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Die Schwarze Reichswehr – illegale Truppen, offiziell geleugnet, aber während der Weimarer Republik heimlich von Teilen der Reichswehr und der Regierung unterstützt. 1923 planen die paramilitärischen Einheiten dann den Marsch auf Berlin. Im Zentrum der Ereignisse findet sich Rosa wieder, deren Verlobter Paul Schulz Organisator der Schwarzen Reichswehr ist und ihren Bruder Erich tief in deren Machenschaften verwickelt. Wie konnte es dazu kommen? Rabisch schildert einfühlsam, wie aus der lernbegierigen Tochter einer armen Weberfamilie eine junge Frau wird, die den nationalistischen Welterklärungen ihres Verlobten verfällt und die schließlich sogar die Fememorde ihres Bruders rechtfertigt. Ein Roman, der zu einer persönlichen Aufarbeitung wurde, denn die Schwarze Rosa war Birgit Rabischs geliebte Großmutter, von deren Vergangenheit sie erst nach deren Ableben erfuhr: „Mein familiärer Abgrund liegt im Vorher, in der vermeintlich harmlosen Zeit der Weimarer Republik. Aus diesem Vorher ist das monströse Nachher erwachsen.“ „Rabischs persönliche Aufarbeitung einer unrühmlichen Vergangenheit ist interessant und eindrucksvoll.“ Natascha Olbrich, 3sat „Rabisch zeigt, dass der Nationalsozialismus nicht als brauner Spuk vom Himmel fiel, sondern seine Wurzeln in der Weimarer Republik hatte.“ Frankfurter Neue Presse
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Seitenzahl: 293
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Birgit Rabisch studierte Soziologie und Germanistik und lebt als Autorin in Hamburg. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter den utopischen Roman »Duplik Jonas 7« (als E-Book bei duotincta), der zum Bestseller und Standardwerk für den Schulunterricht zum Thema Gentechnologie avancierte.
Bei duotincta sind neben »Die Schwarze Rosa« die Romane »Die vier Liebeszeiten«, »Wir kennen uns nicht«, »Putzfrau bei den Beatles« und »Unter Markenmenschen« erschienen.
„Wo gehobelt wird, da fallen Späne“ ...
Psychologisch ist diese Gesinnung die beste, ja die einzig mögliche Vorbereitung für das Leben unter Verhältnissen, die vom Terror bestimmt sind. Denn in ihr hat man bereits den besten Freund, den beliebtesten Menschen und auch sich selbst als mögliche Späne für das erhaltene Hobeln von Natur und Geschichte erkannt und geopfert.
HannahArendt Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Mein Roman „Die Schwarze Rosa“ hat schon eine lange Geschichte hinter sich.
Meine Recherchen zum Leben meiner Großmutter Rosa Krause, geb. Klapproth, begannen 1987, also in der Prä-Internet-Ära, als es wesentlich spannender war als heute, an Informationen zu kommen, Dokumente aufzustöbern und seltene Bücher in entlegenen Bibliotheken zu finden. Zuerst habe ich nur aus privatem Interesse geforscht, dann entwickelte sich die Idee zu einem Roman, der in seiner Ursprungsfassung sehr vom hier vorliegenden abweicht. Er handelte unter dem Titel „Hannah Rosa“ von meinen beiden Müttern: meiner Großmutter Rosa als meiner sozialen Mutter, der Frau, die mich großgezogen hat, und Hannah Arendt als meiner geistigen Mutter, deren Werk und Leben mein Denken stark geprägt hat. Es reizte mich, diese zwei Frauen einer Generation, die man sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann und die mit ihrem Leben zwei entgegengesetzte Stränge der deutschen Geschichte verkörpern, ineinander zu spiegeln. Leider fand sich kein Verlag, der sich auf das Wagnis einer so ungewöhnlichen Doppelbiografie einlassen mochte. Die wenigen Lektoren, die sich im Werk Hannah Arendts auskannten (sie ist erst im letzten Jahrzehnt geradezu populär geworden), wollten „ihre“ Hannah Arendt pur haben, und für das Leben einer Unbekannten, die in die „Schwarze Reichswehr“ (Was sollte das sein? Nie gehört!) verstrickt war, interessierte sich erst recht niemand. Nachdem ich mich mit anderen Projekten beschäftigt hatte, die dann auch veröffentlicht wurden, habe ich mich viele Jahre später noch einmal mit dem Stoff beschäftigt und diesmal nur das Leben meiner Großmutter zu einem Roman gestaltet. Dieses Manuskript hat der zu Klampen-Verlag 2005 unter dem Titel „Die Schwarze Rosa – Eine Frau in der Weimarer Republik“ veröffentlicht.
Die Resonanz war für mich sehr erfreulich, die Situation, in der das Buch rezipiert wurde, aber eine deutlich andere als heute. Wenn ich jemandem erzählte, in meinem Roman spiele die „Schwarze Reichswehr“ eine wichtige Rolle, blickte ich in verständnislose Gesichter. Natürlich war es mir, bevor ich mit meiner Recherche über das Leben meiner Großmutter angefangen hatte, genauso ergangen. Ich hatte viele Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus gelesen, aber nur wenige über die Weimarer Republik und selbst in denen fand sich kaum etwas über die „Schwarze Reichswehr“.
