißt doch, dass ich nicht rauche.“
„Stimmt.“ Matt zündete sich die Zigarette an und blies Rauch in die blaue Wolke hinauf, die dick und träge über den Tischen hing. Hier, in der Nähe des Eingangs, war der Qualm zu ertragen. Aber an der Bar musste die Luft zum Schneiden sein.
„Du trinkst auch nicht, wie?“
„Keinen Alkohol.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihr Dad und ihre Maman sagten, das sei eine schlechte Angewohnheit, mit der sie besser nicht anfing. Außerdem schadete es der Stimme. Kathleen sang im Kirchen- und im Schulchor, und Miss Ortiz hatte ihre Eltern davon zu überzeugen versucht, sie Gesang studieren zu lassen. Aber davon wollte ihr Dad nichts wissen.
Sie darf meinetwegen gern nach Glasgow aufs Lehrerseminar. Sängerin, das ist nichts Solides. Das haben Sie doch selbst erfahren, Miss Ortiz!
Kathleens Musiklehrerein zog sich nun von dem älteren Paar zurück, das seinerseits an dem Tisch Platz nahm, zu dem Gordy Whittaker beide geleitet hatte. Er verabschiedete sich auch, mit einer Verbeugung, und stieg die zwei Stufen zur Bühne hinauf. Dort klopfte er gegen das Mikrofon. Der Besitzer des George’s beugte sich vor.
„Liebe Freunde, liebe Gäste! Wir freuen uns, dass wir endlich einmal wieder unseren Freund Alec mit seiner Combo bei uns begrüßen dürfen. Er lebt und arbeitet in London, aber er ist noch immer einer von uns! Bühne frei für Alec McLean!“
Will, der zwei, wenn nicht sogar drei Jahre älter war als sie alle, weil er nach einem schweren Autounfall mehr als ein Jahr nicht zur Schule hatte gehen können und darum erst mit ihnen den Abschluss gemacht hatte, stieß Kathleen mit dem Ellenbogen an. Er sagte dicht an ihrem Ohr: „Alec arbeitet in London, in einer Baufirma. Ich weiß das, weil mein alter Herr drüben in Glasgow mit seinem Golf spielt.“
„Ah …“
Wills Eltern konnten sich dieses Hobby leisten. Seine Mutter hatte Kathleen unlängst diskret zu verstehen gegeben, dass ihr Sohn nichts für sie sei. Ihr Dad hätte nur eine Tankstelle mit Reparaturwerkstatt, das ließe sich nicht mit der Tätigkeit ihres Mannes als Immobilienmakler vergleichen. Eine überflüssige Warnung: Kathleen mochte Matt, mehr aber nicht. Sie schielte trotzdem zur Sicherheit nach der Ich-will-aber-nichts-gesagt-haben. Es fehlte ihr noch, dass ihr Pauls Mutter andichtete, sie hätte es auf Will abgesehen. Die alte Klatschbase konzentrierte ihre Aufmerksamkeit aber völlig auf das ältere Ehepaar.
„Er hätte eigentlich Arzt werden sollen wie sein alter Herr.“ Will sprach weiter. „Aber Alec hat nach dem Physikum hingeschmissen und zum größten Kummer seiner Mutter auf Bauingenieur umgesattelt. Er spielt sagenhaft gut Klarinette. Musik haben sie ihn ja leider nicht studieren lassen.“
Ein warmes Gefühl breitete sich in Kathleen aus. Sie wusste nicht genau, ob sie wirklich gern Sängerin geworden wäre. Das blieb vielleicht wirklich besser ein Wunschtraum. Aber dass auch dieser Alec von seinen Eltern zu einer vernünftigen Entscheidung gedrängt worden war, verband sie beide irgendwie. Auch wenn er das wahrscheinlich nie erfahren würde. Sie richtete gespannt den Blick auf die Bühne, die drei Männer mit Blasinstrumenten in den Händen von der Seite her betraten. Sie spielten Trompete, Tuba und Posaune, und Kathleen kannte sie zu ihrer Enttäuschung. Alle drei waren über fünfzig und gehörten zur Feuerwehrkapelle von New Haven, die von der Beerdigung bis zur Bürgermeisterwahl alles begleitete. Gordy Whittaker streckte dramatisch einen Arm Richtung Seitenbühne aus.
