Die Säbelschwadron - Simon Raven - E-Book

Die Säbelschwadron E-Book

Simon Raven

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Beschreibung

Mit gemischten Gefühlen begibt sich der jüdische Wissenschaftler Daniel Mond auf Geheiß seines Doktorvaters 1952 von Cambridge aus nach Göttingen, wo der rätselhafte Nachlass eines deutschen Mathematikers lagert, der Mond bei seiner eigenen Arbeit weiterhelfen soll. Auch die Vertreter einiger Geheimdienste interessieren sich für das Geheimnis hinter den Aufzeichnungen: Ein amerikanischer Historiker mit erstaunlich viel Zeit, ein dubioser ehemaliger Wehrmachtsoffizier, ein diabolischer englischer Füsilier und ein Göttinger Mathematiker, der selbst an der Entschlüsselung der Schrift gescheitert ist — sie alle suchen Monds Nähe. Eigentlich ein erklärter Pazifist, freundet dieser sich aber ausgerechnet mit Soldaten eines Panzerregiments an, die in einem Militärmanöver zwischen Bielefeld und Baden-Baden die Kriegsführung nach einem atomaren Angriff üben. Als Mond kurz vor der Vollendung seiner Arbeit in immer merkwürdigere und bedrohlichere Situationen gerät, bittet er seinen Freund Fielding Gray, den Kommandeur der Panzerschwadron, um einen großen Gefallen. Im aufkommenden Kalten Krieg wird das beschauliche Göttingen zu einem Ort, an dem zwei britische Traditionsregimenter aus ihrer prunkvollen Vergangenheit ins Atomzeitalter taumeln und an dem antikommunistische Amerikaner ebenso mit alten Nazis anbandeln wie britische Antiamerikaner. "Die Säbelschwadron" ist ein unterhaltsamer Roman über den Besitz von Wissen im Kampf der Mächte — und darüber, wie sich althergebrachte Werte und nostalgisch gepflegte Traditionen in der modernen Zeit bewähren.

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Inhalt
Titelseite
Impressum
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Teil 6
Teil 7
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Simon Raven

Die Säbelschwadron

Roman

Aus dem Englischen übersetzt

von Sabine Franke

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1966unter dem Titel

»The Sabre Squadron« bei Anthony Blond, London.

Band 3 des Romanzyklus »Almosen fürs Vergessen«

Copyright ©Simon Raven, 1998

First published as part of »Alms for Oblivion«:

Volume I by Vintage, an imprint of Vintage.

Vintage is part of the Penguin Random House

group of companies.

Die Übersetzung dieses Bandes

wurde mit freundlicher Unterstützung der

Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung

ermöglicht.

© 2020 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96160-042-7 (E-Book)

ISBN 978-3-96160-012-0 (Druckausgabe)

Teil I

Il Penseroso

Kaffeebitte. Schwarz«, sagte Daniel Mond.

Der Kellner verbeugte sich und schlurfte über die Ter­ras­se davon. Etwas weiter den Hügel hinab ertönte aus den von den Briten belegten Kasernen vernebelt der Ruf eines Signalhorns. Oben auf dem Bergrücken erstreckte sich der som­­merlich grüne Wald mit seinen raschelnden Blättern und duftenden Kiefern, der sich zu Daniels Rechten ins Tal hinabzog bis zu der Parkanlage, von der die Stadt auf dieser Seite umrahmt wurde. Dort waren die Vororte, hübsch nacheinander aufgereiht, und dahinter schließlich Göttingen, wie ein Pastiche einer mittelalterlichen Stadt aus dem achtzehnten Jahrhundert, wohlgeordnet, freundlich und doch unverkennbar gotisch, mit den drei im Dunst der Mittagshitze flimmern­den Türmen. Ein ansehnlicher Ort, dachte Daniel, als er von der Terrasse auf dem Hügel hinabsah – unaufgeregt, kultiviert und gesittet.

Der Kellner schlurfte wieder herbei, über die Terrasse, stellte den Kaffee ab und blickte Daniel für einen kurzen Moment mit diesem Ausdruck an, verhuscht, schuldbewusst, aggressiv, ein Ausdruck, wie er ihn im Laufe der vergangenen drei Monate auf so vielen Gesichtern gesehen hatte und der bei ihm, selbst hier, einen leichten, eisigen Schauder in der Magengrube hervorrief. Komm schon, dachte er, zum tausendsten Mal sich selbst zur Ruhe gemahnend: Wir leben mittlerweile im Jahr 1952, es ist über sieben Jahre her, dass mit all dem Schluss war, sie werden es bald vergessen, sie werden es vergessen müssen. Ein kurzer Blick durfte ihm einen Nachmittag wie diesen nicht verderben. In wenigen Minuten würde er aufbrechen, über die Wiese und den Berg hinabgehen, auf die Mauer um die merkwürdig elegant wirkenden Kasernenbauten treffen, die die Nazis 1935 errichtet hatten (natürlich kein Anlass mehr zur Sorge), er würde ihr ein Stück folgen, um dann rechts in den kühlen Wald zu biegen; in einer halben Stunde würde er in Göttingen zurück sein, würde der Gänseliesel in ihrer klei­nen Laube Guten Tag sagen und dann die enge Straße hin­­abgehen, vorbei an der Spelunke, in der die Deutschen Skat spielten, zu seiner Unterkunft in dem Wohnhaus mit der schiefen weißen Front. Er würde sich der dort wartenden Arbeit widmen; würde die mit grazilen mathematischen Zeichen bedeckten Ma­nuskriptseiten nach den Erkenntnissen durchforsten, denen er auf der Spur war und die sich ihm doch gewiss in Bälde offenbaren mussten, Formeln wie seine eigenen, rein, präzise und asketisch, und doch springlebendig, weil sie den Stoff ent­hielten, aus dem sich Bezauberndes, ja gar Fantastisches spinnen ließ, voller Mysterien, die über sich hinausdeuteten. Später dann, viel später, wenn er erschöpft und somit innerlich für einige Stunden zur Ruhe gebracht wäre, würde er seine Blät­ter zu einem Stoß ordnen, ihnen laut Gute Nacht sagen und hinaustreten in die freundlichen Gassen, um irgendwo zu Abend zu essen.

Ein prächtiger Nachmittag im ausgehenden Juli, ein Spaziergang gemächlich den Berg hinab in eine friedliche und anheimelnde kleine Stadt, vor ihm mehrere Stunden einer ihm geistesverwandten, ihn gänzlich absorbierenden Forschungsarbeit – nein, keine Aussicht, die sich einfach zunichtemachen ließ vom scheelen Blick eines alternden Kellners, der noch erbittert grollte angesichts der wohlverdienten Schande, die sein Land auf sich gebracht hatte. Und doch rief ihm dieser Blick so vieles in Erinnerung, das er lieber vergessen wollte. Er erinnerte ihn daran, dass er heute Abend, wie letzthin immer, alleine essen würde; dass nun schon seit Wochen irgendetwas – er konnte nicht genau sagen, was –, irgendetwas Tückisches, irgendetwas Trügerisches aus den Zeichen und Zeichenabfolgen sprach, zu denen er in Kürze zurückkehren würde; dass zudem auch sonst irgendetwas nicht stimmte, irgendetwas, zu dem sein Alleinsein gehörte und die Bedrohlichkeit, die diese Zeichen ausstrahlten, und das doch darüber hinausging, irgendetwas, das ihn, während er hier wohlig und gut gesättigt auf der sonnigen Terrasse über Göttingen saß, unvermittelt zu umfangen schien wie ein Luftzug, der einem Grab entströmte.