Wenn ich heute dieses Stichwort fallen lasse, leuchten dagegen bei dem einen oder der anderen die Augen und es fallen Sätze wie:
„Ach ja, darüber hab ich doch was in „Babylon Berlin“ gesehen!“
Auch wenn wir Büchermenschen es nicht gern wahrhaben wollen: Erst wenn sich die Massenmedien eines Themas annehmen, gewinnt es die Aufmerksamkeit vieler Menschen. Das war in Deutschland 1979 mit der im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Film-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ so und das ist auch jetzt mit der Serie „Babylon Berlin“ so, die 2017 auf Sky und 2018 in der ARD lief. Natürlich hatten schon die Bestseller-Krimis von Volker Kutscher um den Kommissar Gereon Rath, der im Berlin der Weimarer Republik ermittelt, diese Zeit für die Leserinnen und Leser seiner Bücher wieder lebendig werden lassen. Aber erst die Verfilmung des ersten Bandes „Der nasse Fisch“ unter dem Titel „Babylon Berlin“, in dem die „Schwarze Reichswehr“ eine zentrale Rolle spielt, zerrte dieses illegitime Kind der Reichswehr aus dem Dunkel der Vergessenheit in das Licht einer breiteren Öffentlichkeit.
Das gestiegene Interesse an der Weimarer Republik heute liegt aber natürlich vor allem am Erstarken rechtspopulistischer bis rechtsradikaler Parteien und der Wahl nationalistischer Politiker weltweit. Wir fragen uns erschreckt: „Wie kann das sein?“ Und trotz der vielen Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Demokratie auf deutschem Boden lohnt sich die Beschäftigung mit den Kräften, die damals die Weimarer Republik erst aushöhlten und sie dann zu Fall brachten. Diesen Kräften spüre ich in meinem Roman nach. Ich folge meiner Hauptperson Rosa von ihrer Geburt an über viele Stationen ihres Lebens, bis sie sich auf einen Pfad begibt, auf dem sie andere Menschen als Späne betrachtet, die beim Hobeln für die vermeintlich gute Sache nun mal anfallen. Insofern ist das am Anfang dieser Neuveröffentlichung abgedruckte Zitat Hannah Arendts nicht nur eine kleine Reminiszenz an mein ursprüngliches Projekt „Hannah Rosa“, sondern war tatsächlich mein Leitmotto beim Schreiben von „Die Schwarze Rosa“.
Ich habe neunzehn Jahre mit der Schwarzen Rosa zusammengelebt, ohne von ihr zu wissen, ohne diesen Namen aus einer früheren Epoche ihres Lebens zu kennen. Ich nannte sie tagaus, tagein, in allen Tonlagen, mal laut, mal leise, zärtlich, fordernd, trotzig, bettelnd: Oma.
Solange ich sie kannte, begegnete sie dem Leben mit ernster Miene. Seltsam, dass dennoch jeder, den ich später nach ihr befragte, seinen Eindruck von ihr mit einem Eigenschaftswort beschrieb, das von Herz abgeleitet war: herzlich, herzensgut, herzenswarm, aber auch beherzt und herzerfrischend. Diese Eigenschaften haben sich anders mitgeteilt als durch Lächeln: durch Taten. In der Nachbarschaft verließ man sich ganz selbstverständlich auf Oma Rosas Hilfsbereitschaft. Sie versorgte die Kinder, wenn eine Mutter krank war, sie besprach Warzen und linderte Krankheiten mit ihren selbstgesammelten Kräutern, sie pflegte den einen Nachbarn nach seinem Schlaganfall, sprach mit dem anderen, der seine Frau im Suff schlug, ein ernstes Wörtchen. Viele Worte machte sie jedoch nicht.
Ich wuchs bei ihr auf, weil meine Eltern beide berufstätig waren. An der Wand in Omas Wohnzimmer hing ein schwarzumrandetes Foto mit einer Hängevase davor. Dieser junge Mann in Uniform, in dessen ernst blickende Augen ich jeden Tag sah, war ihr Sohn Heinrich, der als 19-jähriger im Krieg gefallen war. Er tat mir furchtbar leid, weil er so früh hatte sterben müssen. Oft, wenn ich Löwenzahn oder Wiesenschaumkraut in die Vase quetschte, stand Oma neben mir und seufzte:
„Es sind immer die Besten, die jung sterben müssen.“
Ich sah meine Großmutter jeden Tag, ohne sie wirklich sehen zu können. Sie war noch ganz Bestandteil meiner Innenwelt, war das, was seit Anbeginn meiner Wahrnehmung schon immer da war, die unverrückbare Konstante meines Lebens – keine Person, die ich von außen hätte betrachten können. Sie war meine Wärme und meine Sicherheit, mein Essen und Trinken, mein Halt und mein Wegweiser.
Außer mir gab es noch einen Menschen, der sie Oma nannte, - der Mann, den ich Opa nannte. Aus meiner kindlichen Sicht war er ein gutmütiger, alter, abgemusterter Seebär, der mit seinen strahlend blauen Hans Albers-Augen herrlich abenteuerliches Seemannsgarn spinnen konnte, morgens lange schlief und ab dem Nachmittag nie da war. Da ging er mal kurz an die Küste, was so viel hieß wie: in die nächstbeste Kneipe. Dass er ein Säufer und Spieler war, der auch nicht davor zurückscheute, den Ehering seiner Frau und ihren einzigen Mantel zu versetzen, um seine Spielschulden zu bezahlen, wusste ich als Kind nicht. Oma sprach nie darüber. Ich bekam nur mit, dass sie ihr Haushaltsgeld immer versteckte: in Kaffeekannen, Zuckerdosen, leeren Pralinenschachteln.
Meine Erinnerung sieht meine Großmutter nicht als Standbild, sondern als Film, weil sie immer in Bewegung war. Sie trug stets eine Kittelschürze, ihre langen Haare, die alle Abstufungen von Grau präsentierten, hatte sie zu einem Knoten geschlungen, ein Haarnetz darüber gestülpt und ihn mit Haarklammern am Hinterkopf befestigt. Erst als Tote habe ich sie ohne ihren Dutt gesehen. Sie war nicht sehr groß, schlank, ihr Gesicht durchzogen von Fältchen, die hohe Stirn, fast geteilt durch eine senkrechte Falte, wäre bei einem Mann als Denkerstirn beschrieben worden, die Augen schienen immer alles gleichzeitig im Blick zu haben.
