1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €
Heinrich Zschokkes Werk 'Die schwarzen Brüder' ist ein fesselndes Buch, das in zwei Bänden erschienen ist und sich um das Leben von Waisekindern in einem Schweizer Bergdorf dreht. Der literarische Stil des Autors ist klar und lebendig, wodurch er die Leser in die dramatischen Ereignisse eintauchen lässt. Das Buch wurde im 19. Jahrhundert veröffentlicht und reflektiert die sozialen und politischen Probleme dieser Zeit, insbesondere die Situation von Kindern ohne Eltern. Zschokke präsentiert eine mitreißende Geschichte über Freundschaft, Mut und Zusammenhalt in einer harten Welt. Er erzeugt eine Atmosphäre der Spannung und Emotion, die den Leser nicht mehr loslässt. Heinrich Zschokke, selbst ein bedeutender Schweizer Schriftsteller und Politiker, war bekannt für sein Engagement für soziale Gerechtigkeit und humanitäre Themen. Sein persönliches Interesse an den Lebensbedingungen von benachteiligten Kindern spiegelt sich deutlich in diesem Werk wider. 'Die schwarzen Brüder' ist ein eindringlicher Roman, der die Leser dazu ermutigt, über Mitgefühl und Solidarität nachzudenken. Es ist ein Buch, das nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt und eine wichtige Botschaft über Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft vermittelt. Empfohlen für Leser, die eine bewegende Geschichte mit starken moralischen Werten und historischem Hintergrund schätzen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Books
Inhalt
Mein Vetterchen,
Und fragen Sie tausendmal warum ich nichts bessers, nichts allgemeinnüzzigeres, als einen Roman geschrieben habe, so bekommen Sie doch immer eine und eben dieselbe Antwort, daß ich nämlich just einen Roman schreiben wollte, er mögte so abentheuerlich werden, als er es wolle. Zweitens, weil der größte Theil heutiger Leser nur nach dieser Waare am liebsten zu fragen gewohnt ist, und sie theils in Privatbibliotheken, theils in Lesezirkeln, theils in Lesebibliotheken aufnimmt. Drittens, weil doch auch ein Roman, wenn er nur irgends seinen Mann zu unterhalten weiß, seinen Nuzzen haben kann, aut negative aut positive.
Frage: wie so? — Antwort: weil er, erstlich, hin und wieder auf einen guten Akker ein gutes Saamenkorn streuen kann. Zum andern dient er wenigstens als ein Etwas wider die traurige Langeweile. Ein fetter Landrath vergißt vielleicht über das Lesen einen neuen Anschlag auf die Kasse seiner reichen Bauern, welchen er in langweiligen Minuten ausgegrübelt hatte. Eine verliebte Donna besinnt sich vielleicht in Rüksicht ihres Galans, der unmöglich ihr ehelicher Gemahl werden könnte, eines bessern. Ein runder, orthodoxer Beisizzer des hohen Sinedriums läßt vielleicht, vertieft in meine Plaudereien, einen braven freidenkenden Schriftsteller durchschlüpfen, dessen zum Druk bestimmtes Manuscript sehnlich nach einem vidi von der Hand des Zensors schmachtet. — Eine alte zänkische Tante sieht vielleicht einem liebenden Mädchen durch die Finger zu, und willigt von Herzen in Verlobung und Hochzeit, indem sie hoft, der arme Bräutgam werde mit Gottes Hülfe doch auch noch einmal ein Herr von Sorbenburg. — Ein junger Autor nimmt sich vielleicht beim Lesen meines Romans vor ein unsterblicheres Werk hervorzubringen, als das meinige ist. — Ein Rezensent erwirbt sich vielleicht, um die deutsche Litteratur ein unendliches Verdienst, wenn er meinen armen, abentheuerlichen Roman zum abentheuerlichsten Popanz, zum Vögelscheu und furchtbaren Merkzeichen für alle und jede macht, welche sichs einfallen lassen mögten ein Romänchen zu verfertigen. — —
O sehn Sie doch wie viel Vielleichts! wie einen großen Nuzzen mein Buch bewirken kann! — Doch der größte ist und bleibt, daß ich Gelegenheit habe Ihnen auch hier zu sagen, wie sehr Sie liebt, bewundert und achtet.
Der Verfasser.
Es war ein fürchterlicher Abend; ein Donnerschlag verjagte den andern; der Sturm pfif über die Felder und entwurzelte Eichen, der Regen schos so dicht und häufig, daß es ein Wolkenbruch zu sein schien.
„Mein Gott!“ keuchte der alte Graf von Duur, der sich auf der Jagd verspätet hatte, vom Sturm Regen und Donnerwetter plözlich überfallen war, und nun um alles in der Welt gern auf seinem Landschlosse zu sein wünschte: „Mein Gott, das stürmt ja alles auf mich armen Schach ein, als bräche der jüngste Tag auf! — Mein Odem ist weg, mein Seel, ich erstikke, wenn ich nicht bald zu dem verwünschten Schlosse komme!“ Der Leser mus wissen, daß der alte Herr etwas schwer vom Leibe war.
„Verwünscht, daß ich auf die Jagd hinauswatschelte; aber wer konnte das leidige Ungestüm riechen? und obendrein keinen Sperling geschossen! was der Bastholm nun lachen wird!“
Der gute, alte Mann hatte nämlich mit dem benachbarten Gutsbesizzer, dem Herrn von Bastholm, um zehn Flaschen Tokaier gewettet, wer den Tag das meiste von der Jagd heimbringen würde.
Und die arme Friedrike! was das Mädchen sich ängstigen wird, wenn sie mich nicht zurükkommen sieht in dem Ungewitter! „Hätt’ ihr wohl die Sorge ersparen können.“
Friedrike war die Niece des alten Grafen; Er erzog sie selbst, liebte sie mehr als eine Tochter; denn er war ohne Kinder, und Friedrike ohne Eltern.
„Ah, poz Henker und was mir da einfällt, Florentin kömmt ja, nach seinen Briefen, heut von der Universität zurük! He, Alter ’s war ein erzdummer Streich mit deiner Jagd! da ist der Junge vielleicht schon in meinem Zimmer, da liegt er wohl schon dem Mädchen in den Armen, die sich nicht satt sehen und satt küssen kann an ihrem Bruder! — ’s ist doch der Mensch manchmahl zu erzdummen Streichen geboren! —“
Er verdoppelte jezt seine Schritte, um spornstreichs seinem Neveu in die Arme zu fliegen, aber er rannte sich bald ausser Athem, und war gezwungen mitten im Regen seinen gemächlichen Spazierschritt beizubehalten. Hier soll er zum erstenmahl auf seinen stattlichen Bauch böse geworden sein.
„Länger halt ich’s nicht aus! es ist zu arg, bin nas am ganzen Leibe und die Straße ist ein wahrer Mordweg! — Meine Perükke ist, Gott sei bei uns, auch —“ —
Hier schwieg er plözlich still, denn er gewahrte einer Gestalt, die dicht hinter ihm herschritt. Ihm kam ein Grausen an. Es blizte — er sah sich in eben dem Augenblik um, und erblikte den hinter ihm Wandelnden von oben bis unten blutroth.
Seine Angst vermehrte sich bei jedem Athemzuge, er sprang in einen Nebenweg, den er entdekte, und der fremde Bluthrothe sprang ihm nach. — „Hier soll’s irre gehn, ich hab’s oft gehört!“ dachte er bei sich, und dehnte seine Füße von einander zur Flucht. Kaum war er vier Schritt gelaufen, so glitschte er auf dem schlammigten Fußsteig aus und fiel.
Es blizte. Die Gestalt stand neben ihm, faßte ihm mitleidig unter die Arme und hob ihn auf.
„War der Fall hart?“ fragte der Fremde.
„Ich fühle nichts!“
„Ist nicht ein Wirthshaus, oder ein Dorf in der Nähe wo man untertreten könnte?“
„Ich denke — ich denke nicht weit.“
„Es ist ein grimmiger Regen, doch bin ich solcher Witterung vielleicht mehr gewohnt, als Sie. Sie dauern mich, Kann ich mit meinem Mantel aufwarten!“
„Wo wollen Sie hin?“
„Kann ich mit dem Mantel aufwarten?“
„Er — oder Sie brauchen ihn ja selbst!“
„Wenn Sie ihn wollen, nicht mehr.“
Sprachs, und ihn dem seufzenden Edelmann um, der tausendmahl dankte.
„Nun werden Sie ja nas.“
„Meine Kleider verderben nicht!“
So dialogisirten sie sich eine ziemliche Strekke Weges fort. Dem Grafen war die Gespensterfurcht verschwunden, und der Fremde hatte nun einen Leitsmann. — Mit einemmale hörten sie einen Wagen auf sich zu fahren.
„He da! guter Freund, wohin?“ rief der nunmehrige Mantelträger dem Fahrenden zu.
„Ach Gott, gnädiger Herr, sind Sie’s selbst. Steigen Sie doch ein, ich hin schon eine halbe Stunde lang herumgefahren, um Sie zu suchen und nach Haus zu bringen!“ antwortete der Kutscher. —
Keiner segnete den Himmel hierum mehr, als der alte Graf. Er stieg ein, und zog den Fremden hinter sich her. „Sie haben mir, sagte er, Ihren Mantel geliehen, izt leih’ ich Ihnen meine Kutsche. Hurtig herein!“
Sie fuhren beide fort, und in wen’ger Zeit stiegen sie im Schlosse ab. Der Graf zog den Fremden immer hinter sich her; schleppte ihn in sein Schlafzimmer, ließ durch den Bedienten zwei Schlafrökke, Pantoffeln, Mützen u. s. f. bringen; sie kleideten sich um und nun schob der Alte den Fremden in das Visitenzimmer.
