Geschichte und Sinn - Thomas Kühn - E-Book

Geschichte und Sinn E-Book

Thomas Kuhn

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Beschreibung

Die philosophischen Konflikte des 19. Jahrhunderts rumoren immer noch im Hintergrund der modernen Gesellschaften. Die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant, Hegel und Nietzsche bilden den Steinbruch, aus dem wir uns bedienen, um den Sinn unserer Zeit zu deuten. Die vorliegenden Essays von Thomas Kühn sind als Exkursionen in die Gründe und Abgründe dieses Steinbruchs zu lesen. Dieser Abstieg endet mit einer gewissen Ratlosigkeit. Ein Sinn der Geschichte scheint in ungreifbare Ferne gerückt.

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Thomas Kühn

Geschichte und Sinn

Von Kant zu Nietzsche

© 2020 Thomas Kühn

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-03358-0

Hardcover:

978-3-347-03359-7

e-Book:

978-3-347-03360-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Wahrhaftigkeit der Aufklärer

Ohne ein Bedürfnis nach Wahrheit gibt es keine Aufklärung. Dabei ist es eine Bedingung, dass falsche oder verworrene Ansichten über einen Sachverhalt schon vorliegen, so dass es auch ein Interesse an der Wahrheitsfindung gibt. Aufklärung verfolgt immer ein doppeltes Ziel: Die falschen Vorstellungen sollen beseitigt und durch die richtigen ersetzt werden. In diesem Sinn dient Aufklärung der wahrheitsgemäßen Urteilsfindung mit dem Ziel sachgerechten Handelns. Ziel der Aufklärung ist es, die Wahrheit herauszufinden, damit nicht Mythen und Irrtümer an ihrer Stelle herrschen. Das Entscheidende dabei ist, wahre Aussagen von falschen unterscheiden zu können. Aufklärung erfolgt niemals ohne Kritik an den unaufgeklärten Vorstellungen. In Bezug auf unser Welt- und Menschenbild ist die Philosophie mit dem Anspruch aufgetreten, die herrschenden Irrtümer und Mythen aufzuklären. Philosophie ist von Anbeginn an kritische, analytische Aufklärung mit dem Ziel, uns Menschen von Wahn und Irrtum zu befreien. Wozu? Nur wenn jeder einzelne selbst denken lernt und sich ungehindert mit anderen darüber austauschen kann, kann so etwas wie Urteilsfähigkeit und freie Wahl entstehen. Die Bedingung dafür ist die Einhaltung des Wahrheitsgebotes – was moralisch als Wahrhaftigkeit, also als das Verbot, zu lügen, verstanden werden kann. Es setzt aber auch die Möglichkeit und Erreichbarkeit von Wahrheit voraus. Dann können auch gesellschaftliche Institutionen entstehen, die der kollektiven Wahrheitsfindung dienlich sind: Parlamente, Informationsmedien, Universitäten und Schulen, die nicht dem Machterhalt einiger weniger dienen, sondern der Entwicklung aller. Die mit der Aufklärung verbundene Hoffnung ist politischer Natur: in einer aufgeklärten Welt, in der die Menschen selbst denken und urteilen, ist kein Platz für Tyrannen, Plutokraten oder Oligarchen. Philosophie hat den freien Menschen zum Ziel, der in einer freien Gesellschaft leben kann. Daher war sie auch immer schon politisch brisant, denn die Kritik an Mythen und herrschenden Meinungen war immer auch eine Kritik an den jeweiligen politischen Machtverhältnissen. Die historische Epoche der deutschen Aufklärung knüpft an diese philosophische Tradition an. Was aber, wenn Wahrheit nicht erreichbar ist? Was, wenn philosophisch eine Aufklärung des metaphysischen Hintergrundes der menschlichen Existenz unmöglich ist, weil wir damit die Grenzen möglicher Erfahrung überschreiten? Mit diesem Problem gilt es sich auseinanderzusetzen. Kant hat der deutschen Philosophie das Problem der Grenzbestimmung metaphysischer Aufklärung hinterlassen. Nietzsche hat diese Lücke erkannt und weitmöglich aufgerissen. Ist er deswegen ein Anti-Aufklärer, ein Verfechter der Irrationalität? Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil wird Friedrich Nietzsche in diesen Essays nicht als anti-rationalistischer Gegenaufklärer verstanden, der dem politischen Irrationalismus den Boden bereitete, sondern als Erbe des Kantischen1 Aufklärungsprojektes. Nietzsche setzt die von Kant begonnene Arbeit der Kritik fort, indem er noch radikaler als Kant nach dem Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum fragt. Dabei entdeckt Nietzsche, dass auch die Philosophen, deren Werk die Aufklärung ist, nicht immer wahrhaftig und auch nicht mutig genug gewesen sind, ihren Einsichten konsequent zu folgen. So schreibt Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“, die Philosophen seien „allesamt Advokaten, welche es nicht heißen wollen, und sogar zumeist verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurteile, die sie ‚Wahrheiten‘ taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens (…).“2

