Die Selbstverständlichkeit der Welt - Thomas Kühn - E-Book

Die Selbstverständlichkeit der Welt E-Book

Thomas Kuhn

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Beschreibung

Markus Gabriels Abrechnung mit konstruktivistischen und relativistischen Positionen wurde lange erwartet. Um so enttäuschender fällt sein eigener Vorschlag eines "Neuen Realismus" aus. Der Autor Thomas Kühn streitet für die "Existenz der Welt", übt Kritik am Konstruktivismus und weist sowohl Gabriels Kritik am Monismus als auch seine "Sinnfeldontologie" zurück - nicht ohne einen eigenen Vorschlag zu machen.

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Thomas Kühn

DieSelbstverständlichkeitder Welt

Eine Kritik am „Neuen Realismus“

© 2019 Thomas Kühn

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-5167-3

Hardcover:

978-3-7345-5168-0

e-Book:

978-3-7345-5169-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

V

Ein neuer Realismus?

1.

Die Diskussion um „den“ Realismus ist weitverzweigt und schwierig. Ich werde hier nur fünf Wirklichkeitsmodelle ins Spiel bringen, sie kurz erläutern und dann mit der Diskussion beginnen. Unter dem phänomenologischen Realismus verstehe ich die Idee, dass die Wirklichkeit im Wesentlichen so ist, wie sie uns erscheint, d.h. unserem Bewusstsein gegeben ist. Dabei wird aber zugleich angenommen, dass es keine gravierenden Differenzen zwischen den Bewusstsein-Tokens gibt: Jeder Mensch nimmt einen braunen Tisch als braunen Tisch wahr, jeder Mensch stimmt den gleichen, grundlegenden Wahrheiten zu etc. Wo es Abweichungen vom natürlichen Konsens gibt, da liegt eine subjektive Störung vor. Ansonsten wird die Bedingtheit der Erkenntnis (beispielsweise durch den Sinnesapparat, durch das Gehirn) nicht als Einwand gegen ihre Objektivität verstanden. Unter wissenschaftlichem Realismus verstehe ich den Gedanken, dass die phänomenologische Welt mittels der intersubjektiv überprüfbaren wissenschaftlichen Begriffe und Methoden erklärt werden kann. Dabei setzt der wissenschaftliche Realismus eine Ontologie von Gegenständen voraus, die phänomenologisch nicht unmittelbar gegeben sind (Teilchen, Kräfte, Felder und deren Interaktionen). In beiden Fällen wird angenommen, dass die jeweiligen Gegenstände der Bezugnahme wirklich existieren, auch unabhängig von einem Beobachter (bei der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik ist das nicht der Fall, aber das System Beobachter-Welle/Teilchen wird selbst als objektiv existent beschrieben). Der konstruktivistische Realismus geht im Gegensatz zu den vorherigen davon aus, dass alle Gegenstände der Bezugnahme, also alle Bewusstseinsinhalte, Wahrnehmungen etc., nur relativ zu einem Konstrukteur existieren, der konsequent gedacht nicht mehr Element der Menge der möglichen Gegenstände der Erfahrung sein kann (Roths „reales Gehirn“). Die gesamte Wirklichkeit ist so ein nicht näher zu kennzeichnendes Produkt eines wie auch immer gearteten Subjekts. Zwar wird der gleichartige Charakter der phänomenalen Welt ebenso wie Abweichungen davon auf die gleichartige und zugleich individuelle Leistung der wirklichen Gehirne bezogen; allerdings fällt diese Erklärung durch die Einführung des „realen Gehirns“ weg, da dieses nicht mehr individuiert und spezifiziert werden kann. Der kritische Realismus nimmt an, dass alle drei Positionen in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden müssen, einmal, weil sie – wie der phänomenologische „naive“ Realismus – widerlegbar sind; weil sie nicht weiter begründbare oder widerlegbare dogmatische Behauptungen aufstellen (wie der Konstruktivismus) oder weil sie ihre Methodologie nicht kritisch reflektieren und dabei auch Gefahr laufen, entweder dogmatisch oder naiv zu argumentieren (wie der wissenschaftliche Realismus). Im Gegensatz dazu nimmt der kritische Realismus an, dass wir unserer Wahrnehmung und unserem Urteil soweit trauen dürfen, bis wir durch neue Erfahrungen eines Besseren belehrt werden. Unter der Annahme, dass es eine objektive, subjektneutrale Realität gibt und dass Wissen möglich ist, nimmt er jedoch weiter an, dass dies Wissen durch Hypothesenbildung und durch die Möglichkeit des Scheiterns unserer Vermutungen (an der Realität) zustande kommt. Insofern ist alles Wissen nur Vermutungswissen, mehr oder weniger in und an der Praxis erprobt und korrigiert. Der Sinnfeldrealismus nimmt hier eine Sonderstellung ein, insofern er wie der phänomenologische Realismus annimmt, dass die Wirklichkeit genau so ist, wie sie erscheint. Da sie aber auf (prinzipiell unendlich) verschiedene Weisen (Sinne, Sinnfelder, Beschreibungen) erscheinen kann und keine Weise privilegiert ist („neutraler Realismus“), gibt es weder eine einheitliche Beschreibung der gesamten Wirklichkeit („keine Welt“) noch eine als Fundamentalstruktur ausgezeichnete Substanz der Wirklichkeit (z.B. Naturgesetze, Weltformel). So erscheint die physische Wirklichkeit dem Physiker als Interaktion von Teilchen, Feldern, Wellen und Kräften, dem Alltagsmenschen als sinnlich komplexe Szenen, in denen es scharfe, weiche, harte, schwere Dinge und dramatische Ereignisse, grelle Farben, beißende Gerüche usw. gibt. Dabei anerkennt der Sinnfeldrealismus Gefühlen, Gedanken, Irrtümern, Illusionen den gleichen ontologischen Status zu wie Bergen oder Kraftwerken. Einzeldingen kommt keine Existenz zu, sondern nur den Bereichen („Sinnfeldern“), in denen sie vorkommen („erscheinen“). Wahrheits- und Sinnkriterien sind für die Annahme dessen, was ist, nicht bindend. Im Sinnfeld einer Wiese gibt es Gänseblümchen als botanische Art; im Sinnfeld eines Knopfloches gibt es Gänseblümchen als Dekor oder Symbol. Das Gänseblümchen an sich, als Einzelding, existiert nicht.