Damals im Januar, kurz nachdem Dirange, sein wissenschaftlicher Mentor und Betreuer, zum ersten Mal angeregt hatte, dass er doch einige Monate in Göttingen verbringen solle, hatte Daniel die Angelegenheit mit Robert Constable, dem leitenden Tutor des Colleges, besprochen.

»Warum Göttingen?«, hatte Constable gesagt.

»Dirange meint, dass dort Material liegt, das mich voranbringen wird. Unveröffentlichte Abhandlungen, einige Manuskripte …«

»Ich dachte, es wäre Physik, wofür Göttingen bekannt ist. Max Planck, zum Beispiel, Atomtheorie und so weiter. Und ich verstehe es doch richtig, dass Ihre Forschungsarbeit das Reinste der reinen Mathematik zum Gegenstand hat.«

»Physiker entwickeln häufig neue Methoden, die für uns von Interesse sind. Genauso wie … bedauerlicherweise … unsere Formeln häufig für sie von Nutzen sind.«

»Bedauerlicherweise?«, sagte Constable, der, von Hause aus Ökonom, etwas gegen die Allüren von Vertretern der »unangewandten« Wissenschaften hatte.

Daniel zuckte jammervoll die Schultern. Wenn er etwas hasste, war es die Richtung, die das Gespräch jetzt nehmen würde, die rechthaberische Betonung des Nutzens, den die Wissenschaften erbracht hätten, und die herablassende Ermahnung, dass, so »wertvoll« die reine Mathematik an sich auch sei, er sich doch nicht zu gut sein dürfe, zu praktischen Anwendungen beizutragen. Doch hatte er sich das selbst eingebrockt, mit einem achtlosen Wort, und nun musste er es, wie ihm scheinen wollte zum millionsten Mal, über sich ergehen lassen.

»Ich meine damit«, sagte er vorsichtig zu dem brüskierten Tutor, »dass Physiker manchmal nicht grade zimperlich sind, wenn sie sich unserer Zuarbeit bedienen. Die Atombombe …«

»Mag sein. Aber Ärzte? Wie ich höre, erweist sich die Biomathematik als große Hilfe bei der Entwicklung neuer Heilverfahren für Blutkrankheiten.«

»Indem die grundlegenden Theorien der Stochastik auf das Verhalten der Blutkörperchen angewendet werden«, sagte Daniel. »Jedes Kind könnte das.«

Zu den Dingen, mit denen sich Daniel das Leben schwermachte, gehörte, dass er oft, einfach aus Nervosität, entweder viel mehr oder viel weniger sagte, als er eigentlich wollte. Entweder wirkte er dann vergnatzt (statt über allem zu stehen), oder aber speichelleckerisch (statt sich besonnen zurückzuhalten). In diesem Fall nun hatte er sich aus Missfallen zu einer inakkuraten Äußerung hinreißen lassen und erwartete mit Schrecken Constables Erwiderung. Zu seinem großen Glück klingelte da jedoch das Telefon.

»Leitender Tutor, Lancaster College«, sagte Constable und horchte dann drei Minuten lang mit wachsender Ungeduld in den Hörer. »Ich bestelle ihn heute Abend ein«, schnauzte er in den Apparat, »wenn er in einer Woche nicht gezahlt hat, kann er seine Sachen packen und heimfahren.«

Ärgerlich, mit wild blitzenden Augen, wandte er sich wieder Daniel zu.

»Nichtswürdiger Kerl!«, sagte er. »Kommt hier ans College und tut so, als wäre er reich, Champagnerpartys und Leihwagen, sorgt für allerlei Unmut unter den weniger begüterten Studenten, und bleibt dann seiner Vermieterin das Geld schuldig!«

Constable sprach, wie Daniel bemerkte, das Wort »Unmut« aus, als wäre dies eine rühmliche Gemütsregung, die ihren Träger adelt.

»Entweder er zahlt oder er kann von hier verschwinden«, schimpfte Constable weiter, vor Entrüstung nicht mehr so ge­wählt und in schärferem Ton. »Mit der Dollerei ist jetzt Schluss. Extravaganz toleriere ich nicht«, sagte er, langsam wieder aufs Allgemeine zurückkommend, als sein Ärger nachließ, »auch nicht bei denen, die es sich leisten können. Wo waren wir stehengeblieben?«

»Wissenschaftliche Abhandlungen und andere Dokumente an der Universität Göttingen«, sagte Daniel. »Insbesondere, meint Dirange, der Nachlass von Dortmund.«

»Was ist denn an dem so interessant?«

»Als er 1938 starb, war er dabei, einen neuen Matrizentyp auszuarbeiten. Er hatte die Idee, dass die Zeichen nicht wie bisher nur zweidimensional rechtwinklig angeordnet werden sollten, sondern dreidimensional, womit sich die Zahl der Beziehungen zwischen ihnen stark erhöhen würde.«

»Wie dreidimensionales Schach?«

»Ein recht guter Vergleich«, sagte Daniel und bemühte sich, dabei nicht überheblich zu klingen. »Die Schwierigkeit war jedoch, dass das Ganze zu Papier gebracht werden musste, so dass er auf eine vollkommen neue Notation angewiesen war – um sozusagen die dritte Dimension mit einzubauen.«

»Hätte er«, sagte Constable angestrengt und mit leichtem Verdruss, »nicht einfach dreidimensionale Koordinatenrahmen aufstellen können – aus Draht oder Ähnlichem – und dann kleine Pappstückchen nehmen, mit draufgeschriebenen Symbolen? Die er dann hätte dranklemmen können?«

»Hätte er. Hat er vielleicht auch. Das hätte ihm aber nicht viel gebracht, sobald es ans Publizieren gegangen wäre. Ich meine«, sagte Daniel, und kam sich dabei außerordentlich blöd vor, »er konnte ja wohl kaum kleine Drahtkäfige mit allerlei darin herumbaumelnden Symbolen um die halbe Welt schicken. Also hat er diese neue Notation erdacht, mit der er auf dem Papier abbilden konnte, was er wollte. Und er starb, bevor er sie irgendwem erklärt hatte.«

Constable sagte nichts, ein Zeichen vorbehaltlicher Zustimmung.

»Seine Witwe«, fuhr Daniel fort, »hat all seine Aufzeichnungen der Universität vermacht. Die Nazis waren zuerst sehr neugierig darauf, doch als man ihnen mitteilte, dass Dortmunds Arbeit nicht von erkennbarer wissenschaftlicher Bedeutung sei, verloren sie das Interesse. Eigentlich war es aber so, dass in Wahrheit überhaupt niemand die neuen Zeichen deuten konnte, die Dortmund erfunden hatte. Es gab einige helle Köpfe in Göttingen, und sie holten noch weitere von außerhalb dazu, und doch konnten sie den Code nicht knacken … sozusagen. Dirange jedoch glaubt«, sagte Daniel, sich windend wie Uriah Heep, »dass es mir womöglich gelingen würde … das alles zu entwirren. Was bedeuten würde, dass ich die Matrizen von Dortmund nachvollziehen könnte – und diese mir wiederum als Schlüssel dienen könnten bei einem Teil meines eigenen Forschungsinteresses.«

»Als Schlüssel dienen könnten bei einem Teil«, betonte Constable.

»Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, würde sich die Arbeit lohnen. Dortmund war nie ganz in vorderster Reihe mit dabei, aber er war ein wichtiger Mann. Was er in diesen letzten Jahren seines Lebens gearbeitet hat, sollte wahrgenommen und verfügbar gemacht werden.«

Es folgte ein langes Schweigen.

