Die Schatten von Sherwood - Tilman Röhrig - E-Book

Die Schatten von Sherwood E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Als der Wilddieb John Little Zeuge wird, wie die Schergen des Sheriffs von Nottingham sein Dorf auslöschen, flieht er mit der einzigen anderen Überlebenden: seiner Adoptivtochter, der kleinen Marian. Zusammen suchen sie Schutz im Sherwood Forest, aber auch dort lauern Gefahren: Der Räuber Robin Hood greift sie auf, doch ist er nicht der schillernde Held, für den er gehalten wird …

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ISBN 978-3-492-98040-1

© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2013 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Erstausgabe: Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 1994, unter dem Titel: »Robin Hood – Solang es Unrecht gibt« Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © TheFinalMiracle, Jacob Gregory / Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2010

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I

WESTFRANKREICH. SCHLOSS CHINON.

»Der König ist tot.«

Geflüster durch lange Gänge, an Zimmern und Sälen vorbei. Schon gelangte es hinunter zur Küche, von dort aus sprang es in die Kammern der Mägde, Knechte und Diener. Noch ehe die Nachricht am 6.Juli 1189 den Schlosshof verlassen hatte, fiel das Gesinde über den herrschaftlichen Hausrat her. Leuchter, Möbel, Samt, das silberne Tafelgeschirr, was sie tragen konnten, rafften die Gierigen an sich und schafften es fort. Sie drangen ins königliche Gemach ein und beraubten den Verstorbenen aller Ringe und Ketten, selbst die Kleider rissen sie ihm vom Leib.

Totenstille.

Nach Stunden endlich trafen einige der noch fürstentreuen Vasallen ein, sie stürmten durch ausgeplünderte Säle und starrten entsetzt auf das Sterbelager. Heinrich Plantagenet, König von England und Herrscher über die westlichen Länder Frankreichs, Heinrich II., der im Leben so mächtige Normannenfürst, lag, halb aus dem Bett gezerrt, nackt und reglos vor ihnen.

Die Getreuen brachten neue Gewänder, kleideten den Toten und legte seine Hände auf der Brust zueinander. Jetzt erst riefen sie laut: »Der König ist tot!«

ENGLAND. LONDON.

»Es lebe der König!«

Zwei Monate später war die große Stadt an der Themse geschmückt. Kopf an Kopf wogte die Menge auf den Straßen zwischen St.Paul’s Cathedral und Westminster. Nicht allein die Bürger Londons hatten ihre Hütten und Häuser verlassen. Aus allen Teilen Englands waren sie in den vergangenen Tagen zu Pferd, mit Kutschen, Karren oder zu Fuß gekommen, Kaufleute und Bettler, Freie und Hörige, sie alle warteten seit den frühen Morgenstunden des 13.September 1189 auf den großen Augenblick.

Die Dörfler aus der Grafschaft Nottingham standen dicht beieinander. Kaum mehr als eine Hand voll, der Kesselflicker, einige Frauen und zwei Kinder. Gestern und vorgestern hatten sie gut verkauft. Geschnitzte Kellen, Löffel, Tiegel und Wollwaren.

»Sag es: Hoch lebe der König!« Im Gedränge übte die Weberin mit ihrem kleinen Sohn. Das Kind mühte sich. Geduldig wiederholte die Mutter. Mit einem Mal unterbrach sie. Der Blick wurde streng. Schon wieder wischte sich ihre neunjährige Tochter die schmutzigen Hände am Kittel ab. »Lass das, Marian! Und stell dich gerade!« Die Weberin seufzte. »Und bitte, wenn der König kommt, dann rufst du, so laut du kannst!«

»Ich sag, was ich will.« Damit duckte sich Marian und schüttelte den Kopf, ungebändigt krausten sich die blonden Locken.

Bewaffnete in Kettenhemden bahnten eine breite Gasse durch das Volk bis hinüber zum weit geöffneten Portal von Westminster Abbey.

Fanfaren! Die festliche Zeremonie begann.

Barone, Grafen, Bischöfe, die Vornehmsten der Insel, führten den Krönungszug an. Kein Applaus begleitete sie. Schweigend reckten die Bürger den Hals. Mit verschlossenen Mienen beobachteten sie, wie auserwählte Ritter und Adlige die Insignien der Königsmacht vorbeitrugen, das Zepter, die goldenen Sporen, den purpurfarbenen Mantel, auf dem die Wappenlöwen prangten.

Unruhe. Unterdrückte Flüche. Hier und da versteckten Handwerker, Fischer und Krämer die geballte Faust im Rücken.

»Graf Johann«, zischte der Kesselflicker den Frauen aus Nottingham zu. »Das also ist er.«

Gerüchte umgaben den jüngeren Bruder des neuen Königs, furchtbare Gerüchte. Dort ging der Prinz und durfte sogar eins der drei goldenen Schwerter den langen Weg von der Kathedrale bis zur Krönungskirche in Westminster tragen.

Viele sahen ihn heute zum ersten Mal aus der Nähe und schauderten.

Das prunkvolle Gewand hing der leicht nach vorn gebeugten Gestalt von den eckigen Schultern. Der kleine Kopf fuhr nach rechts und links. Unter halb gesenkten Lidern musterten die Augen das Volk. Wen der kalte Blick traf, der wandte erschreckt das Gesicht ab.

»Beim heiligen Willick«, murmelte der Kesselflicker. »Besser, ich bleib erst mal in London. Hier hat er nichts zu sagen.«

Früher hieß der Prinz nur »Johann Ohneland«. Seit zwei Wochen war er auf der Insel, seit zwei Wochen hatten sich in den Spelunken die Leute abends um seine Dienerschaft geschart. »Erzählt!« Und für eine Kanne Bier, einen Krug Wein vergaßen Stallknechte und Pagen schnell alle Vorsicht. »Falsch und jähzornig ist er. Keiner ist vor seinem Messer sicher.« Sie zeigten ihre Narben im Gesicht, am Hals, auf den Armen.

Nicht genug. Der Prinz war rücksichtslos zu jedermann. Johann hatte in der Vergangenheit stets seinen Vorteil gesucht. Mal verriet er den Vater, mal hinterging er den Bruder, kurze Zeit später bat er kniefällig wieder um Vergebung. Er spielte Freund und Feind gegeneinander aus, und jetzt hatte er es endlich geschafft. Den Beinamen »Ohneland« konnte er ablegen. Um des Friedens willen hatte der zukünftige König dem Bruder einige Grafschaften Englands verliehen, auch die Alleinherrschaft über Burg und Stadt Nottingham, über die fruchtbaren Äcker und ausgedehnten Wälder.

Der Kesselflicker blickte dem Grafen nach. Wie dieser kleine Kopf nach rechts und links zuckte! »Nein, nein. Besser, ich geh erst mal nicht zurück.« Er kratzte das bärtige Kinn. Zu Haus, dort oben in Nottingham und höher hinauf bis nach York, gerade dort mussten von heut an die armen Leute zittern, denn Habsucht, Machtgier und ungezügelte Grausamkeit waren die einzigen Tugenden des dreiundzwanzigjährigen Prinzen.

Ohne Halt, feierlich langsam bewegte sich der Zug durch das Volk.

»Da vorn. Siehst du?« Die Weberin drehte behutsam den Kopf ihres Sohnes. »Da geht unsere alte Königin.«

»Hoch lebe …«

Sofort verschloss sie den kleinen Mund. »Noch nicht.«

Königin Eleonore, die Mutter der ungleichen Söhne, lächelte offen und herzlich den Menschen am Straßenrand zu. Mit gleicher Wärme wurde sie von den Bürgern empfangen.

Endlich. Unter einem seidenen Baldachin schritt Richard, hoch gewachsen, breitschultrig, rot das Haar, rot der Bart, die grauen Augen fest nach vorn gerichtet.

»Jetzt.« Die Weberin hob das Kind über den Kopf.

»Hoch lebe der König!«, krähte es mit heller Stimme. Marian sah den großen Mann, ihre Augen leuchteten. Aus voller Kehle unterstützte sie den kleinen Bruder.

»Hoch! Hoch!«, fielen die Umstehenden ein.

Welch eine Kraft strahlte der neue König aus. Selbst der Kesselflicker streckte ihm die Arme zu und schämte sich nicht.

Ja, auch Richard Plantagenet war Normanne wie sein Vater, ein Franzose, ein Fremder auf der Insel. Seit mehr als hundert Jahren, seit die große Schlacht bei Hastings verloren war, regierten die normannischen Könige drüben vom Festland aus über das englische Volk. Doch ihre Lehnsleute und Bischöfe kamen, nahmen sich den besten Boden, bauten Burgen und erweiterten die Macht der Klöster. »Hier leben nur Barbaren ohne höfische Sitte und Kultur.« Die herausgeputzten Edlen rümpften die Nase. Sie parlierten französisch und verachteten die Sprache der Unterdrückten. Rücksichtsloser als Raubritter pressten sie Abgaben aus den Besiegten.

Wer konnte die Willkür der allmächtigen Lord-Sheriffs, der Barone und unbarmherzigen Bischöfe brechen? Was nutzten Recht und Gesetz, wenn niemand sie für die Ärmsten durchsetzte? Bisher waren die Könige entweder zu schwach gewesen, oder sie hatten sich nur selten und viel zu kurz in England aufgehalten. So herrschte ungehindert der zügellose normannische Adel über die Angelsachsen.

Und dennoch jubelte heute das Volk. Richard I. war stark, stark genug. Sein Herz besaß die Kraft eines Löwen, und er hatte sein Wort gegeben: »Für mich und vor dem Gesetz gibt es keinen Unterschied zwischen Normannen und Angelsachsen.« Vielleicht gab es bald ein Leben ohne Angst? Vielleicht kehrten wirklich Friede und Gerechtigkeit auf der Insel ein?