2.

Schon dieser sehr oberflächliche Überblick, der das weite Feld des metaphysischen oder transzendentalen Realismus zunächst außer Acht lässt, zeigt, wie unübersichtlich die Gemengelage ist. Alle Wirklichkeitsmodelle stellen besondere Problemlösungen für die jeweils anderen dar und werfen aber zugleich neue Probleme auf. Einige Modelle nehmen Elemente voneinander an und verwerfen andere, so dass es immerhin Überscheidungsmengen gibt. Oder sie sind mit keinem anderen hier genannten Modell vereinbar, weil sie einen gänzlich neuen Zuschnitt haben. Ferner muss man die Standpunkte in erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht noch differenzieren. Ich möchte den Vergleich zunächst für das Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Realismus und den Konstruktivismus diskutieren, da einige Vertreter des letzteren die Behauptung aufgestellt haben, dass beide Positionen nicht nur vereinbar sind, sondern dass der Konstruktivismus zwingend notwendig aus dem wissenschaftlichen Realismus folgt. Zunächst kann ich folgender Annahme zustimmen: Wissenschaftlicher Realismus ist mit dem neurobiologischen – nicht hingegen mit dem sogenannten radikalen - Konstruktivismus vereinbar, wenn man die wissenschaftlichen Ergebnisse und die wissenschaftliche Methodologie konsequent mit in das Welt- und Selbstbild, das Menschen haben können, einbezieht. Dann ist er sogar mit dem kritischen Realismus vereinbar. Das Wissen um die vorbewussten neurobiologischen Prozesse, an deren Endpunkt dem Bewusstsein die phänomenale Welt und die subjektive Welt – Stichworte Willensfreiheit, Wahrnehmungsbewusstsein und Selbstbewusstsein – „erscheint“, ist ja ein bewusstes Wissen, das Menschen haben können, wenn sie sich mit entsprechenden Methoden und Experimenten vertraut machen. Daraus kann man allenfalls den Schluss ziehen, dass im Alltagsbewusstsein dies Wissen um die Entstehung von Wissen keine Rolle spielt. Man kann aber nicht daraus schließen, dass wir Menschen grundsätzlich keinen Zugang zu einer objektiven, von uns unabhängigen Realität haben. Das würde die Begriffe des Wissens, der Wahrheit und der Erkenntnis obsolet machen. Ich würde dem Konstruktivismus also soweit zustimmen, als er mit den Annahmen des wissenschaftlichen Realismus tatsächlich konformgeht: Nicht alles, was real ist, ist uns spontan und unmittelbar zugänglich (ohne wissenschaftliche Methoden, Modellierung und Experimente). Nicht alles, was unserem Bewusstsein spontan gegeben ist, ist objektiv real. Manches ist auch nur als subjektives Erleben real. Wenn beispielsweise der Neurobiologe behauptet, diese interne Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven sei ebenfalls nur eine (aus Sicht des Gehirns) subjektive Unterscheidung, verlässt er den Boden des wissenschaftlichen Realismus, der diese Unterscheidung für essentiell und objektiv wahr hält. Im Normalfall wissen wir, ob wir etwas wahrnehmen (objektive Realität) oder ob wir uns etwas einbilden und vorstellen (subjektive Realität). Diese Unterscheidung steht und fällt mir der Anerkennung einer vom Bewusstsein bzw. Gehirn unabhängigen Realität. Die Annahmen