»Es läuft also darauf hinaus«, sagte Constable freundlich, aber bestimmt, »dass Sie möchten, dass die Collegeleitung Ihnen genehmigt, für einige Zeit nach Göttingen zu gehen. Dort wollen Sie dann eine ehrgeizige Aufgabe bewältigen, an der gestandene Kollegen seit Jahren scheitern und die Sie, selbst wenn Sie es schaffen sollten, womöglich bei Ihrem eigenen Vorhaben, mit dem Sie sich damals bei uns um Ihr Forschungsstipendium beworben haben, gar nicht weiterbringt.«

»Dirange …«

»Dirange mag in der Mathematischen Fakultät hohes Ansehen genießen, aber er ist kein Mitglied unseres Colleges, geschweige denn der Collegeleitung. Das Führungsgremium muss sich auf eine offizielle Linie verständigen. Ihnen wurde im Juli letzten Jahres, 1951, Ihr Postgraduiertenstipendium zugesprochen«, sagte Constable und kräuselte sein pedantisch blickendes, jungenhaftes Gesicht in gewissenhaften Bedenken. »Das bedeutet, dass wir den ersten Manuskriptentwurf Ihrer Forschungsarbeit bis Weihnachten 1952 vorliegen haben möchten – diese Weihnachten. Was also, wenn sich herausstellt, dass Ihre Arbeit in Göttingen Sie in eine Sackgasse führt – wie interessant diese auch sein mag? Ihnen bliebe niemals genügend Zeit, wieder auf Ihren eigentlichen Weg zurückzuschwenken und bis Weihnachten eine wissenschaftliche Arbeit abzuliefern. Dies«, meinte Constable, »würde dem Führungsgremium des Colleges sehr missfallen. Es handelt sich schließlich um eine vertragliche Verpflichtung.«

»Ich bin bereit«, sagte Daniel schniefend, »dieses Risiko einzugehen.«

»Sie vielleicht schon. Aber es sind ja wir, die in Sie investieren. Wie ich schon sagte, wenn gestandene Kollegen seit 1938 immer wieder an dem Problem gescheitert sind …«

»Dann könnte es möglicherweise sein, dass dieses Problem jemand Jüngeren mit einem neuen Ansatz erfordert. Das ist ja eben der Punkt«, sagte Daniel, mit schriller werdender Stimme, »dass in der theoretischen Mathematik die beste Zeit, in der wirklich kreative Arbeit entsteht, die jungen Jahre sind. Wenn man also denkt, dass man seinen Weg vor sich sieht – und das ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden –, dann muss man ihm unverzüglich folgen. Wenn man erst dreißig ist, bleibt einem nichts mehr zu tun, nur Konsolidierung.«

»Und Sie sind … wie alt?«

»Zweiundzwanzig.«

»Womit Ihnen noch acht Jahre bleiben.« Constable schaute Daniel fragend an, rieb kurz an ein paar Pickeln herum, die nicht zu seinem engelhaften Erscheinungsbild passen wollten, und ließ dann jeden Ausdruck aus seinem Gesicht weichen, ein deutliches Zeichen (zumindest für diejenigen, die ihn, wie Daniel, einschätzen konnten), dass er eine Entscheidung getroffen hatte. »Acht Jahre. Wirklich nicht lang. Hoffen wir also«, sagte Constable, betont fröhlich und energisch, »dass Ihr Sommer in Göttingen sich nicht als verschwendete Zeit erweisen wird. Denn ich werde dem Führungsgremium des Colleges empfehlen, Ihrem Ansuchen stattzugeben – ich denke also, dass Sie das als erledigt betrachten können. Doch da gibt es ja gewiss noch ein weiteres Problem, das zu bedenken ist, oder, Daniel?«

»Ich weiß«, sagte Daniel. »Ich denke die ganze Zeit schon darüber nach.«

* * *

Jenes »weitere« Problem hatte er einige Tage später mit seinem Jahrgangskollegen, dem Historiker Jacquiz Helmut, besprochen.

»Es ist nicht so, dass die Deutschen dir etwas antun könnten«, hatte Helmut gesagt, während er seinen Blick von der Lancaster Bridge aus in aller Ruhe über die jenseits des Flusses liegenden Gartenanlagen der Colleges streifen ließ. »Für den Moment hat man sie jedenfalls erst mal gebändigt.«

»Aber wie wäre dir denn zumute, wenn du dort hingehen solltest?«

»Bei mir ist das was anderes.« Helmuts Augenbrauen, die sich normalerweise in der Mitte trafen, schienen kurz in höflichem Protest auseinanderzustreben. »Ich bin schließlich ein waschechtes Exemplar. Du hast nur väterlicherseits jüdische Familie und bist somit streng genommen gar kein Jude.«

»Das haben die Nazis aber anders gesehen.«

»Die Nazis sind jetzt endgültig verschwunden.«

»Nein, sind sie nicht«, sagte Daniel. »Genau darum geht es mir ja. Die Uniformen sind verschwunden, aber sie wurden von einer ungeheuren Menge Leute getragen, und die sind noch da. In jedem Ladengeschäft, jedem Restaurant, auf den Straßen …«

»Die sind jetzt viel zu beschäftigt, um sich mit dir zu befassen«, wischte Helmut dies souverän beiseite. »Die müssen jetzt sehen, wie sie ihr Auskommen finden. Ein ganzes Land neu aufbauen. Glaub mir, für meinen Geschmack geht das ein klein wenig zu schnell mit dem Aufbauen, aber bei all der Arbeit kommen die für die nächste Zeit erst mal nicht wieder auf dumme Gedanken.«

Er drehte sich vom Brückengeländer weg, verschränkte die Hände vor seinem Schritt und zeigte mit einem leichten Kopfnicken an, dass er nun ein Stück zu gehen gedachte. Sie liefen schweigend durch die Allee hinüber zum Fellows’ Garden, und Daniel sah sich dabei wie üblich der unschönen Mühe ausgesetzt, seine kurzen Beine mit dem erhabenen Ausschreiten seines fast zwei Meter großen Weggenossen in Einklang zu bringen.

»Für jemanden, der durch und durch jüdisch ist, dürftest du eigentlich gar nicht so groß sein«, sagte Daniel verärgert.

»Unter den Juden ist, wie anderswo auch, ein hoher Körperwuchs ein Zeichen aristokratischer Abkunft.«

Man konnte bei Jacquiz Helmuts Bemerkungen nicht immer ohne weiteres erkennen, ob er sie ernst meinte oder nicht. Erneut schweigend erreichten sie das Tor zum Fellows’ Garden. Helmut zog einen Schlüssel an einer goldenen Kette hervor und ließ sie ein.

»Mir hat man keinen Schlüssel gegeben«, sagte Daniel griesgrämig.

»Du musst bloß am Pförtnerhäuschen danach fragen. Alle höheren Semester, die hier wohnen, dürfen einen haben.«

»Ich habe gefragt. Mr. Wilkes sagte, die Schlüssel wären alle schon vergeben.«

»Das hat er zu mir auch gesagt. Aber ich habe ihm klargemacht«, sagte Helmut und runzelte kurz seine Kardinalsnase, »dass ich, wenn ich nicht am nächsten Tag einen Schlüssel hätte, den Finanzverwalter über seine Nachlässigkeit in Kenntnis setzen würde.« Er blickte herablassend im völlig menschenleeren Garten umher. »Wenig einladend«, sagte er, »aber zumindest ist man hier unter sich. Jetzt können wir uns ernsthaft deinem kleinen Problem widmen.«

»Eben hast du gesagt, es gäbe kein Problem.«

»Oberflächlich betrachtet nicht, in der Tat. Zunächst einmal siehst du nicht besonders jüdisch aus. Klein und dunkelhaarig bist du schon, aber ohne diese besonderen Gesichtszüge. Du, mein lieber Daniel, könntest alles sein. Und selbst wenn ganz Göttingen Kenntnis von deiner väterlichen Abstammung hätte, wenn man gar den ganzen Tag von morgens bis abends dort nichts anderes zum Thema hätte, so stündest du doch unter dem Schutz Seiner Britannischen Majestät, ihres Eroberers, der es nicht zulassen wird, dass sie dich wegfangen und zu Seife verarbeiten.«

Helmut hielt an und betrachtete, mit wachsendem Verdruss, den Judasbaum, als wäre das ein Scherz der Art gewesen, die man zunächst für außerordentlich gut hält, um dann erst ihren taktlosen und schrillen Unterton wahrzunehmen.