Hier war eine kleine, angenehme Gesellschaft vorhanden welche voller Ungedult auf den braven von Duur wartete. Nun trat er herein, und mit einem wilden: „O, mein Onkel!“ stürzte ein schlanker Jüngling ihm um den Hals, indessen der Alte freudelallend tausendmahl stammelte: „Mein Florentin!“ — Fräulein Friedrike war mit den andern Gesellschaftern näher getreten; stillschweigend standen sie alle um die Gruppe des Onkels und des Neffen, die lange unbeweglich in eins zusammengekettet blieben. Dem Jüngling flossen einige Thränen vom Auge; der Alte fühlte es, ihm brach das Herz, und er weinte; die Zuschauer wurden gerührt.
„Nehmt’s mir nicht übel,“ hub der Greis an, indem er die grauen Wimpern troknete, und sich zur Gesellschaft wandte: „nehmt’s mir nicht übel, alte Leute sind so leicht, als Kinder zum Weinen zu bewegen. Ich hab’ den Jungen nun seit drei Jahren nicht gesehn; hab ihn nicht früher sehn wollen, um meine Freude zu vergrößern — aber nun, wahrhaftig nun ist sie zu gros.“
Worte machen das Herz leicht und Thränen; man sah ein, daß es nicht wohl anging den ganzen Abend in dieser Attitüde zu verbleiben — also wurden einige Komplimente gewechselt und Entschuldigungen hervorgebracht.
„Unser freundschaftlicher Kreis ist unvermuthet heute vermehrt worden,“ sagte nachher der Graf, und trat zu dem Fremden, der indes still an der Thür stehen geblieben war: „Seht hier Kinderchen, einen neuen Gast, einen Reisenden, den ich unterwegs im Donnerwetter, oder vielmehr, der mich antraf, und so brav dachte, mir altem Manne seinen Mantel aus freien Stükken anzubieten, um mich wider den Sturm zu schüzzen. Es ist, mein Seel, brav gedacht!“
Der Fremde trat näher unter einigen modischen Verbeugungen, und stammelte seine Entschuldigungen. Es war, beim Lichte betrachtet, ein edelgebauter, sogar schöner, junger Mann von ohngefähr sieben und zwanzig Jahren. Sein Anstand verrieth Erziehung, seine Sprache Geist und Welt. Ein unvergänglicher Ernst wohnte auf seiner Stirn, schimmerte selbst durch sein freundlichstes Lächeln. Friedrike meinte, es wäre Melankolie.
Gemach wurde der Ton lebhafter, die Gesellschaft gemischter: den Fremden nahmen zwei ältliche Damen in ihre Mitte, Friedrike hing an ihrem Bruder Florentin, und der alte Papa kapitulirte scherzend mit dem Herrn von Bastholm wegen des Tokaiers.
„Nun, und was haben Sie denn geschossen, Herr von Bastholm zu Bastholmshausen? Ha, ha, ha!“
„Immer doch mehr, gnädiger Herr Graf von Duur zu Duurshausen, ha, ha, ha, doch immer mehr, als Sie!“
„Nun, mein Seel, ich hab’ ja keinen Mükkenflügel geschossen — und das Gewitter — —“
„Den Tokaier aus dem Keller!“
„In Ernst, Brüderchen, sag mir doch, was hast Du denn ergattert?“
„Wie gesagt, immer mehr, als Du. — Sieh doch her — eine Schnepfe! ha, ha, ha!“
„Ha, ha, ha, ha! ja, dann hab ich freilich die Wette verlohren!“
Beide lachten sich beinahe ihrer Wette und Jagd willen krank. Inzwischen war die Tafel gedekt; man sezte sich und as.
„Apropos,“ fing der alte Graf an, dem nichts lästiger war, als lange schweigen: „der Postmeister hat doch die Zeitungen schon herübergeschikt, Rikchen?“
„Ja. Nur gelesen hab ich sie noch nicht.“
„Höre Bruder Bastholm, der Erbprinz ist total kurirt, reitet schon wieder aus und manövrirt mit seinen Soldaten!“
„Weis wohl, lieber Graf; aber daß die dasigen Aerzte sich durch einen vorbeireisenden Fremdling mußten beschämen lassen, das ist doch ’ne schrekliche Blame für sie.“ —
„Nicht so sehr Blame,“ flüsterte ein junger Landedelmann über die Tafel herüber: „Wenn die Ärzte schon das meiste gethan hatten, konnte der Reisende wohl sein Heil versuchen.“
„Um Verzeihung,“ rief der Graf: „der Prinz verschlimmerte sich täglich, und die Mediciner gaben, laut den Zeitungen, schon sein Leben auf. Und dazu kömmt noch, daß der Heiland des Prinzen sehr jung gewesen sein soll!“
„Ein alter, steinalter Mann war’s,“ flüsterte jener: „ich hab’s aus Briefen. Er heißt Ludwig Holder. Sie sehen, ich weiß es genau.“
„Oho!“ fing eine der ältlichen Damen an, „ein Bürgerlicher, der Sr. Durchlaucht kurirte? unmöglich, daran sieht man’s! wenns die Hof- und Leibärzte, der Herr von G**, der Herr von F** nicht im Stande waren — —“
„Ganz recht, gnädige Frau,“ brummte eine Basstimme von der andern Seite des Tisches; „ganz recht! überhaupt, sollte man solchen herumstreichenden Quaksalbern nie das Leben einer fürstlichen Person anvertrauen, und die Renommée der übrigen Aerzte verderben lassen. Wenn ich Herzog wäre, so — —“
„So würden Sie lieber sterben,“ fiel Florentin der Basstimme ins Wort: „als sich von einem unanseßigen Arzt retten lassen! da thäten Sie, wenn Sie Herzog wären, sehr wohl daran!“
Alle lachten, der Baßist selbst lachte, auch der Onkel, der den bittern Scherz gern mit einem drohenden Finger bestraft hätte, wenn ihm nicht der Junge noch zu lieb und zu neu gewesen wäre.
Man stand auf. Die Spieltische wurden vorgerükt; die Pfeifen angezündet; das Fortepiano geöfnet. Jeder suchte seinen Gesellschafter: alles mischte sich von neuem durch einander. Florentin unterhielt einige Damen mit städtischen Moden, und sezte sich zugleich zum L’Hombre nieder; Bastholm und der Onkel spazierten auf und ab; Friedrike spielte ein Lied von Reichard, und der Fremde stand horchend hinter ihr auf den Stuhl gelehnt. — Kaum war der lezte Silberton des Gesanges verhallt: so lispelte der Unbekannte ihr ein: „Sie spielen vortrefflich!“ zu. Das gute Mädchen, das Modell zu einem weiblichen Bilde der Unschuld, erröthete, und erwiederte sehr naiv das Kompliment. Der Unbekannte bat sie weiter zu spielen, und das Mädchen konnt’ es ihm nicht versagen.
„Er ist ja fremd,“ dachte sie bei sich: „und blos, weil er fremd ist, darf ich ihm nichts abschlagen, warum er mich auch bäte.“ Sie spielte; alles wurde still im Zimmer; die mehrsten, welche in kein L’Hombre verflochten waren, umringten den Fremden und die Fortepianospielerin. Die Blike des Fremden ruhten auf des Mädchens Angesicht, und der alte Onkel beantlizte indessen sehr gemächlich den neuen Gast.
„Hören Sie,“ sagte der Greis, da Friedrike ausruhete: „hören Sie, Sie müssen mir die Neugier nicht böse deuten: — darf ich fragen, wie Sie heißen?“
Der Fremde ward verlegen und stokte.
„Sehen Sie nur, der Himmel hat uns so wunderbar durch den rothen Mantel einander bekannt und verbindlich gemacht, daß es unverzeihlich wäre wenn ich nicht einmal nach Ihrem Namen fragte. — Na, ich bitte Sie, wie beißen Sie?“
„Ludwig Holder.“
„I, Mordhimmeltausend noch einmahl! Ludwig Holder? Sie sind doch nicht — —“
„Ich bins.“
Alles war nun in eben der Minute aufgeflogen und um den Fremden gedrängt.
„Um Gotteswillen!“ rief Florentin in eben dem Moment: „laßt mich durch, er ists! eben der Holder ists, der mir das Leben gerettet hat!“ sprachs, und hing dem erstarrten Fremdling am Halse.
„Der Teufel, was ists denn?“ rief die bewußte Basstimme, und kam näher heran.
Jeder stierte mit Augen der Verwunderung den Unbekannten an — alle standen groß und klein in einem Kreise um ihn gedrängt, und man konnte auf den Lippen eines jeden ein Duzzend bescheiden unterdrükter Fragen lesen.