Für mich veränderte sie sich nicht, obwohl sie neunzehn Jahre neben mir alterte. Für mich blieb sie von meinem Anfang bis zu ihrem Ende: eine alte Frau, deren Hauptaufgabe darin bestand, für mich zu sorgen. Dass sie auch einmal eine junge Frau gewesen sein musste und ihr Leben sich um etwas anderes als mich gedreht hatte, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Omas beste Freundin war Liesbeth, die ich Tante Liesbeth nannte, obwohl wir nicht verwandt waren. Mit ihr teilte sie ihre kleinen Geheimnisse – und ein großes, wie ich dann sehr viel später herausfand.
Liesbeth lebte ganz in der Vergangenheit, weinte ihrem verlorengegangenen Pommernland nach, sprach immer wieder von den wogenden Weizenfeldern, vom Erntefest und den Osterbräuchen und was für eine fesche Magd sie doch gewesen sei, damals, auf dem Bauernhof von Oma Rosas Eltern.
„Da hausen jetzt die Pollacken“, holte Oma sie dann in die Gegenwart zurück und wollte nichts mehr hören.
Für Zärteleien hatte Oma nur Verachtung über, aber sie schlug mich auch nie. Erst nachträglich begriff ich, wie außergewöhnlich dies in der Nachkriegszeit war. Ich war das einzige Kind in der gesamten Nachbarschaft, das nicht geschlagen wurde. „Aber Ohrfeigen kriegst du doch?“, fragten die anderen Kinder, und wenn ich verneinte, schauten sie mich verständnislos an.
Ich wurde auch nicht ständig von ihr ermahnt, dies zu tun und das zu lassen. Ich durfte meine eigenen Erfahrungen sammeln. Nur an eine einzige eindringliche Mahnung erinnere ich mich überdeutlich. Am Tag meiner Einschulung gab sie mir ihr Geleitwort fürs Schulleben mit auf den Weg:
„Du gehörst jetzt zu einer Klassengemeinschaft. Du musst alles tun, was die Lehrerin sagt, verstanden? Aber wenn einer von deinen Klassenkameraden was Schlechtes getan hat, egal was, und du sollst sagen, wer das war – das darfst du nicht tun, hörst du, niemals! Einen Kameraden zu verraten, das ist das Schäbigste überhaupt!“
Ich gab leichthin mein großes Ehrenwort, niemals eine Petze zu werden.
Je älter ich wurde, desto mehr rückte Oma für mich in den Hintergrund. Sie war immer da, sie sorgte für mich, aber sie mischte sich kaum in mein Leben ein. Ich beschäftigte mich mit meinen Freundinnen, mit der Schule; sehr früh wurden Bücher für mich wichtig und mit der einsetzenden Pubertät natürlich die Jungs. Während viele Mütter ihre heranwachsenden Töchter eindringlich vor den Gefahren warnten, die von diesen Wesen ausgingen, warnte Oma mich vor etwas anderem:
„Wenn ich dir einen Rat für dein Leben geben darf: Lass die Finger von der Politik! Ich weiß wohl, es sind immer gerade die Weltverbesserer, die es in die Politik zieht, aber die Welt wird es dir nicht danken. Die Welt will nicht verbessert werden, die Welt will betrogen werden. Überlass die Politik den Lauen! Die Lauen schwimmen in dieser morastigen Brühe immer obenauf. Die ehrlichen Seelen saufen ab. Tu mir die einzige Liebe und halte dich von der Politik fern! Die hat genug Unglück in unserer Familie angerichtet.“
So viele Worte aus ihrem Mund hatte ich bis dahin noch nie gehört. Verblüfft fragte ich nach:
„In unserer Familie? Wieso das denn?“
Sie bewegte die Lippen, als ob sie etwas sagen wollte, doch dann griff sie zu ihrer abgekauten Zigarettenspitze, zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und schaute nicht mehr mich an, sondern den Abreißkalender an der Wand.
Als ich elf war, bauten meine Eltern ein Haus in einem kleinen Dorf, in das meine Großeltern und ich mit einzogen. Gleich nach meinem Abitur ging ich zum Studium nach Hamburg und von da an sah ich meine Großmutter nur noch bei meinen Besuchen zu Hause. Im Gegensatz zu meinen Eltern störte es sie überhaupt nicht, dass ich in einer Kommune hauste. „Junge Menschen müssen sich die Hörner abstoßen“, war ihr Kommentar.
Am 2.7.1975 blieb sie in ihrem Lehnstuhl sitzen und stand nicht wieder auf. Ich war vollkommen verwirrt, als meine Mutter es mir am Telefon berichtete, und konnte es nicht fassen, dass Oma einfach so aus meinem Leben verschwand. Aber mein Leben ging weiter und ich behielt meine Großmutter in dankbarer Erinnerung.
Erste Kratzer bekam mein Oma-Bild erst zwölf Jahre später, einen Tag nach der Beerdigung meines Großvaters. Ich saß bei meiner Mutter im Wohnzimmer und sie überreichte mir einen Schuhkarton. Als ich den Deckel abhob, sah ich als Erstes in die ernsten, ein wenig traurigen Augen, die über meine Kindheit gewacht hatten. Heinrich sah mich aus dem schwarzgerahmten Foto an, Omas ewiger, in ihrem Herzen unsterblicher Sohn. Ein leises Schuldgefühl regte sich in mir, denn ich hatte ihr leichtfertig versprochen, dieses Bild nach ihrem Tod entweder bei mir aufzuhängen oder es zu vernichten. „Außer mir bedeutet es sowieso niemandem etwas“, hatte sie gesagt und ich hatte ihr widersprochen:
„Doch, mir! Du hast mir so viel von ihm erzählt, dass es mir vorkommt, als hätte ich ihn gekannt.“
Aber dann fand ich an der Wand in einer meiner Wohngemeinschaften keinen Platz für ihn. Wie hätte ich den jungen Mann mit den Hakenkreuzen auf den Uniformaufschlägen neben Che Guevaras Porträt und Picassos Guernica hängen können? Vernichten mochte ich das Bild aber auch nicht. So überließ ich es erstmal meinem Großvater, er legte es zu den nachgelassenen Dokumenten und es wartete im Dunkel dieses Schuhkartons auf mich.