Der Wille zur Wahrheit wird von Nietzsche hier moralisch als „Wahrhaftigkeit" interpretiert und zum „Gewissen" in Beziehung gesetzt. Gemeint ist aber nicht das „christliche“, sondern das intellektuelle Gewissen, dem zu folgen Mut fordert. Genau dieser war es ja, den Kant von jedem forderte. Nietzsches rhetorische Generalisierung trifft nur ein soziales Klischee und nicht das philosophische Geschäft sui generis, nämlich das der Kritik. Nietzsche selbst zeigt sich hier als radikaler Kritiker der Philosophie, deren aufklärerisches Erbe er damit fortführt. Im Zuge seiner sprachkritischen Transformation der Kantischen Philosophie entdeckt er die Intentionalität - er nennt sie „Willen" - als Quelle von Sinn und Bedeutung. Obwohl er wie kaum ein anderer Philosoph die Sprache als Handeln auffasst, ringt er sich nicht zu einer Sprechakttheorie durch. Er entdeckt ebenfalls den Metaphern-Charakter der Sprache und des Denkens, kann sich aber nicht zu einer kognitiven Metaphern-Theorie durcharbeiten. Beide Ansätze liegen heute ausgearbeitet vor und zeigen freilich, wie wenig sie zusammenpassen. Sie gehören mittlerweile zum sprachphilosophischen und linguistischen Standard und verdanken Nietzsche viele Impulse. Aber sie sind zur Dogmatik geronnen und damit falsch. Aufklärung kann auch leicht in einen neuen Dogmatismus umschlagen, auch die Kritik kann Irrwege einschlagen und übers Ziel hinausschießen. Wichtig ist die Selbstbindung an das erklärte Ziel: Aufklärung auch (und gerade) dann, wenn es sich um die eignen Fehler und Irrtümer handelt! Der Kantische Slogan der Aufklärung – „Habe Mut, dich deines eignen Verstandes zu bedienen!" - wird heute leider vielfach missverstanden, gerade auch und besonders von den Vertretern einer identitären Politik in Deutschland, die sich in aufklärerischer Tradition selbst verorten, um Anti-Aufklärung zu betreiben. Wenn Wahrhaftigkeit der Mut ist, das zu sagen, was ich denke, dann ist Wahrheit der Maßstab, an dem sich das messen lassen muss, was ich denke. Es reicht nicht, das eigene Denken zum Maßstab der Wahrheit zu nehmen. Es kommt lediglich ein Meinen und Glauben dabei heraus, das je nach dem Grad der subjektiven Überzeugtheit eben nicht der Aufklärung, sondern der Verbreitung von Irrtümern dient. Sich seines Verstandes zu bedienen, erfordert Mut, weil man damit auch alleinstehen kann. Der Mut beginnt nicht erst, wenn ich meine Irrtümer der Welt zumute, sondern wenn ich mich selbst befrage, ob ich denn richtigliege. Metaphysische Wahrheit ist nicht zur Dogmatik geronnene Meinung, sondern radikale Offenheit des Denkens.

1 Entgegen den orthografischen Regeln schreibe ich alle Formen von Eigennamen groß, damit der Charakter als Eigenname gewahrt bleibt.

2 Alle Zitate sind orthografisch modernisiert.

I

Hat Geschichte einen Sinn?

1.

