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Band 1 der Fantasysaga! Ein Dieb, ein Elf, ein Mischling, eine Bestie und ein Verräter – eine seltsame Truppe ist es, die von der Traumseherin Maondny zusammengebracht wird. Sie sollen die sieben Zeichen des Zorns finden, um die Tyrannei der Magier zu beenden. Doch ein jeder von ihnen hat mit Schuld und Trauer aus der Vergangenheit zu kämpfen und ihre Völker sind zutiefst verfeindet. Wenn das Schicksal sich mit jedem Atemzug aufs Neue wendet und man nicht einmal sich selbst vertrauen kann, wie soll man da seinem Todfeind die Hand reichen? Ca. 57.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieser Roman ca. 285 Seiten Die Serie ist inzwischen mit 7 Teilen abgeschlossen. Teil 1: Todfeinde Teil 2: Magiesuche Teil 3: Zepter und Schwert Teil 4: Wächter des Reiches Teil 5: Die versunkene Stadt Teil 6: Fluchmagie Teil 7: Kraftlinien
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Ein Dieb, ein Elf, ein Mischling, eine Bestie und ein Verräter – eine seltsame Truppe ist es, die von der Traumseherin Maondny zusammengebracht wird. Sie sollen die sieben Zeichen des Zorns finden, um die Tyrannei der Magier zu beenden. Doch ein jeder von ihnen hat mit Schuld und Trauer aus der Vergangenheit zu kämpfen und ihre Völker sind zutiefst verfeindet. Wenn das Schicksal sich mit jedem Atemzug aufs Neue wendet und man nicht einmal sich selbst vertrauen kann, wie soll man da seinem Todfeind die Hand reichen?
Ca. 57.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieser Roman ca. 285 Seiten
von
Alexandra Balzer
„Selbstverständlich kann man seinem Schicksal entfliehen. Wer etwas anderes behauptet, hat nichts verstanden. Man muss allerdings mit dem neuen Schicksal fertig werden, das einem unterwegs begegnet; darin liegt das wahre Problem.“
Zitat von P’Maondny, elfische Traumseherin; Datum unbekannt
ayid blieb stehen. Rund zwanzig Schritt unter ihm befand sich die Hauptstraße dieser Stadt, deren Namen er vergessen hatte. Um diese Tageszeit, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, bot sie ein anderes Bild als zur Mittagsstunde. Da hatte sie vor emsig wimmelnden Menschen pulsiert und ihm reichlich Gelegenheit geboten, sich an den Münzbeuteln der Leute zu bedienen. Von irgendetwas musste er sich ernähren, während er sein Dasein in den Schatten fristete. Nun, dieses Dasein fristete er bis auf wenige Unterbrechungen bereits sein gesamtes Leben. Er war es leid, schon viel zu lange. Müde, so müde …
Wenn es wenigstens einen Unterschied machen würde, dann könnte er sich einfach in die Tiefe stürzen. Ein kurzer Schrei, einige Herzschläge grausamer Schmerz. Danach Dunkelheit, Vergessen. Nahezu alle Kreaturen dieser von den Göttern verfluchten Welt hätten damit jegliches Leid und Elend hinter sich gelassen. Der Tod war eine Gnade.
Etwas, was die Sterblichen leider nicht zu schätzen wussten.
Auf Sayid wartete kein ewiger Frieden. Er würde von Neuem erwachen und weder Narben noch gebrochene Knochen würden an Sturz, Tod und Wiedergeburt erinnern.
„Da ist er!“
Der Ruf seines Verfolgers riss ihn aus seiner schwermütigen Tändelei mit Goyash, der Herrin der Jenseitswelt. Stattdessen hastete er einige Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang auf das nächste Dach. Verflucht! Er hatte seinen mühsam erkämpften Vorsprung eingebüßt, die Meute war ihm dicht auf den Fersen.
Was genau das halbe Dutzend schwerbewaffneter Krieger von ihm wollte, wusste er nicht. Grundsätzlich könnte er sich ihnen stellen, doch Sayid konnte ihre Fähigkeiten nicht einschätzen. Sollte einer von ihnen ein wirklich begabter Schwertkämpfer sein, oder – was wahrscheinlicher wäre – diese Kerle mit schmutzigen Tricks und Messern aus dem Hinterhalt angreifen – dann könnte er tödlich verletzt werden. Das wäre nicht bloß äußerst unangenehm, es würde sein Geheimnis offenbaren. Zu viele waren da draußen, die sein Mal als das erkennen konnten, was es war. Es würde die Tyrannen auf seine Spur locken. Über ein Jahrhundert war es ihm gelungen, sich vor ihnen zu verstecken. Es gab keinen Grund, ausgerechnet heute Nacht damit aufzuhören. Darum rannte er, so rasch er konnte, sprang von Dach zu Dach, duckte sich in die Schatten, schlug Finten, kehrte für eine Weile auf den Boden zurück, um sein Glück in den engen Gassen der Unterstadt zu versuchen. Unrat, hingestreckte Körper schlafender Bettler, Ratten und halbverhungerte Hunde erschwerten zwar sein Fortkommen, behinderten seine Verfolger jedoch gleichermaßen. Sayid steuerte auf den Kanal zu, der die nahe am Westmeer gelegene Stadt teilte. Das schmutzige Gewässer war die beste Möglichkeit, die Feinde abzuschütteln. Kein Sterblicher konnte ähnlich lange tauchen wie er und die Dunkelheit der lauen Spätfrühlingsnacht würde ihm Schutz bieten.