»Richard Löwenherz! Hoch lebe König Richard!« Alle Hoffnung der Unterdrückten lag in diesem Namen.

Ungezählte Kerzen erhellten den Kirchenraum. Der Erzbischof von Canterbury bestrich Kopf, Brust und Arme des Zweiunddreißigjährigen mit heiligem Öl. »Gelobst du, deinen Eid unverbrüchlich zu halten?«

»Ja. Mit Gottes Hilfe.«

Richard Plantagenet kniete vor dem Altar nieder. Langsam setzte ihm der Erzbischof die edelsteinglitzernde Krone aufs Haupt.

Königin Eleonore betrachtete voll Stolz ihren geliebten Sohn. Neben ihr, den Kopf leicht abgewandt, rieb Johann die weißen Fingerknöchel an den Zähnen. Die hagere Gestalt zitterte.

»Es lebe der König!« Fanfarenklänge von allen Türmen Londons. »König Richard lädt euch ein!«

Duft nach Braten und frischem Brot zog durch die Straßen. Auf den Plätzen schäumte das Bier in übervollen Kannen. In jeder Hand hielt der Sohn der Weberin einen Honigkringel und wusste nicht, in welchen er zuerst beißen sollte. Trommelwirbel. Mit glühenden Wangen stand Marian neben ihrer Mutter, staunte und lachte. Gaukler zeigten tollkühne Kunststücke. Freudenfeuer loderten bis spät in die Nacht.

»Hoch lebe …«, murmelte der Kesselflicker trunken und rollte sich im Schutz einer Mauer zusammen.

Nichts besserte sich. Richard Löwenherz hatte keine Zeit für England, für die Not seiner Untertanen.

»Du hast dein Wort gegeben.« Königin Eleonore stellte den Sohn zur Rede. »Dein Volk wird gequält und geknechtet. Du bist seine Hoffnung. Enttäusche die Armen nicht!«

»Erst muss ich ins Heilige Land. Mein Kreuzzugsgelübde ist älter als der Eid, den ich dem englischen Volk geschworen habe.« Behutsam legte der große Mann den Arm um die Achtundsechzigjährige. »Sorg dich nicht, Mutter! In spätestens zwei Jahren haben wir die Ungläubigen aus Jerusalem vertrieben. Nach meiner Rückkehr werde ich …«

»Und was geschieht bis dahin?« Zornig befreite sich die Königin aus der Umarmung. »Wer soll dein Stellvertreter werden? Etwa dein Bruder Johann? Das Recht steht ihm zu.« Sie seufzte, leise fuhr sie fort: »Auch er ist mein Sohn. Doch selbst ich fürchte mich vor ihm.«

»Sorg dich nicht! Zum obersten Richter habe ich einen meiner engsten Vertrauten ernannt. Er wird mich während meiner Abwesenheit vertreten. Johann muss sich ihm beugen.«

Mit einem bitteren Lächeln blickte Eleonore den König an. »Wie schlecht du deinen Bruder kennst.«

Schwere Wolken trieben. Regen. Beim ersten Grauen des 11.Dezember 1189 lichtete Richards Schiff den Anker. »Eine glückliche Heimkehr!« Am Ufer winkten Höflinge und Vasallen des Königs.

Reglos wartete Graf Johann, bis das breite Normannenschiff sich in den Wind drehte und mit geblähtem Segel Kurs auf Frankreich nahm. »Nie sollst du zurückkehren«, flüsterte er. Schnell wandte er den Kopf und presste die schmalen Lippen aufeinander. Sechs Grafschaften hast du mir freiwillig überlassen. Das ist nicht genug. England will ich, deinen Thron und alles, was du besitzt. Kälte glitzerte in seinen Augen. »Den Tod wünsch ich dir, liebster Bruder!«

II

LETZTE NACHRICHT VOM KREUZZUG:Im Juni und Juli 1191 belagern Richard Löwenherz und das Kreuzfahrerheer die Küstenstadt Akkon. Sultan Saladin kann das Tor zum Heiligen Land nicht retten.

GRAFSCHAFT NOTTINGHAM. SHERWOOD FOREST.

Auch den Kopf trennte er ab. Noch im Versteck rieb er seine verschmierten Hände mit Erde und reinigte sie am taunassen Gras. Früh war es, gerade grau, ein kühler Oktobertag im Jahr 1191. Geruch nach dampfendem Blut und Eingeweide stand in der Luft.

Der riesenhafte Mann glitt aus dem Unterholz. Ein kurzer Blick zurück. Niemand würde die Stelle entdecken, und morgen schon hätten Fuchs und Krähen die blutigen Reste beseitigt. Rasch ging er mit seiner Last davon. Kein Rascheln der Büsche. Kein Zweig knickte rechts und links des Pfades. Die graue Kapuze des dicken, fest gewebten Wollüberwurfs bis in die Stirn gezogen, trug John Little den erlegten Hirsch auf Schultern und Nacken. Jagdglück. Seine Lippen, umrahmt von schwarzem Bartgeflecht, spannten sich. Verbotenes Jagdglück. Ehe die Forstwächter oder die berittenen Waffenknechte des Lord-Sheriffs von Nottingham mit ihren täglichen Streifzügen durch den Sherwood begannen, musste er das Wildbret sicher ins Dorf gebracht haben.

Ein Eichelhäher schreckte hoch, weit gellte der Warnschrei.

»Sei still«, brummte John. Fester umschlossen seine Fäuste die Läufe des Hirsches. Den Langbogen hatte er links geschultert, die Sehne schnürte eine Hälfte des kurzen Umhangs gegen das abgewetzte Lederwams. Mit dem Geweih nach unten hing das mächtige Haupt in der rechten Armbeuge. John sah auf und verengte die Augen. Da und dort blitzte erstes Sonnenlicht durch die Blattkronen. »Bin spät.« Er beschleunigte den Schritt. Noch drohte keine Gefahr. »Wenn’s nur so bleibt.« Nachher wollte er noch zu den Hasenschlingen.

Ohne Anstrengung trug der Riese die schwere Beute. »Heut gibt’s genug Fleisch.« Er sah die Kinderaugen, den dankbaren Blick der Frauen und schmunzelte. »Genug für uns alle.«

Sein Dorf, die fünf Hütten, der Stall und die vierzehn Menschen, Kinder mitgezählt, gehörten dem Kloster Newstead. Die Frauen und Männer arbeiteten schwer für das Wohlergehen der Mönche, kaum blieb den Höflern Zeit, ihren eigenen schmalen Ackerstreifen zu bestellen. Und im zurückliegenden nassen Sommer waren die Früchte auf dem Feld verfault. Hunger drohte. Nichts würden die frommen Brüder von ihrem Überfluss abgeben, weder jetzt im Herbst noch während der Wintermonate.

»Seine Schafe und Schweine flittert der Prior. Was mit uns geschieht, John, ist ihm gleichgültig.« Wie oft hatte Marians Mutter die Fäuste geballt. »Wir müssen uns für die Schwarzkutten abplagen …« Nach einer Weile setzte sie bitter hinzu: »Bis wir tot sind. Ach, John, besser sollte es für uns werden, das hat König Richard versprochen. Ich habe es selbst gehört. Aber schlimmer ist es …«

»Still! Ich sorg schon.« Es war kein Trost für sie, das wusste John Little. Seit ihr Mann im letzten Frühjahr von einem Baum erschlagen worden war, lebte er zusammen mit der Weberin und den beiden Kindern. Seine eigene Frau war im harten Winter vor drei Jahren gestorben, er hatte inzwischen gelernt, mit dem Verlust zu leben, doch für Marians Mutter war die Wunde noch zu frisch. Der bärenstarke Mann drängte nicht, er gab ihr, dem kleinen Jungen und Marian seinen Schutz und wartete.

Das Vieh war dem Prior wertvoller als die unfreien Menschen, die es hüteten! Was blieb den Hörigen des Augustinerklosters übrig? Einer musste für Fleischvorrat sorgen.

»Alles Wild im Sherwood ist Königswild.« So lautete das Gesetz. Damals, vor dem Krönungsfest, hatte Richard Löwenherz die Grafschaft seinem Bruder übertragen. Von diesem Tag an gehörten Hasen, Rehe, Wildschweine und Hirsche, jedes Tier des Waldes, dem hartherzigen Johann. Sein Statthalter und Richter, der Lord-Sheriff von Nottingham, kannte keine Gnade. Wehe dem Mann, der mit einer Beute angetroffen wurde. Sein Prozess war kurz. Verstümmelung, Kerker oder Tod erwarteten ihn nach dem Urteil. Wehe dem Dorf, in dem Fleisch vom Königswild gefunden wurde. Die Bewohner waren der rohen Willkür des Richters ausgeliefert.

John Little kannte jeden Pfad, jeden Wildwechsel im Sherwood. Die Fäuste des Dreißigjährigen waren hart, sein Pfeil traf auf hundert Schritt. Also ging er für alle auf die Pirsch.

Jagdglück. Heute Morgen kehrte er mit stolzer Beute zurück. Im Schutz des Gehölzes blieb er stehen und spähte durch die Blätter auf die weite Lichtung hinaus.

Kinder balgten sich um einen Holzball. Im Rund standen die erdgedeckten Hütten beieinander. Aus den Dachöffnungen stiegen dünne Rauchsäulen. Es roch vertraut nach Herdfeuer. Zwei Frauen saßen schon längst draußen auf dem Dorfplatz, zupften Schafwolle vom Rocken, ließen die Spindel tanzen und wickelten das versponnene Garn. Drüben neben dem Stall verschmierten der Schmied und die drei anderen Männer des Dorfes die Balkenwände der neuen Scheune mit Lehm.