des Konstruktivismus sind ja viel weitreichender. Gemäß den Prinzipien der Autopoesis von Maturana nimmt er an, dass jedes „System“ sich seine „Umwelt“ selbst erschafft, dass beispielsweise das Gehirn dem Bewusstsein eine eigene Welt erschafft, die mit der Welt, in der das Gehirn vorkommt, keine identifizierbaren Eigenschaften teilt. Die These lautet ja nicht, dass der Mensch handelnd seine Umwelt verändert, das wäre trivial; sondern auch sein Wissen von der Welt spiegelt nicht die Welt, sondern nur seine Art sich die Welt vorzustellen oder zu schaffen bzw. zu „konstruieren“. Auch wenn man die Spiegelmetapher als zu simpel ablehnt, wird die Idee der „Adäquation“ zwischen Gedanken und Sein aufgegeben, die der traditionellen Wahrheitstheorie zugrunde liegt. Wissenschaften wie die Neurobiologie, die im Verein mit der Physik, der Biologie und der Chemie die Genese von phänomenalen Sinneswahrnehmungen erklären können, tun dies mit Hilfe von methodologisch, technisch und experimentell abgesicherten Sinneswahrnehmungen. Folglich können sie gar nicht, aufgrund ihrer Ergebnisse, argumentieren, dass sich das Gehirn seine Wirklichkeit selbst konstruiere (von welchem Konstrukt es selbst ein Teil wäre), ohne ihre Ergebnisse selbst als Konstrukte zu deklarieren. Damit würden sie den Fehschluss des „hysteron proteron“ begehen und ihre Ergebnisse ex post in Frage stellen. G. Roth kommt aufgrund dieses epistemologischen Dilemmas zum Postulat eines „realen Gehirns“, das freilich keine identifizierbaren Eigenschaften hat. Wenn die neurobiologischen Befunde im Sinne des Konstruktivismus interpretiert werden, dann wird die Neurobiologie selbst zu einer konstruktivistischen Methode, die über sich selbst behauptet, dass sie keinen Zugriff auf objektive, unabhängige Tatsachen hat. Damit disqualifiziert sie sich selbst. Eine Wissenschaft, die über sich selbst behaupten muss, dass sie keine objektiven Erkenntnisse über die wahren Sachverhalte produzieren kann – weil das menschenunmöglich sei -, gibt nicht nur den Status als Wissenschaft preis, sondern kann nicht zugleich behaupten, zu diesem Ergebnis aufgrund wissenschaftlicher Methoden gekommen zu sein…ohne diese Methoden insgesamt zu diskreditieren. Wenn der (radikale) Konstruktivismus wahr ist, dann kann er nicht wissenschaftlich bewiesen werden; wenn er wissenschaftliche bewiesen werden könnte, dann kann er nicht wahr sein. Man muss sich also entscheiden. Entweder gibt man die Wissenschaft als seriöses Unternehmen der Wahrheitssuche auf oder den Konstruktivismus als metaphysische Weltanschauung. Das Postulat der Objektivität widerstreitet dem Postulat der Konstruktivität in den Wissenschaften, ebenso wie die Prinzipien der Beobachterneutralität und der Beobachterabhängigkeit einander widerstreiten. Es gibt freilich noch eine dritte Möglichkeit, wenn man den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Konstruktivismus im Sinne eines kontradiktorischen und nicht konträren Gegensatzes deutet. Statt des konträren Gegensatzes:

„Alle (adäquaten) Wahrnehmungen sind konstruiert (einschließlich der wissenschaftlich abgesicherten).“ (1) vs.