»Und doch«, fuhr er fort, »gibt es ein Problem, und sei es nur das, dass du meinst, eines zu haben.«

Daraufhin schwieg er und fing an, mit beiden Händen über den Fellkragen seines Mantels zu streichen. Obwohl er sich nach außen hin weiter beherrscht gab, huschten seine Blicke doch besorgt und fast schon verstohlen umher.

»Es gibt seit kurzem ein gelehrtes und sorgsam ausgearbeitetes Buch«, sagte er schließlich, »geschrieben von einem jüdischen Historiker, mit dem ich gelegentlich korrespondiere. Er will damit nachweisen, unverrückbar, dass einzig und allein die Römer für die Tötung von Jesus Christus verantwortlich waren.«

»Einzig und allein?«

»Du hast richtig verstanden. Jeder weiß, dass die Römer zum Teil, zu einem bedeutenden Teil, die Schuld dafür tragen, aber niemand, der bei Verstand ist, würde behaupten, dass die Juden vollkommen unschuldig waren. Und doch ist es ge­nau das, was mein Briefpartner, der eigentlich geistig alle beiein­ander hat und ein äußerst gebildeter Mann ist, verfechten möchte. Was sagt dir das?«

»Dass wir ein selbstgerechtes Volk sind.«

»Und was noch?«

»Dass wir uns ein falsches Bild von uns machen wollen … zumindest in manchen Bereichen.«

»Komm schon, Daniel! Was anderes!«

Helmuts Tonfall war jetzt fordernd geworden, wie der eines Rugbytrainers, der mehr Einsatz verlangt.

»Wir sind … ein selbstverliebtes Volk?«

»Alle Völker sind das. Es ist schlimmer als das, Daniel: Wir sind von uns selbst besessen.«

Sein fester Blick kehrte zurück. Nachdem er sich diese Beur­teilung abgerungen hatte, war offenbar seine gewohnte heiter-ironische Art wiederhergestellt.

»Und nun zu deinem Problem«, sagte er. »Du meinst, grob gesagt, dass du in Deutschland umgeben sein wirst von den Mördern der Deinen, und dass sie auch dir Verderben bringen werden. Jedes Mal, wenn du im Zug deine Fahrkarte vorzeigen sollst – und in deutschen Zügen muss man immer seine Fahrkarte zeigen –, wirst du dir vorstellen, wie ebendieser Schaffner tausende Juden in Viehwaggons gepfercht hat. Anders gesagt: Du denkst nur in einem einzigen Begriffsmuster. Du bist – oder wirst, wenn du nicht aufpasst – selbstgerecht, selbstbetrügerisch, selbstverliebt und selbstbesessen.«

»Selbstbetrügerisch?«, sagte Daniel nach eine langen Pause.

»Ja. Du willst unbedingt glauben, dass das Massaker, das die Nazis unter den Juden angerichtet haben, das Einzige ist, was zählt, praktisch das Einzige, was jemals passiert ist, in der gesamten deutschen Geschichte. Versuch zur Abwechslung mal an etwas anderes zu denken. Denk auch mal an Arminius, Goethe, Theoderich oder Dr. Faustus … was immer du willst, aber vergiss, dieses eine Mal, Adolf Hitler.«

»Du meinst … wir sollten einfach so tun, als wäre es nie passiert? All die Toten … die vorsätzliche Planung …«

»Hör doch«, sagte Helmut. Er wackelte tadelnd vor dem Judasbaum mit dem Zeigefinger und stiefelte weiter Richtung Sommerhaus. »Hör mir zu – und das ist das Letzte, was ich dir zu diesem schwierigen Thema sage. Das Verbrechen, von dem du sprichst, ist unauslöschlich. Doch du gehst aus freien Stücken nach Göttingen, und die Arbeit, die dort auf dich wartet, ist wichtig. Wenn du dich ihr uneingeschränkt widmen willst, möchte ich annehmen, dass dir das leichter fällt, wenn du dich in erster Linie als Mathematiker betrachtest, in zweiter Linie als ein Besucher eines fremden, aber wohlgeordneten Landes – und als Jude, wenn überhaupt, erst weit dahinter, an dritter Stelle. Außerdem bist du zur Hälfte ein gestandener Angelsachse.«

»Das ist es ja eben. Es wäre viel schöner, etwas durch und durch zu sein. Entweder das eine oder das andere.«

»Unsinn!«, sagte Helmut. »Wir sind alle sehr froh, dass du so bist, wie du bist.«

Am Ende hatte Daniel Jacquiz Helmuts Rat beherzigt und davon profitiert. Er hatte sich beharrlich gesagt, dass er ein Wissenschaftler sei, der an einer ausländischen Universität eine Forschungsarbeit verfolgt, nicht mehr und nicht weniger. Wohl wahr, dies hielt ihn nicht davon ab, die mürrischen und misstrauischen Blicke zur Kenntnis zu nehmen, die ihm häufig in der Öffentlichkeit begegneten, doch gemahnte er sich jedes Mal, dass in einem verarmten und besiegten Land wohl jeder Fremde, der wohlgenährt und gut gekleidet war, auf Ablehnung stoßen musste. Da sich die Deutschen insgesamt schon wieder weitgehend auf dem Weg zurück zum Wohlstand befanden, ließ Daniel hier keine strenge Logik walten; doch handelte es sich bei seinem Problem um nichts, das jemals allein durch Logik zu lösen gewesen war (so gelassen und vernünftig Jacquiz Helmut auch argumentieren mochte). Es war nötig, sich das ein wenig zurechtzuschummeln, und Daniel war sicher, dass Helmut diese leichte Abweichung von seinen Anweisungen am Ende pragmatisch sehen und gutheißen würde.

Anders als bei dem unguten Gefühl, das ihn bei anonymen Deutschen in der Menge weiterhin nicht losließ, waren Daniels persönliche Begegnungen völlig unbeschwert. Seine Wirtin, eine schicksalsergebene Frau von wuchtiger Statur, die sich mit watschelndem Gang fortbewegte und schon bessere Tage gesehen hatte, erledigte ihre Aufgaben pünktlich und unaufdringlich, und der einzige andere Deutsche, auf den er in gewisser Hinsicht angewiesen war, hatte ihn mit einer Mischung aus kollegialer Höflichkeit und persönlicher Gleichmut behandelt, was er ganz und gar beruhigend fand. Es handelte sich um Doktor Aeneas von Bremke, dem er von Dirange empfohlen worden war und dem er nach seiner Ankunft Anfang April gleich als Erstes einen Besuch abgestattet hatte.

»Der Herr Doktor Dirange hat mir selbstverständlich geschrieben«, sagte von Bremke feierlich. »Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Ihnen helfen zu dürfen. Würden Sie bitte mit mir kommen?«

Er war im obersten Stockwerk des Gebäudes durch einen langen, schmucklosen Korridor mit hohen Wänden vorangegangen, bis sie an einer Tür anlangten, an der eine gedruckte Karte angebracht war:

HERR DOMINUS DANIEL MOND.

»Dominus«, sagte von Bremke mit einem Gesicht, dessen gestrenger Ernst für einen Augenblick einer schlaffen Befriedigung wich: »Das ist die korrekte Anrede für einen englischen Bachelor of Arts, nicht wahr?«

»Ich glaube, ja … Ich meine, ja, in der Tat«, sagte Daniel und bemühte sich, beeindruckt zu wirken.