»Bin nicht zu spät.« Nirgends entdeckte John Little eine schwarze Kutte. Noch war der Mönch nicht da, der die Tagesarbeiten beaufsichtigte.

Zufrieden stieß er den Atem aus. Mit wiegendem Schritt trug er seine Beute auf die Hütten zu. Kaum hatten die Kinder ihn entdeckt, vergaßen sie ihr Spiel und ließen den Ball achtlos rollen.

»John!« Sie rannten dem Jäger entgegen, jubelten. Zum Dank für die Begrüßung schnitt der Hüne eine Furcht erregende Grimasse, wie ein Bär tappte er vor der kichernden Meute hin und her.

»Dreh dich! Bitte! Dreh dich!«

»Jetzt ist’s genug!«, warnte er.

Sofort schlossen sich die Münder. Lautlos kehrten die Kleinen um, liefen von Tür zu Tür. »Ein Hirsch«, wisperten sie. »Kommt schnell!« Die Arme reichten nicht aus, um die Größe des Tieres zu zeigen.

Marian stürmte ins Freie. Gleich folgte der kleine Bruder. In seinem Eifer stolperte er, kläglich rief er hinter der Schwester her. Marian kümmerte es nicht. Sie lachte zu dem bärtigen Gesicht auf Ihre Lippen gespitzt, begutachtete sie die Beute und zeigte auf das Geweih. »Wie oft hast du geschossen? Sag es!«

»Ein einziger Pfeil. Und gleich durchs Herz.«

»Ehrenwort?«

»Ich sag’s dir, Mädchen.«

»Irgendwann kann ich das auch.« Mit beiden Händen griff sie in ihre blonden Locken und drehte sich im Kreis.

Die Weberin erwartete ihn vor der Hütte. »Gut, dass du zurück bist.«

Für einen Augenblick zögerte John, besann sich und schritt weiter. »Schon recht.« Er lächelte.

Hinter dem Stall hatten die Männer des Dorfes bereits das hölzerne Gestell aufgerichtet. John wuchtete die Beute von der Schulter, gemeinsam hakten sie das Wildbret mit den Hinterläufen an die Querstange.

»Wir teilen.« Der Hüne schob die wollene Kapuze in den Nacken. »Aber das Fell möcht ich diesmal ganz.« Beinah verlegen wischte er den Schweiß von der Stirn hinauf in die schwarze Mähne. »Ein neues Wams brauch ich. Viel bleibt da nicht übrig.«

»Auch das Geweih!« Marian fasste nach den Stangen.

»Lass gut sein, Mädchen«, brummte John. Während er davonging, begannen die Nachbarn sorgfältig den Hirsch aus der Decke zu schälen. Was für ein Tag! Vorfreude erhellte die Gesichter. Heute Abend gab es einen Festbraten, und jeder würde sich satt essen können!

In der Hütte entspannte der Jäger seinen Langbogen und legte ihn neben dem Köcher ab. »Bin gleich wieder da. Nur schnell noch die Schlingen.«

Marians Mutter sah vom Webrahmen auf. »Gib auf dich Acht! Wir brauchen dich, John.«

»Schon recht.« Kurz prüfte er den Jagddolch in der Scheide und griff nach dem Eichenstock. In seiner Hand wurde dieser mannshohe, armdicke Stamm zu einer gefährlichen Waffe. Blindwütige Eber brachte er mit einem einzigen Hieb zur Strecke. Stoßen und Schlagen, im Kampf ließ er den Stock wirbeln und fürchtete weder Schwert noch Streitaxt des Gegners.

Draußen neben der Hütte erwartete ihn Marian. »Nimm mich mit!« Sie hatte den Wollkittel mit einem Lederriemen gegürtet, an der schmalen Hüfte trug sie das Messer, in der Hand wog sie den Stock, den John ihr geschnitzt hatte.

»Geht nicht, Mädchen. Ist jetzt zu gefährlich. Hilf deiner Mutter!«

»Weben! Dazu hab ich heut keine Lust.«

»Versteh doch! Es ist schon spät. Mit dir bin ich zu langsam.« Sanft, aber entschlossen schob er sie beiseite und verließ das Rund der Hütten. Marian rannte neben ihm her. »Nur weil ich kein Junge bin? Deshalb?« Ihre blauen Augen funkelten. »Du bist ein Feigling.«

Keine Antwort.

»Ein Feigling und ein Dummkopf Jawohl!«

Schneller schritt John auf den Rand der Lichtung zu.

»Und für den Hirsch hast du bestimmt mehr als einen Pfeil gebraucht.« Wut trieb sie. »Jawohl! Gelogen hast du!«

Jäh blieb der Hüne stehen, rot flammte die Narbe im Bartgeflecht der rechten Wange. Er beugte sich zu der Zornigen hinunter. »Nicht, Mädchen.« Seine Stimme wurde dunkel. »Ich belüg dich nie, das weißt du. Auch deine Mutter nicht.«

Damit ließ er Marian stehen und tauchte ins Gehölz am Rand der Lichtung. Kein Rascheln. Kein Zweig knickte.

Marian sah ihm nach und stampfte mit dem Fuß auf »Gemeiner Schuft.« Erst als sie den Dorfplatz wieder erreicht hatte, sanken die Schultern. Der Tag war verdorben. Und Schuld hatte dieser riesige Kerl. Marian wischte über die Augen. Jetzt der Mutter helfen? Nein. Vielleicht später.

Unbemerkt schlich sie um die Hütte herum. Gleich hinter dem Hühnerstall kauerte sie sich nieder, schob den schilfgeflochtenen Deckel etwas zur Seite und stieg in die Erdkammer. Sofort verschloss sie die Luke wieder, doch nur so weit, dass ein Spaltbreit Tageslicht hereinfiel. Hier in der Kühle lagerten John und die Mutter den Vorrat. Viel war es in diesem Jahr nicht: zwei Brote. Der Trog, halb gefüllt mit Korn. Daneben Äpfel, Birnen, Nüsse. Und Töpfe, randvoll mit honiggesüßten Beeren.

Marian liebte den Duft nach Brot und Frucht. Wenn sie gestritten hatte, wenn sie unglücklich war, floh sie hierher. Nirgendwo sonst konnten sich ihre Gedanken so gut wieder ordnen und das Herz ruhiger werden. Marian schloss die Augen. Ach, John, ich war gemein zu dir. Du belügst mich nicht, das weiß ich. Aber ein Mädchen kann doch genauso schnell sein wie ein Junge. Warum begreifst du das nicht?

Pferdegetrappel! Marian zuckte zusammen. Das Donnern der Hufe kam näher, war schon im Dorf. Befehle. Rufe.

Jetzt weinten Kinder. Laut riefen die Frauen nach ihnen. Marian presste die Hand vor den Mund und schob das Gesicht dicht an den Lichtspalt hinauf Angestrengt horchte sie. Nein, die Stimme der Mutter war nicht dabei. Sie ist mit dem Bruder in der Hütte, ganz sicher.

»Königswild!«

»Ihr habt Prinz Johann einen Hirsch gestohlen!« Das rohe Gebrüll der Fremden war überall. Einer schrie über den Lärm. »Treibt alle zusammen!«

Marian schloss die Augen. Bewaffnete, hämmerte das Herz, die Waffenknechte des Lord-Sheriffs haben unseren Hirsch entdeckt. Heilige Mutter Gottes, lass uns nicht allein!

Nur Satzfetzen drangen bis ins Versteck.

»Habt doch Erbarmen …«

»Verschont uns …«

»Diebe müssen bestraft werden, das wisst ihr doch …« Lachen, furchtbares Gelächter. »Hackt ihnen die Hände ab.«

»Halt! Wartet.«

Das ist der Schmied, schoss es Marian durch den Kopf

»Ohne den Richter dürft ihr das nicht. Wartet …« Mit einem gurgelnden Laut brach die Stimme ab. Schweigen.

In die Stille fuhr ein scharfer Ruf »Mörder! Mörder seid ihr!«

»Mutter«, stammelte Marian. »Bitte sag nichts. Bitte!«

Doch furchtlos schleuderte die Weberin ihre Empörung den Waffenknechten entgegen. »Wir gehören dem Kloster Newstead. Vors Gericht könnt ihr uns bringen, mehr dürft ihr nicht. Aber jetzt seid ihr Mörder, eine Mordbande, nichts sonst. Jetzt wird der Prior euch selbst beim Sheriff anklagen. Und wir alle werden bezeugen, was ihr mit unserm Schmied getan habt.«

Wieder lachte der Truppführer, lachte und lachte. Plötzlich hielt er inne. »Niemand wird etwas sagen können.«

Marian hörte den entsetzten Ruf der Mutter: »Lasst mein Kind!« Dann schrie sie und schluchzte.

»Nicht!« Immer wieder schüttelte Marian den Kopf »Nicht. Es ist nicht wahr.« Haltlos stürzten dem Mädchen Tränen über die Wangen.

»Schlagt sie tot! Keiner darf übrig bleiben.« Der Truppführer lachte. »Und du, du Weib, wirst zusehen. Dich stech ich zuletzt ab.«

Hufe stampften. Die Bewohner des Dorfes schrien in höchster Angst, wimmerten, bis ihr Klagen erstickte.

Ich muss der Mutter helfen. »Muss helfen.« Marian öffnete die Luke und stieg ins Freie. Sie drückte sich an der Hüttenwand entlang. Erstarrt blieb sie stehen. Auf dem Platz lagen die Nachbarn. Kinder, Frauen und Männer. Vier Reiter ritten über die Leblosen hin und her, stachen immer noch aus dem Sattel mit ihren Speeren zu.

»Muss helfen.« Dort war die Mutter.