„Keine (adäquate) Wahrnehmung ist konstruiert (einschließlich der wissenschaftlich abgesicherten).“ (2)

ist der kontradiktorische Gegensatz zu (1) wohl vernünftiger:

„Nicht alle (adäquaten) Wahrnehmungen sind konstruiert (einschließlich der wissenschaftlich abgesicherten).“ (3)

Daraus folgt „Einige adäquate Wahrnehmungen sind nicht konstruiert (einschließlich der wissenschaftlich abgesicherten).“ (4)

Dabei bedeutet „adäquat“ lediglich, dass hier keine Wahrnehmungen ins Spiel gebracht werden sollen, die in jedem Wirklichkeitsmodell als Phantasie oder Illusion gelten können. Man bekommt mit (1) den radikalen Konstruktivismus, mit (2) den naiven Realismus und mit (3) und (4) den wissenschaftlichen und den kritischen Realismus. Das Paradox des neurobiologischen Konstruktivismus besteht dann darin, von (2) auf (1) zu schließen, vom wissenschaftlichen Realismus (wir glauben einfach unseren experimentell gewonnen, methodisch wahrnehmungsbasierten Ergebnissen!) auf den radikalen Konstruktivismus (Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalte sind alle konstruiert!). Da klafft eine beträchtliche Plausibilitätslücke. Übrig bleibt der kritische bzw. wissenschaftliche Realismus (3) und (4), der die Bedingungen menschlicher Erkenntnisse einkalkuliert, aber objektive Erkenntnis grundsätzlich nicht für unmöglich erklärt. Dass alle Erkenntnis konstruiert sei, das kann man nicht erkennen und folglich auch nicht wissen. Dass keine Erkenntnis konstruiert sei, ist aber falsch, denn neurobiologische Experimente legen es nahe, dass einige Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalte neurobiologisch „konstruiert“ sind. Nicht ausgeschlossen wurde damit freilich, dass objektives Wissen unmöglich sei. Da aber daraus folgen würde, dass auch die Konstruktivität, Subjektivität oder Relativität von Wissen kein objektives Wissen wäre, kann man dann einfach nichts mehr behaupten, sondern müsste sich komplett jedes Urteils enthalten. Das halte ich für keine vernünftige Lösung, da sie als Lösung ja auch nicht explizit vertreten werden kann. Während also die Aussage „Einige Erkenntnisse bzw. Wahrnehmungen bzw. Bewusstseinsinhalte sind konstruiert, subjektiv oder relativ.“ wahr ist, sind die konträre (keine) Negation und die Implikationsbeziehung aus dem All-Satz (1) falsch.

3.

Aus der Diskussion des konstruktivistischen Realismus sind der kritische bzw. wissenschaftliche Realismus als „Sieger“ hervorgegangen, die Elemente des Konstruktivismus (wir konstruieren Hypothesen, überprüfen diese aber kritisch an unserer Erfahrung) und des phänomenologischen Realismus (wir haben über unsere Erfahrungen Zugang zur objektiven Realität) vereinen. Ein Vergleich zwischen dem kritischen und dem wissenschaftlichen Realismus führt zu einer großen Schnittmenge, jedoch fallen dabei Annahmen des letzteren als problematisch heraus. Diese Annahmen betreffen den ontologischen Status der wissenschaftlichen Objekte, den der phänomenalen Erfahrung und den des Bewusstseins. Alle drei Annahmen hängen unmittelbar zusammen. Es wird angenommen, dass die Modellbildungen und Abstraktionen, theoretischen Postulate und Entitäten (speziell der Physik und Chemie) die Welt beschreiben, wie sie „an sich“ ist und dass die Welt der Phänomene folglich nur subjektive Erscheinung für das Bewusstsein ist. Zwar erklärt die Physik unsere Wahrnehmungswelt ziemlich gut, aber sie kann letztlich nicht erklären, was und dass Wahrnehmungen sind. Dabei kann auch die Existenz des Bewusstseins im Rahmen des wissenschaftlichen Realismus nicht erklärt werden. Mit anderen Worten: Dass es sich bei den Wissenschaften um Abstraktionen von der phänomenalen Welt aufgrund wissenschaftlicher Hypothesen handelt, wird schnell angesichts der Erklärungserfolge der Wissenschaften vergessen. Es wird angenommen, dass die Welt, in der wir leben und handeln, so ist, wie sie von der Physik, Chemie und Biologie beschrieben wird. Das mag sogar zu großen Teilen stimmen, aber wenn der wissenschaftliche Realismus behauptet, dass nur das real sei, was von den aktuellen Wissenschaften beschrieben werden kann und wird, dann postuliert er ein Weltbild, das nicht mehr wissenschaftlich genannt werden kann. In diesem Sinn ist der wissenschaftliche Realismus, der die Welt mit ihrer wissenschaftlichen Beschreibung verwechselt, abzulehnen und der kritische Realismus ist vorzuziehen.