„Nun was hast Du denn mit Herrn Holder zu schaffen gehabt? — das Leben, sagst Du, hat er Dir gerettet?“
„Das hat er:“ gab Florentin dem Onkel zur Antwort: „und hören Sie nur, wie? — Im Winter vor zwei Jahren lokten mich einige gute Freunde auf das Eis hinaus, um in ihrer Gesellschaft auf Schlittschuhen den zugefrornen Fluß hinunter nach einem benachbarten Dorfe zu laufen. Ich schlug es nicht ab, allein eben dieses gefährliche Vergnügen, welches so mancher Jüngling schon mit seinem Leben bezahlt hat, kostete auch mir das meinige beinahe. Als die andern schon ins Dorf gegangen waren, kreuzte ich nur allein noch auf den Spiegelflächen des Eises umher, bald links bald rechts. — Mit einemmahle fühlte ich das Eis unter mir einbrechen, und sah ich von allen Seiten durch die Spaltungen das Wasser hervorquellen. Ein Schauder überfiel mich, meine ganze Besinnungskraft war verlassen — ich sah ängstlich nach Rettung umher, und gewahrte in der Ferne einen Menschen auf dem Eise, — ich wollte ihm zuwinken, ihn um Hülfe anrufen, aber ich war schon untergesunken und in dem Augenblik bewußtlos. Und dieser Holder sah mich sinken, mit der Gefahr seines Lebens erhielt er das meinige; kaum hatte er aber dies gethan, als er sich entfernte, dem Dank auszuweichen. Aber izt dank ich ihm in der Mitte meiner Verwandten, die mich durch ihn, zurükempfangen.“
Der Onkel sprachlos vor Erstaunen und Freude umarmte den wohlthätigen Unbekannten, jeder folgte ihm darin nach, die Damen lispelten ihm etwas Verbindliches und Rikchen drükte ihm sogar die Hand.
„Nu, was zu bunt ist, ist doch zu bunt!“ rief der alte Graf, nachdem der erste Taumel vorüber war. „Wir müssen mehr davon plaudern; allons, Stühle zusammengerükt und die Pfeifen wieder angezündet! — I, i, in aller Welt, wie hätt’ ich mir das träumen lassen können!“
„Mich wundert’s nur,“ sagte die ältliche Dame; „daß Sr. Durchlaucht den Herrn Holder, wegen der glüklichen Kur, nicht in den Adelstand zu erheben geruht haben.“
„Ja wohl,“ sprach der Onkel treuherzig: „in den Grafenstand hätt’ ich den wohl erhoben, der mir das Leben gefristet hätte. Das nenn’ ich mir doch Undankbarkeit!“
„Was und wozu Adel- und Grafenstand?“ rief Florentin enthusiastisch dazwischen: „all das Flittergepuz kann doch den Mann von Talenten nicht um ein Haar größer machen. Ich gäbe meine gräflichen Insignien mit tausend Dank obendrein hin, wenn ich mir auf solche Art Welt und Nachwelt verpflichten könnte. Holder fühlt sich gewiß schon darum belohnt, weil er, und kein andrer, Holder ist. Und was es am Grabe unaussprechlich süß sein muß wenn man sagen kann: die Welt ist mir mehr, als ich ihr schuldig! —“
„Wie der Junge nun da schwärmen kann!“ fing der Onkel an: „aber trösten Sie sich, Herr Holder, die Welt anjezt ist einmal so undankbar, so arg — wir machen uns bei der Nachwelt Schande über Schande. Nicht dumm, nicht eigensinnig war das XVIII. Jahrhundert, werden unsre Nachkommen sagen: sondern schnurgeradehin toll war’s. Wenn ich’s so recht bedenke, mein Seel, so ärgert’s mich, daß ich nicht vier, fünf hundert Jahre später lebe — dann muß es doch alles ganz anders geworden sein. O, die glükliche Nachwelt!“
So schwazte man den Abend hin; bis die Gesellschaft aus einander schied, und jeder sich in die weichen Arme des Schlafes warf.
Florentin schlief seit drei Jahren zum erstenmahle wieder in den väterlichen Zimmern, wo er die Freuden seiner Jugend empfand, als Kind mit der Puppe spielte, als Knabe den Nepos las, und als Jüngling hohe schwindelnde Entwürfe in seinen Träumen realisirte.
Als das Morgenroth durch die zitternden Gardinen seines Fensters spielte, sprang er auf vom Lager, wikkelte sich in seinen Schlafrok und öfnete den Flügel eines Fensters.
Wie schön die Natur nun da ausgegossen lag vor seinen Bliken, erquikt durch das vergangne Gewitter. Eine Sonne emporschwimmend hinter den fernen, blauen Waldeswipfeln; eine Sonne an jedem bethauten Hälmchen! — Jeder Strauch, jeder Baum, jedes Geländer war ein alter Bekannter; jedes Thal, jeder Hügel, jedes umbüschte Bächlein ein Mitkundiger seiner vergangner Freuden.
Nein, denkt er, nirgends scheint doch unsers Herrgotts Sonne, So mild, als da, wo sie zuerst mir schien. So lachend keine Flur, so frisch kein andres Grün!
Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen, Den ersten Schmerz, die erste Lust empfand, Sei immerhin unscheinbar, unbekannt, Mein Herz bleibt ewig doch vor allen dir gewogen, Fühlte überall nach dir sich heimlich hingezogen, Fühlt selbst im Paradies sich doch aus dir verbann!2
Jezt schmiegten sich an die rosigen Bilder seiner Kindheit die Szenen von gestern. Onkel, Rikchen, und der unbekannte Holder! — Alles alte Bekannte und alte Lieblinge seines Herzens, und ihm izt noch so neu, so lieb, als hätt’ er gestern erst mit diesen schönen Seelen den Liebesbund geschlossen. —
Der Fremde ging über ihm schon auf und nieder; Florentin säumte also keine Minute, zu ihm hinauf zufliegen, und den wärmsten Morgengruß zu grüßen.
Florentin. Sie sind schon früh auf?
Holder. Nicht sehr früh — ich habe seit einer halben Stunde aus dem Fenster gesehen.
Florentin. Nicht wahr, ist es nicht ein schöner Morgen und eine schöne Landschaft?
Holder. Sie haben recht; besonders wenn die Seele so hell, als dieser Morgen, und so erquikt und heiter, als diese Landschaft ist. — Ich empfand sehr viel, als ich die prächtige Natur so in ihrem Erwachen belauschen konnte. — Und dennoch, glaub ich, nahmen meine Empfindungen einen ganz andern Weg als die Ihrigen; — ich bin traurig geworden.
Florentin. Kann Freude die Mutter des Schmerzes sein?
Holder. O wie so leicht, Herr Graf! — Warum, dacht ich, leben in einer so schönen Welt so häßliche Seelen? Warum sind doch mit der größten Vollkommenheit die größten Mängel verbunden! —
Florentin. Eben dies gehört vielleicht mit zur Vollkommenheit — und sind diese Mängel Unvollkommenheiten, nun wohl, so dürfen wir hoffen daß sie, so wie tausend Mängel vor uns, auch noch nach uns ausgemerzt werden. Wir stehen zwischen Tag und Nacht — die Nacht ist vergangen, der Morgen graut schon, und den Genossen des künftigen, spätern Zeitalters ist’s vielleicht aufbehalten den Mittag in vollem Glanze zu sehn. —
Holder. Sie kommen auf die gestrige Idee Ihres gutmüthigen Onkels, da er in Entzükkung rief: o, die glükliche Nachwelt! — Es ist eine angenehme Grille, daß die Bewohner des Erdenrundes sich noch gänzlich ihren Unvollkommenheiten entreissen könnten, — dennoch aber bin ich überzeugt, daß ein Jahrhundert so glüklich und unglüklich, als das andere sein werde, es sei früh, oder spät in der Weltgeschichte vorhanden! — Doch ich bitte, fahren Sie in ihrer schönen Schwärmerei fort Herr Graf!
Florentin. Vielleicht was wir izt Traum, Schwärmerei nennen, daß dieses einst Wahrheit ist! — Dann herrschen gute Fürsten über gute Unterthanen, beide durch einander glüklich gemacht. Die Staaten blühen allesamt, Gerechtigkeit wird gehandhabt, wie sie es werden soll; Richter lassen sich dann nicht vom Golde das Auge blenden, wenn es Schuld und Unschuld erforschen soll. — Fürsten haschen dann nicht mehr nach dem Flitterglanz kriegrischer Ehre; Städte, friedsame Dörfer, lachende Saaten zu verheeren, nennt man Schandthat; wer Länder und Familien unglüklich macht, tausende hinmorden läßt, um einen Titel oder vergeßne Ansprüche der Vorfahren auf einen Strich Erde geltend zu machen, der heißt ein gekrönter Mordbrenner, sein Lohn harrt auf ihn in jenen Tagen, welche jenseits des Grabes dämmern. — Den Landmann seh ich freudig hinter seinem Pflug hertreiben, ohne daß Aberglaube über den Nakken desselben die tirannische Geißel schwingt. — Denk- und Drukfreiheit herrschen, nur von den Schranken gesunder Vernunft begränzt. — Kein neidischer Zensor unterdrükt Schriften, die er, besser zu verfertigen, nicht wagt. — Der Biedre darbt nicht mehr, weil er bieder ist; die Unschuld wird nicht gekränkt, weil sie hülflos dasteht, und dem trauernden Bürger saugen keine Jahrlange Prozesse das Mark aus. — Der Edelmann sucht nicht mehr durch die Thaten der Ahnen zu glänzen, sondern durch sich; schnellt nicht den armen Gläubiger mehr um Hab und Gut, und glaubt nicht geboren zu sein, in diesem und jenem Leben die bürgerliche Kanaille zu scheren.3 — Niedrigdenkende Pfaffen schleichen nicht mehr im Dunkeln umher, sich um Beichtkinder und Seelen zu betrügen, denn ihres Amtes heilige Würde ist ihnen wohlbekannt; über dergleichen Pöbellaster sind ihre Herzen erhaben. — Die Psalmen Klopstoks werden vom heiligen Lehrstuhle gebetet werden; keine tolle Ostergelächter werden fürder das Gotteshaus entweihen; das Volk wird von der Kanzel und Bühne Religion hören. — Wollust, Knabenschänderei und Selbstschwächung werden allgemein verflucht; und Schamhaftigkeit und Ehre eines Mädchens ist Männern und Jünglingen heilger und werther, denn die köstlichste Mitgift. — Leibeigenschaft ist des Staates Fluch; jeder Mensch, auch der ärmste von allen ist reich, denn sein ist der Gottheit goldnes Geschenk — Freiheit! geblieben. — Unbärtige Junker, welche noch oft der Ruthe bedürfen, können nicht mehr den Stoizismus der sklavischen Soldaten mit der Fuchtel ermessen; denn Soldatenstand ist nicht Sklaven- sondern Ehrenstand. — Jünglinge beziehen Akademien und kehren nicht mit Lastern und Seuchen, sondern mit Weißheit bereichert in das Haus der Eltern heim; erhalten Aemter dem Staate zu nützen, die nicht auctionis lege den Meistbietenden verfeilscht werden. — Gelehrte, welche Sanftmuth und ewigen Frieden predigen, zanken sich eben so wenig zum Skandal vom ganzen zuschauenden Publikum über leere Hülsen, als Fürsten privilegirte Diebe, durch Huldigung des Nachdruks, machen! — O Holder! Holder! mein Onkel hat Recht, wenn er ausruft: glükliche Nachwelt!