Der Truppführer hatte den linken Arm von hinten um den Hals der Weberin gelegt und sie an sein Kettenhemd gepresst. »Mach die Augen auf!« Er schüttelte sie.

Marian flüsterte: »Muss helfen. Muss helfen.« Sie vermochte sich nicht zu bewegen. Sie sah den Bruder. Vor den Füßen der Mutter lag er. Auf seiner Brust war das Kittelchen dunkelrot. »Muss helfen.«

Jetzt hob der Truppführer die rechte Faust. Der Dolch! Marian riss den Mund auf und schrie. Doch kein Laut brach hinaus. In ihrem Kopf schrie sie weiter, gellend.

Achtlos stieß der Kerl sein Opfer von sich.

Der Schrei in Marian verstummte, allein ein beständiger dumpfer Ton blieb und füllte sie aus. Beinah sanft rückte die Wirklichkeit ein Stück von ihr ab. Sie sah die Mutter fallen.

Abwesend stand das Mädchen da, die Augen geöffnet.

Wie aus weiter Ferne hörte sie erneutes Gebrüll.

Die Eisenkerle fuhren im Sattel herum, formierten sich zu einer Reihe. Zum Kampf bereit, zückte ihr Führer das Schwert. Schon war John Little heran. Sein Eichenstock traf den Waffenknecht des Lord-Sheriffs mitten ins Gesicht. Der Kopf knickte nach hinten. Brüllen. Kreisend schlug der Hüne zwei Reiter aus dem Sattel. Seine Hiebe zersprengten die Kettenhemden. Brüllen. Der Dritte stach mit dem Speer nach dem Tobenden. John wehrte ab, riss den Kerl zu sich herunter und tötete ihn, bevor er den Boden erreicht hatte. In wilder Hast gab der Letzte der Mordbande seinem Pferd die Sporen. Der Gaul setzte über die Leichen hinweg und preschte zum rettenden Wald.

John Little verfolgte ihn nicht. Schwer atmend suchte er mit dem Blick den Dorfplatz ab. Seine Augen fanden die zusammengesunkene Frau neben ihrem Sohn. John stapfte hinüber. Der Eichenstock glitt ihm aus der Hand. Zittern schüttelte die mächtigen Schultern. Stumm ließ sich der Hüne auf beide Knie fallen. Als habe er Angst, sie zu wecken, so behutsam neigte er sich über die tote Frau, nahm ihr langes Haar und presste es an seine Augen.

Die Glocke des Klosters tönte herüber. Das Läuten riss John aus dem Schmerz. Er musste fliehen, ehe der Mönch das Dorf erreichte. Ganz gleich, was die Berittenen den Höflern angetan hatten, der eine, der entkommen war, würde ihn beschuldigen. Seinem Waffenknecht glaubt der Lord-Sheriff mehr als einem Hörigen. Das wusste John. Und wenn der Prior nach Nottingham geht? Nein, das würde nichts ändern. Keine lästige Untersuchung, Schuld an dem Morden trägt nur einer. »Mich werden sie jagen wie ein wildes Tier, wie die Geächteten, die in den Wäldern hausen.«

John Little legte die Leiche des Jungen in den Arm seiner Mutter, ein letzter Blick, hastig griff er nach dem Stock und erhob sich. Niemand durfte ihn hier antreffen. Langbogen, Köcher, Feuerstein und Schwamm, etwas Brot, vor allem den ledernen Wasserbeutel! In der Hütte raffte John das Nötigste zusammen und stürmte wieder nach draußen.

Da entdeckte er das Mädchen. Reglos stand es neben dem Eingang.

»Marian.« Trotz des Elends verspürte er Freude. »Du lebst. Du hast auf mich gewartet.«

Leer blickten ihn die hellen Augen an.

»Mädchen? Ich bin’s.«

Sie antwortete nicht. Sanft fasste er die heiße Hand, berührte das bleiche Gesicht. »Nun sag doch was!« Sie schwieg.

»Wir haben keine Zeit mehr. Komm, jetzt nehm ich dich mit!« Sie bewegte sich nicht von der Stelle.

Hart schlug die Glocke von Newstead. Ohne Zögern hob er das Mädchen auf und legte sich den Körper fest um seinen breiten Nacken. »Keine Angst, Kleines! Ich sorg schon für dich.«

Im Laufschritt verließ er die Lichtung. Nach Norden, nicht über die große Handelsstraße entlang des Ostrands, nicht die Karrenwege von Ort zu Ort durch den Sherwood, er kannte die alten, jetzt fast zugewucherten Handwerkerpfade, nur schnell, er musste den Wald durchquert haben, ehe die Verfolger das Gebiet abriegeln konnten. Viel Zeit blieb ihm nicht, vielleicht bis zum nächsten Mittag, und bei Nacht war es zu gefährlich, und mit dem kraftlosen Mädchen kam er langsam voran.

Keine Hast, die vorzeitig ermüdete! John verringerte das Tempo. Sein Verstand zwang die Muskeln zur Ruhe. Von nun an bestimmte sein Atem den gleichmäßigen, ausdauernden Takt der Schritte. Hin und wieder sprach er zu Marian, fragte, doch erhielt keine Antwort. So achtete der Hüne nur darauf, dass kein Ast, keine dornige Ranke das Mädchen verletzten. In Sicherheit waren sie erst, wenn sie die Grenze zur Grafschaft York überschritten hatten. Allein und bei trockenem Wetter benötigte er drüben auf der Handelsstraße für diese Strecke kaum einen Tag. »Zwei werden’s diesmal«, schätzte er.

Viel zu rasch sank der Abend über den Sherwood, die Umrisse der Bäume wurden schwarz. Ehe die Dunkelheit vollständig hereinbrach, suchte John Little einen geschützten Lagerplatz.

»Trink was, Kleines!« Er hockte neben Marian im Moos, hielt den lockigen Kopf und setzte das Hornstück des Lederbeutels an die rissigen Lippen. Erst unbeachtet, lief ihr das Wasser übers Kinn, doch dann öffnete Marian den Mund. Der erste Schluck, ein zweiter.

»So ist’s recht.« John lächelte. Als er ihre Hand an seinem Arm spürte, murmelte er: »Ich halt den Beutel schon. Trink du nur!«

Nach ihr nahm er das Hornstück zwischen die Zähne. Ohne abzusetzen, stillte er den großen Durst.

»Willst du Brot?«

Langsam schüttelte das Mädchen den Kopf.

»So sag doch was!«, bat er und wartete.

Marian schwieg, mit einem Mal zitterte sie am ganzen Körper, hilflos öffnete sie den Mund, Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Nicht. Lass nur. Lass nur!« Er strich über den schmalen Rücken. »Nicht mehr weinen!«

Später säuberte John das Versteck von morschen Ästen. Auf dem Moos schichtete er noch weitere Moosstücke, weich sollte sein Schützling liegen. »Schlaf jetzt, Kleines!«

Starr blickte sie ihn an.

»Wir müssen uns ausruhen. Morgen wird’s hart.«

Marian rollte sich auf dem Lager zusammen.

»So ist es recht«, brummte er. Auf der Seite liegend, rückte er das Mädchen dichter an sich heran, dass es auf dem Moosbett behütet in der Beuge des riesigen Körpers schlafen konnte.

III

GRAFSCHAFT NOTTINGHAM. SHERWOOD FOREST.

Weithin aus der Ebene sichtbar, hoch über dem River Trent thronte die Burg auf der Bergkuppe. Bis dicht an die Kante des steilen Felsens vorgerückt, umschlossen Wehrmauer, Türme und Gebäude den Innenhof. Den einzigen Weg herauf oder hinunter gaben Tor und Zugbrücke nach Nordosten frei. Rechts und links der abfallenden Straße klebten Hütten und Ställe der armen Leute, etwas weiter unten am Markt drängten sich neben rauchigen Schänken die Häuser der Hofbediensteten und Kaufleute, feste Häuser mit geschnitzten Eingangstüren. Das prächtigste, nur wenige Schritte von der Kirche entfernt, gehörte dem Lord-Sheriff

Bei einem drohenden Überfall flohen die Bewohner hinauf in die Festung. Ihre Mauern waren jedem Sturmangriff gewachsen, und für eine Belagerung war Burg Nottingham gut gerüstet.

Ungezählte Höhlen durchzogen das Sandgestein des Bergs, waagerecht und senkrecht, uralte, sorgsam verschlossene Stollen und neu getriebene Tunnel. Fast alle Eingänge befanden sich direkt in der Stadt. Die neuen Schächte waren nach wenigen Stufen von Steinmetzen zu Kammern erweitert worden. Dort lagerten Korn, gepökeltes Fleisch und Stockfisch, genug, um auszuharren, bis dem Feind selbst die Vorräte knapp wurden.

Die Bürger hüteten sich aber, die Stollen ihrer Vorfahren zu öffnen und tiefer in das dunkle Höhlenlabyrinth einzudringen. Oft schreckten sie aus dem Schlaf War da nicht ein Schrei? Hörst du nicht das Wimmern? Die Mutter drückte ihr Kind an die Brust. »Still! Der Beowulf treibt die Seelen der Verdammten durch den Berg. Still! Hier im Bett sind wir sicher.«

Die größte Höhle gehörte zur Burg. Wer das Geheimnis kannte, der gelangte durch diesen Tunnel nach vielen Windungen bis hinunter zur Klippe direkt über dem Trentufer. Die oberen, geräumigen Nischen dienten als Wein- und Bierkeller, vor den tiefer gelegenen kurzen Seitenstollen waren Eisengitter in den Fels eingelassen. Wie viele Gefangene des Sheriffs waren dort in den Kerkern elend zu Grunde gegangen, von Folterknechten gequält, von Ratten gepeinigt?