4.

Bleibt noch der phänomenologische und der Sinnfeldrealismus übrig, um ihn mit dem kritischen Realismus zu vergleichen. Der naive oder phänomenologische Realismus nimmt die alltägliche Erfahrungswelt als gegeben an und konzeptualisiert sie im Rahmen der natürlichen Sprachen. Demzufolge gibt es Dinge, Ereignisse, Gerüche, Geräusche, Gefühle, Gedanken – die Welt ist für jeden die gleiche und besteht mehr oder weniger aus den gleichen Gegenständen. Die Wissenschaften haben die dienende Funktion, die Wirklichkeit in Abschnitte zu unterteilen und diese Bereiche zu katalogisieren und zu kartografieren, die allgemeinsten Elemente und Kräfte zu identifizieren, darüber hinaus kausale Zusammenhänge zu erschließen, um nutzbringende Werkzeuge zum Wohle des Menschen zu erzeugen. Diese Welthaltung ist sehr robust und frei von Zweifeln. Die Basisannahmen sind elementar realistisch in Bezug auf die Essentials der Welt: es gibt die eine Wirklichkeit („Welt“), die sich aufteilen lässt in beispielsweise die physische Wirklichkeit (Gegenstände, Raum, Zeit, Kausalität, Kraft), die soziale Wirklichkeit (politische Organisation, Kultur, Institutionen, Bildung, Kommunikation) und die psychische Welt (Gefühle, Gedanken, Erlebnisse). Diese Wirklichkeiten können für sich stehen (keine fragt auf dem Bürgeramt nach den Gesetzen der Physik), hängen aber zusammen, schließen sich natürlich für den naiven Realisten auch nicht aus. Die typisch philosophischen Fragen – Qualia- oder Bewusstseinsproblem, Frage nach dem Fremdpsychischen oder dem Verhältnis zwischen psychischen, sozialen und physischen Tatsachen oder das Problem der Teleologie in der Handlungstheorie in einer Welt der physischen Kausalität usw. – sind akademische Spielchen ohne Relevanz für den Alltag. Die Welt als Ganzes ist nur ausnahmsweise Gegenstand der Rede, meist verkürzend gebraucht für die Erde. Als Gesamtheit des Seienden wird Wirklichkeit gewöhnlich rein summarisch oder extensional aufgefasst und nach Prinzipien des Enthalten-Seins, des Bestehens-aus oder des Hervorbringens etc. erklärt. So sympathisch der phänomenologische Realismus auch sein mag, so ist er doch massiv durch seinen wissenschaftlichen Bruder in Bedrängnis geraten. Hier greift nun der „Neue Realismus“ in der Variante von Markus Gabriel ein und versucht, „die „Phänomene zu retten“. Von diesem Versuch handeln die folgenden Essays.

