Zweieinhalb Stunden mit mir - Micha Theis - E-Book

Zweieinhalb Stunden mit mir E-Book

Micha Theis

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Beschreibung

Herbst 2015. Micha sitzt im ICE von Berlin nach Kassel. Micha ist Pendler, jede Woche verbringt er Dienstag, Mittwoch und Donnerstag in Kassel. Doch diesmal gelingt es ihm nicht, wie üblich im Zug zu arbeiten. Zweieinhalb Stunden lang stellt sich Micha seiner Erinnerung. Sie führt ihn zurück ins Madrid der späten achtziger Jahre.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

1

Der Zug ist schon da, als ich die Rolltreppe hinabfahre, in der linken Hand einen Mitnehmkaffee und in der rechten meinen Rollkoffer. Ich steige ohne Eile ein, bis zur Abfahrt sind es noch gute fünfzehn Minuten. Im Großraumwagen suche ich nach einem freien Sitz, das heißt eigentlich sind ja noch fast alle Sitze frei, ich belege einfach den ersten nach dem Abteil. Er hat den Vorteil, dass sich niemand hinter mich setzen kann und es dadurch (theoretisch wenigstens) etwas privater zugeht. Ich wünsche mir, dass sich auch niemand neben mich setzt und stelle daher meinen Rollkoffer in den Fußraum und meinen Rucksack oben auf den Sitz. Es ist sieben Uhr fünfzehn.

Ich strecke die Beine aus, so gut es geht (da ist in der zweiten Klasse einfach wenig Platz), nippe am Kaffeebecher und schaue scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster. Langsam füllt sich der Wagen, Passagiere gehen an meiner Sitzreihe vorbei, sie tun so, als bemerkten sie mich nicht, nur ein oder zwei Personen schauen prüfend nach meiner Seite, verwerfen dann aber die Option und verschwinden wieder. So bleibt es am Ende dabei, dass ich zwei Sitze für mich alleine habe, als der Zug sich inBewegung setzt. Ich wünsche mir das jedesmal, dass sich niemand neben mich setzt, und meistens tritt der Fall auch ein. So kann ich mich ausbreiten, die Bücher neben mir, das Notebook auf den Knien. Außerdem empfinde ich die übergroße Nähe einer eng neben mir sitzenden Person als Eingriff in meinen Privatbereich. Heute bin ich also wieder allein in meiner Doppelsitzhöhle und kann erst einmal durchatmen. Vielleicht kommt ja in Spandau noch jemand, aber vorerst kann ich aufatmen.

Als der Zug das Bahnhofsgebäude verlässt, spritzen sofort die ersten Regentropfen auf die Scheibe. Es ist ein kalter Herbsttag, draußen alles grau. Der Zug fährt nach Westen, er wird mich nach Kassel bringen, in etwa dreieinhalb Stunden werde ich in meinem Büro sitzen, und zwei Tage später am Abend wieder zurückfahren. Wie jede Woche, seit Jahren. Ich pendele zwischen Berlin und Kassel. Mein Leben ist zweigeteilt, ein längerer Teil – vier Tage – zu Hause, ein kürzerer Teil – drei Tage – unterwegs. Pendlerroutine.

Mag mag das als das reine Abenteuer betrachten, im Vergleich zu anderen Arbeitsroutinen. Von Kollegen, die auch pendeln, höre ich auch schon mal, dass sie das ganz wunderbar finden, dass das hervorragend funktioniert, so können sie sich drei oder vier Tage lang voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren, eine Kollegin, die in Berlin wohnt und arbeitet,äußerte sogar, dass sie uns Pendler beneide, auch sie würde gerne viel mehr arbeiten (sie hat zwei Kinder im Grundschulalter), vielleicht geht auch bei manchen etwas die Phantasie durch bei dem Gedanken, drei Tage die Woche wieder ein Junggesellenleben zu führen, wer weiß, was sie sich da ausmalen. Ich kann nur sagen, dass ich die Trennung immer als belastend empfinde, sehr belastend.