Oben im Burgsaal fiel Tageslicht durch hohe, spaltbreite Fenster und legte sich wie ein strahlender Schmuck von der Stirnwand bis hin zur Stufe über den erhöhten Teil der Halle. Dieser lichte Bereich, an drei Seiten umgeben mit Jagdszenen auf kostbaren Wandteppichen, war nur dem Grafen und seinen Ehrengästen vorbehalten. Der übrige Raum blieb auch am Tage düster, spärlich beleuchtet vom Widerschein des Kaminfeuers.

Wenn Prinz Johann nicht in Nottingham war, nutzte sein Statthalter und Lord-Sheriff die günstige Gelegenheit. Er beanspruchte den herrschaftlichen Platz für sich selbst und liebte es, statt in seinem eigenen Haus hier seine Amtsgeschäfte zu führen. Es bereitete ihm Vergnügen, am Gerichtstag auf die Angeklagten hinuntersehen zu können.

Klein von Gestalt, kleidete sich Tom de Fitz nach der neuesten französischen Mode. An jeder Hand trug er drei kunstvoll geschmiedete Ringe. Bei einem Turnierkampf mit scharfer Waffe hatte der Lord-Sheriff zwar nicht den Kopf, dafür aber die Kuppe seiner Nase eingebüßt. Seit dieser Niederlage bedeckte er den übrig gebliebenen vernarbten Stumpf täglich mit Kreidepaste. Trotz seiner Bitten und Drohungen war es seiner Frau Beatrice bis heute nicht gelungen, sich an diesen Anblick zu gewöhnen. Doch kein Fremder wagte zu spotten, schon gar nicht, wenn Wut das Gesicht dunkel färbte und das Mal seiner Schande weiß hervorstach.

An diesem Morgen war Tom de Fitz auf der Hut. Vorsorglich hatte er hinter dem Eichentisch auf dem hohen Lehnstuhl seines Herrn Stellung bezogen. Der Besucher saß ihm direkt gegenüber, Auge in Auge. Mehr als eine Stunde war vergangen, immer wieder aufs Neue versuchte der Lord-Sheriff den Prior vom Kloster Newstead zu überlisten.

»Er ist der einzige Zeuge!« Mit gestrecktem Finger deutete Tom de Fitz auf seinen Waffenknecht, drüben, tief im Halbdunkel der Halle. »Und er sagt die Wahrheit.«

»Die Wahrheit?« Spöttisch hob der Prior die Brauen. »Pardon. Seit Graf Johann Euch hier zum Richter ernannt hat, ist die Wahrheit ein seltenes Tier geworden. Kaum jemand hat es in letzter Zeit gesehen.«

»Hütet Eure Zunge!«

Unbeeindruckt glättete der Prior eine Falte seines dunklen Reiseumhangs. »Tatsache ist, cher ami: Mein Klosterbruder, der die Höfler zu beaufsichtigen hat, ging gestern nach dem Morgenläuten hinüber zum Dorf. Dort fand er alle Bewohner erschlagen vor. Auf das Übelste zugerichtet, mit Verlaub.« Ein leicht entrüstetes Kopfschütteln. »Selbst die Kinder!« Wieder geschäftig fuhr der fromme Herr fort: »Die Leute gehörten meinem Konvent. Ich habe Besitz verloren!«

»Diable! Meine Männer lagen gleich daneben. Mir fehlen vier Bewaffnete. Wir sind quitt.«

Gespanntes Schweigen. Der Sheriff presste die Hände gegeneinander, Zornröte überzog das kantige Gesicht. Allein der weiße Fleck veränderte sich nicht.

Sie belauerten einander. Ein nachgiebiges Wort zu früh kostete Geld, blanke Silberstücke.

»Tatsache ist, cher ami: Keiner der Dorfbewohner hätte den Mut aufgebracht, Eure Schergen anzugreifen.«

Der Lord-Sheriff hieb die Fäuste auf den Tisch. »Diable!«

»Flucht nicht in meiner Gegenwart«, ermahnte der Prior sanft, »das bringt uns nicht weiter. Wir verhandeln über ein Geschäft, mehr nicht.«

»Also gut. Dann eben: beim heiligen Dunstan! Beginnen wir von vorn. Zum letzten Mal.« Tom de Fitz schnippte seinem Waffenknecht. »Was geschah gestern in diesem Dorf?«

»Das war so.« Im Schutz des Halbdunkels wiederholte der Knecht seine auswendig gelernte Geschichte. Den Hirsch hätten sie entdeckt. Wie befohlen hätten sie die Leute sofort auf dem Dorfplatz zusammengetrieben. »Unser Truppführer wollte grad mit dem Verhör anfangen. Da kam das Ungeheuer aus dem Wald. Kein Kampfstock, mit ’nem Baumstamm ging er auf uns los. Gegen den Wilden war nichts zu machen. Die Kameraden waren tot. Ich hab’s grad noch geschafft.«

»Und die Leute? Lebten sie noch?«, drängte der Sheriff.

»Als ich weg bin, waren alle gesund.« Eine lange Pause.

»Weiter, Kerl!«

»Das war so. Hinter mir hörte ich Schreie. Ja, so war’s. Alle haben sie geschrien, auch die Kinder.« Der Knecht schwieg.

»Bien. Seid Ihr jetzt endlich überzeugt, ehrwürdiger Vater?« Mit den beringten Fingern der rechten Hand nestelte Tom de Fitz ein kleines Tuch hervor, wischte sich das Gesicht, sorgfältig tupfte er um den Nasenstumpf herum. Seinem Knecht befahl er: »Verschwinde! Warte draußen!«

Kaum hatte der Bewaffnete den Saal verlassen, ergänzte der Prior im Tonfall des Zeugen: »Und dann, dann hat das Ungeheuer die Höfler zerfleischt. Ja, so war’s.« Er lachte trocken. »Pardon. Auch beim dritten Mal wird die Geschichte nicht glaubwürdiger. Nein, cher ami. Es steht schlecht um Euern Kopf Bedenkt, nicht irgendeinem Häuptling dieser Sachsen sind wertvolle Leibeigene wie Vieh abgeschlachtet worden, sondern mir, einem Normannen und Prior eines Augustinerklosters. Und diese Tat wurde nicht von Forstaufsehern verübt, sondern von einem Trupp der Nottinghamer Burgwache. Kein Gesetz gibt den Bewaffneten das Recht dazu, nur auf Euern ausdrücklichen Befehl hin unternehmen sie solche Streifzüge. Dabei haben sie doch wahrlich ein größeres Ärgernis im Sherwood zu beseitigen.«

Bis ins Mark getroffen, erstarrte der Lord-Sheriff.

Ehe er sich fasste, hob der fromme Hirte den Finger. »Ist es nicht so? Vergeblich veranstalten sie Jagd auf diese Gesetzlosen. Wie blinde Schafe tappen sie durch den Wald. Überall wird gemunkelt, dass sich die Strauchdiebe während Eurer Amtszeit mehr und mehr formiert haben. Es soll sogar einen Führer geben. Wie war der Name?« Der Prior spielte mit den Fingern auf seiner Stirn. »Capuchon? Capeline? Dieses Ding, was sie über den Kopf ziehen, grün soll es sein. Mir fällt das Wort in der Sprache dieser ungehobelten Sachsen nicht ein.«

»Hood!«, keuchte Tom de Fitz. »Robin Hood nennt sich dieser Kerl. Par saint Fontin!«

»Nicht in meiner Gegenwart!« Drohend wartete der Prior ab. Der Sheriff biss sich auf die Lippen.

»Bien, mon cher. Es ist kein Geheimnis: Weil Ihr Eure Pflicht vernachlässigt, laufen die Wilden frei herum. Stattdessen lasst Ihr die Dörfler quälen. Ihr allein habt das Morden und Plündern zu verantworten. Bedauernswerter Tom de Fitz, Ihr kennt doch Euern Herrn gut genug. Nach außen hin will Graf Johann seinen Schild unbefleckt. Und dafür habt Ihr Sorge zu tragen!«

Aus dem Gesicht des Lord-Sheriffs war alle Farbe gewichen.

Kühl versetzte der Prior ihm den letzten Stoß: »Was wird geschehen, wenn ich die Angelegenheit höher hinauf berichte und Klage vor dem obersten Richter Englands, dem Stellvertreter König Richards, erhebe? Niemand im Königreich wird es wagen, den einflussreichen Orden der Augustiner herauszufordern, selbst Prinz Johann nicht. Mon Dieu, nicht ausmalen will ich mir, wie er in seinem Zorn mit Euch verfährt!«

»Genug. Nicht weiter!« Der Sheriff beugte sich weit über den Tisch. »Was verlangt Ihr?«

Bescheiden verschränkte der fromme Hirte die Arme über der Rundung seines Bauches. »Für jede Frau, jeden Mann 20Shilling. 10 für jedes Kind.«

»Bien. Dieses Mal will ich großzügig sein.« Tom de Fitz hatte bereits den Beutel gezückt, mit einem Mal zögerte er. »Was sagen wir, wenn bei Euch im Kloster oder hier in der Stadt nachgefragt wird?«

»Nom de Dieu, verehrter Sheriff Sprach der Knecht nicht von diesem Ungeheuer? Unter uns, im Dorf gab es tatsächlich einen ungewöhnlich großen Kerl. Seinen Namen weiß ich nicht, aber von seiner erstaunlichen Kraft wurde mir oft berichtet. Dem Anschein nach hat er Eure Männer getötet. Für mich ist er wertlos geworden. Bleibt also festzuhalten: Wir haben dieses Ungeheuer. Tatsache ist: Ein tobsüchtiger Höfler hat das Blutbad angerichtet und befindet sich auf der Flucht.«

»Ihr seid ein schlauer Fuchs, Ehrwürden.« Der Statthalter lächelte. »Ihr kamt zu mir, um den schrecklichen Vorfall zu berichten. Ich lasse, wie es meine Pflicht ist, den Mörder jagen. Bei seiner Ergreifung wehrt er sich und wird getötet. Kein Zeuge mehr. Und obendrein habe ich dem Gesetz Genüge getan. Parbleu, mes compliments!«

»Wenn Ihr mir meinen Verlust mit Geld aufwiegt, bin ich bereit, den Hergang so zu bestätigen.«

Die beringten Finger zupften am Verschluss des Beutels. »Wie viel Stück waren es?«

»Vier Männer, drei Frauen und fünf Kinder. Das macht 7Pfund und noch einmal 2Pfund und 10Shilling.«

Tom de Fitz begleitete seinen Gast nach draußen. Hoch oben auf dem Wehrgang besserten Zimmerleute die schadhaften Bohlen aus. Mägde, Diener, Bewaffnete, wie gewöhnlich war der Innenhof der Burg erfüllt von geschäftigem Treiben. Das eisenverstärkte Tor stand weit geöffnet, die Zugbrücke war hinuntergelassen, vom Markt herauf drang das Geschrei der Händler.