Holder. (ihm froh die Hand drükkend) Sie sind ein vortreflicher junger Mann, nicht Ihre Schwärmerei, aber das durch diese Schwärmereien hervorschimmernde gute Herz macht Sie liebenswürdig — Graf, bei Gott, Sie verdienen — ich weis Ihren ganzen Lebenslauf, all Ihre schöne Thaten. — —
Florentin. (erröthend zurüktretend) Holder! — schmeicheln Sie mir nicht, ich bin ein junger Mensch! — Könnt ich mir durch schöne Thaten etwas verdienen, so wünscht’ ich die Bewohner der Erde über fünf hundert Jahren noch einmal zu sehn.
Holder. (in glühender Ekstase) Bei dem Ewigen, Heiligen, Verborgnen, schwör’ ichs, — handle schön, handle schön, junger Mensch, und über fünf hundert Jahren siehst Du mich wieder in Deutschland! —
Florentin sah bestürzt den Unbekannten an; sah sein glänzendes Auge hochstarren bei dem fürchterlichen, seltsamen Schwur; sahe seine Lippen beben, seine ernsten Gesichtszüge sich in himmlische Entzükkung verwandeln — und konnte sich nicht erklären, wer dieser Holder sei, ob eine Gottheit in menschlicher Gestalt, oder ein alltäglicher Enthusiast.
Eine unbekannte Simpathie zog beide aneinander; Holder lag um Florentin und Florentin um Holder — die sanfte Morgenstille, das auf beider Antlizzen schwimmende Osten-Roth verfeierlichte die Szene.
Der erste der sich aus dem Taumel der Empfindungen ris, war der Fremde; denn fremder wurde dieser Mann dem Florentin in jeder Minute; je länger er ihn betrachtete, je räthselhafter derselbe erschien. Florentin warf sich auf ein Sofa hin; Holder pakte zusammen und warf sich in seinen Reisehabit.
„Graf, ich habe Dir viel versprochen,“ rief er nochmals dem träumenden Jüngling zu: „aber bei der Wahrheit dessen der da ist und war und sein wird, ich halte mein feierliches Wort, über Jahrhunderte siehst Du mich in Deutschland wieder!“
In eben dem Augenblikke wurden sie beide zum Kaffeetische gerufen.
Sie fanden den Onkel schon bei seiner Tasse, indem er das Morgenpfeifchen mit Behaglichkeit rauchte. Friedrike fast neben ihm, in einem häuslichen Negligée, welches das schlanke Mädchen noch dreimal schlanker machte. — Der Onkel, der den Fremden in Müzze, Pantoffeln und Schlafrok erwartete, verwunderte sich mächtig, als er ihn im weißen Ueberrok, dem runden Hute, gestiefelt und gespornt sah.
„Was Teufel, da fehlte ja wohl nur noch der rothe Mantel, und Sie wären reisefertig! Oho! so haben wir nicht gewettet, Herr Holder!“
„Ich will Ihnen nicht länger beschwerlich fallen!“
„Was beschwerlich fallen? Ein Mann, von dem man sogar in Zeitungen schreibt, der kömmt nicht sobald wieder von mir, wenn er einmal in meiner gräflichen Gewalt ist. — Na trinken Sie!“
Holder trank. Der alte Graf eiferte fort.
„Mit einem Worte, Sie bleiben bei mir, so lange es mir gefällt, und mir wirds lange gefallen, Sie mögen nun wollen oder nicht; Sie müssen!“
„Verzeihen Sie, Herr Graf, ich kann —“
Der Alte ließ Holdern nicht ausreden, sondern stand auf, sezte seine Tasse unausgetrunken nieder, winkte Florentinen, und marschirte stillschweigends mit ihm zur Thür hinaus.
Friedrike. (in einer Weile, nachdem sie bald auf Ihre Tasse, bald auf den Fremden gesehn.) Warum aber wollen Sie uns denn verlassen, Herr Holder?
Holder. (verwirrt) Warum?
Friedrike. (wieder nach einer Pause.) Gefällt es Ihnen bei uns nicht?
Holder. (Rikchens Hand nehmend.) Ach, sowohl! sowohl — aber (mit niedergeschlagenen Augen) ob ich auch Ihnen — Ihnen — und Ihrem Onkel und Ihrem Bruder gefalle! —
Friedrike. Je mein Gott — warum sollten Sie denn nicht?
Holder. (ihr ins Auge blikkend.) Sollt ich wohl, liebes Fräulein!
Friedrike. (von der Seite sehend.) Ganz gewiß!
Holder. Wenn es wahr wäre! wenn es wahr wäre, so wünscht’ ich, wohl ewig hier zu sein!
„Ich glaub es Ihnen leicht!“ erwiederte das unschuldige Mädchen, und über ihr ganzes Gesicht schwamm die liebenswürdigste Röthe.
Mit einemmale hörte man einen fürchterlichen Tumult im Schloshofe; man rannte durch einander her; die Thore wurden zugemacht; ein ewiges, verworrnes Fragen und Rufen, und Klirren der Klingen wie Degenklingen, füllte die Luft.
In eben der Minute trat der Graf mit seinem Neffen sehr ernsthaft herein; er wandte sich zu Holdern und sprach „jezt will ich Ihnen beweisen, daß ich ein Graf bin! kommen Sie her ans Fenster und sagen Sie ob es Ihnen noch gelüstet zu echapiren!“
Sie traten alle ans Fenster — Knechte, Mägde, Hirten und Bauern standen bewafnet da, mit verrosteten Hirschfängern, alten Flinten, Sensen, Stangen, Prügeln und Aexten, und sahn ängstlich bald aufs Schlos, bald auf die verriegelten Pforten, als befürchteten sie eine förmliche Belagerung. Der Verwalter lies sich als Kommendant unter ihnen sehn; er hatte in der Eil den Degen an die rechte Seite geschnallt, und lief in seiner Angst auf und nieder. Ein alter Bauer fragte ihn, was es zu bedeuten hätte, daß sie hier stehn müßten? „Je, mein Gott, rief der Kriegesmann, und klapperte mit den Zähnen vor Bangigkeit: bedenkt nur, ein rother Mantel will zum Thorwege hinaus!“ — Ein rother Mantel? stammelte der ehrliche Bauer: den regiert ja wohl, Gott sei bei uns, der Kobolt! — „Das ist eben der Teufel, ich begreifs selbst nicht!“
Mit Wohlgefallen lächelte der alte Graf auf sein Kriegesvolk hinab, und ließ dann Holdern ein forschendes Nun hören.
„Herr Holder bleibt — gern bei uns, Onkelchen!“ sprach Friedrike und schmiegte sich freundlich an den Alten.
„So bald mich nicht fremde Verhältnisse zu einem andern Vorsaz hinzwingen,“ sezte Holder hinzu: „bleib ich, so lange Sie mir erlauben!“
„Nun das war doch ein Wort;“ entgegnete der Alte, mit einem herzlichen Händeschütteln: „so muß man’s machen wenn man was erpressen will! — Allons, ihr tapfern Kriegesleute da unten, macht die Thore auf, und geht in eure Ställe mit Frieden; der Rothmantel kömmt nicht!“
Holder blieb nun. Je länger man seines Umgangs genoß, je interessanter wurde der Mann, je mehr man ihn kennen lernte, je weniger wußte man sich aus ihm zu finden.
Er bat sich auf seinem Zimmer Schreibmaterialien aus; er erhielt sie. Mit frühstem Tagesanbruch saß er schon in Papieren vergraben; zuweilen arbeitete er in der Nacht; keiner aber erfuhr woran, oder worin! Er schikte viel Briefe ab; und erhielt noch mehr zurük. — Florentin fand einst ein zerrißnes, von seiner Hand beschriebnes Blättchen, aber die Schriftzüge darinnen waren ihm unbekannt.