Bürgerkrieg der Vernunft

Kant war ein geschichtsphilosophischer Denker, der den Bürgerkrieg der Vernunft beenden wollte, indem er die Vernunft aus dem Sumpf ihrer Zeit zu befreien meinte. Der Versuch ist missglückt. Hegel erkannte dies. Nun konnte endlich, nach diesem grandios gescheiterten Versuch, die Mystifizierung der Geschichte eine Fortsetzung finden, die vom Christentum aus der Taufe gehoben und nur durch ein kleines Intermezzo – die Aufklärung - unterbrochen wurde. Faschismus und Marxismus sind die Enkel des Geschichtsdenkens Hegels, in dem das Individuum, sein Wollen und Leiden, nichts mehr zählen. Nietzsche versuchte, das Individuum zu retten, doch sein heroischer Individualismus war so übersteigert, dass er dem zynischen Übermenschentum, dem Mythos vom „neuen Menschen“, philosophisch mit an die Macht verhalf. Diese desaströse Hybris währte nicht lang. Gerade einmal 30 Jahre ist es her, dass auch das marxistische Experiment abgebrochen werden musste. Nun zehren wir vom Erbe Kants, von dem, was übrigblieb. Und dies ist der Begriff der Würde, der das wollende und leidende Individuum ins Zentrum rückt. Auch dies Konzept war bei Kant der Zeit und Geschichte enthoben. Würde ist jedoch das einzige, was wir dem Sog der Geschichte entgegenhalten. Wäre sie nicht juristisch kodifiziert, wir würden sie verlieren, so sehr ist uns der Glaube an sie abhandengekommen. In den folgenden Überlegungen zeichne ich den Weg von Kant und Hegel nach, Vernunft in der Geschichte zu denken. Nietzsche wird mit Pathos und Ironie dies Ansinnen zu zerstreuen suchen, um der „großen Vernunft“, dem „Leib“, zu seinem Recht zu verhelfen. Aber, selbst ein Getriebener, belässt er es nicht beim philosophischen Handwerk, der Kritik, sondern verfolgt ein eigenes Erlösungsprojekt. Er wird zum Dogmatiker.

2.

Zwecke und Ziele

Der Mensch hat eine Bestimmung, einen Zweck, mag er sonst auch viele eigene Ziele haben. Darin waren sich Kant und Hegel einig. Dieser Zweck muss aus dem Begriff des Menschen entwickelt werden. „Ziel" ist dabei eher subjektiv zu bestimmen, „Zweck" objektiv. Das Missverhältnis zwischen beiden führt bei Kant und Hegel zur Fingierung einer Naturabsicht bzw. List der Vernunft, die subjektives Ziel und objektiven Zweck vermittelt. Für Zweck könnte man auch „Sinn“ sagen. Im Hintergrund können wir bei beiden annehmen, dass jedem Seienden nur ein Wesen eigen sei, das durch seine Definition aufgedeckt werde. Die Bestimmung des Menschen wird ihm nicht von außen von anderen Menschen aufgenötigt. Kant und Hegel sehen in der individuellen Freiheit unter der Bedingung der gesellschaftlichen, genauer: staatlichen Organisation diesen Zweck. Dieser Zweck wäre dann auch identisch mit der hypothetisch postulierten Naturabsicht bei Kant und dem Sinn der Geschichte bei Hegel. Diese Bestimmung sei aus dem besonderen Wesen des Menschen ableitbar. Der Mensch besitzt Vernunft, ist sich seiner selbst bewusst und lebt mit anderen Menschen, die ebenfalls Vernunft besitzen und sich ihrer bewusst sind. Um nun die Erfahrung des Unvernünftigen erklären zu können, postulieren beide, dass der Mensch diese besonderen Merkmale nicht von vornherein in vollkommener Ausprägung besitzt. Kant postuliert sogar einen Antagonismus - die „gesellige Ungeselligkeit" -, um die Entwicklung der Vernunft dialektisch in der Geschichte zu motivieren. Für Kant wird der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen, genauer sagt er: durch „Versuche, Übung und Unterricht"3. Die Differentia spezifica des Menschen im Verhältnis zu den anderen Erdbewohnern ist bei Kant die Vernunft. Kant definiert Vernunft als das Vermögen, über Naturinstinkte hinaus, die Regeln und Zwecke des Gebrauchs der eignen Kräfte zu erweitern.4 Kraft seiner Vernünftigkeit ist der Mensch gezwungen, frei zu sein, kein Instinkt sagt ihm, was gut oder schlecht für ihn ist, er muss es selbst entdecken, selbst erkennen. Vernunft definiert Hegel als das, was Maß und Ziel in sich hat5. Vernunft sei „das ganz frei sich selbst bestimmende Denken"6 Nun kommt bei Hegel noch hinzu: der Geist, dessen Wesensbestimmung die Freiheit sei7, das Bei-sich-selbst-Sein, das Selbstbewusstsein. „Vernunft ist die Gewissheit des Bewusstseins, alle Realität zu sein."8 und „Die Vernunft ist Geist, indem die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit erhoben, und sie sich ihrer selbst als ihrer Welt und der Welt als ihrer selbst bewusst ist."9 Geist ist, einfach gesagt, bei Hegel das Selbstbewusstsein der Vernunft. Und dies besteht in der vermeintlichen Gewissheit, dass Vernunft und Realität identisch seien. Der Geist wird nicht aus der Materie abgeleitet. Materie, als ein System der Vernunft, ist einfach noch nicht selbstbewusste Vernunft. Die Vernunft gilt beiden als autonom. Kant, weil sie die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt darstellt, daher nicht hintergangen werden kann. Hegel aus metaphysischen Gründen: Vernunft sei das wahrhaft Reale, das herrschende Prinzip des Seienden. Vernunft sei also auch in der Geschichte zu entdecken. Kant begründet seine Wesensbestimmung ahistorisch im „Faktum der Vernunft", ahistorisch deshalb, weil der Bereich der Empirie, also auch des Historischen, keine Erkenntnis der Wesensmerkmale der menschlichen Vernunft zulässt. Die Diversität der menschlichen Realitäten begründet für Kant keine Diversität der menschlichen Vernunft. Vernunft ist bei aller Verschiedenheit der Individuen dieselbe. Das individuelle Selbstbewusstsein begründet bei Kant die Universalität der Vernunft, und, daraus abgeleitet, die Universalität des Moral- und Rechtsbegriffs. Die geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant und Hegel insistieren im Kern beide auf einer teleologischen Interpretation der menschlichen Geschichte. Dies ist das Gemeinsame: die Weltgeschichte sei ein zielgerichteter Prozess, der bei Kant „die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung"10 zum Ziel und Zweck habe, bei Hegel „das Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die Wirklichkeit seiner Freiheit."11 Dies Gemeinsame unterscheidet ihre Konzeption aber auch grundlegend vom (post-)modernen Geschichtsverständnis: Der Postmodernismus „plädiert für eine Abkehr von den Ideen des Fortschritts (Emanzipation) und der Kontinuität in der Geschichtsschreibung sowie für ein Ende der Annahme, dass die Menschen als autonome und rationale Subjekte handelten." Man wendet sich von den „Makrogeschichten" ab und den „dezentrierten Mikrogeschichten" zu12. Die Frage ist, inwiefern für Kant und Hegel die „autonomen und rationalen Subjekte" auch die Subjekte ihrer Geschichte sind. Offenkundig ist das selbstbewusst handelnde, seinen partikularen Einsichten, Interessen und Leidenschaften folgende Individuum weder bei Kant noch bei Hegel die wahre Quelle der Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit in der Geschichte. Im Gegenteil, die handelnden Individuen erfüllen den Zweck der Geschichte blind, unbewusst - obwohl diese Vokabel nicht fällt -, ohne ihr Wissen und oft gegen ihre Absichten. Sie handeln also unfrei bezüglich der Absichten, die nicht die ihren sind und die sie dennoch angeblich realisieren. Und nun soll, laut Kant, die Naturabsicht, und laut Hegel, der Plan der Vorsehung genau darin bestehen, die Freiheit politisch zu realisieren? Wenn in der Geschichte aber Freiheit politisch realisiert wurde, dann, weil die handelnden Menschen dies wollten, weil es ihre Absicht war. Wenn man erklären will, dass Menschen unbewusst und ohne Absicht nach politischer Freiheit streben, dann kann man ihnen auch erklären, dass sie - unbewusst und ohne Absicht - schon im Zustand der Freiheit sich befinden.