»Noch ein Rat zum Abschied.« Der Prior fasste den Arm des Statthalters. Mit einem Seitenblick auf den gehorsam wartenden Waffenknecht raunte er: »Erst wenn es keinen, ich betone, keinen Zeugen mehr gibt, erst dann kann Euch diese affaire funeste nicht mehr schaden. Gott befohlen!« Damit schritt der Prior zu den beiden Brüdern seines Konvents hinüber. Der eine hielt das Zaumzeug des Maultiers, der andere half dem Wohlbeleibten hinauf.

Tom de Fitz sah dem Augustiner nach, bis er durch den Torbogen davongeritten war. »Nicht nur deine Kutte ist schwarz. Gerissener Halsabschneider!«

Mit einem Fingerschnippen befahl er den Sergeanten der Burgwache zu sich. »Der Mörder deiner Kameraden läuft noch frei herum. Ganz sicher versucht er nach Norden durchzukommen.« Knapp waren die Befehle. Fünf Männer und die Hundemeute sollten die Verfolgung aufnehmen. »Und keine Gnade, Baldwin. Bring ihn mir, aber tot!« Am Bart zog er den Sergeanten zu sich herunter. »Vorher aber …« Sein Daumen deutete auf den wartenden Waffenknecht. »Wie ich soeben erfahren habe, würden deine Kameraden noch leben, wenn dieser Bastard sie nicht feige im Stich gelassen hätte. Deshalb …« Die beringte Hand schlug einen knappen waagerechten Schnitt. »Du verstehst, Baldwin? Und sofort. Und nichts soll von ihm übrig bleiben.«

Der Hass war geweckt. »In den Zwinger mit dem Schwein!«

»Nein, nein. Lass ihn den Ratten! Die Hunde dürfen jetzt nichts fressen. Ausgehungert müssen sie sein, wenn sie den Mörder durch den Sherwood hetzen.«

Der Sergeant richtete sich auf »He, du! Bevor wir zur Jagd nach deinem Ungeheuer aufbrechen, gibt’s noch einen Schluck. Der Sheriff hat uns eine Kanne Bier spendiert. Komm mit!«

Nur zu gern gehorchte der Waffenknecht und leckte sich die Lippen. Breit grinsend schloss Baldwin das Gitter zur Höhle auf »Nimm die Fackel und geh vor!«

Ehe sie den Bierkeller erreicht hatten, stieß er dem Ahnungslosen das Messer bis zum Heft in die ungeschützte Halsseite. »Schad. Wenn’s nach mir gegangen wär: Ich hätt dich langsam verrecken lassen.« Der Sergeant spuckte und hob die Fackel auf Am Eisenkragen schleifte er den Toten tiefer in den Berg. Unterhalb der Kerkerzellen, in einem Blindgang, ließ er die Leiche liegen. Bis auf das Gerippe würde nichts von ihr übrig bleiben. Und wer kümmerte sich in Nottingham schon um Knochen und verrostete Kettenhemden?

Oben im Hof nickte Baldwin seinem Herrn zu.

»Bien. Très bien«, murmelte Tom de Fitz. »Jetzt gibt es nur noch einen Zeugen. Und der entkommt mir nicht.« Beschwingt kehrte er in die Halle zu seinen Amtsgeschäften zurück.

Wenig später saßen fünf Waffenknechte auf ihren Gäulen. Armbrust, Schwert und Lanze, der schmale, eiserne Nasenschutz des Helms gab den Gesichtern eine starre Grausamkeit. Vor den Reitern hechelten die hochbeinigen grauen Hunde, bleckten das Gebiss, ungeduldig zerrten sie an den langen Lederleinen.

Sergeant Baldwin streckte seine Faust drohend zum Himmel. »Vorwärts!«

Die Jagd auf das Ungeheuer, auf den Mörder der Kameraden, hatte begonnen.

IV

GRAFSCHAFT NOTTINGHAM. SHERWOOD FOREST.

Am Morgen hatte Marian etwas von dem Brot gegessen. Sie hatte versucht zu gehen, wenige Schritte, unsicher, für eine Flucht viel zu langsam.

»Du wirst schon wieder.« John Little gab sich zuversichtlich, obwohl das Kind nichts sprach. »Wer isst und trinkt, der wird schon wieder.«

Bevor sie aufbrachen, hatte ihm Marian durch Zeichen klar gemacht, dass sie nicht mehr liegen, sondern auf seinen Schultern sitzen wollte.

»Dann zeig’s mir!« Den gespannten Bogen links geschultert, stellte der Hüne den Kampfstock neben sein rechtes Bein. Marian zögerte.

»Na los, Kleines! Das schaffst du ganz allein.«

Über Knie und Armbeuge gelangte sie schließlich hinauf und hockte sich rittlings auf seinen Nacken. Die Arme schlang sie um den Hals des Hünen und lehnte ihr Gesicht in die schwarze Mähne.

John schnaubte, tänzelte. Kein Kichern antwortete, nur ein schwaches Zupfen am Kinnbart zeigte, dass sein Schützling sich geborgen fühlte.

Hügel und Täler, dickstämmige Eichen, Buchen, Eschen, dann wieder dichtes Buschwerk, sie waren gut im Sherwood vorangekommen. Gegen Mittag hatten sie die Höhe über dem River Meden erreicht. »Wenn die Kerle schnell sind, dann warten sie schon da unten auf uns.« Von seiner Schulter war Marian in die breite Astgabel einer Buche umgestiegen. »Wart hier.«

Wachsam hatte John unten in der Schlucht das Ufer ausgespäht, war plötzlich wie ein brüllender Stier durch die Furt zur gegenüberliegenden Seite gestürmt, hatte gewartet.

Nichts rührte sich. Kein Hinterhalt. Die Verfolger waren nicht von der Handelsstraße entlang des Meden in den Sherwood eingedrungen. »Dann müssen sie’s weiter nördlich am River Poulter versuchen, sonst erwischen sie mich nicht.«

Weiter. Sie umgingen zwei Siedlungen. Kein Hund schlug an, niemand bemerkte sie. Am frühen Nachmittag setzte Regen ein. Hoch über ihnen, auf den Blattdächern, hörten sie das Pladdern. Schließlich drang das Wasser hindurch, bald war der Pfad aufgeweicht. John ließ Marian absteigen. Ihre Locken hingen in Strähnen, das Kittelhemd klebte. Abwesend starrte sie an ihm vorbei.

»Sollst nicht frieren.« Er löste den Halsriemen seines grauen Wollüberwurfs und schlang ihn wie einen Mantel um das Mädchen, die Kapuze stülpte er über den nassen Kopf.

Im ausgedehnten, dann wieder zerklüfteten Tal des Poulter warteten sie. Die einzige Möglichkeit hinüberzugelangen befand sich zwischen dem oberen und dem unteren See, wo das Wasser an der Ortschaft Carburton vorbei gut zwei Meilen durch ein schmales Flussbett strömte. Und von dort her hörte John das heisere Gebell einer Hundemeute, hörte die Hornsignale, mit denen sich die Waffenknechte des Lord-Sheriffs verständigten.

»Zu zweit schaffen wir das nicht«, raunte er seiner Reiterin zu. »Halt dich fest! Ungemütlich wird’s.« Marian zupfte an den Barthaaren. Sie hatte verstanden.

John verließ den Pfad und drang westwärts in den Sherwood ein. Allmählich blieb das Gebell der Hunde zurück. Der verhangene Himmel verdeckte die Sonne. Um die Richtung nicht zu verlieren, wanderte er in Sichtweite des oberen Sees. John wusste, irgendwann würde das Ufer ihn wieder nach Norden leiten. Mühsam kam er voran. Auf Schneisen, die der Sturm gerissen hatte, versperrten ihm umgestürzte Baumriesen den Weg. Und Regen, Regen. Oft tastete er sich mit dem Kampfstock wie ein Blinder über gestrüpp- und moosbewachsene Höhen, zu gefährlich waren die lauernden Steinspalten. Der Hüne verlor Zeit, wertvolle Zeit.

Bei Anbruch der Dunkelheit ragten linker Hand Felsen auf »Weiter dürfen wir nicht, Mädchen. Dahinter liegt schon Creswell.« Das Dorf befand sich zwar auf Gebiet der Grafschaft Derby. Doch auch Derby gehörte zum Machtbereich des Lord-Sheriffs von Nottingham.

John fand eine trockene Höhle, schlug Feuer und überredete Marian, etwas Brot zu essen. Sie nahm nur zwei Brocken. »Morgen schaffen wir es«, versprach er. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen und sank vornüber. Sanft fing John die Übermüdete auf und lehnte ihren Kopf an seine Seite.