In Spandau kommt noch mal ein Pulk junger Erwachsener in den Wagen gestürmt. Sie schauen nach rechts und links, aber keiner – außer einer jungen Frau mit dunklem Trenchcoat – scheint sich für den freien Platz zu interessieren. Auch die junge Frau prüft nur kurz die Situation, akzeptiert dann ungerührt die von mir in eindeutiger Absicht aufgerichtete Barriere und schreitet weiter in den Wagen hinein, um sich irgendwo tiefer in den Sitzreihen zu verlieren. Alles hat sich in kürzester Zeit wieder sortiert. Alles schaut auf irgendeinen Bildschirm.

Vielleicht wird man mit den Jahren so, dass man einfach nur noch seine Ruhe haben will. Ich weiß es nicht, ich spüre nur so etwas wie eine Müdigkeit. Keine physische Müdigkeit, wie etwa nach einer schlecht geschlafenen Nacht (das ist mir heute Gott sein Dank erspart geblieben), sondern eine Müdigkeit der Routine. Mit knapp sechzig spürt man Gewichte in seinemKörper, die niemand da hineingeschmuggelt hat (die Steine im Bauch des bösen Wolfs, der Rotkäppchen fressen wollte), Gewichte, die plötzlich da sind, und man weiß, dass sie nicht mehr verschwinden werden. Nicht, dass ich Sorgen mit mir herumtrüge, nein nein, alles ist bestens. Ich habe eine schöne Arbeit, eine wunderbare Ehefrau, gut geratene Kinder, alles passt. Es ist etwas anderes.

Es sitzt tief in mir, es sitzt fest drinnen, doch es wehrt mich ab, genauer gesagt: es schirmt sich ab. Meine Gedanken perlen an irgendetwas ab, das sich nicht greifen lassen will. Will ich es überhaupt ergreifen? Wage ich mich überhaupt heran? Ich bin versucht, mein Notebook herauszuziehen, Mails zu checken, Texte zu lesen, so wie es fast alle in diesem Wagen tun und wie ich es sonst ja auch immer mache. Doch das Notebook bleibt drin im Rucksack, der Reflex versagt.

Ich schaue nach draußen, wo die graue Landschaft vorbeifliegt, aber ich sehe die Landschaft gar nicht, ich will mich einfach nur nicht mit meiner Arbeit beschäftigen und auch nicht mit Beobachtungen bei den Mitreisenden. Ich will … das heißt, etwas zwingt mich, ob ich es will oder nicht, diesmal nicht gleich loszuarbeiten. Immer habe ich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ,die Zeit genutzt‘, d.h. gearbeitet, immer habe ich jede freie Minute (was ist eigentlich eine ,freie Minute‘?) noch für meine Qualifikationsarbeit oder für Texte genutzt, die meineLiteraturliste verbessern würden. Das frisst alles auf. Und wenn Du den ganzen Tag weg bist, zehn Stunden und mehr, dann kannst Du vielleicht den Kindern noch gute Nacht sagen, und am nächsten Morgen siehst Du sie vielleicht noch kurz, bevor sie das Haus verlassen, um zur Schule zu gehen, oder bevor Du das Haus verlässt, um wieder zur Arbeit zu fahren. Und am Wochenende bist Du einfach nur kaputt, viel zu erschöpft, um über irgendetwas von dem nachzudenken, was tief in Dir vorgeht.

Ich habe ein Gefühl wie ein leichter Schmerz. Oder besser: einen Anflug von Melancholie. Ich lasse mich tiefer in den Sitz sacken, so als fürchte ich Blicke, obwohl da ja niemand ist, der in mich hineinschauen könnte, ja noch nicht einmal jemand, der mich kennt (obwohl es Mitreisende gibt, die jeden Dienstag genau um dieselbe Uhrzeit in diesem Wagen sitzen, so dass mir manche Gesichter vertraut sind, und ich auch manchen Gesichtern vertraut sein muss, aber es sind nur Gesichter, alles in allem Fremde eben, keiner stellt Fragen). Ich kenne allerdings diese Melancholie schon, es ist nicht so, dass das ganz überraschend kommt, aber ich habe sie immer eingedämmt, überdeckt, erstickt mit Mails, Anrufen, neuen und immer neuen wissenschaftlichen Texten. So als ob das Leben unendlich sei. Das heißt, so als ob ich selbst unsterblich sei, immer so weitermachen würde und könnte. So als ob die Zukunft aus dem immer nächsten beruflichen Ziel bestehen würde.