3 I. Kant, Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a.M. 1977, S. 35 (K XI)

4 K XI, S.35

5 G.W.F. Hegel, Vorl. Ü. d. Philosophie d. Gesch., Stuttgart 2002, S. 126 (HV)

6 HV, S. 53

7 HV, S. 58

8 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 2003, S. 172 (PDG)

9 PDG, S. 310

10 K XI, S. 47

11 HV, S. 61

12 Christoph Cornelißen, Das Studium der Geschichtswissenschaften, in: Ch. Cornelißen, Geschichtswissenschaften, Frankfurt a. Main 2000

3.

„Naturabsicht“ oder „List der Vernunft“?

Für Kant ist die „teleologische Urteilskraft" indes eher eine façon de parler. Für ihn kann man die Geschichte so darstellen, als ob in ihr eine Vorsehung walte. So schreibt er in der Kritik der Urteilskraft:

„Würden wir (… ) in der Natur absichtlich-wirkende Ursachen unterlegen, mithin der Teleologie nicht nur ein regulatives Prinzip (…), sondern durchaus auch ein konstitutives Prinzip (…) zum Grunde legen, so würde der Begriff eines Naturzweckes (…) eine neue Kausalität in der Naturwissenschaft einführen, die wir doch nur von uns selbst entlehnen (…)"13