„… einen donnernden Applaus für Alec McLean!“
Seine Frau zog den Vorhang beiseite und ein noch junger Mann schritt durch tosenden Beifall in die Mitte der Bühne. Alec McLean sah aus wie John Travolta, nur in blond. Er trug knapp schulterlange, leicht lockige Haare und lange Koteletten, einen sauber gestutzten Vollbart und die elegantesten Hosen, die Kathleen je gesehen hatte. Londoner Schick eben, cremeweiß, mit einem hohen Torerobund und weiten Schlägen, die dazu passende Weste stand genau wie bei Travolta in Saturday Night Fever offen. Anders als im Film hielt Alec McLean sein weinrotes Hemd aber bis auf den obersten Kragenknopf geschlossen. Eine haarige Männerbrust, auf der eine Kette und eine Goldmünze baumelten, wäre für New Haven auch mit Sicherheit zu wagemutig gewesen. Die Dame im Reitanzug, die mit ihrem Mann am Tisch vor der Bühne saß, wirkte selbst so schon einigermaßen angefressen. Alec McLean zwinkerte ihr zu und hob lächelnd eine schwarze Klarinette an die Lippen.
Das Instrument begann jubelnd die Rhapsody in Blue und Kathleen stieg am ganzen Körper Gänsehaut auf. Gershwin war ihr Lieblingskomponist. Sie besaß die Rhapsody zweimal auf LP, einmal als Klavierkonzert und einmal in der Fassung für großes Orchester, von der dieses Arrangement für Bläser höchstens eine stark abgespeckte Version darstellte. Aber das tat dem Zauber keinen Abbruch. Leider gefiel Gershwin den Gästen im Pub nicht so gut wie ihr, der Geräuschpegel der Gespräche schwoll wieder an. Doch nach drei, vier Takten steigerte Alec McLean das Tempo und die Bläser glitten geschmeidig aus der Rhapsody in Blue in eine gänzlich andere Melodie: Glenn Miller, In the Mood.
Tosender Beifall brach aus. Der Rhythmus ging in die Beine, Kathleen wippte mit dem Fuß. Matts Eltern, die heute Abend natürlich auch hier waren, eilten mit mehreren anderen Paaren nach vorne auf die kleine Tanzfläche vor der Bühne. Auch Bernard hielt es nicht mehr auf seinem Platz, er forderte Sharon aus der Klasse unter ihnen auf, die ein paar Meter weiter bei ihrer eigenen Clique stand. Doch leider endete In the Mood schon nach kurzer Zeit. Kathleen klatschte wie wild, und beim Chattanooga Choo Choo sang sie dann laut mit.
Pardon me, boy, is that the Chattanooga Choo Choo Yes, yes! Track twenty-nine Boy, can you gimme a shine…
Swing war verdammt altmodisch, aber sie liebte ihn. Matt und die anderen hielten sie bestimmt für komplett durchgeknallt, aber es riss sie einfach mit. Sie wiegte sich im Takt und war so ins Singen und Tanzen vertieft, dass sie zuerst gar nichts begriff, als ihre Musiklehrerin nach dem Song quer durch den Saal direkt auf sie zusteuerte.
„Hi, Kathleen! Ich möchte gerne, dass du mit mir auf die Bühne kommst. Alec hat mich vorhin gefragt, ob ich nicht eine Leadsängerin für die Moonlight Serenade wüsste.“
Ihr Lieblingslied von Glen Miller! Kathleens Herz tat einen harten Schlag.
„Miss Ortiz, ich weiß nicht …“
„Nur keine Angst, du bekommt ein Notenblatt mit unterlegtem Text. Du wirst das großartig machen. Außerdem ist Gordys Pub nicht die Royal Albert Hall. Hier nimmt es dir niemand übel, wenn du nicht jede Note triffst.“
Die Combo machte gerade eine kurze Pause ‒ oder vielmehr der ältere Herr war von seinem Platz neben der Dame aufgestanden und zu Alec McLean auf die Bühne getreten. Scheinbar wollte er ihm zu seinem Spiel gratulieren.
„Aber …“
„Kathleen, ich bin ja auch noch dabei.“
Ihre Musiklehrerin nahm sie bei der Hand. Es hätte nicht gut ausgesehen, wenn sie sich jetzt noch gewehrt hätte, deshalb ging sie widerspruchslos mit. Kathleen klopfte das Herz bis zum Hals. Miss Ortiz führte sie die Stufen hinauf auf die Bühne. Ihr Griff war ziemlich fest.