»Sehr gut. Hier haben wir diesen Raum für Sie zum Arbeiten abgezweigt. Sie müssen wissen, dass die meisten Dokumente aus dem Dortmund-Nachlass dieses Gebäude nicht verlassen dürfen. Aber der Herr Kurator wird sie gerne in diesem Raum zu Ihrer Verfügung bereitstellen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Bitte …«

Von Bremke prüfte, ob die Schreibtischlampe funktionierte, und inspizierte eine Archimedes-Büste, die auf dem Fenstersims stand.

»Wir fühlen uns«, sagte er, als würde er zu Archimedes sprechen, »selbstverständlich geehrt, dass ein gelehrter und fä­­higer junger Gentleman von einer so alten und herausragenden Universität, ausgestattet mit der geschätzten Empfehlung des international hochangesehenen Herrn Doktor Dirange, hierherkommt, um den Nachlass Dortmunds zu untersuchen. Doch erhoffen Sie sich bitte nicht zu viel. Auch ich habe, vor einigen Jahren …«

Er brach ab wie eine Schallplatte, von der man ohne Vorwarnung die Nadel abgehoben hatte.

»Da ist Staub auf dem Aktenschrank«, sagte er.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«

»Ich mache mir keine Gedanken. Da sollte nur keiner sein, das ist alles.« Er zog ein feines Stofftaschentuch hervor, staubte den Aktenschrank ab und ließ das Taschentuch dann in den Papierkorb fallen. »Auch ich habe, vor einigen Jahren«, sagte von Bremke, als wäre die Nadel des Grammofons plötzlich wieder aufgesetzt worden, »die Hinterlassenschaft Dortmunds untersucht. Das Unheil, das über unsere Nation hereingebrochen ist, hat meiner Arbeit ein Ende gesetzt, aber ich war schon so weit vorgedrungen, dass ich wusste, ich würde damit nicht weiterkommen. Das ist auch schon alles, was ich sagen wollte: Gehen Sie nicht unbedingt davon aus, dass Sie Erfolg haben werden.«

»Mir sind die Schwierigkeiten bewusst.«

»Nein, das sind sie nicht.« Er hatte das weder brüsk noch aggressiv gesagt, nahm Daniel wahr, es war lediglich eine simple Tatsache, die er konstatierte. »Sie wissen, wie wir alle wissen, dass Professor Dortmund eine vollkommen neue Notation erfunden hat. Diese Notation war nötig, so meinen wir, um den bekannten Matrizentyp in einen viel komplexeren umwandeln zu können, in dem drei Dimensionen abgebildet werden. Das war das Anliegen des Professors, und hier liegt für uns der Schlüssel: Erkennt man den Zweck der Notation, so wird unweigerlich früher oder später offenbar werden, wie sie funktioniert. Stimmen Sie mir zu?«

Daniel nickte.

»Aber warum hat sich das noch immer nicht gezeigt? Nach beinahe fünfzehn Jahren?«

»Weil so wenig darüber bekannt ist, wozu sie dienen soll.«

»Ganz genau, Herr Dominus. Und nun ziehen Sie in Betracht, dass wir vielleicht noch weniger wissen. Dass Professor Dortmund seine neue Notation nicht nur für das entwickelt hat, was unsereins denken mag, sondern für etwas anderes. Dass er sich ab einem bestimmten Stadium seiner dreidimensionalen Matrizen auf ein anderes, noch komplizierteres Feld verlegt hat – das mit dem bisherigen höchst wahrscheinlich in Beziehung steht, aber doch etwas anderes ist. Was dann, Herr Dominus?«

»Wir sind uns einig«, sagte Daniel langsam, »dass die Beschaffenheit der Arbeit des Professors im ersten Teilgebiet – so wenig wir darüber wissen – uns den Schlüssel zu der Notation liefern könnte. Vielleicht könnte uns die Notation wiederum den Schlüssel zu seinem späteren Forschungsgebiet liefern … auf das er sich, wie Sie sagen, dann verlegt hat.«

»Vielleicht«, sagte von Bremke, und zeigte Archimedes ein Pokerface. »Aber bisher hat niemand auch nur den ersten Schritt leisten können. Was den zweiten angeht, so hat der Professor, als er damit begann, das Feld zu wechseln und in eine andere Richtung zu arbeiten, in vielerlei Hinsicht auch die Notation geändert. Sie haben also nicht nur eine Notation zu entziffern, sondern auch noch eine spätere Variante davon. Und wozu diese dienen sollte, davon haben wir überhaupt keine …«

Wieder hielt er unvermittelt mitten im Satz inne.

»Ich hätte es so gern gesehen«, sagte er, »dass meine Frau Sie bei uns im Haus begrüßen könnte. Aber sie ist schon länger krank.«

»Das tut mir leid.«

»Seien Sie unbekümmert. Wir können Sie nicht einladen, das ist alles. Zurzeit halten sich keine Landsleute von Ihnen hier auf – an der Universität, meine ich. Aber oben am Berg gibt es die britischen Soldaten.«

»Mit Soldaten hatte ich bisher kaum zu tun.«

»Sie haben Ihren – wie sagen Sie dazu – Regierungsdienst nicht geleistet?«

»Ich war vom Wehrdienst befreit. Als Kind hatte ich …«

»Das spielt keine Rolle. Sie brauchen sich bei mir nicht zu entschuldigen. Im Übrigen gibt es da noch einen Amerikaner, einen Herrn Earle Restarick, so nennt er sich, der Neuere Geschichte studiert. Er hat gehört, dass Sie kommen, und wird sich selbst bei Ihnen einführen. Gibt es noch irgendetwas, das Sie gerne fragen möchten?«

»Ja«, sagte Daniel, der nur sehr wenig auf die das Gesellschaftsleben betreffenden Informationen von Bremkes geachtet hatte, weil ihn weiterhin beschäftigte, was über Dortmund gesagt worden war. »Dieser nächste Schritt, dieses zweite Feld, in das Professor Dortmund, wie Sie sagten, abgeschweift ist …«

»Er ist niemals in irgendetwas ›abgeschweift‹, Herr Dominus. Er war ein Mann von höchster Disziplin.«

»Dann eben vorangeschritten. Sie müssen doch sicherlich irgendetwas darüber wissen. Oder zumindest darüber spekuliert haben.«

Man hätte das, was sich auf Herrn Doktor von Bremkes Gesicht nun zeigte, bei einem weniger distinguierten Menschen einen Flunsch genannt.

»Gar nichts«, sagte er, beide Worte separat betonend. »Und Sie, Herr Dominus?« Er schien es nun darauf anzulegen, dass der Ball bei Daniel lag. »Wonach suchen Sie letztlich? Doktor Dirange lässt mich wissen, dass Ihnen Professor Dortmunds Arbeit, falls Ihnen das Entschlüsseln der Notation gelingen sollte, bei Ihrer eigenen helfen könnte. Woran arbeiten Sie selbst?«

»Ein Engländer namens John Wallis«, sagte Daniel absichtlich vage, »hat vor beinahe dreihundert Jahren ein Buch mit dem Titel ›Arithmetica Infinitorum‹ geschrieben. Oft heißt es, dass darin die Ursprünge der Differenzialrechnung angelegt seien. Ich glaube, es könnte zudem etwas noch viel Erstaunlicheres darin angelegt sein. Etwas außerordentlich Delikates, und um daran zu arbeiten, werde ich eine sehr präzise und empfindliche Methode benötigen. Professor Dirange und ich hoffen, dass Professor Dortmunds Matrizen diese Methode liefern könnten.«

»Zuvor müssen Sie sich aber die Notation erschließen«, sagte von Bremke sanft. »Erlauben Sie mir, Ihnen viel Glück zu wünschen und Ihnen jede Hilfe anzubieten, administrativer Art, die ich Ihnen geben kann.«

Er ging quer durch den Raum zur Tür. Dort zögerte er und wandte sich noch einmal um.