Kant erkennt also in aller Deutlichkeit, dass die Idee der Naturabsicht nur eine Analogie zur menschlichen Intentionalität ist. Für Hegel dagegen ist die Einsicht in den notwendigen und zielgerichteten Prozess der Geschichte von zentraler Bedeutung. Hegel glaubte mit seiner dialektischen Methode das technische Rüstzeug für eine Logik des Werdens in der Hand zu haben, während Kant an der aristotelischen Logik - an dem klassischen Bivalenz-Prinzip insbesondere - festhielt und daher, aus Hegels Sicht, im Grunde unfähig war, das Phänomen der Geschichtlichkeit überhaupt zu begreifen. Dabei stellt in der Tat das teleologische Geschichtsdenken den Gedanken der Geschichte selbst in Frage. Wenn das Resultat bereits feststeht, dann ist die Zeit eine Fiktion. Auch das Wollen und Handeln der Individuen spielt nur insofern eine Rolle, als es den vernünftigen Zweck der Geschichte immer erfüllt, gleichgültig, ob sie aus eigner Perspektive scheitern. Das Konzept der Realisierung eines Zieles darf Aspekte des Risikos, des Zufalls im Sinne subjektiver Wahrscheinlichkeit nicht ausschließen. Dass ein Ziel im Sinne einer Absicht bei menschlichen Akteuren angenommen werden kann, die planvoll handeln, schließt Scheitern nicht aus. Aber die Idee eines göttlichen Akteurs schließt ein Missglücken des Heilsgeschehens von vornherein aus. Das teleologische Denken ist bei beiden mit der Gottesidee verknüpft: Gott als Schöpfer dessen, was existiert, ist selbstbewusste Person mit Willen und Absichten. Die Weltgeschichte als Bühne des Handelns ebenfalls selbstbewusster Personen mit Willen und Absichten ist der Bereich, in dem sich, nach Hegel, Gottes Wille und Absicht realisiert. Kant sagt in seiner Abhandlung lange statt „Gott" „Natur" und er bleibt bis zum Schluss schwankend. - Um die empirische Beschreibung der realen handelnden und leidenden Menschheit mit dem Konzept einer Geschichtsteleologie, einer Vorsehung, eines göttlichen Plans kohärent verknüpfen zu können, beanspruchten sie den Begriff der „List" bzw. Absicht. „Naturabsicht" bei Kant, „List der Vernunft" bei Hegel. „List" hatte im Mittelhochdeutschen die Bedeutungen „Wissenschaft", „Weisheit", „Kunst", aber auch schon „Trick". Wir müssen auch bei Hegel „List" in dieser doppelten Bedeutung von „Weisheit" und „Trick" verstehen; vor allem aber müssen wir in Rechnung stellen, dass List Intentionalität voraussetzt. Absichtliches, zielbewusstes und planvolles Handeln ist uns aber nur von Menschen und einigen Tieren bekannt. Die Natur bei Kant, Gott oder der Weltgeist bei Hegel bedienen sich der partikularen Absichten, Interessen und Leidenschaften der handelnden Menschen, um ihre eignen, von diesen abweichende Zwecke durchzusetzen. Das impliziert bei Kant wie bei Hegel, dass das individuelle Handeln selbstbewusster Personen nicht (nur) von deren eignen Intentionen motiviert ist; aber auch nicht von materiellen Faktoren, die kausal erklärbar, ansonsten aber kontingent wären. Das Handeln der Individuen - und darunter versteht Hegel in Ansehung der Weltgeschichte nicht nur die großen Einzelnen, sondern die Staaten - folgt ihnen verborgenen Absichten der Natur bzw. Gottes. Diese sind also, wenn man die Intentionalität zur zentralen Kategorie der Beschreibungen von Handlungen machen will, die eigentlichen Akteure in der Weltgeschichte. Eine Geschichtsphilosophie, in der nicht die handelnden menschlichen Individuen mit ihren Absichten und Interessen die Akteure sind, sondern metaphysische Instanzen wie Gott oder die Natur (oder, eine moderne Variante, „die Gene") als bewusst planende Subjekte des Geschichtsprozesses auftreten, mystifiziert Geschichte. Dies gilt unbeschadet materieller und struktureller Determinanten, die Einfluss auf das Handeln haben, auch unbeschadet eines selbstbetrügerisch motivierten Handelns, Handlungssubjekte, denen man Absichten und Pläne zuschreiben kann, sind immer konkrete Individuen; keine Abstrakta wie „Natur" oder leere Individuen-Konstanten wie „Gott" oder Kollektivsingulare wie „das Volk". Denn Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Handlungsabsichten und Handlungsplanung kommen nur individuellen Trägern zu. Das schließt nicht aus, dass Individuen sich durch Kommunikation und Kooperation eines gemeinsamen Bewusstseins (dann im Sinne einer gleichen Sicht, Perspektive, Wahrnehmung, Anschauung etc.) versichern, sich diesbezüglich auch manipulieren, oder dass individuelle Handlungsabsichten zu einem großen Plan koordiniert werden. Ebenso kann Freiheit kein absoluter Zweck sein, so wenig es eine absolute Freiheit