Die Fahrt im Schnellzug Paris-Madrid dauerte etwa vierzehn Stunden. Es gab noch eine schnellere Verbindung, etwa elf Stunden. Sie war aber teurer. Im Übrigen war es auch keine Frage der Zeit.

Am späten Abend war der Zug auf der Höhe von Bordeaux, und er musste an Jean-Luc denken. Bei seinen letzten Besuchen wohnte der bereits in dem verlorenen Bauernhaus, inmitten von Sonnenblumenfeldern, drei Kilometer bis zum nächsten Dorf. Ein Haus, das leer stand und das er, Jean-Luc, entdeckt hatte, weil es leer stand. Der Besitzer hatte es ihm kostenlos zum Wohnen überlassen mit der Auflage, es auf eigene, das heißt Jean-Lucs Kosten zu renovieren. Eine große Scheune, zwei Ställe, ein kleiner Wohnraum mit Kamin. Er hatte die Ställe mit dem Wohnraum vereinigt, so war daraus ein schönes großes Zimmer geworden, behaglich. Da hatten sie gesessen, er, Regina und Jean-Luc, die Wand rundherum war rußgeschwärzt; dies und das Bett, ein flacher Holzkasten mit Felldecken darauf und das als Sofa benutzt wurde, waren die Bilder, an die er sich am meisten erinnerte. Er hatte es sogar einmal gezeichnet, das Haus im Sonnenblumenmeer. Die Sonnenblumen drehten ihre Köpfe mit der Sonne, je nach Tageszeit schauten sie einen mal von der einen Seite und mal von der anderen Seite an.

Micha hätte jetzt aussteigen können, in Bordeaux oder in Dax, am nächsten Morgen hätten ihm tausende von Sonnenblumen die gelben Köpfe zur Begrüßung entgegengestreckt. Vielleicht war dieses Jahr aber gar kein Sonnenblumenjahr, vielleicht hatten die Bauern dieses Jahr Getreide angebaut ...

Vielleicht hätte er auch so ein Bauernhaus gefunden, vielleicht eine Arbeit in der örtlichen Tourismusbranche, mit seinen Sprachkenntnissen. Lot-et-Garonne, die Gegend mit den unglaublichen Gewittern im Sommer, vielleicht wäre er Gewitteranbeter geworden. Die Gewitter waren allerdings beängstigend, sie kamen aus der Ferne, steigerten sich, rollten wie ein Schnellzug über das einsame Haus hinweg und verloren sich wieder in der Ferne.

Er dachte still in sich hinein.

Er reiste gerne in Zügen. Besonders gern in Fernzügen. Der Zug rast dahin, und man sitzt in seinem Abteil (damals waren es noch ausschließlich Abteile), vierzig Abteile vor dir, vierzig Abteile hinter dir, mittendrin dein kleines Nest, für acht oder zehn oder mehr Stunden. Du richtest dich ein, es wird zu deinem Abteil, du fühlst dich ganz sicher und geborgen darin und gibst dich deinen Gedanken hin. Die Zugfahrt ins Unbekannteist aber nur das eine. Das andere ist, was du hinter dir lässt. Was hatte ihn zu dieser Odyssee veranlasst?