Den Tag über unterhielt sich Holder mit dem alten Grafen bald, und bald mit Florentin, oder dessen Schwester. Bisweilen durchirrte man Arm in Arm die Saaten; sah den geschäftigen Landleuten in ihrer Arbeit zu; — oder man ging in den Wald, oder auf einen benachbarten Hügel, von welchem sie oft alle viere der Sonne prächtiges Untersinken anschauten. In trüben, regnichten Tagen saßen sie in einem Zimmer beisammen; Florentin oder Holder lasen vor. Die Bücher gehörten meistens in Friedrikchens Bibliothek, die sie von ihrem Bruder während seiner Universitätsjahre erhalten hatte. —
Bald las man Wielands Simpathien; bald schwärmte man in den neblichten, wilden Thälern der alten Schotten umher, und hörte Ossians Harfe zu Fingals Thaten tönen; bald war Kronegk, bald Gellert, bald Klopstok oder Geßner ihrer Unterhaltung Stof.
Nach einigen Wochen mußte sich der junge Florentin von diesem liebenswürdigen Zirkel trennen, an welchem sein ganzes Herz hing; mußte die benachbarten Edelleute, entlegen wohnende Tanten und Basen besuchen, welche ihn nun wieder einmal nach drei Jahren zu sehen wünschten.
Man pakte alles Nothwendige für ihn ein; Rikchen stekte in jedem leeren Winkel seines Mantelsaks kleine Naschwaaren, von welchen sie wußte, daß Florentin sie gern hatte; der Onkel beschwerte sein Gedächtniß mit hundert Grüßen und beiläufigen Bestellungen an Verwandte und Bekannte, und Holder ermahnte seinen Freund eingedenk jenes schönen Morgens zu sein, und eingedenk der Worte: „handle edel!“
Es war ein dunkler, trüber Morgen, als Florentin von seinen Freunden schied. Alle standen um ihn her in geheimer Wehmuth; jeder sah den guten Jungen mit feuchten Augen an — es war, als schwebte um ihnen eine dumpfe, verborgne Ahndung. — Holder konnte sich lange nicht von dem liebenswerthen Jüngling trennen, „leb wohl! lispelte er ihm, nach einem Kusse, leise ins Ohr: vielleicht findest du mich nicht mehr, wenn du zurükkömmst!“
Florentin selber wurde zulezt weichmüthig. Er stieg mit Thränen auf sein vorgeführtes Pferd, und ritte mit seinem Knecht von hinnen. Noch, da er schon funfzig Schritt entfernt war, rief er mit gebrochnen Tönen zurük: „Ihr Lieben, laßt mir Holdern nicht fort — ich muß ihn wiederfinden!“ —
Alle riefen ihm ein lautes Ja nach, und in dem Augenblikke verschwand er aus ihren Blikken.
Jeder schlich bis in das Innerste bewegt zurük; dem Onkel schmeckte den ganzen Vormittag das Pfeifchen nicht; Rikchen konnte nicht strikken, nicht lesen; — Holder wühlte in den dumpfen Molltönen des Fortepiano’s. —
Das Mittagsessen schmekte nicht; mismüthig sezte man sich zum Kaffee nieder.
„Aber sagt einmal,“ hub endlich der Onkel an; „sind wir nicht recht große Narren, daß wir da kopfhängrisch, jeder in seinem Winkelchen, sizen? Der Junge kömmt ja in vier, sechs, acht Wochen wieder, und die vergehen bald; wozu denn nun gemault? — Was wird nicht endlich dann geklagt, geseufzt, geeinsiedlert werden, wenn ich ihn auf Reisen schikke? ’s mus doch so sein!“
Die Vorstellungen des Alten gewannen Eingang bei den jungen Leuten; man suchte sich zu zerstreuen, die Gesichter und Seelen wieder aufzuklären.
„Ich verliere;“ fuhr der Onkel fort: „ich verliere bei seiner kurzen Abwesenheit so wenig, als ihr. Kömmts auf einen seelenvollen Discours an, je nun, so hab ich einen Mann, von dem die Zeitungen sogar reden. Und will sich Herr Holder nicht mit einem alten Manne länger unterhalten, so sucht er Rikchen, und du, Rikchen, und du, wirst, denk ich, mit uns beiden auch wohl zufrieden sein dürfen. Nun also, was verlangt ihr mehr?“
Holder und Rikchen warens zufrieden; sie stimmten völlig dem Onkel bei, und wünschten dem Bruder Florentin eine glükliche Reise.
Holder hatte in der Zeit, welche er auf dem Duurschen Schlosse zugebracht hatte, das unschuldige, schöne Mädchen genug kennen gelernt, um sie — zu lieben, und Rikchen war dem Herrn Holder, troz seines immer ernsten Gesichts, schon in den ersten paar Tagen nicht böse gewesen. Also? — —
„Ach,“ sagte Rikchen in der Dämmrungsstunde des Abends, da ihr Oheim noch, wie gewöhnlich, auf der Jagd war: „ach, Herr Holder, warum hat Sie das Ohngefähr nicht früher zu uns gebracht! Sie glauben gar nicht, wie mir doch manchmal die Zeit lang, und alles so leer, so unangenehm geworden ist?“
Und izt nicht mehr, liebes Fräulein?
„Gewiß nicht mehr. Es ist mir, als hätte sich alles, alles hier, seit Ihrer Ankunft, verwandelt. Jedes Zimmer, jeder Spaziergang, jede Tageszeit ist mir izt angenehmer. Man sollt es sich nicht vorstellen, wie es möglich wäre, daß eine neue Gesellschaft auch alle Gegenstände verneuen könnte!“
Holder wurde roth, er laß in dem Herzen des Mädchens; sie aber bemerkte es nicht, denn es war dunkel.
„Und wie das Ohngefähr so sonderbar spielt! just der rothe Mantel mußte Sie zu uns bringen.“
Dafür ich dem Ohngefähre nicht genug danken kann.
„Ist das Ihr Ernst?“
Mein vollkommner Ernst.
„Ach, wenn das wäre! aber Sie sagen das gewis nur aus Höflichkeit. Denn was könnten Sie bei uns Intressantes antreffen, was Sie, ich sage, ein Herr, wie Sie, nicht allenthalben antreffen sollten?“
O doch, Fräulein, doch manches, was ich nicht allenthalben gefunden habe.
„Zum Beispiel?“
So gute, liebenswürdige Karaktere — eine solche schöne Freundin, wie — Sie.
„Wie mich? Sie scheuen; haben Sie noch gar keine Freundin gehabt?“
Gehabt? o ja, gehabt! aber eine Freundin, von der ich wünschte, daß sie immer die meinige wäre, noch nie!
„Wünschen Sie das auch im Ernst?“ Holder nahm Rikchens Hand in die Seine, und drükte sie schüchtern; Sollten Sie zweifeln können?
„Nun gut, so — so will ichs sein, aber“ — —
Aber?
„Aber ich wünsche auch, daß Sie immer mir — Freund blieben.“
So wahr ein Gott über uns waltet, ja, ich werd es bleiben! — — O Fräulein — o Rikchen — doch werden Sie auch nicht böse, wenn ich Sie so vertraulich nenne?
„Wer über solchen Namen böse wird, ist gewis noch nicht gut gewesen.“
Sie lieben — lieben mich also? ist es gewis?
Rikchen erschrak bei dem Worte lieben. Ihr Onkel hatte ihr oft gesagt; Rikchen, liebe keine Mannsperson, ohne mein Vorwissen, oder du machst dich unglüklich. Freundin kannst du jedem, nur nicht jedem Geliebte sein! Dabei malte der alte Mann ihr das Ding Liebe mit so fürchterlichen Farben vor, daß das unschuldige Mädchen mit Hand und Mund gelobte, nie die Sünde der Liebe zu begehen.
„Lieben?“ stammelte sie Holdern, und wollte das Händchen zurükziehn, und konnt es nicht.
„Und — das ist Liebe?“ — — —
Verzeihen Sie, Fräulein, ich habe Sie beleidigt, mit ahndet es — verzeihen Sie mirs! sagte Holder, ließ ihre Hand selber loß, stand auf, und wollte fortgehen.
Rikchen lief hinter ihm her, faßte ihn mit beiden Armen um, ihn festzuhalten, und freilich, solche Banden waren zu fest für ihn, als daß er sich so leicht hätte loßreissen können.
„Was wollen Sie denn? Sie haben mich ja nie beleidigt, aber wenn Sie von mit gehn, so“ — —
Ich bleibe.
„Und sind doch nicht böse?“ sagte sie in langsamer, bittendem Tone, indeß sie ihn noch immer in der Umarmung festhielt.
Nicht böse! — gab er zur Antwort und sank an ihren Hals. Sein Herz pochte in süßer Angst; seine Hände zitterten, welche das Heiligthum umfaßten; seine ganze Seele war Gefühl der Liebe. Seine Stirn ruhte auf ihrer Achsel, und ihr Mund war seiner Wange zu nahe, um nicht einen leisen Kuß auf dieselbe drükken zu sollen.
Holder fühlte auf seiner Wange die Lippen des Mädchens; er bog sich zurük, begegnete ihrem Munde — die Dämmrung des Abende, die Stille der Einsamkeit machten ihn kühn — er küßte, wurde wieder geküßt, und seine Seeligkeit begränzte die Seeligkeit der Engel.