Ich legte das Foto auf den Tisch und sah die weiteren Unterlagen durch. Viel war es nicht:
Familienstammbuch, Ariernachweis, Vertriebenenausweis, Kondolenzschreiben der NSDAP zum Tode Heinrich Krauses, Lastenausgleichsbescheinigung, einige Postkarten, ein Zeitungsartikel.
Ich blätterte im Familienstammbuch und stellte meiner Mutter verblüfft einige Fragen:
„Wieso ist Oma im Harz geboren? Ich denke, sie stammt aus Pommern?“
„Nein, dahin ist die Familie Klapproth erst viel später übergesiedelt.“
„Und hier sind noch Geburtsurkunden von sieben Geschwistern!“
„Ja, ja, die Klapproths waren eine große Familie. Damals hatten die Leute noch viel Kinder.“
Ich staunte. Ich hatte von diesen Großtanten und Großonkeln noch nie etwas gehört.
„Leben die noch?“
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
„Soweit ich weiß, haben sogar nur zwei den Krieg überlebt. Aber auch nicht lange.“
Ich staunte erst recht, als ich ausrechnete, dass die Hochzeit von Rosa Klapproth und Karl Krause am 8.8.1924, sieben Monate vor Heinrichs Geburt am 9.3.1925 stattgefunden hatte. Als ich meine Mutter darauf aufmerksam machte, verrieten ihre flackernden Augen, dass sie mehr wusste, als sie sagte:
„Eine Muss-Ehe. Hat’s zu allen Zeiten gegeben. Wieso schockiert dich das? Sollte doch in deiner Generation kein Thema mehr sein.“
„Natürlich nicht. Aber dass Oma …“
Ich musste den Satz nicht zu Ende bringen. Meine Mutter lachte laut auf:
„Ich glaub, du hast sie immer ein bisschen aufs Podest gehoben, oder?“
Eine ungewohnte Bitterkeit in ihrem Tonfall ließ mich aufhorchen. Sie wirkte plötzlich hart und verschlossen. Ohne meine Antwort abzuwarten, schimpfte sie los:
„In meiner Kindheit kannte meine Mutter nur eins: ihren Sohn, ihren Sohn und nochmal ihren Sohn. Mädchen zählten für sie nicht.“
Ihre Worte verwirrten mich. Das konnte so nicht stimmen. Ich verteidigte Oma:
„Aber für mich hat sie alles getan, um mich zu fördern! Sie hat immer gesagt Eine Frau muss allein ihren Mann stehen können, sie hat mich ermutigt, aufs Gymnasium zu gehen …“
Meine Mutter schnaubte verächtlich, stieß hervor:
„Natürlich! Du hattest ja auch keinen Bruder! Dann wärst du nur noch gut genug gewesen, ihm die Schuhe zu putzen!“
Ich glaubte nicht, was sie da behauptete. Es war reine Spekulation und widersprach völlig dem, wie ich meine Großmutter erlebt hatte. Aber ich begriff plötzlich, wie angespannt das Verhältnis meiner Mutter zu ihrer Mutter gewesen war. Ich wollte mehr von ihr über ihre Kindheit erfahren, doch sie blockte ab:
„Lange her, Schnee von gestern!“
Zuletzt holte ich einen vergilbten und an den Rändern eingerissenen Zeitungsausschnitt aus dem Schuhkarton, faltete ihn auseinander und las mit zunehmender Verblüffung einen Artikel, den Carl von Ossietzky am 27.12.1927 in der Weltbühne veröffentlicht hatte.
Der Femeprozeß
Paul Schulz hat jetzt die graue Gefängnisfarbe, er gestikuliert nervös und fahrig, aber seine Aussage ist zusammenhängend und konzentriert. Er weiß jetzt seine Vereinsamung, weiß, daß es um den Kopf und, wenn der gerettet, um die Freiheit geht. Auch er gibt niemanden preis, aber er betont immer wieder den „Druck der Verhältnisse“, ohne sich über den Druck und die Verhältnisse näher auszulassen. Zögernd gesteht er zu, daß Anno Diaboli 1923 auch die Behörden ungesetzliche Maßnahmen getroffen hätten. Und warum haben die Behörden die geheimen Morde nicht verfolgt, warum ließen sie die Akten liegen? Schulz fragt das immer wieder. Die Urteilsbegründung attestiert Schulz, Großes für den Staat geleistet zu haben. Nein, er hat nichts Großes geleistet, aber er hat ohne Zweifel beträchtliche Gaben und sein krankhafter Ehrgeiz hat ihn in eine höllisch faule Sache verwickelt. Jetzt ist der Firniß der Wichtigtuerei abgeblättert. Jetzt steht da ein Abgehärmter und Verlassener, der am Ende des ersten Verhandlungstages mit verlorenen Augen in das Gewimmel von Leuten sieht, die nach Hause gehen. Jetzt steht nur ein großer Schuljunge da, der nachsitzen muß. Mit verschwimmenden Blicken sieht er die wehenden Schals und wie die Mäntel angezogen werden. Die Offiziere entfernen sich sporenklirrend. Alle gehen nach Haus. Einer bleibt. Der letzte, bei dem die Kette der Verantwortung für die grausig-tragische Kategorie der Fememorde endet. Der letzte, den nach dem braven alten Wort die Hunde beißen.