Schon flog der Zug durch die Landes gen Biarritz, Hendaye. Er dachte an Freunde, die er in Biarritz, nein in Bayonne, in der Jugendherberge von Bayonne kennengelernt hatte. Und an seine erste Reise nach Spanien, die den Stein ein wenig ins Rollen gebracht hatte. Mit seinem Freund Wolfgang waren sie damals, Abiturienten, über Bayonne nach Pamplona gefahren. Er hatte Wolfgang ständig von Ernest Hemingways Fiesta erzählt. Aber sie waren zu spät gekommen und hatten gar keine Fiesta mehr angetroffen, sondern nur ein völlig verschlafenes grau-braun-beiges Nest Anfang August, in einem verschlafenen grau-braun-beigen Landstrich Anfang August, einem Landstrich, der offenbar wegen Ferien geschlossen war ... Nur sonntags sahen sie dutzende grau-braun-beige SEAT 600 mitten in der Natur parken, und die dazugehörigen Familien beim Picknick. Es war ein anderes Land gewesen als das von Fiesta oder von Wem die Stunde schlägt. Das hatte er sich anders vorgestellt.

Er dachte auch an seine ehemalige Spanischlehrerin, Lucía Gonzalez Molina, die mollige mit der dicken Brille und dem geringelten Wollkleid. So etwas wie uneingestandene Erotik war da im Spiel gewesen, das war ihm aber erst viel später bewusst geworden. Hatte sie den Stein ins Rollen gebracht, mit ihremElan, wie sie sich in den Sommermonaten die Treppen der Philosophischen Fakultät hinaufkämpfte und sofort in medias res ging, kein Wort Deutsch, anderthalb Stunden lang Sprachbad? Sie kam von irgendwelchen Inseln, Balearen oder Kanaren, wohl eher Balearen, schielte heftig (wie so manch gute Pädagogen … Meine Theorie ist ja, dass es da einen Zusammenhang gibt, das Schielen bei Pädagogen wird völlig verkannt, es ist eine Gabe, die den Schüler produktiv verunsichert und Deutungsvielfalt eröffnet), und sie legte in Sisyphus-Arbeit das Fundament im Spanischen.

In Irún stand der Zug still, mindestens eine Stunde lang. Er hatte Zeit, sich im Bahnhof die Beine zu vertreten, ein Getränk zu besorgen. Dies war kein Bahnhof zum Warten, obwohl fast alle Reisenden hier warten mussten. Genau hier, auf diesem Bahnhof, hatte er vor neun Jahren schon einmal gestanden und auf den Bus nach Santander gewartet. Ein Sprachkurs an der Sommeruniversität Menéndez Pelayo, im anderen, nördlichen Spanien, Cantabrien, Altamira, die Höhlen, in die man damals noch hineindurfte, Stalaktitengewölbe auch in Santander, nämlich die Räucherschinken an den Decken der Kneipen, vinos und finos, Geschrei, das eigentlich Geselligkeit war. Wo man andernorts Gemütlichkeit suchte, suchte man hier alegría. Aber was ist alegría? Im Wörterbuch steht "Freude", "Frohsinn", "Fröhlichkeit" … eigentlich eher eine ArtLebensfreude, Vitalität, aber so etwas lernt man nicht im Sprachkurs.

Und der Sprachkurs in Santander? Irgendetwas musste hängengeblieben sein. Micha besaß sogar eine Urkunde, ein diploma über den erfolgreichen Besuch des Kurses. Erklärt das etwas von dem, was später kam, von dieser ungeplanten Fahrt ins Unbekannte?

Die Guardia Civil mit ihrem albernen tricornio, dem Dreispitz. Die Aduanas, Zoll und Passkontrolle. Der Zug rollte weiter, in die erste spanische Nacht dieser Reise.

Es wurde Zeit, das Bett zu richten. Die anderen Mitreisenden fingen an damit, sie klappten die Pritschen runter und zogen Laken auf. Sie waren allesamt in Irún zugestiegen. Er verstand Gesprächsfetzen wie " ... wird bald sechs ...", "...kommt in die Schule ...", "...kann im Zug nicht schlafen ...", "... eine rauchen ...", und er empfand die Genugtuung, überhaupt etwas zu verstehen. Vor dem Abteil standen Frauen, die redeten und laut lachten, bisweilen schrill, mit kehligen Posthornstimmen.

Ein Mann um die vierzig schaute verwundert auf die Nummer von Michas Pritsche (hatte er ihn zuvor im Abteil gesehen ...?), beugte sich hinab, murmelte etwas, sein Kopf kamwieder hoch, sein Mund artikulierte in freundlichem Ton so etwas wie eine Entschuldigung ... perdón. perdone. Er zeigte auf seine Liegeplatzreservierung, Micha verstand, dass er die falsche Pritsche belegt hatte (in der diebischen Absicht, den Stauraum über der Tür für sich zu nutzen). Der Mann winkte aber ab, lachte, no hay problema, kein Problem, er nahm einfach die andere. Kein Problem. Woanders wäre dies vielleicht schon ein Problem gewesen.

Micha konnte auch noch nicht schlafen, er hatte zu viele Gedanken im Kopf. Er verließ das Abteil, und da stand er wieder, der sympathische Mann um die vierzig, schaute in die Nacht hinaus.

- Hola.

- Hola. No puedo dormir. Kann nicht schlafen.

- Ich auch nicht. Im Zug - difícil.

Der Mann wendete den Kopf zu den tratschenden Frauen, dann komplizenhaft wieder zu Micha. Achselzucken und ein Grinsen. Nada.

- Francés? Alemán?

- Alemán.

- A Madrid?

- A Madrid.

Sie kamen ins Gespräch, der Mann konnte sogar etwas Deutsch. Dass er Priester sei, verstand Micha, in Afrika Missionsarbeit geleistet hatte, jetzt ein halbes Jahr bei seiner Ordenszentrale in Spanien sei und dann nach Portugal geschickt werde. Micha sah keinen Grund, die Angaben anzuzweifeln. Der Mann stellte keine indiskreten Fragen, zum Beispiel die Frage nach Michas Beruf, er plauderte einfach. Micha hatte seinerseits auch keinerlei Verlangen, ihm seine Geschichte zu erzählen. Dass er arbeitsloser Lehrer war, und dass er nach Spanien reiste, um die Zeit zu überbrücken (kann man Zeit ,überbrücken‘?). Im Grunde schämte er sich, mit fast dreißig Jahren auf der Straße zu stehen. Einer von vielen, denen man signalisiert hatte: Ihr seid zu viele (später würde man sie die Babyboomer nennen), wir brauchen euch nicht. Und als solcher, als Nichtgebrauchter, schämte er sich, in das Land zu fahren, das jahrelang Arbeitskräfte nach Deutschland geschickt hatte. Ein Mitreisender aus dem Abteil schaltete sich ein. Er war einer dieser Gastarbeiter, wie sich herausstellte. Er arbeitete im Hamburger Hafen und fuhr wegen eines Trauerfalls in der Familie nach Galicien, seine Heimat. Er erzählte, dass er seit zwanzig Jahren in Hamburg lebte und seine Frau und seine Kinder in Galicien. Micha hörte es ungläubig.

Am nächsten Morgen weckte ihn Sonnenschein, der heftig durch die Ritzen der Jalousette drängte. Der Priester kam vomWaschen zurück. Noch eine Stunde bis Madrid. Er ging ebenfalls zum Waschen … Sein Zug, sein kleines Zuhause für vierzehn Stunden. Dann ging er zum Frühstücken in den Speisewagen. Der Galicier war auch da. Micha setzte sich dazu, bestellte einen café con leche, Milchkaffee, sprach aber nichts. Jeder dachte an irgendetwas.

Der Kaffee wurde gereicht. Wunderbarer starker café con leche, in einem Glas. Zwei magdalenas dazu, lockeres Gebäck. Eigenartig, wie anders selbst solche banalen Dinge sein können.

Der Zug wand sich durch ein wildes Gebirge, das Guadarrama-Gebirge, wie er später lernte, und er stellte sich die Kämpfe vor, die hier vielleicht im Spanischen Bürgerkrieg getobt haben mochten. Etwas Hemingway-Romantik, die von hübschen kleinen Bahnhöfen, an denen der Zug selbstverständlich nicht hielt, noch genährt wurde. Sie verflog erst bei der Ankunft im Bahnhof Chamartín. Ein riesiger Gleisfächer empfing den Zug, ein Betonberg darüber, Rolltreppen führten hinauf, in eine Flughafen-Halle schien es.