Unter den tausend unglüklichen Schiksalen welche das menschliche Leben verherben, weiß ich keines das traurigste von allen zu nennen, aber von den hundert frohen Loosen, welche wir aus der Urne des Fatums ziehen, ist das schönste das Loos der Liebe, die Anzahl der Leiden ist groß, aber die geringere Anzahl unsrer Freuden überwiegt dennoch jene am innern Gewicht!
Holder und Rikchen hörten des Onkels Stimme. Hurtig flogen sie auseinander und dem Alten entgegen; der so eben ins Zimmer hereintrat.
„Und noch so im Dunkeln? Rikchen, kommandire Licht!“
Der Onkel sprachs, Riekchen hüpfte zur Thür hinaus, und Holder half dem Grafen beim Ausziehen.
„Es darf Ihnen nicht gereuen, Holderchen, daß Sie heut zu Hause blieben; hab’ mein Seel nichts, als eine wilde Ente geschossen!“
Ich bedaure Sie.
„Ja, sehen Sie, Freundchen, das mus sich ein Jägersmann, wie ich, nun schon gefallen lassen. Nun, Sie haben doch keine Langeweile gehabt?“
Im geringsten nicht, Herr Graf.
„Nun, ich denke auch. Wovon haben Sie mit dem Mädel geschwazt? darf ichs wissen?“
Holder war verlegen. Ich habe, sagte er; wir sprachen von — von, wie soll ichs nun gleich nennen, von — von — — einer ziemlich philosophischen Materie.
„Philosophischen Materie? Poz Bliz, weiß denn Rikchen da mitzuplaudern? ’s ist ja nur ein Mädchen! — doch nicht etwan davon, worüber wir uns gestern beim Kaffee stritten, und da ich Recht behielt, von den Menschen im Monde?“
Ich bitte um Verzeihung, der Stof war ganz neu.
„Je, was Sie sagen! nun und der war?“ —
Eine Hypothese, von der Sie sich, Herr Graf, und kein Philosoph, so lange es Philosophen gegeben hat, etwas träumen ließ. —
Holder suchte hierdurch Zeit zu gewinnen, sich auf etwas zu besinnen, und des Grafen Neugier wurde immer mehr gespannt. —
„Nun so sagen Sie doch!“
Ich behauptete, daß unser Erdenball und wir lebendige Geschöpfe auf demselben, nicht sowohl um unsrer selbst willen von der Gottheit geschaffen waren, sondern daß wir vielleicht höherer Wesen willen vorhanden sein könnten!
„Wie war das? was? warten Sie, ich muß das noch einmal durchdenken. — Aber warum denn für höhere Wesen?“
Daß dergleichen höhere Geschöpfe vorhanden sind, ist so gewiß, als unsre Unsterblichkeit — das heißt, sie sind höchst wahrscheinlich. Daß diese Wesen edlere Freuden geniessen, und nicht wie wir, an bloße Sinnlichkeit gebunden sein müssen, folgt schon uns dem Begriff höherer Wesen; es ist also leicht möglich daß wir ihnen das sind, was uns unsre Schauspieler sind. Wir lernen von den selben Moral und gute Sitten, sie von uns höhere Einsichten in die Natur der Welt, der Gottheit, des Geisterreichs, wie sie dies lernen, ist uns bei unsern kleinlichen, armseeligen Ideen eben so unbekannt, als manchem lüderlichen Komödianten, daß man durch das Schauspiel ein besserer Mensch werden könne.
„Wir wären also für andre geschaffen? wir nicht unsrer selbst wegen?“
Sollt’ es nicht möglich sein?
„Das wäre mir aber sehr ungelegen.“
Und wenn es das ist, was wollen wir machen? wir sind ja zu schwach; wir können uns ja so wenig wider den Schöpfer unsers Daseins auflehnen, als der Wurm im Staube wider uns sich empören kann, wenn wir Laune haben, ihn zu zertreten. — Und warum lies uns Gott jene Gegenden jenseits des Grabes dunkel? weil wir auf solche Art derselben gar nicht bedürften. —
„Das wäre aber, mein Seel, schreklich!“
Freilich wenn wir positive Gewisheit davon hätten; aber so müssen wirs uns, nach dem Willen des grösten Wesens, gefallen lassen, im dunkeln zu schwanken, und die Hofnung zu unsrer Trösterin zu nehmen.
„Aber könnt’ ich nicht murren, könnt’ ich nicht sagen? Warum schufst Du mich zur Glükseeligkeit andrer Wesen, o Gott, warum machtest Du mich nicht auch zu einem von ihnen? Du bist nicht der Allgütige! könnt’ ich so nicht sprechen?“
Nein, Herr Graf, weil Ihnen doch immer die Gewisheit fehlt, weil Sie sich doch von Ihrer Fantasie eine andre Hofnung geben lassen, und Ihre Klagen Ihnen über dies eben so wenig nützen würden, als dem Bauer, dem Bettler, welcher beweint, daß er nicht König geworden. Die Weisheit Gottes hat es so angeordnet, daß wir, auch wenn sich die Sache, wie oben gesagt, verhielte, doch zufrieden mit unsrer Lage sein können, so wie der Vogel in der Luft mit der seinigen.
Ein Bedienter brachte izt Licht; Friederikchen tanzte hinter ihm, ging zum Onkel und zerstörte durch ein Duzzend Fragen beinahe die ganze Aufmerksamkeit und Gegenminirung des gräflichen Philosophen, hätte dieser nicht gleich bei der ersten Silbe seine Hand auf ihren Mund gelegt.
„Rikchen wir sprechen izt von den ernsthaftesten Dingen, zu welchen Nachdenken erfodert wird — also, sei ein Weilchen still, und stopf’ mir indeß eine Pfeife — Sie aber, reden Sie doch weiter.“
Das Fräulein stopfte den Meerschaumkopf und schielte nach Holdern; Holder sammelte neue Gedanken und der Onkel starrte sinnend vor sich hin.
In dieser Hypothese, fuhr Holder fort, lassen sich die philosophischen Systeme vieler alten und neuern Selbstdenker vereinigen. Einige läugnen, zum Beispiel, die Freiheit unsers Willens, und wie sichs von so großen Männern nicht anders vermuthen läßt, nicht ohne Gründe. Nur auf die wichtige Frage, zu welchem Ende sind wir Marionetten? wußten sie wenig oder gar nichts zu antworten. Allein obige Muthmassung, daß wir nicht für uns existiren, lößt alles auf.
„Wahrhaftig, da haben Sie wieder Recht!“
Andre verwerfen die Unsterblichkeit der Seele. Man sezt ihnen wichtige Argumente entgegen, aber sie wehren sich durch; nur auf die Frage; wo bleibt beim Mangel der Unsterblichkeit Plan der Schöpfung, Weisheit Gottes, höchste Vollkommenheit? verstummen die Herren gewöhnlich. Nimmt man aber meine Hypothese an, so ist, auch wenn unsre Seelen sterblich sind, dennoch Plan in der Schöpfung —
„Hören Sie, Holderchen, vor izt sollen Sie Recht haben, aber nach dem Essen nicht mehr, dann werde ich wider Sie und Ihre Hypothese streiten, darnach richten Sie sich ein.“
Der Onkel zündete die Pfeife an und Rikchen trippelte näher.
„Aber,“ hub der Graf von neuem an: „wie haben Sie sich denn über solchen kritischen Gegenstand mit Rikchen unterhalten können?“
Holder. Wir sprachen nur eine kurze Zeit darüber.
Onkel. Kannst Du denn so was begreifen, Mädchen?
Rikchen. Wovon Sie sprachen nicht ein Wort; wovon aber wir, (sie zeigte auf Holdern) sprachen, ja. Wenn Sie sonst von der Liebe redeten, Onkelchen, da verstand ich nichts, aber — —
Onkel. (nimmt die Pfeife vom Munde) Was? Liebe?
Holder. (hustet)
Rikchen. Aber mit Herr Holdern läßt sich darüber viel deutlicher sprechen.
Holder. (hustet stärker.)
Onkel. Nun, sag mir nur, was soll denn das?
Rikchen. (sich anschmeichelnd) Sie — sind doch nicht böse? Sie lieben ihn ja auch, und ich bin auch — auch — —
Onkel. (legt die Pfeife hin) Was denn?
Rikchen. (ihr Gesicht an des Onkels Brust verbergend.) Verliebt.
Des Grafen Gesicht verlängerte sich bei diesem Worte; mit ofnem Munde und gefaltnen herabhangenden Händen stand er da und konnte keine Silbe hervorbringen. Rikchen blieb in ihrer vorigen Attitüde, und Holder zupfte an seinen Manschettenspizzen.
„Du bist verliebt?“ brachte endlich der Graf nach einer minutenlangen Stille hervor; er war in der grösten Verlegenheit mehr zu sagen, denn auf einer Seite schäzte er Holdern zu sehr, als daß er ihn vor den Kopf stoßen sollte, ob er gleich Holdern nicht in seine adliche Familie heurathen lassen wollte, auf der andern Seite befürchtete er bei seiner Pflegetochter alle Autorität für die Zukunft zu verlieren, wenn er zu einer Sache schwiege, die er ihr so oft verboten hatte. Er sah bald das Mädchen, bald den jungen Mann an und beschlos vors erste klüglich seine Verlegenheit auf die andern beiden zu wälzen: „Nun, Herr Holder.