Ich verstand nicht, worum es in diesem Artikel ging. Und warum, um alles in der Welt, hatte Oma einen Zeitungsartikel über einen Paul Schulz bis zum Ende ihres Lebens aufbewahrt? Ich fragte meine Mutter. Ihre Antwort wurde für mich zum Ausgangspunkt einer Spurensuche, die sich über Jahre hinzog und die mich mit einer Rosa konfrontierte, die ich nicht kannte. Meine Mutter sagte:
„Mit dem war sie mal verlobt.“
Dieser Satz weckte mein Jagdfieber. Ich wollte wissen, was es mit diesem Paul Schulz und der grausig-tragischen Kategorie der Fememorde auf sich hatte. Mich beschlich eine erste Ahnung, dass auch meine Großmutter damit zu tun gehabt haben könnte. Ich begann zu recherchieren und fand unter dem Stichwort Paul Schulz, aber auch unter dem Geburtsnamen meiner Großmutter Klapproth, mehr Quellen, als ich jemals vermutet hätte.
Diese historischen Quellen wurden zur Quelle meiner Fantasie, mit der ich mich dem Leben der Schwarzen Rosa angenähert habe.
Als dem Weber Christoph Klapproth aus Mägdesprung im Harz am 19. April 1899 von seiner Frau Erna das vierte Kind geboren wurde, verkündete die Hebamme ihm die Botschaft mit den Worten:
„Na, Christoph, ein neues Maul zu stopfen.“
Er entlohnte sie wortlos und ging zu seiner Frau in die niedrige Kammer, in der seine Tochter gerade das Halbdunkel der Welt erblickt hatte. Sie lag in einem Weidenkorb, der sonst zum Brennholzsammeln diente, auf zerschnittenen Leinenlappen, zugedeckt mit einer verschossenen, aber sehr kunstvoll gewebten Decke, von Christoph vor sieben Jahren für seinen erstgeborenen Sohn Erich angefertigt. Ein Jahr nach Erich hatte Lise unter der Decke gelegen, dann Otto und jetzt die Kleine, deren Augen unter dem Blick des Vaters noch ins Nirgendwo rollten.
„Wie willst’n das Mädel heißen?“
Erna Klapproth verklärten sich im nachgeburtlichen Hormonrausch die verrußten Deckenbalken zu Himmelsgewölbe tragenden Säulen, an denen Rosen rankten.
„Röschen, das wär mal ein schöner Name.“
Christoph nickte seiner verschwitzten Frau zu, kehrte in die Stube an seinen Webstuhl zurück und setzte seine Arbeit fort. Das Wuchten der Lade, das die Wände des Häuschens in regelmäßigen Abständen erschütterte, wurde Röschens Wiegenlied, ein Lied, das ihrer Kindheit den Ton angeben sollte, begleitet vom Brummen der Spulräder und dem harten Klacken des Schiffchens.
Erich, der Älteste, hatte die Arbeit der Mutter am Spulrad übernommen und stand auch nicht auf, als die Nachbarin mit der Hühnersuppe kam. Eine Hühnersuppe musste der Wöchnerin als erste Mahlzeit von den Nachbarn gebracht werden, an dieser Tradition hielten die Bewohner des kleinen Dorfes im Selketal fest, wenn auch die Suppe hauptsächlich aus Kartoffeln und Wurzeln bestand, die in einer Brühe von ausgekochten Hühnerbeinen schwammen.
Die sechsjährige Lise und der dreijährige Otto stürmten sofort hinter der Nachbarin in die Kammer zur Mutter, doch Christoph pfiff sie mit einem energischen „Hier geblieben!“ zurück. Er wusste, Erna würde die Suppe an die Kinder verfüttern, wenn er nicht aufpasste. Dabei brauchte sie doch Kraft, um das neue Wurm zu nähren. Nur gut, dass bald Schafschur war! Da konnte Erna ihrem Vater helfen und der alte Schäfer würde ihren Speisezettel mal wieder mit Hammelfleisch bereichern. Das war doch ganz was anderes als das zähe Pferdefleisch, das er einmal im Monat in Quedlinburg kaufte, wenn er seine Ware beim Verleger ablieferte. Und auch das war schon eine Abwechslung im ewigen Einerlei aus Hering, Kartoffeln, Dörrgemüse und Bohnen. Sie mussten nicht hungern, nein, es reichte gerade zum Nötigsten, aber für dieses Nötigste musste die ganze Familie mindestens dreizehn Stunden am Tag arbeiten. Nur so konnten sie gegen die Konkurrenz mit den mechanischen Webstühlen noch bestehen.
Christoph wischte seine vom Wollstaub entzündeten Augen aus und ließ sich von Erich eine neue Spule geben. Der Junge hatte eine kräftige Statur, aber er war entsetzlich blass und sein Rücken krümmte sich vom vorgebeugten Sitzen. Ihm fehlten Licht, Luft und Bewegung. Aber sie brauchten seine Arbeitskraft. Schlimm genug, dass er den Vormittag jetzt in der Schule verplemperte. Was musste er lesen und schreiben lernen, er würde ja doch ein Weber werden! Nur Rechnen war wichtig, damit ihn der Verleger bei der Abrechnung nicht übers Ohr hauen konnte. Christoph öffnete das kleine Fenster und herrschte seinen Sohn an:
„Sitz gerade, verdammt noch mal!“
Ein Jahr später hatte sich das Jahrhundert gewendet. In dem kleinen Dorf wussten die Weber und Hüttenwerker, die Wirker, Posamentierer, Köhler und Holzfäller nichts vom fin de siècle, von Untergangsangst und Untergangslust, die in den großen Städten ihr Unwesen trieben. Ihnen entrang sich kein expressiver Schrei, nur ein Stöhnen über die sinkenden Löhne. Sie beschäftigte nicht der Aufstand der Wörter, aber der knurrende Magen trieb sie in den Aufstand. Der Streik begann in Crimmitschau und weitete sich schnell aus. 1903 streikten schon zehntausend Fabrik-und Heimarbeiter. Einer der Verzweifelten war Christoph Klapproth.