»Es gibt da noch eine Sache, die ich Ihnen sagen sollte«, meinte er, plötzlich unerwartet zaghaft im Ton. »Als Professor Dortmund starb, war er schon geraume Zeit krank gewesen. Eine … Krebsbildung … ein Eingeweidekarzinom. Was diese Symbole auch sonst bedeuten mögen, so steht zudem ein Mann dahinter, der Schmerzen litt. Bitte vergessen Sie das nicht. Sie müssen … sich würdig zeigen.«

Als Daniel seinen Mund zu einer Antwort öffnete, bedeutete ihm Doktor von Bremke durch das Heben seiner Hand, zu schweigen, verbeugte sich elegant und war verschwunden.

Nach zwei Tagen war Daniel klar, dass der Raum, den von Bremke für ihn vorbereitet hatte, sich nicht zum Arbeiten eignete. Weshalb genau, konnte er nicht sagen, denn die Möbel und Einrichtungsgegenstände waren von ebenso vortrefflicher wie effektiver Beschaffenheit: Die Schübe des Aktenschranks ließen sich sanft und widerstandslos bewegen, die Schreibtischlampe gab angenehmes Licht, sein Stuhl war exakt austariert (zumindest hatte ihm der Kurator der Bibliothek dies erklärt), so dass er in einer gesunden Haltung sitzen würde. Sogar der Blick aus dem Fenster (nach Südwesten, über friedlich daliegende Vororte und sich weithin erstreckende Getreidefelder) schien wie für therapeutische Zwecke gemacht, so erholsam und beruhigend war er, und doch eintönig genug, um sich nicht zu lange damit aufzuhalten.

Vielleicht war das der Grund, warum Daniel den Raum so ungeeignet fand: Er gab ihm das Gefühl, ihn dazu zu nötigen, ihn dazu zu zwingen, in einer gesunden Haltung dazusitzen, und ihm nicht zu erlauben, jede Stunde länger als fünf Minuten aus dem Fenster zu schauen. Obwohl er in vielerlei Hinsicht ein methodisch denkender Mensch war, hasste er Disziplin, die ihm von außen auferlegt wurde, und mochte es noch so diskret geschehen. Sollte er ordentlich arbeiten können, musste es, wie es auch in Cambridge der Fall war, zumindest theoretisch die Möglichkeit geben, sich nicht an alles zu halten und sich stören zu lassen – es musste Versuchungen geben, denen er widerstehen konnte. Doch bestand die einzige Versuchung, die sich ihm in seinem Raum im obersten Geschoss bot, darin, die süßlich lächelnde Büste des Archimedes zu zertrümmern, und die war mit großer Wahrscheinlichkeit aus irgendeinem widerstandsfähigen deutschen Material gefertigt, dem selbst ein Dampfhammer nichts anhaben konnte. Nein, wie auch immer er es betrachtete, der Aufenthaltsort, den von Bremke ihm so zuvorkommend zur Verfügung gestellt hatte, war unerträglich. Er würde stattdessen in seiner Unterkunft arbeiten, in einem Lehnsessel hängend, so krumm es ihm gefiel, in einem fort abgelenkt und entzückt von dem grotesken Kirchturm mit der phallischen Spitze, die vor seinem Fenster aufragte, als wolle sie es jeden Moment durchstoßen.

Diese Entscheidung führte zu einigen Schwierigkeiten, Dort­munds Papiere betreffend. Wie von Bremke schon erwähnt hatte, durfte vieles davon das Gebäude nicht verlassen, und der Kurator, ansonsten ein fast immer freundlicher Mann, hielt sich mit teutonischer Hingabe an Vorschriften. Es gab jedoch nichts, was Daniel davon abhalten konnte, Abschriften anzufertigen, und es stellte sich heraus, dass er, wenn er eine Stunde pro Tag damit verbrachte, meist am frühen Abend, wenn sein Arbeitsraum an der Universität ihn am wenigsten abstieß, genug Arbeitsmaterial für die folgenden vierundzwanzig Stunden zusammenbekam. Zugleich erleichterte er sein Ge­wissen mit dem Gedanken, dass er die von Bremke sorgsam für ihn getroffenen Vorkehrungen auf diese Weise nun doch ein wenig nutzte. Sein Vorgehen hatte, wie er später herausfand, noch einen weiteren Vorteil: Das Kopieren von Dortmunds Manuskriptseiten erforderte eine detailgenaue Aufmerksamkeit, die nicht nur einer gründlichen Einfühlung in die vor ihm liegende Materie förderlich war, sondern ihm mit der Zeit, wenn auch noch begrenzt, ein tatsächliches Verständnis dafür eröffnete, wie die mysteriösen Zeichen gedacht waren, als hätte er vermittels seiner andächtigen Nachahmungstätigkeit eine geistige Nähe besonderer Art erlangt. Mehrmals überraschte er sich selbst dabei, wie er bereits den nächsten Term einer Reihe notierte, bevor er sich die Stelle im Original angesehen hatte; und obschon sich ihm weiterhin die Bedeutung, die der gesamten Notation zugrunde lag, nicht erschloss, war es doch keine geringe Ermutigung, dass er zu verstehen begann, wie man sie anwandte.

So kam es, dass er schließlich anfing, sich auf die abend­liche Stunde in seinem ansonsten abscheulichen antiseptischen Dachraum über der Bibliothek zu freuen. Zu dieser Tageszeit ging Archimedes, den Hinterkopf der über den Kornfeldern untergehenden Sonne zugewandt, sein süßliches Lächeln in dem Schatten verloren, der alles bis auf seine noble Stirn überzog; zu dieser Tageszeit drang ein helles, kaum wahrnehmbares Flüstern selbst an diesen sterilen, abgeschiedenen Ort vor, welches ihm von den (wenn auch nicht für ihn bestimmten) Vergnügungen und Reizen des herannahenden Abends kündete; und zu dieser Tageszeit hatte sich, ungefähr zwei Wochen nach seiner Ankunft in Göttingen, Earle Restarick, der Amerikaner, mit einer Verbeugung in Daniels Leben eingeführt, eine hochgewachsene, stille Figur, die durch die Tür geschlüpft war, ohne anzuklopfen, und Daniel mit einem leichten, verführerischen Lächeln entgegentrat, als wollte er verkünden, dass die vom sich neigenden Tag flüsternd angedeuteten Vergnügungen eine Straße weiter auf sie beide warteten und er Daniel nun bei der Hand nehmen und dorthin führen würde.

»Herr Dominus Daniel Mond?«, hatte Earle Restarick stattdessen mit einer tiefen Stimme und ohne eine Spur von Ironie gesagt.