gibt. Frei sind immer Individuen von etwas und zu etwas. Indem Hegel seine Geschichtsphilosophie und mithin seine Konzeption des Individuums in eine metaphysisch-kosmologische Perspektive rückt und wie die Vorsokratiker, insbesondere Anaxagoras, aber für sein Logik-Verständnis vor allem Heraklit, nach der Arché und mit Aristoteles nach dem Fundamentalprinzip des Seienden fragt, nach dem Einen in der Vielheit, dem Identischen in der Verschiedenheit, dem Unbedingten im Bedingten, gewinnt er einen metaphysischen Freiheitsbegriff. Kant hat dagegen eine andere geschichtsphilosophische Konzeption, trotz der skizzierten Ähnlichkeit, als Hegel, denn aus erkenntniskritischer Perspektive ist absolute Freiheit - das Vermögen, eine Handlungskette zu beginnen - eine nützliche, zwar moralisch notwendige Fiktion. Aber eben - aus Sicht der Erfahrung - eine Fiktion. Hier sind nun zwei Bemerkungen notwendig. Erstens setzt sich Hegel in weit größerem Maße als Kant der Gefahr der Mystifizierung des Geschichtsprozesses aus, denn Kant sieht in der teleologischen Urteilskraft eine mögliche, aber nicht wahre Beschreibungsform. Hegel dagegen hält seine Beschreibung für die wahre und einzig richtige Darstellung. Zweitens versucht Kant denn doch ein etwas anders gelagertes Problem zu lösen, es ist das eher didaktische Problem, wie man jetzt Handelnde davon überzeugen könne, dass eine bürgerliche Gesellschaft das einzig richtige sei. Eine gute Methode wäre es denn, ein Geschichtsmodell zu konstruieren, in dem alles auf eine solche vollkommene Verfassung hinausläuft. (Man könnte genauso gut ein Geschichtsmodell konstruieren, in dem alles daran arbeitet, sie zu verhindern…). Geschichtsmodelle fungieren hier als Argumente in einem Diskurs, in dem es um die Frage geht, wie man leben soll. Kant ist aus anderen Gründen als geschichtsphilosophischen davon überzeugt, dass die bürgerliche Verfassung die einzig zivile Gesellschaftsform ist, in der sich der Mensch seinen Anlagen gemäß entwickeln kann. Er begründet deren Notwendigkeit moralisch aus dem kategorischen Imperativ. Während Kant seine Geschichtsphilosophie - also den Versuch, in der Vielfalt historischer Ereignisse ein einheitliches Prinzip zu entdecken - didaktisch motiviert und also voraussetzt, dass die Art der Geschichte, die man über die Vergangenheit erzählt, das künftige Handeln beeinflusst, meint Hegel in der Geschichte die Entwicklungsstufen des Weltgeistes, und damit wirklich den Plan der Vorsehung erkannt zu haben. Die Begriffe der List bzw. Absicht stellen den Versuch einer Lösung des entscheidenden Problems beider Geschichtsphilosophien dar, dabei lautet die grundlegende Fragestellung bei Kant so: Wie die ganze Menschheit sich in der geschichtlichen Realität einem Zustand - dem des bürgerlichen Staates - nähern solle, den sie nicht gemeinschaftlich, als Subjekt eines zielorientierten und planvollen - also vernünftigen - Handelns, anstrebt. Hier sieht Kant sowohl die Vor- als auch Nachteile von Kriegen, Verwüstungen, Schuldenlast und Beeinträchtigungen des Welthandelns in Zeiten der frühen Globalisierung: „…der Einfluss, den jede Staatserschütterung in unserem durch seine Gewerbe so sehr verketteten Weltteil auf alle anderen Staaten tut…"14. Der Kunstgriff der Natur besteht dann darin, durch die unerträglichen Folgen ihres Handelns die Menschheit zu veranlassen, einen Zustand herbeizuführen, der die Bedingung der Möglichkeit ist, dass alle, unter einem allgemeinen Gesetz stehend, ihre Kräfte und Freiheiten entfalten, ohne einander zu beschädigen. Damit käme die Zweckbestimmtheit des Menschen über den Umweg der Erfahrung unzweckmäßigen Handelns ans Ziel. Nach Kant kann und soll man aus der Geschichte lernen - historia magistrae vitae! -, wie denn auch das Individuum aus seiner Geschichte lernt. Dies ist der Kern der Vernünftigkeit. Kant postuliert nicht nur als anthropologischen Grundantagonismus die „gesellige Ungeselligkeit" des Menschen, einen permanenten Konflikt zwischen dem individuellen Verlangen zur Kooperation einerseits und zur Dominanz andererseits. Zur Wesensbestimmung gehört auch die Vernunft, die Freiheit, durch Erfahrung und Erfindung sich eine Lebensform - und damit Staatsform - zu geben, in der der anthropologische Grundkonflikt nicht zu Krieg und Verwüstung, sondern zu Kultur, Zivilisation, schließlich Moralität führt. Die Vernunft lehrt uns, rechten Gebrauch unserer Fähigkeiten zu machen, sie zielgerecht und planvoll im Dienst unserer „Glückseligkeit oder Vollkommenheit"15 einzusetzen. Diese Überzeugung wird langsam brüchig.