Als er nach einundzwanzig Wochen Streik zum ersten Mal wieder seine Leinen nach Quedlinburg trug, knirschte er mit den Zähnen. Einundzwanzig Wochen keinen Groschen verdient und nichts erreicht! Immer wieder hatte er Erna vertröstet, dass sie nur durchhalten müssten, dann würde alles besser – und nun hatten die Kinder nur gehungert, um auch in Zukunft nicht satt zu werden. Christoph ballte die Fäuste gegen die hohen Fichten. Bei den nächsten Reichstagswahlen würde er die SPD wählen. Nur die SPD konnte ihnen noch helfen, da hatte sein Nachbar vollkommen Recht. Wie sollte er denn seine sieben Kinder durchfüttern mit acht Mark Wochenlohn? Die Zwillinge, die Erna am zweiten Tag des neuen Jahrhunderts fast das Leben gekostet hätten, waren auch mit ihren drei Jahren noch klein und mickrig, liefen auf ihren krummen Beinchen durch die Stube und sprachen kaum ein Wort. Da war sein Röschen doch ganz anders! Sie jammerte nie, auch wenn er zum Abend jedem nur eine dünne Scheibe Brot austeilen konnte. Sie steckte dem ewig schreienden Georg, seinem Letztgeborenen, der an Ernas Brust nicht mehr satt wurde, das mit Mohnsaft getränkte Leinentuch so lange zum Nuckeln in den Mund, bis er einschlief. Sie war schon so vernünftig – mit ihr hatte Lise, die sich als das älteste Mädchen um ihre jüngeren Geschwister kümmern musste, am wenigsten Ärger. Röschen und die Zwillingsmädchen Else und Martha hockten immer zusammen. Meistens spielte Röschen die Mutter und die beiden mussten als ihre Kinder ihren Befehlen gehorchen. „Still sitz auf der Ofenbank!“, sagte sie mit Ernas strenger Stimme oder „Nun aber fromm sein!“, woraufhin die beiden brav die Hände falteten und den Kopf senkten. „Die Heilige Dreifaltigkeit“ nannte Christoph sie einmal im Scherz, erntete dafür aber bittere Vorwürfe von seiner Frau. Erna duldete keinen Missbrauch des Göttlichen, genauso wenig wie Fluchen, Spucken auf den Boden oder kindliche Widerreden. „Der Herrgott im Himmel sieht alle Sünden!“, sagte sie täglich mehrmals zu den Kindern. Lässliche Sünden kannte sie nicht, alle Verfehlungen wogen vor Seinem Auge gleich schwer.
Eine Sünde war es auch, sich nach dem Abstillen noch dem Körper der Mutter zu nähern. Und so schubste auch Röschen die Zwillinge mit lautem „Schäm dich!“ zurück, wenn sie sich an sie klammern wollten, weil Otto sie mal wieder an den Haaren zog oder Erich ihnen Angst vorm Schwarzen Mann einjagte. Sie selbst ließ sich von ihren Brüdern nicht einschüchtern. Ihr machte der Schwarze Mann keine Angst. Das war der Köhler aus dem Dorf und der hatte ihr schon mal geröstete Kartoffeln geschenkt. Wenn Erich sie piesackte, rannte sie gleich zum Vater, der sie mit ein paar kräftigen Ohrfeigen an Erich rächte. Überhaupt ergriff ihr Vater immer für sie Partei. Bei ihm durfte sie sogar auf den Schoß klettern, wenn er mal für kurze Zeit Pause machte, ohne dass er „Schäm dich!“ sagte. Nur in den letzten Wochen, seit der Webstuhl stillstand, musste auch sie ihm einmal ihre Handflächen hinhalten und er schlug mit der Weidengerte darauf, weil sie dem Hund des Großvaters einen Knochen gegeben hatte, der für die Suppe bestimmt war. Und jetzt schrie der Vater sogar die Mutter an, was noch nie vorgekommen war:
„Auf deine himmlische Gerechtigkeit kann ich nicht warten. Jetzt will ich Gerechtigkeit! Und die bringt uns kein Gott, sondern Liebknecht!“
Die Mutter betete nur still zu ihrem Gott um Verzeihung für die Lästerung, der Vater stürmte aus der Webstube und Erich nutzte die Gelegenheit, um Else und Martha durch Fratzenschneiden zum Weinen zu bringen. Röschen streckte ihrem Bruder die Zunge raus und beruhigte die Zwillinge:
„Gott im Himmel sieht bösen Erich!“
„Haut ihn?“, frage Martha schüchtern.