Es verunsicherte ihn, dass dieser Bahnhof so groß und modern war, doch die Konstrukteure hatten die Gabe besessen, funktional geplante Räume und Gebäude zu humanisieren: offene Café-Theken, bunte Kioske und kleine Läden, warmes Licht, Hintergrundmusik, süße Düfte. Und vor allemgeschäftiges Treiben überall, wartende Reisende, wartende Angehörige, Taxifahrer, Bahnmitarbeiter, spielende Kinder ... Eigentlich ein interessanter Ort. Aber er wollte ja noch weiter. Er wusste nur noch nicht, wohin.

Wo bin ich?

Ich schaue mich misstrauisch und zugleich verlegen um. Was um alles in der Welt mache ich hier in diesem Zug, der mich nach Kassel bringen soll? Ich meine, warum um alles in der Welt fahre ich da jede Woche hin? Klar, weil ich da arbeite, weil ich arbeiten muss, weil ich eine Familie ernähren muss und weil ich ja immer gearbeitet habe. Weil man ja immer arbeitet. Ok, also das hätten wir schon mal geklärt. Ich mache das, was alle machen (vielleicht nicht wirklich alle, aber doch die meisten; das heißt, ich bin so wie die meisten). Es beruhigt (ein wenig), in der Masse mitzuschwimmen. Da sind sogar ein paar bekannte Leute dabei, die mitschwimmen, die im Zug sitzen und arbeiten, die Bücher lesen und Bücher schreiben … die auch für drei Tage von ihrer Familie getrennt sind, das sind doch irgendwie auch Vorbilder, oder nicht? Das Argument ist schwach, wie ich sofort spüre, denn was habe ich mit den anderen oder mit bekannten Leuten zu tun, wenn ich diese Traurigkeit verspüre. Ist es die Trennung von der Familie, die mich melancholisch macht? Oder ist es mehr? Ich spüre Widerstände, da näher ranzugehen … Ängste? Wohin soll das führen?

Ich trinke einen Schluck von dem mittlerweile deutlich abgekühlten Kaffee. Den ich fast vergessen habe. Der Kaffee schmeckt noch. Das heißt, eigentlich schmeckt er nicht, es ist nur eben sehr vertraut, ihn zu dieser Stunde zu trinken. Ichschaue auf diesen nichtssagenden Becher, der genauso aussieht, wie die hundert anderen Becher, die vielleicht genau in diesem Moment von hundert anderen Händen in diesem Zug zu hundert anderen Mündern geführt werden, um hundert anderen Menschen etwas den Schlaf zu vertreiben oder ,die Zeit zu vertreiben‘. Wir gleichen uns dadurch, vielleicht nicht ,wie ein Ei dem anderen‘, aber doch so, dass wir eben in diesem Moment alle aus einem Pappbecher Kaffee trinkende Menschen in einem Zug sind. Durch das Zugreisen genormte Kaffeetrinkende, könnte man sagen, oder auch durch das Kaffeetrinken genormte Zugreisende. Was einem lieber ist.

Ich schaue kurz auf meine Armbanduhr, ein Reflex. Es ist kurz vor acht. So bleiben mir also noch gute zwei Stunden im Zug. Zwei Stunden, bevor ich wieder von Termin zu Termin hetzen werde. Zwei Stunden, um einen Teil meines Selbst zu rekonstruieren, zwei Stunden bevor ich wieder wie eine Maschine funktionieren werde. Ich schaue an mir herab, blicke auf meine Hände, die knochig und hellhäutig den Pappbecher umschließen. Ich schaue auf mein gestreiftes Hemd, das ich seit gefühlten Jahrzehnten besitze. Es ist längst an den Rändern ausgefranst. Erstaunlich, dass es überhaupt noch zusammenhält. Ich sehe mein Gesicht gespiegelt in der Fensterscheibe. Der Anblick erschreckt mich, es ist ja kein Selbstporträt, das ich da sehe, es ist einfach nur mein unverfälschtes Spiegelbild. Einfach