Die Sache betrift Sie ebenfalls, und Sie schweigen?“
Holder. Gnädiger Herr, wenn mich das Fräulein liebt, dafür kann ich nicht, und Sie verzeihen es mir, daß ich gegen Friederikchens Reiz nicht unempfindlich bleiben konnte. Nur eins bleibt mir übrig, wenn mich diese That in ihren Augen verhaßt macht, Sie und Ihre Niece zu verlassen. Ich fühle es, daß es mir traurige Tage und traurige Jahre machen wird, aber ich fühle es auch, daß ich Mannes genug bin, endlich zu überwinden.
Rikchen. (schwermüthig zum Grafen heraufblikkend.) Und Sie wollten ihn von uns lassen?
Onkel. Aber mein Gott — —
Holder. Ich darf hier nicht Einrede wagen, ich darf auch nicht bitten. — Sie entscheiden und Ihrem Befehl muß ich mich untergeben.
Onkel. (in großer Verlegenheit) Aber was soll denn mit dem Lieben am Ende werden?
Rikchen. Gar nichts, gar nichts, verlassen Sie sich darauf.
Onkel. Ich kanns doch nicht machen, wie Onkels in der Komödie. — —
Rikchen. Wie machens denn die?
Onkel. Euch die Hände in einanderlegen und sagen: der Himmel segne eure Liebe, seid glüklich und damit holla.
Rikchen. Je, warum denn nicht?
Holder. (ernsthafter) Ich verstehe Sie.
Man ging zum Abendessen. Der Graf schwieg über Tische. Holder ebenfalls. Rikchen fragte verschiednes und erhielt keine Antwort. Zulezt standen sie auf; das gute Mädchen sezte sich in einen Winkel und weinte, Holder entfernte sich in sein Zimmer, und der Onkel, der seinen Liebling nicht weinen sehen konnte, ging frühzeitig schlafen.
Wie die lieben Leutchen nach diesem Auftritte geschlafen haben mögen, können sich die Leser leicht vorstellen. Der gutherzige Alte kalkulirte die halbe Nacht hindurch, entwarf hundert Pläne, und verwarf sie wieder, und konnte keinen festen Entschlus fassen.
Um ein Uhr in der Nacht hörte er drei Pistolenschüsse fallen. Sie geschahen oberwärts in Holders Zimmer; man wars von ihm schon seit einigenmalen gewohnt, und er gab vor, daß er das Echo bemerken, oder nach Vögeln schiessen wollte. Der Onkel lies sich nicht stören und schlief ein.
Das arme Rikchen wagte auch beim Frühstük folgenden Morgens nicht viel zu sagen; der Graf blies nachdenkend seinen Kanasterdampf von sich und lies oft seine Tasse kalt werden. Holder war noch nicht erschienen.
Mit einemmale hörte man Pferde in den Schloshof hereinsprengen. „Wenns doch Florentin wäre!“ rief der Alte, und stand auf; „wenn ers doch wäre!“ sagte das Fräulein lebhaft, und flog und ris das Fenster auf.
Der Graf. (eilig) Ist ers?
Rikchen. (traurig.) Ein Knecht mit zwei Reitpferden. (Pause) Ach, Gott! Onkelchen, er fragt nach Holdern! —
Der Graf. (bestürzt) Nach Holdern?
Rikchen. (mit Thränen im Auge) Holder will fort!
Holder. (der zur Thür völlig angezogen hereintritt) Ja, das will ich, muß ich. — Guten Morgen, Herr Graf, guten Morgen, gnädiges Fräulein! (küßt ihr die Hand.)
Der Graf. (bewegt) Herr Holder — —
Holder. Herr Graf, dürft’ ich Ihnen für Ihre bisherige Freundschaft und meine gütige Bewirthung hundert Thaler anbieten, einigermaaßen wieder zu vergelten, so thät’ ichs. Allein Sie schlagen es aus, und ich darf nur mit Worten danken. Es thut mit weh — o sehr weh — —
Rikchen. Herr Holder, lieber Onkel, hat geweint, seine Augen sind roth — —
Holder. Mag ihnen beiden dies ein Beweiß sein, wie lieb mir dieser Aufenthalt gewesen, wie ungern ich ihn verlasse. Ich habe in Ihrer Gesellschaft seelige Stunden gehabt, wer weiß, ob ich sie jemals schöner geniessen werde, denn ich war, wie in einem väterlichen Hause; all meine Wünsche starben, all meine Hofnungen gab ich auf, meine weit hinaus gehenden Entwürfe ließ ich vergessen, um ganz Ihnen zu leben, oder vielmehr in Ihren Armen meines Lebens froh zu sein. Izt hört dies alles auf, und ich schränke mein ganzes Glük nur darauf ein, daß Sie mich nicht vergessen mögen.
Rikchen. (weinend seine Hand nehmend) Wir Sie vergessen?
Der Graf. (immer mehr gerührt) Hätt’ ichs doch nimmer erfahren daß Ihr Euch geliebt hättet, — vielleicht — wärs besser gewesen.
Rikchen. Onkelchen, ja, Sie haben Recht, izt seh ichs; Liebe macht unglüklich, o sehr unglüklich! könnt es nur dießmal, dies einzige mal gut gemacht werden, ich wollte auch nie wieder lieben.
Holder. Trösten Sie sich, gnädiges Fräulein, ein Jahr — und ich bin vergessen.
Rikchen. Ein Jahr? ach, in dem Jahre weint’ ich mich tod. Freilich würd’ ich Sie dann vergessen müssen, denn im Tode, sagt man, hören all unsre Freuden und Leiden auf.
Holder. (küßt ihr die Hand, indem er seine Augen abtroknet) Und nun, Fräulein — —
Rikchen. (reißt sich los von ihm und wirft sich dem Grafen um den Hals) O, bester, lieber Onkel, lassen Sie Holdern nicht, oder ich sterbe — — haben meine Bitten je bei Ihnen etwas vermogt, haben Sie je meine Thränen gerührt: so hören Sie mich izt, so — so erbarmen Sie sich Ihren Rikchens!
Der Graf. (wehmüthig stammelnd) Kind, laß mich doch —
Rikchen. Nein, nein, Ihr Rikchen wird nie ruhig werden, wird sich unter die Erde grämen, wenn es izt verstossen ist. Sie werden mich nicht lange mehr haben, gewis nicht lange! — O Holder, einziger, liebster Holder, bitten Sie doch!
Holder. Ich halt’ es nicht aus! (schließt sie in seine Arme und küßt sie) Himmlischen Mädchen, lebe wohl! — noch einmal lebe recht wohl!
Rikchen. Wollen Sie dennoch? Sie selber? —
Holder. O Gott!
Rikchen. Sie selber? ach, Sie haben mich nicht lieb gehabt — können mich nie geliebt haben!
Holder. (mit Schmerz-gebrochener Stimme) Fräulein, Sie sehen nicht in mein Herz, aber Gott sieht es! — Herr Graf, leben auch noch Sie wohl! (will ihn umarmen.)
Der Graf. (indem er Holders Hände drükt, und ihn mit nassen Augen anstarrt.) Holder, Holder: was machen Sie? warum wollen Sie von uns? Wer hat Sie beleidigt? that ichs, that ichs, thats mein gestriges Schweigen so bitt ich um Verzeihung. Sehen Sie, die Sache war zu unerwartet, und da ists doch wohl einem alten Mann, der für das Wohl seines Lieblings sorgt, leicht zu übersehen, wenn er die Begebenheit recht überlegte.
Holder. Allein, sollten Sie izt, durch des Fräuleins Thränen bis zur Schwachheit gerührt etwas einwilligen, was Sie bei kälterm Blute — —
Der Graf. Nicht Schwachheit, nicht Uebertäubung! nein, Sie sind mir zu lieb geworden, als daß ich Sie von mir lassen könnte. Ihr Karakter ist mir unverholen, darum befürcht’ ich von Ihrer Liebe zu Friedriken nichts. Und Sie wissen ja selber, wie nothwendig Sie mir geworden sind; wollen Sie also nicht, daß sich das arme Mädchen krank harmet, wollen sie nicht, daß ich alter Mann mir ewige Vorwürfe machen, mir selber mein Restchen Leben verbittern soll, so bleiben Sie.
Rikchen. Null, lieber Holder? nun?
Der Graf. Da, nehmen Sie das Mädchen hin, nehmen Sie sie hin, ich will denn nun einmal der Onkel in der Komödie sein, aber bleiben Sie.
Holder. (umarmt und küßt den Grafen) Wohl, es sei; ich widerstehe nicht.
So lößte, sich der Auftritt in allgemeine Freude auf; Holder bestellte den Reitknecht ab; Rikchen sprang umher und küßte dem frohen Alten Hand und Mund; man sezte sich wieder zum Frühstük und fühlte nun ganz, wie sehr man an einander gekettet sei.
Was wären unsre Freuden, wo kein Harm ihren Werth erhöhte? Ein Edelgestein ohne Folie, ermüdendes Einerlei!
In der Nachbarschaft des Grafen von Duur lag ein ansehnliches Rittergut, zu welchem das Dorf Sorbenburg und eine vortreffliche Jagd gehörten. Der Besizzer des Gutes war schon seit etlichen Jahren gestorben; die Erben hatten seit eben so langer Zeit diesen Landsiz verpachtet und zulezt zum Verkauf ausgeboten.