Röschen zuckte die Achseln:
„Nee, aber vielleicht der liebe Knecht.“
Das neunjährige Röschen hüpfte am Ufersaum der Selke entlang. Heute durfte sie gleich nach der Schule zum Großvater gehen, der seine Herde in der Nähe des Meisebergs hütete. Sie liebte den Großvater. Während der Vater immer wortkarger wurde, die Mutter nur noch mit ihrem Gott sprach, konnte der alte Schäfer herrlich erzählen, antwortete auf ihre Fragen und lehrte sie, die Tiere und Pflanzen zu benennen. Röschen war glücklich, wenn sie den Mief der Webstube oder die dumpfe Atmosphäre des Klassenzimmers mit der frischen Bergluft vertauschen konnte. Nur im Zwischenraum fühlte sie ihr Leben. Der Weg zwischen Zuhause und Schule, zwischen Schule und Zuhause, eine Stunde am Morgen, eine Stunde am Mittag, waren ihr Lebensraum. Barfuß, nur im Winter mit Holzpantinen, lief sie über die rauen Pfade, freute sich im Frühling über die Wiederkehr des Verschwundenen, im Sommer über die Lichtspiele der Sonne, im Herbst über die Buntheit des Verfalls und im Winter über das strahlende Weiß der Ruhe. Sie konnte schon den Bergahorn vom Spitzahorn unterscheiden und den Besenginster vom Färbeginster. Esche, Sommerlinde, Rot-und Hainbuche waren ihre Freunde auf dem Weg und voll Sehnsucht schaute sie in den Himmel, wenn ein Milan dort seine Kreise zog oder ein Falke sich auf Beutefang herabstürzte. Das Lied der zahlreichen Wasseramseln, die am Selkelauf nisteten, verdrängte für diese Stunden das Rasseln des Webstuhls und das Quietschen der Kreiden auf den kleinen Schiefertafeln.
An den Stellen, an denen die Schmalspurbahn sich ihrem Weg näherte, blieb sie jedes Mal stehen und schaute den reich gekleideten Reisenden auf ihrem Weg nach Alexisbad hinterher, die dort durch den Mangan-, Schwefel-, und Eisengehalt der Quelle von ihrem fetten Leben zu gesunden hofften. Wie aufregend musste es sein, in einem Zug zu fahren! Doch dann tröstete sie sich damit, dass es so vieles gab, was die Reisenden auf ihrem schnellen Weg nicht sehen konnten. Sie sahen nicht Röschens Lieblingsblume, den Blauen Lattich, der ganze Felsen in ein überirdisches Blau tauchte oder manchmal wie ein heimlicher Gruß aus einer Mauerritze hervorlugte. Aber auch die Gewöhnliche Wegwarte, die überall am Weg auf Röschen wartete, entging den mit zwanzig Stundenkilometern Dahineilenden. Die Wegwarte war nicht nur schön, sie war auch sehr nützlich. Röschen grub oft einige von den Pflanzen aus und brachte sie der Mutter mit, die die Wurzelstöcke röstete und daraus Zichorien-Kaffee brühte.
Heute führte Röschens Weg an Mägdesprung und der Arbeit am Spulrad vorbei. Sie folgte dem Lauf der Selke, erhaschte unter einem Zwergmispel-Strauch die lauernden Augen einer Wildkatze, hielt vergeblich Ausschau nach dem blaugefiederten Eisvogel, dessen Bau in der lehmigen Uferböschung sie verlassen vorfand, und erblickte schließlich die Ruine der Burg Anhalt auf dem Großen Hausberg. Jetzt war es nicht mehr weit zum Weidegrund des Schäfers Karl Ohlemann, des Vaters ihrer Mutter, der für seine einzige Tochter keinen besseren Mann gefunden hatte als den armen Weber Christoph Klapproth. Er unterstütze die Familie seiner Tochter, wo er nur konnte – aber wo konnte er schon?
Am freudigen Bellen seines Hirtenhundes Afko erkannte er, dass Röschen sich näherte. Seine Augen waren trüb geworden, er musste sich immer mehr auf Afkos scharfe Sinne verlassen. Er holte aus seiner Hütte einen Korb mit zimtbraunen Bischofsmützen. Am verlassenen Kohlenmeiler wuchsen diese seltenen Pilze. Er kannte die Stelle gut und hatte trotz seiner nachlassenden Sehkraft fünf Prachtexemplare gefunden, die zusammen bestimmt ein Pfund wogen. Er stellte den Korb auf die Bank vor der Hütte und legte auch noch ein paar Brombeeren dazu. Die konnte das Kind gleich naschen.
Er liebte Röschen von allen seinen Enkelkindern am meisten. Sie war seiner Frau so ähnlich, die schon kurz nach Ernas Geburt gestorben war, hatte das gleiche dunkelblonde Haar, Augen so klar wie die Selke und eine helle reine Stimme, an der er sich gar nicht satt hören konnte.
Jetzt ertönte diese Stimme neben ihm und gleichzeitig sah er das vom Laufen erhitzte Mädchen vor sich stehen:
„Guten Tag, Großvater! Guten Tag, Afko!“
Der Hund leckte dem Kind den Schweiß von den Händen und sprang an ihm hoch.
„Platz, Afko!“, befahl der Schäfer. „Du schmeißt unser Röschen ja um!“
Der Hund gehorchte und legte sich vor der Bank in den Schatten. Röschen streichelte ihn lange, wuschelte ihr Gesicht in sein zotteliges Fell und entschuldigte sich, dass sie ihm nichts mitbringen konnte.
„Ich sorg schon für den Hund“, knurrte der Großvater „behalt dein Essen ja für dich!“
Er zeigte ihr die Bischofsmützen, erfreute sich an ihren bewundernden „Ohs“ und „Ahs“, gab ihr eine dick mit Harzer Roller belegte Scheibe Brot als Mittagessen und dazu einen halben Liter frisch gemolkene Schafsmilch. Als sie auch die Brombeeren verspeist hatte, fragte er, was er jedes Mal fragte:
„Und wie geht’s daheim?“
„Ach“, sie wischte sich den Brombeersaft aus den Mundwinkeln „mit Else und Martha will’s und will’s nicht besser werden. Seit zwei Wochen liegen sie schon in der Kammer, das Fieber fällt nicht und sie reden bald nur noch dummes Zeug. Die Hebamme meint, es wird wohl der Scharlach sein.“
„Und das Lungenkraut, das ich dir für die beiden mitgegeben hab?“
„Jeden Tag zweimal hat Mutter ihnen den Sud eingeflößt. Aber bisher …“
Der Großvater schwieg. Wenn auch das Lungenkraut nicht mehr half!