»Ja …?«

»Earle Restarick. Mir wurde angekündigt, dass Sie kommen würden, aber ich war nicht in der Stadt.« Er zog die Augenbrauen zusammen, als hätte man ihn beim Nasebohren erwischt. »Nicht in Göttingen«, setzte er hinzu, und wieder schwangen sich seine Mundwinkel zu dem einladenden und mysteriösen Lächeln auf, das so viel zu versprechen schien und doch wieder nur einen vollkommen nichtssagenden Gemeinplatz zwischenmenschlicher Kommunikation ankündigte. »Ich wollte Sie in Ihrer Unterkunft aufsuchen«, sagte er, »aber die alte Dame teilte mir mit, dass Sie vielleicht hier seien.«

»Ich arbeite hier oft am Abend ein wenig.«

»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe?«

Earle Restarick steckte die Hände in die Taschen und lehnte sich kumpelhaft an den Türrahmen. Amerikaner, dachte Daniel, selbst die gebildeten unter ihnen können den Wunsch anderer, allein zu sein, einfach nicht hinnehmen. ›Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht störe?‹ war eigentlich keine Frage, sondern Restarick legte damit nicht nur für seine eigene Person, sondern auch gleich für ihn mit, die amerikanische Überzeugung an den Tag, dass kein geistig und moralisch gesunder Mensch eine intellektuelle Beschäftigung menschlicher Gesellschaft vorziehen konnte, wie langweilig oder gewöhnlich die Gesellschaft auch sein mochte. Mehr noch, je gewöhnlicher diese war, umso mehr hatte ein geistig und moralisch gesunder Mensch sie vorzuziehen. Wenn diese neue Bekanntschaft fortgeführt werden sollte, würde Daniel einen Weg finden müssen, ihm klarzumachen, dass Treffen nur nach vorheriger Absprache stattfinden konnten. Dieses eine Mal jedoch, da Restarick sich die Mühe gemacht hatte, ihn aufzusuchen, war das Mindeste, was von ihm erwartet werden konnte, dass er guten Willen zeigte – und es erleichterte ihn doch mehr, als er gedacht hätte, nach zwei Wochen mit einem Mal wieder mit jemandem zu sprechen, der entfernt als einer seiner Landsleute durchgehen konnte.

»Überhaupt nicht«, sagte er. »Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Lassen Sie mich das hier nur kurz zu Ende bringen.«

Er versenkte den Kopf wieder in die Papiere. Restarick hob eine Augenbraue und schlenderte langsam zum Fenster hinüber.

»Ein schöner Blick!«, sagte er, als würde er Daniel zu etwas, das er sein eigen Hab und Gut nennen konnte, beglückwünschen.

»Ja, das stimmt wohl … Nur noch einen kleinen Moment.«

»Eine schöne Skulptur! Mir haben sie Thukydides hingestellt. Weil ich Historiker bin.«

Lieber Himmel … »Entschuldigung, aber die Stelle hier ist grade ein bisschen kompliziert.«

»Ein schöner Schrank!« Restarick ließ ihn nicht in Frieden. Er zog nacheinander jede einzelne Schublade hervor und machte sie wieder zu, wobei er jedes Mal laut verkündete, was sich darin befand, nämlich nichts.

»Hier ist auch nichts drin«, sagte er, knallte die letzte Lade zu und blickte Daniel vorwurfsvoll an: »Es ist eine Schande, nichts in so einem schönen Aktenschrank aufzubewahren.«

»Ich bewahre meine Sachen zu Hause auf … Nur noch diese letzte Zeile.«

»Zu Hause? Aber das kann ja wohl nicht sein. Ihr Zuhause ist in Großbrit… England.«

»In meiner Unterkunft«, sagte Daniel und biss die ­Zähne zusammen. Vielleicht konnte er es auch einfach bleiben lassen, freundlich zu sein? Vielleicht konnte er sagen, dass er sich plötzlich unwohl fühle? Er schaute von seiner zu Ende gebrachten Arbeit auf und musste feststellen, dass Restarick ihn anlächelte. Nach der Belanglosigkeit all dessen, was der Mann bisher gesagt hatte, versprach sein Lächeln doch immer noch etwas, das ganz und gar nicht gewöhnlich war. Nämlich eine Einladung nach Xanadu. Oder von den Goldenen Äpfeln kosten zu dürfen. Jedenfalls etwas, das man ganz gewiss nicht einfach so ablehnen sollte. Du musst mir folgen, sagte dieses Lächeln, und selbst sehen. Na gut, dachte Daniel. Dieses eine Mal zumindest werde ich das tun.

»Tut mir leid, dass es noch gedauert hat«, sagte er, und war überrascht, wie eifrig seine eigene Stimme klang. »Jetzt ist es geschafft.«

Draußen auf der Straße stand, diese blockierend, ein Mercedes aus dem Jahr 1935 – die Art Auto, mit der deutsche Generäle in Kriegsfilmen umherfuhren (und Zigarre rauchend ihren gutaussehenden Adjutanten gegenüber zynische Bemerkungen machten). Ein deutscher Polizist, der sich in der Nähe herumgedrückt hatte, inspizierte Restarick genau und stiefelte dann ärgerlich davon.

»Noch ist das Land besetzt«, war Restaricks Kommentar gewesen, »aber nicht mehr lange. Nächstes Jahr wird er bei so einer Gelegenheit eine Entschuldigung fordern, und im Jahr darauf wird er versuchen, einen dafür zu belangen. Die Schirmmützen kehren zurück, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.«

Sowohl den Wagen wie auch die Beobachtung fand Daniel bezeichnend. Das eine deutete auf einen Hang zur Eleganz und Individualität hin, das andere auf eine Redegewandtheit, die Restarick zuvor nicht offenbart hatte. Außerdem kam ihm Restaricks Bemerkung bedenklich vor, ihre unhinterfragte An­­erkennung von Autoritäten, sei es die eigene oder die des schirmmützigen Polizisten, der in Bälde auf seinen Platz zurückdrängen würde. Noch fünf Minuten später, als sie die letzten Vororte hinter sich ließen und einer holprigen Straße in südöstlicher Richtung folgen, versuchte Daniel dies nervös zu analysieren.

»Abendessen!«, sagte Restarick. »Bremke, wir kommen.«

»Abendessen bei Doktor von Bremke? Aber hat er uns eingeladen? Mir hat er gesagt, er könne niemanden empfangen. Seine Frau …«

»Er doch nicht … obwohl es da möglicherweise eine Verbindung gibt. Bremke ist ein Dorf ungefähr fünfzehn Kilometer von hier. Dort gibt es einen Gasthof, in dem man uns ein vorzügliches Essen servieren wird. Kalbssteak, in Milch geschmort. Sie sind nicht orthodox, oder?«

»Nein, ich bin nicht orthodox.«

»Da haben Sie Glück. Die Steaks dort sollte man sich nicht entgehen lassen. Und davor werfen wir vielleicht einen Blick auf die Grenze – damit wir ordentlich Appetit bekommen. Denn ich glaube nicht«, sagte Earle Restarick träge, »dass in Ostdeutschland heute Abend viele Leute in Milch geschmorte Kalbssteaks zum Abendessen haben.«

»Ich wusste gar nicht, dass die Grenze tatsächlich so nah ist.«

»Man steigt hinter diesem Gasthaus, von dem ich erzählt habe, den Berg hoch, und dann sieht man sie. Direkt hinter der nächsten Talsenke.«

Und so waren sie auf den Berg gestiegen, um sich die Grenze anzuschauen.

Ein bedrückender Anblick (wie Daniel ein oder zwei Tage später an Robert Constable in Lancaster schreiben würde), ein hoher Zaun mit unterschiedlich dickem Stacheldraht und kurz dahinter, auf der anderen Seite, alle Viertelmeile ein Wachturm. Es war schon Abend, als wir sie sahen, so dass das Tal zwischen uns und dem Bergzug, an dem sie entlangführt, in tiefem Schatten lag, während der Zaun selbst mit jedem Detail noch sichtbar war und dadurch wie das einzig klar herausstechende Wirkliche in einer Schattenwelt wirkte. Nicht nur das, sondern die Sonne, die ihr Licht auf die Drahtstränge warf, vermittelte zudem den Eindruck, das ganze Netzwerk stehe lebendig unter einer Art bösem Strom, der auf jedes Lebewesen, das ihm nahekäme, überspringen und es zu Asche verbrennen würde.