Unser Onkel machte Spekulation darauf, aber er fand es immer zu theuer.
„Herr Graf,“ sagte Holder an einem Tage zu ihm; „wenn Sorbenburg mein wär, und ich hielt um Rikchens Hand an, würde sie mir abgeschlagen werden?“
Der Alte schmollte und sagte: „Mein Seel, wäre Sorbenburg Ihnen, so trüg ich Ihnen meine Niece selber an.“
„Ein Mann, ein Mann, ein Wort, ein Wort!“ erwiederte Holder; nun mus ich meine Baarschaft einmal nachzählen!
Jezt arbeitete Holder ämsiger auf seinem Zimmer, als je. Täglich versandte und bekam er Briefe, und weder der Graf noch Rikchen erfuhren wohin, warum und mit wem er so stark korrespondirte. Zuweilen war Holder sehr schwermüthig; weder die Naivetäten des Fräuleins noch die Laune des Alten waren vermögend ihm ein Lächeln abzugewinnen, in sich verschlossen saß er dann da, theillos an den Gesprächen und Scherzen der übrigen, und grübelte. Fragte man ihn deswegen, so erhielt man jedesmal zur Antwort: mein Glük und mein Unglück fließt aus einer Quelle, die ich niemanden offenbaren kann.
Indessen diese Launen, oder wie man es nennen soll, waren selten, der größte Theil der Tage verfloß im Duurschen Schlosse heiter. Florentin wäre gern Theilnehmer derselben gewesen, allein zum Unglük, oder soll man es Glück nennen? wurde er so schnell nach der Residenz berufen, um dort dem Herzog vorgestellt zu werden, daß er nicht einmal einige Tage Zeit hatte, nach Hause zu reisen.
Dieser Herzog war erst seit einem Monate an der Regierung; es war eben derjenige Prinz, welchen Holder vom Tode gerettet, hatte, ein Herr von sieben und zwanzig Jahren. Florentin gefiel ihm, und er gab ihm den Karakter eines Kammerherrn. Florentin meldete seiner Familie dies unerwartete Glük; der Onkel jauchzte, sah seinen Neveu schon als ersten Minister am Herzoglichen Throne, Rikchen hüpfte, küßte bald den Onkel, bald den lieben Holder — alles war Freude.
Der Graf stellte nach seiner Art ein kleines Fest an; der benachbarte Adel wurde dazu eingeladen, und ein halbes hundert Burgunder- Champagner- und Ungerflaschen waren bestimmt an dem feierlichen Tage auf Florentins Wohlsein geleert zu werden.
Auch Holdern war der Tag merkwürdig, denn der Fürst hatte sich seiner erinnert, und ihn aus Dankbarkeit in den Adelstand erhoben, nebst Verleihung des Gutes Sorbenburg. Holder war bestürzt, der Onkel noch mehr. Rikchen, aber glaubte izt ihn weniger rükhaltend lieben zu dürfen, und überließ sich deßwegen ganz dem süßen Glükke.
„Nun halt’ ich Wort,“ sagte der Onkel im Zirkel der ganzen Gesellschaft: „Nun halt’ ich Wort, und gebe dem Herrn von Sorbenburg die Gräfin von Duur zur Gemahlin!“ — —
Rikchen stand hocherröthend, neben ihrem Geliebten, in jungfräulicher Schaamhaftigkeit. Sie hörte die Worte, hörte sie gern und senkte den liebeschwimmenden Blick zu Boden. Holder dankte dem Grafen, Rikchen küßte ihm die Hand, die Gesellschaft der übrigen Herrn und Damen stattete ihre Glükwünsche ab.
Ich mahle die einzelnen Scenen dieses wonniglichen Festes nicht, ich sage nur dies, daß es eines der frölichsten in der Duurschen Familie war, daß jeder erst spät in der Nacht von Wein und Freude berauscht zu Bette ging, und daß am folgenden Tage — ach! Holder verschwunden war.
Man hatte um die Morgendämmrung die gewöhnlichen Pistolenschüsse wieder gehört, sodann einigen Tumult auf Holders Zimmer, aber nicht weiter darauf geachtet. Er war und blieb verschwunden; vergebens streifte man zu Fuß und Pferde durch die ganze Gegend, man fand keine Spur von ihm. Sein Zimmer war von innen verriegelt; ein Fenster nach dem Felde zu stand offen; alles lag auf der Stube verwildert durch einander geworfen, an der Erde, auf Stühlen und Tischen; einen Zettel fand man auf welchem die flüchtig geschriebnen Worte standen: „Leben Sie wohl, ich komme wieder!“
Man wartete ein halbes Jahr auf ihn, und er sollte noch wiederkommen. — —
Die Schwester des Herzog Adolf, an dessen Hofe sich Florentin von Duur befand, war ein schön gebautes, reizendes Frauenzimmer. Neunzehn Frühlinge blühten kaum auf ihren Wangen; sie war feurigen, schwärmerischen Temperaments; liebte gern und sah sich gern wieder geliebt und angebetet. —
Florentin war kaum am Hofe erschienen, als seine vorzügliche empfehlende Gestalt die Damen aufmerksamer machte. Prinzessin Louise, so hieß des Herzogs Schwester, sah ihn zum erstenmale auf einem Balle, welchen ihr Bruder gab; der Herzog unterhielt sich oft mit ihm, dies war genug ihm allenthalben Kredit zu gewinnen, — auch bei der Prinzessin. Durch ein beabsichtetes Ohngefähr kam sie ihm näher; sie fächelte sich mit einem seidnen Tuche, lies ihn von ohngefähr fallen, der junge Graf hob ihn auf, überreichte ihn, und der Herzog nahm Gelegenheit der Prinzessin seinen Kammerherrn vorzustellen.
Louise erlaubte dem Grafen einen Handkus, und sie war so gnädig, doch nur wie durch ein Ohngefähr, Florentins Fingerspizzen zu drükken. Florentin empfand die Allgewalt dieser schönen Ohngefährs; eine liebliche Röthe ergos sich über sein Gesicht; er blikte der Prinzessin schüchtern in die Augen, und sie entfernte sich, ohne aber der Röthe des jungen Mannes, und des Blikkes zu vergessen.
Man ist am Hofe nicht immer so glüklich, als im bürgerlichen Leben, wo man seinen Mann zu sehen öftere Gelegenheiten findet. Die Prinzessin fühlte diesen Mangel nur zu sehr, und ihn einigermaaßen zu vergüten, erlaubte sie ihrer Fantasie jede verliebte Ausschweifung.
Kein Wunder also, wenn der schöne Florentin ihr zuweilen in Träumen vor die Augen trat, sie da ihres fürstlichen Ranges vergaß, einen blühenden Jüngling an ihren liebevollen Busen drükte, und eine Wollust ahndete, welche kein Traum ihr gewähren konnte.
„Nicht wahr, liebe Auguste,“ sagte sie an einem Morgen zum Fräulein von Gülden, ihrer Kammerdame und Favorite: „nicht wahr, du hast auch schon geliebt?“
Frl. v. Gülden. (sanft erröthend) Ich geliebt?
Louise. Warum nicht? — du unschuldige Seele wirst ja so roth? Gewiß du hast auch schon geliebt!
Frl. v. Gülden. Ich bitte um Verzeihung, noch nicht!
Louise. Hi, hi, hi! noch nicht? o, Kind, man erräth, daß du noch nicht lange am Hofe gewesen bist, denn du weißt dich herzlich schlecht zu verstellen.
Frl. v. Gülden. Warum sollt ich mich verstellen? gegen Sie verstellen?
Louise. Da thust du Recht, liebes Mädchen. Allein offenherzig, hast du — — oder — oder du liebst vielleicht izt.
Frl. v. Gülden. Eben so wenig. (wendet sich weg)
Louise. So? nun da wirst du mir freilich eine schlechte Rathgeberin sein.
Frl. v. Gülden. Ich bitte — vielleicht —
Louise. Nun, auf dein vielleicht will ich es wagen; also zur Sache. Ich liebe, und zwar so heftig, als ich noch nie geliebt habe.
Frl. v. Gülden. (lächelnd) haben Sie also schon — —
Louise. O schon so oft geliebt, daß ich meine Eroberungen und Amouretten nicht mehr zählen kann. Ich bin doch wenigstens achtzehn Jahr alt, und — wie mir mein Spiegel sagt, auch nicht häßlich, folglich. — — Doch sag mir, Kindchen, räthst du mir diesmal zu?
Frl. v. Gülden. Zu lieben? warum nicht? denn unglüklich, ungeliebt werden Sie nicht sein, und ich kenne kaum eine angenehmere Stimmung der Seele; als eine solches — Ich hatte vor Jahr und Tag einen jungen Freund, — Freund, nicht Geliebten — es war eine herrliche Seele, gut, unbefangen und zärtlich. Der liebenswürdige Gustaf war vierzehn Jahr alt; die Knospe der Jünglingsschönheit brach izt schon auf bei ihm; ich sahe ihn gern und der Knabe mich; ihm war nur wohl, wenn er mich sahe, meine Hand drükken durfte. O, Prinzessin, ich gewann ihn lieb, und kann ihn noch izt nicht vergessen.
Louise. Erzähle doch weiter; ich lasse mir gern von Liebe und Liebenden vorplaudern.
Frl. v. Gülden.