„Hi, Alec! Hier, ich stelle dir meine beste Schülerin vor. Kathleen Hollander hat einen wunderhübschen Sopran!“
„Das habe ich gerade eben schon gehört.“ Alec McLean drückte ihr lächelnd ein Notenblatt in die Hand. „Deine Stimme ist außergewöhnlich tragfähig.“
Gott – hatte sie zu laut gesungen? Aus der Nähe sah er fast noch besser aus. Allerdings war er doch nicht mehr ganz so jung, wie sie zuerst gedacht hatte. Sie schätzte, dass er mindestens sechs Jahre älter war als sie. Wenn er ein Medizinstudium abgebrochen und danach Bauingenieur studiert hatte, war er vielleicht schon dreißig. Aber er lächelte sie immer noch an. Kathleen zitterten die Knie.
„Keine Angst, du schaffst das! Wir wiederholen zum Eingewöhnen den Chattanooga Choo Choo. Als nächstes kommt Pennsylvania Six-Five Thousand da singen wir alle zusammen nur den Refrain, der Marsch American Patrol ist ein reines Instrumental, und du bist dann erst wieder zum krönenden Abschluss mit Moonlight Serenade dran. Okay?“
Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, ihr Herz hämmerte, doch Alec lächelte immer noch. Sie nickte wie unter einem Zwang.
„Dann los!“ Er hob die Klarinette an die Lippen, nickte der Combo zu und gab den Einsatz.
„Pardon me, boy …“
Die erste Zeile war eine Katastrophe, doch dann siegte Kathleens Ehrgeiz. Sie würde sich nicht vor allen Leuten blamieren. Das Scheinwerferlicht blendete, sie nahm die Menge im Pub nur sehr undeutlich wahr. Sie schwitzte und fror gleichzeitig, es zog scheußlich auf der Bühne. Außerdem wurde ihr von der Mischung aus Zigarettenqualm und Frittierfett schlecht, die hier aufeinandertraf. Der Chattanooga Choo Choo zog sich endlos. Alec wiederholte ihn zweimal. Kathleen fürchtete schon, dass sie ihn bis zur Sperrstunde singen musste. Aber der Song endete schließlich doch. Es folgte Pennsylvania Six Five Thousand und sie brauchte sich mit Miss Ortiz wie besprochen einfach nur in den Chor der Männer einzuhängen, die für den Refrain die Instrumente absetzten und laut mitgrölten. Oh je, so wunderbar Alec spielte, seine Stimme war nicht besonders …
American Patrol besaß dann gar keinen Text, und Kathleen überlegte, ob sie unauffällig zur Seite gehen, oder die Bühne sogar verlassen sollte. Einfach herumzustehen kam ihr dumm vor. Aber auf einmal fasste Miss Ortiz sie um die Taille und zog sie in eine Art Exerzierübung. Es war ein bisschen peinlich, doch die Bewegung hielt sie vom Nachdenken ab. Sie musste mitzählen, damit sie beim Marschieren mit ihrer Musiklehrerin im Takt blieb. Die Leute klatschten, der Schlager verklang und Alec nickte ihr für ihren Einsatz in Moonlight Serenade zu.
Kathleen konzentrierte sich, strengte sich an, und legte Gefühl in die Melodie. Sie war fast überrascht, als der letzte Ton der Klarinette verklang.
Das Publikum klatschte. Es war vorbei. Mitten unter den Leuten stand die Ich-will-aber-nichts-gesagt-haben und Kathleen bekam Panik. Sie wollte nur noch von der Bühne, aber Alec McLean und Miss Ortiz packten sie bei den Handgelenken und zogen sie ganz nach vorn an die Rampe. Alec schubste sie sogar ein bisschen.