Für ihn war der Platz zu eng. Im Sitzen wollte er schlafen, furchtbare Bilder wuchsen, John stöhnte und presste die Faust gegen die Stirn, ausruhen wollte er, wenigstens ausruhen.

Dichte Nebelschwaden hingen in den Baumkronen. Der Regen hatte aufgehört.

Zur Stärkung brachte John einige Pilze. »Im Nebel finden sie uns nicht. Was meinst du?« Angespannt wartete er, hoffte. Vergeblich, Marian blieb stumm.

»Na, macht nichts. Sollst sehen, irgendwann wird alles gut.«

Sie weigerte sich, auf die Schultern des Riesen zu steigen, ging in der Höhle auf und ab und bewies ihm, wie kräftig sie wieder war. John klatschte laut in die Hände. »So ist’s recht, Mädchen.«

Er gab ihr Zeit. Eine zähe Meile lang hielt Marian tapfer mit. Nachdem sie das dritte Mal gestolpert war, zog sie ihn am Lederwams und zeigte auf seine Schultern.

»Na, komm rauf? Platz hab ich da genug.«

Sie überquerten den Oberlauf des Poulter. In weitem Bogen gelangte John wieder zum Pfad, den früher die Handwerker auf ihrem Weg in den Norden benutzt hatten.

Kein Nebel mehr. Weit standen die Bäume auseinander, Gebüsch und Sträucher nahmen zu. Fast hatten die beiden den Rand des Sherwood erreicht, als Duft nach Braten John warnte. Sofort blieb er stehen und packte den Kampfstock fester.

Es war zu spät. »Geh weiter, Kerl! Schön langsam. Sonst hast du meinen Pfeil im Rücken.«

John gehorchte. Mit Marian auf der Schulter durfte er sich nicht fallen lassen oder plötzlich zur Seite springen und aus der Drehung den Feind hinter sich angreifen.

»Jetzt nach links!«

John gehorchte. »Hab keine Angst!«, raunte er Marian zu. Zwischen den Sträuchern hindurch erreichten sie eine Lichtung. Drei Männer saßen um das Feuer. Jeder briet sich am Stock einen Hasen.

Förster! Unübersehbar glänzte das Silberzeichen an der dunklen Lederkappe, unverkennbar war das fast schwarze Lederwams.

Kaum sahen sie den Riesen, als jeder seinen Braten ins Gras warf und nach dem Bogen griff. Drei Pfeilspitzen zielten auf die mächtige Brust.

»Ruhig, Leute! Der wagt nichts.« Damit glitt der vierte Forstaufseher an John vorbei. Breitbeinig stellte er sich hin und spottete: »Der ist folgsam wie ein Lamm.«

Zerquetschen würd ich dich. John bezwang den Wunsch. Seine Gegner waren im Vorteil. Mit Gewalt kam er nicht gegen sie an. Auch gut, dachte er.

Der Förster musste den Kopf nach hinten beugen, um seinem Gefangenen ins Gesicht zu sehen.

»Woher kommst du?«

»Von da.«

»Wie heißt du?«

»John.«

»Was hast du im Sherwood zu suchen?«

»Will da weiter.«

Über die Schulter rief der Förster seinen Kameraden zu. »Blöd ist der. Was meint ihr?«

»Weiß nicht. Sei vorsichtig!«, wurde er gewarnt.

Der Wortführer verengte die Augen. »Du bist verhaftet.«

»Nein.«

»Wen wir mit Pfeil und Bogen im Sherwood erwischen, der wird verhaftet. Den bringen wir rüber nach Worksop. Im Gefängnis bleibt der bis zum Gerichtstag.«

Bedächtig umfasste John mit beiden Fäusten den mannshohen, armdicken Eichenstamm und setzte einen Fuß vor.

Der Förster sprang zurück, die anderen standen schussbereit.

John schien die Gefahr nicht zu bemerken. Er schnüffelte, stierte auf die Hasenbraten und leckte sich die Lippen. »Hab Hunger.«

»Und doch ist er blöd.«

»Frag ihn nach dem Balg!«, verlangte einer.

Der Förster zeigte auf Marian.

John schwieg.

»Na, wird’s bald.«

»Was?«

»Wer ist das? Beim Satan.«

»Tochter.«

Er solle das Mädchen absetzen. Vorher aber solle er Bogen und Köcher hergeben. Erst als einer den Pfeil auf seinen Schützling richtete, gehorchte der Hüne.

Marian stand da, die blauen Augen zeigten keine Angst, leer blickten sie durch die Männer hindurch. Ihren Namen wollte der Förster wissen. Sie antwortete nicht. Er schrie sie an. Er packte das Mädchen bei den Schultern. Er schüttelte sie. Keine Regung. Aufgebracht hob er die Faust.

Ein Grollen ließ den Kerl herumfahren.

»Sie hat das schlimme Fieber.«

Entsetzt wichen die königlichen Forstaufseher zur Seite. John grinste blöd, brabbelte: »Weggejagt hat uns der Herr.« Er ließ den großen Kopf hin und her baumeln, tappte von einem Fuß auf den andern und stieß seltsame Laute aus.

»Beide haben es. Beim heiligen Godrick. Beide!« Furcht befiel den Trupp. »Jag sie weg!«, forderte einer hastig.

»Rühr dich nicht!« Geduckt schlich der Förster näher, raffte Langbogen und Köcher vom Boden, hastig schleuderte er die Waffe ins Feuer. »So. Und jetzt pack dein Balg! Verschwindet!«

John schulterte den Eichenstamm, nickte, schüttelte den Kopf, nickte, er schob Marian näher ans Feuer. Die Pfeilspitzen folgten jeder Bewegung des Riesen.

»Hab Hunger.« Ruhig bückte sich John und nahm einen Holzspieß samt braun gebratenem Hasen und legte ihn zum Kampfstock auf die Schulter.

»Weg mit euch!«, schrie der Förster.

Ohne Hast, ohne sich noch einmal umzudrehen, führte John Little das Mädchen von der Lichtung. Kaum waren sie aus dem Blickfeld, hob er Marian auf den Arm. »Halt dich, Kleines!« Er stürmte davon.

Bald öffnete sich der Sherwood. John rannte nicht mehr. In sicherer Entfernung schritt er westlich an dem Ort Worksop vorbei und atmete erleichtert. Eine weite sonnige Landschaft, Dörfer, sanfte Hügel, Felder und Wiesen, vereinzelte kleine Wälder. »Bis zum Abend sind wir drüben.«

In einer geschützten Grasmulde rasteten sie. Genüsslich roch er an dem Hasenbraten. »Königswild.« Er zwinkerte Marian zu. »Freiwillig hat mir das noch keiner geschenkt.« Zufrieden schnitt er für sie ein zartes Stück aus dem Rücken. »Hier. Das ist das Beste.«

Marian nahm es. Einen Moment lang blickte sie ihn klar und offen an.

John beugte sich zu ihr. »Ja. Komm, sag etwas! Ja, versuch es!«

Marian krampfte die Finger in das Fleisch. Sie bewegte die Lippen, bemühte sich. Tränen stiegen.

Sofort strich ihr John über den Kopf. »Nein. Lass! Wenn es so ist, dann ist es eben so.«

Sie aßen den Hasen, das Mädchen nur wenig, John verschlang den Rest, jeden Knochen nagte er ab.

Während sie am Rand eines Karrenwegs weiterwanderten, saß Marian wieder rittlings auf seinem Rücken. Nach einer Stunde zog John sie am Fuß. »Verstehn tu ich’s nicht, Kleines. Bevor ich den Hasen gegessen hab, da war der Hunger nicht so schlimm wie jetzt. Verstehst du das?«

Sie griff in die Haarmähne und schüttelte seinen Kopf.

Da lachte er.

Bauersfrauen begegneten ihnen, ein Fuhrwerk überholte sie, niemand kümmerte sich um den Mann, der ein Kind auf den Schultern trug, der freundlich grüßte. John war überzeugt: So weit hinauf suchen mich die Waffenknechte nicht mehr. Und wenn doch, wenn er angehalten würde? Auch gut. Er war ein Vater, der seine kranke Tochter in den nächsten Ort brachte. Wer soll da Verdacht schöpfen? Es sei denn? John dachte an den Einzigen dieser Mordbande, der entkommen war. Nein, er wischte den Gedanken weg, so weit hinauf werden sie mich nicht suchen.

Endlich. Am späten Nachmittag überquerten sie die Grenze zur Grafschaft York. Wie ein großes Rad ließ der Hüne den Kampfstock um die rechte Hand wirbeln, schnappte ihn wieder fest »Heute Nacht, Kleines, schlafen wir gut. Ich versprech’s.«

An einem Bachlauf entdeckte er eine Mühle und klopfte. Mit unbewegter Miene hörte sich der Müller die Geschichte vom Vater und der kranken Tochter an und fragte nichts. Ihm war es recht, im Heu sollten sie schlafen.