13 K X, S. 307

14 K XI, S. 47

15 K XI, S. 36

4.

Der Egoist als Weltbürger

Obwohl Kant und Hegel von ähnlichen Prämissen ausgehen, kommen sie doch zu ganz entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Und das liegt daran, dass Kant zwischen dem „Geschehen“ und der „Geschichte“ im Sinne der Darstellung unterscheidet, Hegel nicht. Das wird auch schon am vorsichtigen Sprachgebrauch Kants deutlich. Im Titel charakterisiert Kant seine kleine Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von 1784 als einen geschichtsphilosophischen Essay. Der Aspekt des Philosophischen kommt durch den Terminus „Idee" zur Sprache, der unbestimmte Artikel „einer" betont das Provisorische dieser Arbeit; „allgemeine Geschichte" kann im Verbund mit dem unbestimmten Artikel als Geschichtsdarstellung – „histoire" -, im Unterschied zur Geschichte als Geschehen verstanden werden. Der Gegenstandsbereich des Essays ist damit auch ausgesprochen: es geht um die Darstellung der Geschichte als Ganzes. Zunächst wird offengelassen, ob es sich nur um die Geschichte der Menschheit handelt oder ob auch die Naturgeschichte mitgemeint ist. Präsupponiert wird hier, dass eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte überhaupt kohärent gedacht werden kann. Mit dem Terminus „Idee" wird zugleich gesagt, dass die Konzeptualisierung einer allgemeinen Geschichte ein nicht-empirischer Begriff der reinen Vernunft ist. Das heißt, dass mit der Idee zu einer allgemeinen Geschichte die „Möglichkeit der Erfahrung"16 überschritten wird, aber die theoretische Reflexion über die Geschichte unter den Anspruch einer „systematischen Einheit"17 gestellt wird. Ideen sind bei Kant regulative Prinzipien, denen keine „objektive Realität"18, sondern nur „praktische Kraft"19 zukommt. Es wird also nicht unterstellt, dass es eine singuläre allgemeine Geschichte als Geschehen (ontologisch-empirisch) gebe, sondern nur, dass wir einen Vernunftbegriff davon haben können, der „der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlungen zum Grunde" liegt20. Pointiert schreibt er in „Über Pädagogik":

"Eine Idee ist nichts anderes als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch (sic!) nicht findet."21

Mithin ist die „Idee" näher als Vorentwurf zu einem künftigen Geschichtsverlauf zu interpretieren. Schließlich ist in der Präpositionalphrase „in weltbürgerlicher Absicht" der Zweck des Unternehmens angesprochen, obwohl zunächst noch eine Mehrdeutigkeit zu bemerken ist: „in weltbürgerlicher Absicht" kann heißen, dass Kant die Schrift als Weltbürger verfasst habe oder zum Zweck der (didaktisch-pädagogischen) Beförderung des Weltbürgertums oder aber, dass die Idee selbst als eine weltbürgerliche zu bestimmen sei. Mir erscheint es am angemessensten, die „praktische Kraft" der Einheitskonzeption von Geschichte in Hinblick auf die Beförderung des Weltbürgertums zu lesen. Kant geht es in seiner Schrift darum, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie und auf welche Weise die Geschichte als Ganzes systematisch in Hinblick auf das praktische Ziel der Vollkommenheit bestimmter Handlungen verstanden, d.h. interpretiert werden könne. Damit ist ausgesprochen, dass die Idee sowohl als weltbürgerliche Theorie der Geschichte als auch als weltbürgerliche Praxis der Geschichte noch nicht realisiert sei, aber realisiert werden solle. Denn die Idee einer weltbürgerlichen Praxis und ihren Zusammenhang mit der Idee einer weltbürgerlichen Theorie der Geschichte charakterisiert Kant in den einleitenden Bemerkungen:

„Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinktmäßig, wie Tiere, und doch auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, nach einem verabredeten Plane, im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (… ) von ihnen möglich zu sein."22

Gerade weil die Menschen nicht wie Weltbürger, nämlich vernünftig, d.h. kooperativ und sich an gemeinsamen Zielen orientierend handeln, lässt sich die unvernünftige Praxis der Geschichte auch nicht als vernünftige Theorie der Geschichte betrachten, jedenfalls so lange nicht, als unter Vernunft nur die den Menschen eigene Vernunft, und nicht auch eine andere, fremde Vernunft verstanden wird. Etwa die eines Weltgeistes. Man kann sich Geschichte nicht als vernünftig denken, ohne den Tatsachen Gewalt anzutun. Und, prospektiv, den Menschen Gewalt anzutun, die in ihrer Geschichte wollen, handeln und leiden. Bleibt also als letztes eine nähere Bestimmung des Begriffs des „Weltbürgers" bei Kant. In der Vorrede zur „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" definiert Kant die pragmatische Anthropologie als „Weltkenntnis", welche „die Erkenntnis des Menschen als Weltbürger" enthalte23, deren Zweck darin bestehe, das zu erforschen, was der Mensch, „als freihandelndes Wesen, aus sich selbst macht, oder machen kann und soll."24 Das Wollen, Machen, Können und Sollen des Menschen als ein sich selbst in seinem Handeln bestimmendes Wesen bildet den Gegenstand der pragmatischen Anthropologie in Rücksicht auf den Gebrauch und die Verbesserung der Anlagen und Fähigkeiten25. Der Weltbürger ist also nicht nur ein kooperatives, vernünftiges, zielorientiert-systematisch handelndes Wesen, sondern auch Mitglied der „weltbürgerlichen Gesellschaft (cosmopolitismus)"26. Diese indes ist, als „an sich unerreichbare Idee", „aber kein konstitutives (…), sondern nur ein regulatives Prinzip"27. Als regulative, also orientierende, richtungsweisende Idee ist der Kosmopolitismus die „Bestimmung des Menschengeschlechts"28, die sowohl als „natürliche Tendenz" vorhanden als auch als Kulturaufgabe zu realisieren sei, welcher „Endzweck" allerdings nicht vom Individuum, sondern nur von der Gattung stets nur in Näherung erreicht werden könne:

„…so, dass sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung emporarbeiten kann; wo das Ziel ihm doch immer noch im Prospekte bleibt, gleichwohl aber die Tendenz zu diesem Endzwecke zwar wohl öfters gehemmt, aber nie ganz rückläufig werden kann."29

Diese Formulierung impliziert offenkundig, dass das Individuum als Weltbürger in einem noch größeren Maße „ideal", d.h. in der Erfahrung nicht vollkommen realisierbar, ist, als der Weltbürgerstaat selbst. Der Mensch, der als Individuum wie als Gattung vom Natur-zum Kulturwesen erzogen werden müsse, und zwar durch Disziplinierung, Kultivierung und Moralisierung30, bleibt als Individuum lebenslänglich in diesem pädagogischen Prozess, ohne jemals seinen Zweck, eine freie, vernünftige Person zu sein, der die Grundsätze der Vernunft „zur anderen Natur"31 geworden wären, zu erreichen. Das Ziel der Erziehung des Individuums wird also von Kant in der progressiven Approximation des Weltbürgerstaates gesehen, denn da die Menschheit

„nicht als böse, sondern als eine aus dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschreiten unter Hindernissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen" sei und außerdem „die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zustimmung der einzelnen" zu erwarten sei, könne der Zweck „nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, d.h. kosmopolitisch verbunden (…) erwartet werden (…)"32.

Warum kann das Projekt einer globalen Organisation der Menschheit in einem republikanischen System, d.h. unter einer politischen „Gewalt, mit Freiheit und Gesetz"33 nicht auf die Zustimmung aller Individuen gegründet werden? Eine der Quellen ist der in der physischen Natur wurzelnde Egoismus des Menschen. Der Egoismus in seiner von Kant gekennzeichneten dreifachen Gestalt - als logischer, ästhetischer und moralischer Egoismus - gehört zu den natürlichen Neigungen des Menschen, die mit der Entstehung des Selbstbewusstseins und dem Spracherwerb - und folglich mit dem Menschen nicht nur als Natur-, sondern auch als Kulturwesen - in enger Verbindung stehen: