Die sieben Reisen des Víctor Gascón - Micha Theis - E-Book

Die sieben Reisen des Víctor Gascón E-Book

Micha Theis

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Beschreibung

Madrid 1989. In seiner kleinen Wohnung im Herzen der Stadt sitzt Víctor in der Betrachtung zweier Dosen versunken. Die eine ist eine riesige Kaffeedose, eine Versanddose, wie man sie früher einmal verwendete. Die andere ist viel kleiner und dient zur Aufbewahrung von Halsbonbons. Mit der Betrachtung der beiden Dosen beginnt für Víctor eine Reise in neue unentdeckte Welten. Aus einer Reise werden sieben Reisen, und die letzte führt Víctor an ein überraschendes Ziel.

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Inhaltsverzeichnis

Die erste Reise

Die zweite Reise

Die dritte Reise

Die vierte Reise

Die fünfte Reise

Die sechste Reise

Die siebte Reise

Die erste Reise

Am siebenundzwanzigsten März des Jahres neunzehnhundertachtundachtzig steht Víctor um neun Uhr fünfundzwanzig vor der Tür des Reisebüros Entalpía, Calle Hilarión Eslava fünfzig. Das Reisebüro öffnet um neun Uhr dreißig, und Víctor mochte an diesem Montag, dem dritten April, der erste sein.

Er ist gespannt und aufgeregt, es ist die erste große Reise seines Lebens. Auch seine erste Reise über die Grenzen Spaniens hinaus (wenn man einmal von dem dreitägigen Ausflug nach Portugal absieht, vor über zehn Jahren). Die Reise wird sein eigenes Geschenk zu seinem demnächst anstehenden vierzigsten Geburtstag. Ein symbolischer Reifeschritt des Menschen und des Künstlers Víctor Gascón.

Künstler? Ja, Víctor ist Künstler! Er blickt auf über zwanzig Jahre arte conceptual zurück. Im Grunde ein echter Avantgardist … Und diese innere Verbindung von Kunstwerk und Seele, von Tun und Traum, von Außen und Innen hat das Projekt der Reise gezeugt.

Das war gestern gewesen. Sonntag. Gestern hat er sein Stauzimmer aufgeräumt. Besser gesagt er hat es von innen nach außen gestülpt und einmal die Unzahl von Objekten hervorgeholt, die sich seit Jahren im Stauzimmer angesammelt haben. Da fanden Sich Bügeleisen, Kaffeekannen, Metallreste aus einer Regalfabrik, Scherben, Rasiermesser, Schreibmaschinen, Spiegel, Kerzen, Plastikrollen, Bausteine, skurrile Werkzeuge … All diese Gegenstände hat er irgendwann einmal gefunden, für ästhetisch wertvoll befunden und in sein Stauzimmer verbracht, damit sie irgendwann einmal in irgendeinem Kunstwerk Verwendung fänden.

Diese Objekte inspirieren ihn zu den provozierendsten Anordnungen, und schon bei der Geste des Hervorholens, des Von-innen (sprich: Stauzimmer)-nach-außen (Arbeitszimmer)-Stülpens, ja besonders bei dieser Geste entstehen unglaubliche Metamorphosen, Kommunikationen, erotische Momente zwischen Gegenständen. Etwa alle drei Jahre praktiziert Víctor dieses Umstülpen.

Ein solcher Moment war das Zusammentreffen der großen Kaffeedose mit der kleinen Bonbondose gewesen. Die beiden Blechdosen waren gestern Nachmittag plötzlich aus ihrer verstaubten Vergessenheit im Stauzimmer hervorgetreten. Einen winzigen Augenblick lang waren sie aufgestört und hatten wie verschämt mitten im grellen Licht des Arbeitszimmers gelegen. Und dann hatte, im Nu, eine magische gegenseitige Anziehung begonnen, ein Spiel zarter Gesten, Symbole und Zeichen, ein Universum von Bedeutungen.

Die große Kaffeedose stammt wohl aus Deutschland. Víctor hat sie auf' dem Flohmarkt gefunden, und sie ist mindestens dreißig Jahre alt. Sie zeigt auf einem dunkelbraunen und gelben Feld einen stilisierten männlichen Araber- oder Beduinenkopf mit schwarzem Vollbart und einem weißen Turban, den Blick geradeaus und in die Ferne gerichtet. unteren Rand trägt sie die Aufschrift „Andaco Import- und Handelsgesellschaft“. Sie hat eine Höhe von fünfzig, eine Breite von dreißig und eine Tiefe von zwanzig Zentimetern.

Die Bonbon-, genauer: Halsbonbondose ist nur neun Zentimeter lang, sechs Zentimeter breit und zwei Zentimeter tief, also eine flache Dose. Sie zeigt auf dem Deckel, im Medaillon, einen Gaffelschoner aus dem neunzehnten Jahrhundert, in voller Fahrt, alle Segel gesetzt. Möven umkreisen den Großmast. Am rechten Dosenrand ist ein vollbärtiger alter Seebär abgebildet, mit schneeweißem Bart, Pfeife rauchend, den Blick geradeaus und in die Ferne gerichtet. In der linken oberen Ecke befindet sich ein Spruchband mit der Aufschrift lofthouse’s original und darunter die Zeichnung eines modernen Fischkutters. im Himmel über ihm steht ebenfalls lofthouse’s original. Und schließlich am unteren Rand der Dose die große Aufschrift fisherman's friend. Der farbliche Grundton ist gold.

Víctor hat gestern fast den ganzen Nachmittag im Angesicht dieser beiden Dosen und ihrer geheimnisvollen Kommunikation verbracht, vor ihnen auf dem Teppichboden liegend hatte er die Augen kaum abwenden können vom Blick der beiden geheimnisvollen Männer, einem Blick, der immerzu in die Ferne ging. Und so hat auch er diesen Fernblick, ja schon ein erstes Fernweh bekommen, eine Stimmung, die sich bis zum Abend immer mehr verstärkte und vollends in Melancholie überging, als er Debussys La mer auf seinem Plattenspieler hörte.

Der Entschluss, heute Morgen geradewegs zum Reisebüro zu gehen, war in der Nacht gefallen. Er hatte von einem Spaziergang am Meer geträumt, irgendwo an einer asiatischen Küste, an einem endlosen Strand, nur das Meer rollte ein ums andere Mal sanft heran und vor seinen Füßen aus. Dann war da ein Mensch aufgetaucht, zunächst als kleiner Punkt am Horizont, dann immer näher auf ihn zukommend. Und zuletzt hatte er vor ihm gestanden und er schien an ihm vorbeizugehen, stand aber auf einmal ganz dicht neben ihm und blickte mit ihm zusammen in die Ferne, aufs Meer hinaus, und sagte: „Wenn es so bleibt wie heute, dann können wir zufrieden sein.“

Dann war er weitergegangen, dieser Mensch, und von hinten war es plötzlich kein Mann mehr, sondern eine Frau. Eine Inselbewohnerin der Südsee? ... Irgendwo am Horizont verschwand sie wieder, so friedlich, wie sie gekommen war.

Um sieben war Víctor aufgewacht. Wie wenn er zur Arbeit hätte gehen müssen. Beim Kaffeeaufstellen hatte er den Entschluss gefasst, unverzüglich zum Reisebüro Entalpía in Argüelles zu gehen, als erstes und als erster, und noch diese Woche die Reise zu buchen. Für den Sommerurlaub. Jetzt hatte er Osterurlaub, und der kam wie gelegen, um alle organisatorischen Dinge zu erledigen, und er würde auch Zeit haben für ein erstes Werkprojekt ,Innen und Außen‘ mit den beiden Dosen.

Der Titel hatte sich bei dem Umstülpungsakt am Wochenende geradezu aufgedrängt. Víctor würde das Thema mit Hilfe der beiden Dosen symbolisch herausarbeiten. Ein völlig kohärentes Projekt: durch die Koinzidenz von Umstülpungsakt, Innen- und Außenthematik, Auftauchen der beiden Dosen und ihrer beider Kommunikation.

Und ebenso kohärent hatte sich das Reiseprojekt ergeben, unwiderstehlich, aus dem inneren Zusammenhang von Umstülpungsakt, Kunstwerk, Traum in der Nacht und Lebensmitte. Er musste also von innen nach außen kommen, den qualitativen Umschlag nachvollziehen, der sich schon in der Zahlensymbolik der Vierzig andeutete. Ein Umstülpen in die Welt hinaus, in die Ferne Asiens … exotische Menschen mit brauner Haut und – wer weiß, welchen Abenteuern!

Eine junge Frau mit schwarzem Käppchen geht an Víctor vorbei. Flüchtig nimmt er es wahr, auch ihre langen Beine und ihre bunte Strickjacke. Die Frau verschwindet im Haus mit der Nummer zweiundfünfzig. Kurze Zeit später wird die Tür vom Eingang Nummer fünfzig, Reisebüro Entalpía, von innen geöffnet. Víctor tritt ein, und es bedient ihn … die junge Frau mit dem Käppchen!