„Verbeug dich. Das gilt dir.“
„Nein, dir. Sie klatschen, weil du super gut spielst.“
„Danke! Ohne dich hätte es aber nicht so gut funktioniert. Du singst toll. Nicht jede hätte sich getraut, vor allen Leuten zu singen, und dabei bist du doch höchstens sechzehn.“
„Achtzehn! Ich gehe im Herbst nach Glasgow, aufs Seminar. Ich will Musiklehrerin werden.“
„Warum nicht gleich Sängerin? Das Zeug dazu hast du!“
„Danke.“ Kathleen platzte heraus: „Miss Ortiz sagt es auch, aber meine Eltern lassen mich nicht.“
Das hatte sie überhaupt nicht sagen wollen. Sie wurde rot. Alec streckte eine Hand aus, drückte ihre Schulter. „Ich verstehe dich gut. Aber schau, du kannst nach dem Seminar jederzeit umsatteln. Sie rechnen dir die Semester an, wenn du ein Musikstudium anhängst.“
„Ja?“
„Ja. Wie auch immer …“ Er schien zur Besinnung zu kommen. „Lass dir von mir nicht den Abend verderben. Gordy schließt um elf zu. Bleibst du dann noch? Die Jungs und ich wollten noch eine Swing-Session anhängen. Ich fände es klasse, wenn du weiter mit uns singst.“
„Ich bleibe auch da.“ Ihre Musiklehrerin berührte sie am Arm. „Gordy ruft bei den Carmichaels an, damit das mit deinen Eltern in Ordnung geht. Nicht dass du Schwierigkeiten bekommst.“
Miss Ortiz zwinkerte Kathleen zu und wies auf Pauls Mutter. Die Ich-will-aber-nichts-gesagt-haben neigte den Kopf schief wie ein Vogel und beobachtete weiter das ältere Ehepaar, das gerade aufstand und offenbar gehen wollte. Der ältere Herr zahlte mindestens mit einer Zwanzigpfundnote. Kathleen sah nur zwei Gläser auf dem Tisch stehen, und Gordy kramte endlos in seiner Geldbörse, bis er das Wechselgeld zusammen hatte.
Miss Ortiz seufzte.
„Weißt du, ich bin ganz froh, dass Doktor McLean und Lady Elinor gehen. Sie ist immer so steif. Dabei muss sie eigentlich froh sein, dass er sie geheiratet hat. Ihr Urgroßvater hat zwar die Fabrik aufgebaut, aber die ging schon vor dem Zweiten Weltkrieg pleite. Es ist ein Wunder, dass sie den alten Kasten halten können.“
„Was, Lady Elinor ist eine geborene Eldridge?“
„Ja. Von Eldridge Hall. Hast du das nicht gewusst?“
Julia: Anfang Oktober 2019
Was machst du, wenn sich dir unerwartet eine Chance eröffnet, von der du nie zu träumen gewagt hättest? Ich jedenfalls fühlte mich zuerst ziemlich davon erschlagen. Natürlich wollte ich meiner Grandmère gerne glauben, kritisch betrachtet hielt ich es aber für wahrscheinlicher, dass ich in nicht mehr ganz zwei Wochen beim Notar erfuhr, mein unbekannter Großvater hätte Eldridge Hall der Stadt, dem Tierschutz oder meinetwegen Greenpeace vermacht. Schließlich hatte er sich sein ganzes Leben nicht um mich gekümmert. Ich saß auf der Couch, schnäuzte immer noch wie ein Weltmeister und betrachtete missmutig den Bambusdschungel an der Wand. Mir fiel langsam die Decke auf den Kopf. Eine fette Erkältung und ein Sturmtief waren eine Scheißkombination. Das Wetter wechselte normalerweise hier an der Küste schnell, aber das aktuelle Tiefdruckgebiet hatte offensichtlich beschlossen, sich über Schottland häuslich niederzulassen. Ich war schon in der Nacht mehrmals von heftigem Regen aufgewacht, und das Klopfen gegen mein Fenster wollte und wollte auch jetzt noch nicht nachlassen. Schwere graue Wolken hingen über New Haven, Sturmböen pfiffen ums Haus und gerade stülpte unten ein heftiger Windstoß den Schirm eines Passanten zur Parabolantenne um. Er beschleunigte seine Schritte. Armer Teufel, der Wettergott öffnete gerade alle Schleusen. Das Rauschen ging in ein gemeines Trommeln und dann sogar in Donnern über. Wasservorhänge stürzten vom Himmel, und es wurde so dunkel, dass ich aufstand. Ich schaltete das Licht ein, und weil ich schon einmal unterwegs war, ging ich auch gleich zum Herd.
Vielleicht lag es an der Sintflut draußen, aber ich bekam Lust auf die Hühnersuppe, die ich mir gestern trotz meines Erkältungselends gekocht hatte. Im Fallrohr der Regenrinne, die direkt neben der Küchenzeile die Außenwand hinabführte, gurgelte es gefährlich und dann lief sie über. Ein Wasserfall platschte auf den Gehsteig. Es spritzte, und alles war furchtbar laut und lenkte mich genug ab, dass ich nur aus den Augenwinkeln mitbekam, wie die Suppe hochwallte. Jesus! Ich zog sie schleunigst vom Ceranfeld. Puh, wenn sie eingebrannt wäre! Den Gestank hätte wahrscheinlich sogar ich mit meiner Schnupfennase gerochen.
In einer Profiküche verstieß man nur einmal gegen den obersten Grundsatz auf jedem Posten:
Keiner lässt den Blick vom Herd, solange dort etwas in seiner Verantwortung kocht oder brät!
Ich schämte mich gründlich und fischte das Leinensäckchen aus dem Topf. Es enthielt einen Zweig Rosmarin, zwei getrocknete Limetten aus dem Iran, fünf Gewürznelken und ein großes Stück frischen Ingwer. Es war nicht das klassische Rezept, traditionell hätte ein Bouquet garni aus Möhre, Lauch und Sellerie hineingehört. Aber ich hasste Sellerie. Außerdem hätte jeder Küchenchef, unter dem ich gearbeitet hatte, uns, die Brigade, angewiesen, die Schnittflächen der halbierten Zwiebel beinahe schwarz zu rösten, bevor sie mit Schale und etlichen Knoblauchzehen zu den Hühnerteilen in den Topf kamen. Das gab dem Endprodukt eine goldene Farbe, und wir hätten die Suppe zuletzt mithilfe von Hackfleisch und geschlagenem Eiweiß zu einer glasklaren Flüssigkeit geläutert. Vom Geschmack her war das Schnickschnack, Trubstoffe führten aber im Restaurant zu Minuspunkten und Panik beim Chef. Vor allem, wenn das Gerücht umging, Tester des Guide Michelin seien unterwegs. Herrlich, endlich durfte ich kochen, wie es mir schmeckte!
Ich goss einen Schöpflöffel heiße Suppe in eine große französische Kaffeetasse und wollte sie gerade kosten, als meine Grandmère anrief. Der Wolkenbruch prasselte munter weiter, und ich stellte die Tasse ab und stopfte mir einen Finger ins Ohr.
„Hallo, Mémère! Regnet es bei euch auch wie verrückt?“
„Ja, furchtbar, der reinste Weltuntergang! Aber deshalb rufe ich nicht an. Julia, ich habe nachgedacht: Es ist vielleicht doch besser, du übernimmst Eldridge Hall nicht. Das Haus ist ein schrecklicher alter Kasten. Kohlrabenschwarz. Dein Großvater Kenneth konnte Lady Elinor zwar überreden, dass sie den Landsitz wenigstens an den Abwasserkanal anschließen ließ. Aber wenn sich in den letzten dreißig Jahren nicht alles geändert hat, liegen die Stromleitungen immer noch auf Putz. Von der mittelalterlichen Heizung nicht zu reden. Als du geboren warst, musste dich deine Mutter in der Küche baden.“
„Was – hatten sie kein Badezimmer?“
„Doch. Aber Lady Elinor hielt es für unnötig, extra für dich kleines Baby den Badeofen anzuschüren.“
Weiß Gott, eine liebende Großmutter! Ich sagte es nicht, weil mich die Kehrtwende meiner Grandmère wesentlich mehr beschäftigte.
„Gestern warst du doch noch ganz euphorisch, dass ich Eldridge Hall erbe. Was hat sich geändert, dass du mir jetzt abrätst?“ Ich ging zum Fenster. Der Regen hatte fast aufgehört. „Hörst du, es tröpfelt nur noch. Wollen wir uns das Haus nicht wenigstens einmal ansehen? Ich bekomme einen Lagerkoller, wenn ich weiter hier auf der Couch festsitze.“
„Du bist es nur einfach nicht gewöhnt, die Füße stillzuhalten.“
„Mémère, du würdest auch zu viel kriegen, wenn du ständig Bambuswälder vor Augen hättest!“ Und alle Zweige giftgrün … „Wenn es noch länger dauert, tritt Solomon Linda aus der Wand und singt In the jungle, the mighty jungle, the lion sleeps tonight.“
Meine Grandmère lachte herzlich. „Liebes, du kannst dich demnächst nach Herzenslust mit dem Aussuchen schönerer Tapeten austoben. Vergiss meine Bedenken. Du hast völlig recht, eine Chance wie diese bekommst du nicht noch einmal. Und falls es doch schiefgeht, bist du noch jung genug, um wieder irgendwo in einem anderen Hotel anzufangen.“
Nur, dass ich dann, im schlimmsten Fall, einen Berg Schulden mit mir nahm. Herzlichen Dank, außerdem … noch besaß ich den Landsitz nicht.
„Gut, Mémère! Ich hole dich in spätestens zwanzig Minuten bei dir ab. Ciao!“
Ich legte das Smartphone weg, trank die Brühe, die mehr Salz vertragen hätte, und wickelte mir einen Schal um den Hals. Es gab nur ein kleines Problem: Ich wusste nicht genau, wo Eldridge Hall lag. Irgendwo am südlichen Stadtrand, aber an mehr erinnerte ich mich nicht. Wir waren aus New Haven weggezogen, als ich neun gewesen war, und seitdem hatte sich die Stadt natürlich stark verändert. Sie war zum Beispiel bis fast an die Hänge der Range herangewachsen, was mir aber in den Jahren, in denen ich immer nur schnell am Bahnhof in ein Taxi gesprungen war, um meine Grandmère zu besuchen, nie recht bewusst geworden war. Ich war auch oft zu nachtschlafender Zeit angekommen. Mit Eldridge Hall verband ich nur ein verschwommenes Bild, den Eindruck eines dunklen Gebäudes hinter Bäumen auf dem Hügel oberhalb von Onkel Bobs Gärtnerei. Die es auch nicht mehr gab. Sie war ebenso verschwunden wie die verwilderten Parzellen der Arbeitergärten, die sich hinter seinen Blumen- und Gemüsebeeten angeschlossen hatten. Onkel Bobs Enkel Ray, eigentlich Raymond, und ich waren schon im Kindergarten unzertrennlich gewesen. Wir hatten nur über den Zaun hinter dem großen Gewächshaus klettern müssen, um in unser bevorzugtes Abenteuerspielgelände zu gelangen. Dort, in diesem Gewächshaus, war auch das Unglück geschehen. Ich sah den Berg aus verbogenem, ausgeglühten Metall und die Glasscherben noch heute vor mir. Genau wie die Blumen, die wir nacheinander dort abgelegt hatten, meine Mutter, meine vor Weinen zitternde Grandmère und zuletzt ich.
„Mein Gott!“
Die Erkenntnis, wo sich meine Grandmère für ihren Lebensabend eingemietet hatte, traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wusste, wo Eldridge Hall lag, hatte den Landsitz, oder besser gesagt den Hügel, auf dem er lag, sogar jedes Mal gesehen, wenn ich sie hier besucht hatte. Nur bis gerade eben den Zusammenhang zwischen der Straßenbezeichnung Old Garden Road und den aus Büschen, alten Apfelbäumen und hohem Gras bestehenden Brachflächen meiner Kindheit nicht begriffen. Sie waren längst verschwunden, auf dem gesamten Gelände standen nun Häuser. Aber wir mussten auf dem Weg nach Eldridge Hall unvermeidlich auch an dem Unglücksort vorbei. Ich griff zum Smartphone.
„Ich bin es noch einmal, Mémère. Entschuldige. Es tut mir so leid. Du musst gedacht haben, ich habe total vergessen, was damals passiert ist. Wenn es für dich zu schmerzlich ist, fahre ich allein hin.“
Sie lachte. „Liebes, mach bitte kein Drama daraus. Ob du es glaubst oder nicht, hier zu leben, gibt mir Frieden. Ich habe mich in Glasgow nie richtig wohlgefühlt.“
So wenig wie ich. Der Neuanfang war für uns alle schwierig gewesen. Meine Mutter hatte plötzlich jeden Tag mit uns zusammengelebt, statt wie vorher nur an den Wochenenden. Sie war an meiner neuen Schule nun auch meine Musiklehrerin gewesen und an meinem Talentmangel beinahe verzweifelt. Wenn ich alles konnte, wunderschön singen wie sie, das war mir nicht gegeben. Dazu kam, dass meine Grandmère durch ihren neuen Posten als Hausmutter des Schulinternats dort die meiste Zeit für mich unerreichbar gewesen war. Und zu allem Überfluss hatte ich auch noch Ray verloren.
„Ihr habt mir nie gesagt, warum ihr eigentlich umgezogen seid.“