II

Individuelle Existenz

„To be or not to be: That is the question!“

Hamlet, Shakespeare

Vorbemerkung

Wenn Existenz kein „reales Prädikat“ wäre, dann könnten wir nicht zwischen realen und fiktiven Dingen unterscheiden. Nun können wir das aber. Also muss Existenz ein Prädikat sein, eine Eigenschaft. Da aber sowohl reale als auch fiktive Gegenstände existieren, reicht das offenbar nicht, um sie zu unterscheiden. Also muss man ergänzen: „wirklich sein“ oder „ist wirklich“ ist die Eigenschaft, die den Unterschied macht, auch wenn wir noch nicht genau wissen, was das heißen soll. Existenz ist eine metaphysische Eigenschaft, die allem zukommt, was irgend Gegenstand einer wie auch immer gearteten Bezugnahme sein kann - was auch alle Gegenstände einschließt, deren Inexistenz angenommen wird, da auch die Negation eine Art der Bezugnahme ist. So können wir auf die griechischen Götter affirmativ Bezug nehmen, indem wir uns auf die griechische Mythologie und ihre materiellen Quellen beziehen, und negativ, indem wir die faktische Existenz griechischer Götter negieren. Ebenso kann Markus Gabriel auf die Welt Bezug nehmen, deren Existenz er bestreitet, wodurch er ihre Existenz nachgerade bestätigt. Aber da es die griechischen Götter nur im Mythos und den Monismus nur in der Philosophie gibt, muss die Hinsicht der Existenz in den Blick kommen. So argumentiert Kant beispielsweise, dass die Welt als Gegenstand der Bezugnahme immerhin eine Idee der Vernunft (eine vernünftige Idee!) sei, also zumindest in Gedanken existiere. Diese Überlegungen führen zu einem Begriff der qualifizierten Existenz. Existenz ist ein elliptischerAusdruck, der unterschiedliche Bedeutungen hat, je nachdem, wie man ihn expliziert. So bedeutet "existiert wirklich/real/faktisch" etwas anderes als "existiert als Gedanke, Gefühl, Wahrnehmung, Darstellung". Dabei unterscheide ich zwischen dem Gedanken bzw. Begriff und dem Inhalt bzw. Gegenstand des Begriffs. Der Gedanke an rosa Einhörner mag existieren, rosa Einhörner jedoch existieren nicht. Für letztere Weise des Gegeben-Seins wähle ich den Ausdruck "existiert fiktiv". Qualifizierte Existenz ist im Unterschied zum nicht qualifizierten Existenzbegriff eine Eigenschaft von Individuen. Denn zwar fügt auch die Existenz dem Konzept eines Individuums kein weiteres diskriminierendes Merkmal hinzu. Aber als Konzept existiert ein Individuum nur der Möglichkeit nach. Um den Übergang und Unterschied zur wirklichen Existenz angemessen verstehen zu können, benötigen wir als weitere Eigenschaft, die dem Begriff zukommt, das qualifizierende Merkmal der realen oder fiktiven Existenz. Tatsächlich haben (nur) gedachte 100 Euro andere Eigenschaften als reale 100 Euro (das gleiche gilt für Falsch- und Spielgeld), hat ein reales Kind andere Merkmale als ein bloßer, auch noch so präziser Kinderwunsch etc., kurz, Begriffe enthalten semantisch andere Eigenschaften, je nachdem, ob ihre intentionalen (referentiellen) Gegenstände tatsächlich (extentional) existieren oder nicht (bzw. auf welche Weise sie existieren). Zu einer vollständigen Deskription einer existierenden Sache gehört auch das Merkmal ihrer Existenz (als diese Sache mit ihren sonstigen Eigenschaften). Dabei unterscheide ich zwischen dem „Dass“ ihrer Existenz („ Sein“) und dem „Was“ ihrer Existenzweise („Sinn“). Während Existenz schlichtweg allem zukommt, also kein Individuum prädiziert und damit unterscheidbar macht, ist die qualifizierte Existenz Teil der Seins-Weise eines Individuums. Ein Gegenstand kommt als er selbst oder als Begriff, Beschreibung, Nachahmung, Kopie etc. vor. Aus diesem Grund nehme ich auch nicht an, dass es „Existenz“ nurunter einer Beschreibung („Sinn“) gibt (Markus Gabriel), hingegen muss man annehmen, dass qualifizierte Existenz qua „eigentliche Eigenschaft“ unter einer Beschreibung stehen kann. Eigenschaft ist alles, was prädiziert, beschrieben, innerhalb eines Begriffsrahmens qualifiziert werden kann. Das hier vertretene Existenzkonzept erlaubt es, erstens an einem metaphysischen Weltbegriff festzuhalten, insofern Existenz allem zukommt, auch dem, was aktual nicht Gegenstand einer Bezugnahme ist, zweitens weiterhin eine diskrete Ontologie zu verfolgen, die jedem Individuum sein eigenes Sein zubilligt, - und zwar unabhängig von seinem Erkannt-Sein -, anstatt es gerade noch als "Erscheinung in einem Sinnfeld" (Markus Gabriel) zu qualifizieren. Die vorliegende Deutung verhindert auch ideologische Pseudo-Ontologien, wie zum Beispiel die Behauptung der faktischen und nicht nur deklarativen Existenz von politischen Gattungsbegriffen (Universalien), also Nationen, homogenen Völkern und geschlossenen gesellschaftlichen Systemen unabhängig vom Sein, Wollen, Denken und Handeln der Individuen.