Am bedrückendsten war jedoch ein kleines Dorf, das etwa einen Kilometer weit auf der anderen Seite landeinwärts lag. Wissen Sie, auf den ersten Blick hätte es beinahe dasselbe Dorf sein können, in dem wir soeben den Wagen abgestellt und unsere Bestellung fürs Abendessen aufgegeben hatten. Das gleiche Weideland darum herum, die gleichen kleinen Hügel dahinter, die gleichen freund­lichen Häuser mit ihren grauweißen Mauern und roten Dächern, mit Scheunen und Stallgebäuden und Höfen; und doch, weil es sich im Krieg so ergeben hat, weil vor sieben oder acht Jahren und vielleicht auf unterster Dienstebene eine taktische Entscheidung getroffen wurde, war das Dorf auf der anderen Seite verdammt und wurde aufgegeben – und ist zu einer Gegend jenseits des Styx geworden, wo sie, die blassen und blutlosen Geister, sich auf ewig durch ihre trostlosen Tage schleppen müssen. Und falls es tatsächlich noch Bewohner in dem Dorf geben sollte, können diese wahrhaftig nur Geister sein, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es schon vor geraumer Zeit verlassen wurde, wahrscheinlich, weil es zu nah an der Grenze liegt und das den offiziellen Stellen nicht behagt. Das Weideland ist verwildert, die Hügel sind kahl (Bäume würden vor den Blicken aus den Wachtürmen schützen), die roten Dächer sind verwittert und schadhaft, die Höfe heruntergekommen.

»›Cold Comfort Farm‹«, sagte mein amerikanischer Freund.

Zuerst dachte ich, das sei einer seiner kaltschnäuzigen Witze, von denen er schon zwei oder drei zum Besten gegeben hatte, obwohl ich ihn erst eine Stunde lang kannte. Doch als ich ihn anschaute, sah ich, dass ihm die Sache sehr naheging, dass sein Gesicht wutverzerrt war. Eine vollkommen verständliche Reak­tion, und doch war da etwas an der Art, wie er sein Kinn vorreckte, das mich mit einem unguten Gefühl erfüllte, weil mir schien, dass nicht so sehr Gram oder Entrüstung im Spiel war, sondern Verachtung. Ich habe mir jedoch in dem Moment nicht viel dabei gedacht, weil ich mich selbst erst einmal sammeln musste. Als jemand, dessen Herz links schlägt, hatte ich einen Dämpfer bekommen und wollte mir gerne einreden, dass es so schlimm ja wohl nicht sein konnte. Weil alles friedlich dalag und man den brutalen Zaun in der zunehmenden Dunkelheit immer schlechter sehen konnte, hatte ich mich fast schon überzeugt – sie sind sicher gar nicht so unglücklich da drüben, dachte ich bei mir, alles, was man über Unfreiheit und Hunger hört, ist bloß Propaganda, wie dumm von mir, gerade jetzt von ihnen zu denken, sie wären verdammt.

»Sehen Sie mal«, sagte ich in verstiegener Hoffnung zu Restarick, »da drüben gehen die Lichter an. Wie überall sonst auch.«

»Selbstverständlich gehen die Lichter an«, sagte er, »in den Wachtürmen.«

Und er zeigte auf einen davon, von dem aus plötzlich ein Suchscheinwerfer in Richtung des verfallenden Dorfes ins Dunkel stach und dann in einem langen Bogen Meter für Meter das im Osten zum Zaun hinführende Gelände absuchte.

Jeden Tag, Robert, riskieren Ostdeutsche in Gruppen von zehn, zwanzig oder hundert ihr Leben, um in diesem Gebiet die Grenze zu überqueren. Es wurden Flüchtlingslager eingerichtet; nicht weit von Göttingen gibt es ein großes, zu dem mich Restarick bald mal mitnehmen will, wie er mir versprochen hat. Er sagt, dass es bereits jetzt grauenvoll überfüllt ist – es ist leichter, aus einem alten Leben zu entfliehen, als in einem neuen aufgenommen zu werden. Und doch strömen sie aus dem Osten hierher, ducken sich unter den grausamen Suchscheinwerfen hindurch, reißen sich ihr Fleisch an den Zäunen blutig.

Sie müssen das unseren Freunden erzählen. Den leichtfertigen Behauptungen, dass jenseits der Grenze alles (mehr oder weniger) in Ordnung sei, muss Einhalt geboten werden. Heuchelei ist auf sozialistischer Seite noch übler, als wenn sie von den Rechten kommt, weil wir uns auf moralische Integrität berufen, während jene sie einfach als Mittel zum Zweck verkaufen können, das sich für sie seit jeher bewährt hat …

Doch allen Zweifeln und Gefühlen, die der Stacheldrahtzaun geweckt hatte, zum Trotz war der Abend in Bremke ein Erfolg gewesen. Das Essen war so gut, wie Restarick versprochen hatte, und es hatte einen perlenden Rotwein gegeben, den man direkt vom Fass in Weinkrüge abgefüllt serviert bekam und der, wie Restarick sagte, hierzulande dafür bekannt war, nicht nur die Zunge zu lockern, sondern auch der Verdauung mehr Pfiff zu geben. Die Bedienung war schlicht, aber schnell, und der Raum, in dem sie saßen, war gemütlich und einladend, so dass sich alsbald eine vertrauliche Stimmung einstellte. Obwohl es nicht Daniels Art war, viel über sich zu erzählen, wenn er jemanden nicht schon länger kannte, erwähnte er hier, beim dritten Krug Wein, seinem Begleiter gegenüber doch tatsächlich jene Ängste, über die er bisher nur mit Jacquiz Helmut gesprochen hatte.

»Die Eltern meines Vaters waren Juden … aus Hannover. Sie waren so klug, das Land schon früh zu verlassen, in den späten zwanziger Jahren. So ist Deutschland, wie Sie sehen, Earle, in gewisser Weise doch auch mein Land … und zugleich das Land, das mich abgelehnt hat.«

Restarick überlegte.

»Können Sie Deutsch?«, fragte er.

»Nur ein paar Wörter aus dem Sprachführer. Meine Großeltern sind beide gestorben, als ich vier war, und mein Vater wollte nicht, dass die Sprache in seinem Haus gesprochen wurde. Er hat die meisten deutschen Bücher meines Großvaters weggegeben. Und den Rest verbrannt.«

»Wenn Sie kein Deutsch sprechen, so ist das hier nicht Ihr Land.«

»Dennoch habe ich das Gefühl, als würde ich hierher zurückkehren … zurückkehren an einen Ort, der mich verstoßen hat … so dass ich mich mehr davor fürchte, als wenn ich eben einfach bloß zum ersten Mal herkommen würde.«

»Aber Sie kommen einfach bloß zum ersten Mal her«, insistierte Restarick. »Wie lange auch immer Ihre Vorfahren in Hannover oder sonst einer verfluchten deutschen Stadt gelebt haben mögen, Sie wurden in England geboren, Sie besitzen einen englischen Pass und Sie hatten bis vor sechzehn Tagen noch nie einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt. Die Leute hier können Ihnen gar nichts wollen, rein gar nichts.«

»Die sehen das anders.«

Trotzdem fand er dieses Gepolter auf merkwürdige Weise tröstlich.

»Die Engländer«, fragte Restarick beharrlich weiter, »die haben Ihren Vater doch 1939 nicht interniert?«

»Nein. Sie haben ihm Arbeit gegeben, im Informationsministerium.«

»Und Ihre Mutter? Sie sagten, Sie sei weder deutsch noch jüdisch?«

Hatte er das erzählt? Er konnte sich nicht erinnern, aber es stimmte ja, also musste er es wohl erwähnt haben. Der Wein verwirrte seine Sinne.