Seine Frau brachte noch einen Becher Milch hinüber zur Scheune. Sie habe Mitleid mit dem erschöpften, stummen Mädchen. Unschlüssig stand die Frau da, starrte John ins Gesicht und wandte ihm den Rücken zu, stockend fragte sie: »Kennst du meinen Sohn?«

»Wie heißt er?«

»Much. Blond ist er.«

»Nein, den hab ich nie gesehen.«

»Er ist auch auf der Flucht.«

John sog scharf den Atem ein. »Was redest du da? Ich bring meine Tochter …«

»Lass nur! Ich habe es in deinen Augen gesehen. Anders werden sie, ich kenne das.« Schnell drehte sich die Müllerin um. »Hab keine Angst! Wir sagen nichts. Nie sagen wir etwas.« Ihre Lippen zitterten. »Wenn du meinen Sohn triffst. Sag ihm, dass wir an ihn denken. Aber er darf nicht herkommen, sag es ihm. Sag ihm, es waren die Knechte vom Baron selbst. Die haben den Verwalter erschlagen. Und Sir Roger hat es befohlen. Sag ihm das!« Verzweifelt hob sie die Hand. »Aber meinem Jungen gibt Sir Roger die Schuld. Weil er einen Schuldigen braucht.«

Sie eilte davon. Nach wenigen Schritten blieb sie noch einmal stehen. »Much. So heißt er. Much. Vergiss das nicht!«

John kratzte im Bart, starrte ihr nach, bis sie im Wohnhaus verschwunden war. »Schon recht«, murmelte er. »Ich denk dran.«

Später lag er ausgestreckt auf dem Rücken. Neben ihm hatte sich Marian zusammengerollt. »Weißt du, Mädchen, wir gehen rüber nach Doncaster. Das ist eine richtige Stadt. Da frag ich beim Schmied. Der kann bestimmt noch ein Paar Fäuste brauchen. Da bleiben wir über den Winter.« John horchte. In kurzen, gleichmäßigen Abständen stieß Marian den Atem aus. »Armes Ding. Wenigstens das hör ich von dir.« Bevor er selbst einschlief, dachte er noch: »Beim nächsten Mal, da nehm ich alle Hasen mit.«

V

GRAFSCHAFT YORK. DONCASTER UND WEITER NACH NORDEN.

Zwei Mal hatte John gefragt. Zum zweiten Mal hatte der Schmied den Kopf geschüttelt. Mit kurzen Hammerschlägen reckte er das rot glühende Eisen auf dem Amboss, stieß es ins Wasser, er war zufrieden. Erst jetzt blickte der Schmied wieder zu dem großen Mann auf »Versteh doch! Zwei Mäuler stopf ich nicht.« Er deutete auf Marian. »Die Stumme da ist nichts wert.« Freundschaftlich bot er dem Riesen einen Schluck Bier an. John lehnte ab. »Ich pack zu für drei.«

»Jetzt versteh doch …« Der Schmied trank, bis ihm der bräunliche Saft über Kinn und Hals lief Rülpsend stellte er den Krug zurück. »Also dich würd ich schon brauchen. Aber erst musst du die da loswerden. Verstehst du, Stumme im Haus bringen Unglück. Am besten, du lässt sie einfach vor einem Kloster stehen.«

John atmete schwer, die Narbe im Bart färbte sich dunkel.

Nichts bemerkte der Schmied, unbekümmert fuhr er fort. »Oder besser, du verkaufst sie einem Bettler. Die haben gern Stumme bei sich, weil Stumme gute Diebe sind.«

»Dein Maul stopf ich dir!« Mit der linken Faust packte John den Kerl an der Lederschürze und hob ihn zu sich hoch. »Beim Dunstan! Ich werd …«

Marian zerrte am Wams des Hünen, flehend schüttelte sie den Kopf Ihre Angst brachte John zur Besinnung. »Schon recht, Kleines.«

Kaum stand der Schmied wieder sicher auf dem Boden, reckte er den Hals. »Raus! Sonst ruf ich die Wache. Raus!« Er schnappte nach Luft. »Mich, mich kennt jeder hier. Auch unser Sir Roger. Weil ich der Schmied von unserm Baron bin. Jawohl! Du wirst in Doncaster bei keinem Arbeit finden, dafür sorg ich. Damit du mich verstehst!«

Wortlos drehte sich John um. Marian wartete schon an der weit geöffneten Tür der Werkstatt.

»Raus! Wag dich hier nie mehr her!«, schrie ihm der Schmied nach. Auf der Straße hörte ihn John immer noch fluchen. »Verdammtes Pack! Woher kommt ihr überhaupt? Kommt da mit ’ner Stummen. Pack! Elendes Pack!«

Ohne nach rechts und links zu blicken, verließen sie Doncaster. Marian ging neben dem Hünen her. Seit gestern, seit sie in der Scheune des Müllers geschlafen hatten, musste er das Mädchen nicht mehr tragen. Auch ihr Blick blieb jetzt meist klar und wach.

John schwieg. Hin und wieder stupste ihn Marian am Arm. Er lächelte kurz, sprach aber nichts. Wut und Ohnmacht ließen ihn nicht los.

Am Nachmittag tauchte hinter grünen Weiden die Mauer eines Klosters auf. Marian kauerte sich ins Gras. Sie zeigte auf den Proviantbeutel, den die Frau des Müllers ihnen beim Abschied zugesteckt hatte.

»Hunger ist gut, Kleines.« John setzte sich zu ihr.

Käse und Äpfel. Marian aß sich satt, dann stand sie auf.

»Nicht so schnell. Hier sucht uns keiner.«

Die Gesichter waren auf gleicher Höhe. Leicht zupfte sie ihn am Bart, drehte sich um und ging über die Weide in Richtung Kloster davon.

Es dauerte, bis John begriff

Mit einem Satz sprang er hoch, war in Riesenschritten neben ihr, verstellte Marian den Weg. »Nicht, Mädchen. Nicht!«

Ihre Augen waren entschlossen. Sie zeigte zur Klostermauer hinüber und wollte an ihm vorbei.

»Nein. Ich geb dich nicht fort.«

Ihr Blick blieb fest auf die Mauer gerichtet.

»Deine Mutter würd es …« John stockte. Zum ersten Mal sprach er von der Weberin und konnte nicht weitersprechen. Er wischte über die Augen. »Weißt du, Marian. Auch ich hab … Weißt du.« Er umschloss mit seinen großen Händen behutsam die ausgestreckte Hand. »Weißt du. Ich brauch dich. Du kannst mich nicht allein lassen!«

Die schmalen Schultern sanken.

Obwohl kein Laut aus dem geöffneten Mund brach, hörte John ihr Schluchzen. »Wir bleiben zusammen«, tröstete er das Mädchen. »Wir bleiben zusammen«, tröstete er sich selbst.

Sie hatten Glück. Ein Fuhrmann ließ sie hinten aufsitzen. Während der Fahrt sprach John viel. Er schmiedete Pläne. »Wir ziehn nach Norden. In jedem Ort frag ich nach Arbeit. Und wenn’s keine gibt. Auch gut. Dann gehn wir weiter.« Marian sah ihm nur zu, manchmal lächelte sie. »Und wenn wir nirgends bleiben können. Dann bau ich uns für den Winter eine Hütte, da wo uns keiner findet. Einen neuen Bogen brauch ich nur. Aus Ulmenholz, nein, besser noch, ich such eine Eibe. Verhungern werden wir nicht.«

In Wrangbrook half John dem Fuhrmann die Fässer abladen und erhielt drei Pennies. »Na, siehst du, Kleines.«

Sie sparten das Geld und legten sich in einem verlassenen Viehunterstand außerhalb des Dorfes zum Schlafen. Für Anfang Oktober war der Tag ungewöhnlich warm gewesen. Die Nacht würde nicht zu kalt werden. Trotzdem hatte John einige Steine geschichtet und Feuer entzündet.

Während es niederbrannte, kehrte er zu seinen Plänen zurück, las die Bilder aus den Flammen, Hoffnung für Marian und für sich selbst. »Weißt du, ganz im Norden beginnt das Hochland.« Dort war er noch nie, wusste auch keinen Ortsnamen mehr. Aber ganz sicher gab es da irgendwo ein Stück Land, das keinem gehörte, keinem Kloster, keinem Grafen. So etwas musste es doch geben. Er versprach Marian solch ein kleines Stück. Das würde schon für ein Zuhause genügen. »Und gleich dahinter. Weißt du, da, wo der Himmel fast die Erde berührt. Da, glaub ich, wohnen die alten Götter. Und irgendwo mittendrin hat König Artus auch ein Schloss. Weißt du noch, Kleines, von dem hat uns der Kesselflicker mal erzählt? Und der Vogt von diesem König Artus, der braucht bestimmt so einen Kerl wie mich.« Er lauschte. Marian war längst eingeschlafen. »Und wenn du auch nie mehr was sagst«, flüsterte er. »Auch gut. Ich sprech dann für dich.«

Bevor das Mädchen erwachte, stand John leise auf entdeckte noch Glut unter der Asche und blies neues Feuer an. Die Morgensonne trocknete bereits den Tau und öffnete die Kelche der Herbstblumen.

Brot besaßen sie nicht mehr. Für einen Moment dachte er an den Schmied von Doncaster. Nein, nicht stehlen. Marian könnte … Ganz sicher würde jeder einer Stummen … John schlug sich heftig gegen die Stirn. »Irgendwann werd ich diesem Kerl das Maul stopfen«, nahm er sich vor. So groß war die Not nicht, schließlich besaßen sie drei Pennies, mehr als genug, um Brot zu kaufen. Besser aber war es, wenn sie das Geld für den Winter zurücklegten. »Keine Angst, Mädchen, ich sorg schon!«

Im nahen Wald füllte John den Proviantsack mit schmackhaften Pilzen, genug für den Tag. Auf dem Rückweg hörte er Summen. Es zog beständig an ihm vorbei. Der Jäger verengte die Augen und folgte dem Flug der Bienen bis zu einem verdorrten, mannshohen Baumstumpf ganz in der Nähe. »Das wird eine Überraschung, Kleines.«

Schnell brachte er die Pilze zum Lagerplatz, zog einen angekohlten, an der Spitze noch glühenden Ast aus dem Feuer und kehrte um. Die Kapuze des kurzen Schulterumhangs über den Kopf gestülpt, tief gebückt und ohne beunruhigende Bewegung, schlich er hinter den Stamm.

Die Wächterinnen hatten den Feind nicht ausgemacht.