„Und die Schule? Lernst du noch so fleißig?“
„Ich hör immer zu, was Herr Kruse der Fünften und Sechsten erklärt. Was wir machen, ist doch Eierkram.“
Der Großvater sprach wieder seine üblichen Ermahnungen aus – „Schuster, bleib bei deinen Leisten. Hochmut kommt vor dem Fall.“, – aber Röschen lachte ihn nur aus.
„Herr Kruse hat gesagt, wenn mein Vater nicht Weber wär, könnt ich auf die Mittelschule gehen.“
„Dein Vater ist aber Weber. Schlag dir solche Flausen aus dem Kopf! Mittelschule! Das konnte ja nicht mal Erich.“
„Dem hat Herr Kruse ja auch das Einmaleins reinprügeln müssen!“
Der Großvater schüttelte den Kopf so, dass sein langer weißer Bart über Röschens Gesicht strich. Röschen wusste, dass er sich um Erich große Sorgen machte. Kaum ein Tag war vergangen, an dem Erich nicht eine Schlägerei in der Schule angezettelt hatte. Da er nicht nur stark, sondern auch aufbrausend war, galt er bald als unverbesserlicher Raufbold. Und jetzt hatte er auch noch eine Lehre als Schnapsbrenner in Wernigerode angefangen, satt bei seinem Vater das ehrwürdige Handwerk der Weberei zu erlernen.
Röschen schienen die Sorgen des Großvaters übertrieben. Sicher, dem Vater fehlte eine wichtige helfende Hand, aber Otto war inzwischen an Erichs Stelle getreten und Lise hatte auch nicht mehr viel mit dem fünfjährigen Georg zu tun, der zwar noch immer kränklich und vor allem ewig mürrisch geblieben war, aber meistens still auf der Ofenbank Restfäden sortierte und nur fürchterlich zu schreien anfing, wenn er glaubte, eins seiner Geschwister habe ein Krümelchen mehr Brot bekommen als er. Röschen wusste nicht, ob der Großvater mit seinem Schnapsbrennerei ist keine ehrliche Zunft und Im Alkohol steckt der Teufel Recht hatte. Auf jeden Fall schien es Erich nicht so schlecht zu gehen. Er lieferte dem Vater jeden Monat eine Mark ab und noch zwei Flaschen Harzberggeist, für die sie im Dorf zum Tausch Salz, Zucker oder Eier bekamen.
Plötzlich hörte Röschen ein Rauschen. Ein Bussard war aufgestiegen und kreiste nicht weit über ihnen.
„Oh, wie schön! Großvater, sieh mal, was ist das für ein Bussard?“
„Kind, du weißt doch, dass ich nicht mehr so gut sehen kann. Beschreib ihn mir! Hat er Streifen auf seinem Schwanz?“
„Ja, das kann ich deutlich erkennen.“
„Dann ist es ein Wespenbussard. Der Mäusebussard hat keine Streifen.“
„Und warum heißt er Wespenbussard?“
„Na, du Dummchen! Warum wohl? Weil er Wespen, Hummeln und Bienen fängt.“
„Der Habichtskauz heißt aber nicht so, weil er Habichte fängt!“
Der Großvater schob seine altkluge Enkelin von sich und seufzte. Die Kleine würde es schwer haben im Leben. Es war nicht gut, wenn ein Mensch zu viel dachte. Und eine Frau erst recht nicht. Sie sollte die Natur lieben lernen, sollte wissen, welche Pflanzen Heilkräfte hatten und welche man meiden musste, welche Pilze wohlschmeckend und welche tödlich waren, wie man an den Honig der Bienen kam und wie man sich vor ihren Stichen schützte. Aber ihre ewigen Warum-Fragen – die musste sie sich abgewöhnen. Neulich hatte sie ihn sogar gefragt, warum denn die Männer, die in Flugmaschinen bis über die Wolken geflogen seien, Gott noch nie getroffen hätten, wenn er doch im Himmel wohne! Nein, solche Fragen stürzten einen Menschen ins Unglück, davor musste er sie bewahren. Er würde ihr noch ein Märchen erzählen. Märchen beruhigten den Geist der Kinder. Er begann mit dem Märchen vom Froschkönig. Röschen begeisterte sich weniger für die eitle Prinzessin als vielmehr für den treuen Diener Heinrich, der sich drei eiserne Reifen um sein Herz legen ließ, als sein Herr in einen Frosch verwandelt wurde, damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Erst als dieser zum Königssohn zurückverwandelt mit seiner Prinzessin in einer Kutsche zur Hochzeit fährt, sprengt das freudige Herz des treuen Heinrichs einen Reifen nach dem anderen wieder auf. Krach! Krach! Krach! Und der dumme Königssohn glaubt, dass der Wagen bricht! Für Röschen war der Eiserne Heinrich in seiner unverbrüchlichen Treue der eigentliche Held der Geschichte.
Aber noch mehr faszinierte sie das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Als sie zurück nach Mägdesprung wanderte, in der Hand den Korb mit den Bischofsmützen und einem Pfund in frische Blätter gewickelten Schafskäse, war ihr Geist von diesem Märchen noch immer angeregt. „Er hat ja nichts an!“, hatte ein kleines Kind gerufen, obwohl alle Erwachsenen behaupteten, der Kaiser trüge die schönsten und kostbarsten Kleider. Hieß das nicht, dass man nicht alles glauben durfte, was die Erwachsenen einem erzählten? Woher wollten die Mutter und der Großvater eigentlich so genau wissen, dass im Himmel Gott wohnte? Sie waren doch noch nie dort gewesen! Und der Herr Pfarrer auch nicht. Aber sie glaubten es ihm, obwohl noch niemand Gott im Himmel angetroffen hatte.