 

Wozu?

Markus Gabriel wiederholt in seiner breit und gründlich angelegten Studie „Sinn und Existenz“ die Doppel-These von der Inexistenz der Welt und der Existenz indefiniter „Sinnfelder“, die aus seinem populärphilosophischen Essay „Warum es die Welt nicht gibt“ schon bekannt sind. In der Begründung seiner beiden Thesen spielen Kant und Frege eine herausragende Rolle, da er seine Thesen in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickelt. Von beiden übernimmt Gabriel die These, dass „Existenz kein reales Prädikat“ (über Individuen) sei, sondern eine Eigenschaft von „Bereichen“ oder „Begriffen“ bzw. „Feldern“. Für seine Zurückweisung einer diskreten Ontologie und seine Begründung der Sinnfeldontologie ist diese Annahme notwendig. Aber ist die These, dass Existenz kein reales Prädikat sei, wirklich so stichhaltig? Ich bezweifle das und versuche meine Einwände im Folgenden zu formulieren.

Sein als Eigenschaft?

Kant unterscheidet zwei Funktionen des Verbs „sein“, einmal betrachtet er es als Kopulaverb in Prädikativa, und hier misst er ihm keine Eigenständigkeit, sondern richtigerweise nur eine das Subjekt und Prädikat verbindende Funktion zu. Natürlich ist das Verb "sein" als Hilfs- oder Kopulaverb prima facie nicht geeignet, Eigenschaften zu kennzeichnen. Das andere Mal wird durch den Gebrauch von „sein“ einfach nur das Subjekt als existierend gesetzt. In beiden Fällen ist „sein“ kein eigenständiges Prädikat, das dem Begriff des Subjektes irgendetwas hinzufügt:

„Sein ist offenbar kein reales Prädikat, das ist ein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriff eines Dinges hinzukommen könnte. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauch ist es lediglich die Kopula eines Urteils. Der Satz Gott ist allmächtig enthält zwei Begriffe, die ihre Objekte haben: Gott und Allmacht; das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädikat, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise auf das Subjekt setzt. Nehme ich nun das Subjekt (Gott) mit all seinen Prädikaten (worunter auch die Allmacht gehöret) zusammen und sage: Gott ist, oder es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädikat zum Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf seinen Begriff.“1

Ich stimme Kant in der Analyse zum Teil zu, jedoch möchte ich im Folgenden einen weiteren Aspekt hervorheben, den er meines Erachtens nicht hinreichend beachtet hat, den Aspekt der qualifizierten Existenz. Ich beginne mit der Betrachtung folgender Aussagen:

(1) Hans ist blind.

(2) Sherlock Holmes ist Detektiv.

(3) Gott ist.

Die beiden Prädikativa „ist blind“ (1) bzw. „ist Detektiv“ (2) schreiben jeweils einem bestimmten „Subjekt“ im Satz – in diesem Fall menschlichen Individuen als Träger von Eigennamen – bestimmte weitere Eigenschaften zu. In beiden Fällen wird dabei vorausgesetzt, dass „es“ bestimmte Individuen „gibt“, denen bestimmte Eigenschaften zukommen. Man nennt diese Voraussetzung, die allererst das vernünftige Reden über einen Gegenstand erlaubt, seit Strawson Existenzpräsupposition. Die Kopula "ist" ist daran unbeteiligt, sie verweist nicht auf die tatsächliche Existenz des Subjekts. Sie bedeutet lediglich, dass die Eigenschaften, auf die sich das Adjektiv bzw. Nomen beziehen, dem Subjekt zukommen. Die beiden Sätze wirken auch dann verständlich, wenn man nicht weiß, ob und inwiefern Hans oder Holmes existieren. Auch die Wahrheit der beiden Aussagen hängt nicht vom ontologischen Status der Satzsubjekte ab. Sie müssen nicht realiter, sie können auch fiktiv existieren. So ist (2) wahr, obwohl Holmes nur als Romanfigur existiert. Warum? Weil sie der Deskription, die wir von Holmes in den Werken von Arthur Canon Doyle als Romanfigur haben, entspricht. (3) ist in dieser Form ungebräuchlich, üblicher ist etwa die Formulierung "Gott existiert" oder "es gibt Gott". Auch hier werden die synonym verwendeten Prädikate nicht im Sinn einer Eigenschaftszuschreibung gebraucht. Aber die Formulierung (3) wirkt tatsächlich ungrammatisch, da man nach einem Nomen und einem Kopulaverb eine entsprechende prädikative Ergänzung (…allmächtig, gerecht, einzig etc.) erwartet. Man kann der grammatikalischen Erwartung entsprechend aber auch schreiben:

(4) Gott ist wirklich.

Dann wird das Prädikativum „ist wirklich“ (= „existiert wirklich“) als Eigenschaftszuschreibung gebraucht. Explizit gemacht, verwandelt sich die Existenzunterstellung (Präsupposition) in eine Eigenschaftszuschreibung. Handelt es sich dann um eine Eigenschaft, die dem intentionalen Gegenstand des Subjektbegriffs zukommt? Jedenfalls ist anzunehmen, dass ohne die Existenzzuschreibung von Gott nur der Begriff übrigbliebe. Der allerdings ist real (und sehr wirkungsmächtig). Die Negation des Prädikativums „ist wirklich“ in (5)

(5) Gott ist nicht wirklich

verneint nicht das Kopulaverb „ist“, sondern lediglich das Adjektiv „wirklich“ und das bedeutet, dass Gott die Eigenschaft des Nichtwirklich-Seins zugeschrieben wird, eine Eigenschaft, die ihn als einen bloßen Begriff ausweist. Sein ist also kein reales Prädikat, das eine Eigenschaft ausdrückt, da ist Kant zuzustimmen, aber ein durch eine prädikative Ergänzung erweitertes und qualifiziertes Sein fungiert als Prädikat und kann Eigenschaften zuschreiben. Die Wendung „Gott ist seiend“ wirkt durch die Verwendung des Partizips etwas holperig, kann aber getrost im realistischen Sinn interpretiert werden.

Brauchen wir Eigenschaften?

Welche Funktion haben Eigenschaftszuschreibungen? Die Individuen werden durch ihre Eigenschaften notwendig und hinreichend bestimmt. Was allerdings „notwendig und hinreichend“ bedeutet, hängt in den Eigenschaftszuschreibungen vom Kontext und den Funktionen der Zuschreibung ab. Häufig genügt zur Identifikation nur ein signifikantes (diskriminierendes) Merkmal, um ein Individuum zu identifizieren. In Umgebungen, in denen Vollständigkeit erwartet wird, kann die Liste entsprechend unabschließbar werden. Normalerweise begnügt man sich aus pragmatischen Gründen für die zweckmäßigsten Varianten. Aufgrund ihrer situationsabhängig relevanten Eigenschaften können Individuen überhaupt erst als bestimmte Individuen sortiert, diskriminiert und identifiziert werden. Prima facie werden den „Subjekten“ Hans und Holmes in (1) und (2) vier Eigenschaften zugeschrieben:

a. es sind Individuen,

b. es sind menschliche Personen,

c. sie sind Träger von Eigennamen,

d. sie haben jeweils eine weitere Eigenschaft (Blindheit bzw. Detektivsein).

e. Holmes ist eine Romanfigur/ Holmes existiert nicht wirklich

f. Hans existiert nicht wirklich/ wurde vom Autor erdacht

Wie steht es mit (4)? Wenn wir auf unser religionsgeschichtliches Wissen zurückgreifen wollen, können wir sagen:

aa. Gott ist ein Individuum

bb. er ist eine nicht-menschliche Person

cc. er ist Träger eines Eigennamens

dd. er hat die Eigenschaft, wirklich zu sein

Die Frage ist nun, ob dies „Wirklich-Sein“ mit in das Merkmalscluster gehört und wenn ja, ob als „gleichgestellte“ oder übergeordnete Eigenschaft, die alle anderen Eigenschaft regiert. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die weiteren