Unter den Gestank von menschlichem Verfall, Exkrementen, Rauch und Verwesung mischte sich der leichtere Geruch von Wasser, Fisch und nassem Gestein. Nur sehr schwach nahm Sayid die ätzenden Ausdünstungen der Gerbereien wahr, die am südlichen Ende des Kanals in Hafennähe angesiedelt waren. Das war gut, er schwamm ungern in der Brühe, die die Gerber ins Wasser leiteten. Da es im Gassengewirr gerade keine Möglichkeit gab, sich noch weiter nördlich zu halten, kletterte er die nächstgelegene Häuserwand hinauf. Spalten und Risse im Fundament boten sich willig dar, das halb verfallene Gebäude ließ sich leichter besteigen als jede Hafenhure. Die Schritte und Rufe seiner Verfolger, das Klirren ihrer Waffen klangen beunruhigend nah. Warum jagten sie ihm derart beharrlich nach? Warum jagten sie ihm überhaupt nach? Sayid hatte heute keine hochgestellte Persönlichkeit beraubt, das wusste er sicher. Nach rund hundert Jahren konnten Menschen ihn nicht mehr ohne Weiteres zum Narren halten. Armselige Kleidung und Schmutz im Gesicht waren nicht die bedeutsamen Hinweise, zu welchem Stand ein Mann gehörte. Frauen bestahl er aus Prinzip nicht, da diejenigen, die auf offener Straße Geld bei sich trugen, entweder Huren, reich und adlig oder im Auftrag einer reichen und adligen Persönlichkeit unterwegs waren. Zu riskant für jemanden wie ihn, der auf dieser Welt nichts mehr fürchtete als Aufmerksamkeit.
Die wenigen Silber- und Kupferstücke, die er heute entwendet hatte, um sich davon Brot und Fisch kaufen zu können, konnten nicht der Grund für diese entschlossene Hetzjagd sein. Was also dann? Wodurch hatte er sich verraten? Die Kerle hatten ihn aus seinem Versteck im Keller eines verlassenen Hauses aufgescheucht. Bevor er sich durch eines seiner für genau solche Fälle bestimmte Fluchtlöcher gequetscht hatte, war ihm lediglich Zeit für einen kurzen Blick auf Bewaffnung und Kleidung der Feinde geblieben. Diese Männer waren wahrscheinlich Söldner. Kopfgeldjäger. Muskulöse, recht wohlgenährte Bastarde mit Schwertern und guter Lederrüstung. Kein Wappen, das sie als Leibwächter eines der hiesigen Adelshäuser offenbarte, und mindestens einer von ihnen besaß die dunkle Haut eines Südländers aus der Provinz Derkmon. Verflucht, das alles schmeckte ihm gar nicht!
Mit zusammengebissenen Zähnen überwand Sayid die letzte Hürde und zog sich auf das Dach. Ein Pfeil kam aus dem Nichts geschossen – auf dem Nachbargebäude hockte ein Angreifer! Er duckte sich im letzten Moment und flüchtete hinter einen Vorsprung. Seine Verfolger waren keine Narren, sie machten absichtlich solchen Lärm, um ihn in eine bestimmte Richtung abzudrängen. Trotzdem erstaunlich, dass sie ihn ausgerechnet an diesem Gemäuer abgepasst hatten. Er nahm sich einen Moment, um seine Feinde nach Gehör zu orten. Der Bogenschütze war gefährlich gut, er hätte ihn trotz mondloser, wolkenverhangener Finsternis beinahe getroffen. Ein Meister seines Fachs. Schlimmstenfalls ein Halbelf. Die restlichen Feinde waren stehen geblieben und er konnte bloß zwei anhand ihrer Atmung und leiser Bewegungen eindeutig zuordnen. Drei weitere hielten sich in der Nähe auf. Nakoio hilf! Er hatte ein mieses Gefühl bei der Sache …
Und bislang hatte der Schutzheilige der Diebe es nie für notwendig gehalten, auch nur einen Finger für ihn zu rühren.
Sayid beschloss, dass eine überraschende Attacke besser war als zu warten, bis die Feinde ihn erschlugen. Er rollte sich vom Dach, hinab in die finstere Gasse. Unten stieß er wie erwartet auf einen seiner Verfolger. Ein Fausthieb ins Gesicht, ein weiterer Hieb in den Nacken. Ohne zu prüfen, ob sein Gegner außer Gefecht gesetzt war, hetzte Sayid weiter. Zwei Männer mit Fackeln blockierten den Ausgang der Gasse. Innerlich fluchend warf er sich nach rechts durch einen geborstenen Fensterladen, lief durch das dunkle Haus. Schreie der Bewohner folgten ihm, die er ignorierte. Eine Tür – sein Tritt ließ sie aus den Angeln fliegen. Rufe in mindestens drei verschiedenen Sprachen, von denen er lediglich eine beherrschte. Schwere Schritte seiner Verfolger.
Sayid prallte gegen einen muskulösen Körper. Der Lederpanzer verhinderte die meisten effektiven Attacken, darum packte er die rechte Hand des Gegners, brach ihm zwei oder drei Finger, rannte weiter. Hundegebell. Beinahe wäre er über ein Straßenkind gefallen, das am Boden geschlafen hatte und urplötzlich aufsprang. Der Schreck in den weit aufgerissenen, riesigen Augen, beleuchtet von einer feindlichen Fackel, weckte unangenehme Erinnerungen. Keine Zeit dafür!
Er warf sich herum, rannte den Angreifer über den Haufen, der von seiner Aktion zu überrascht war, um reagieren zu können. Dort drüben, zur rechten Hand, entdeckte er einen besonders schmalen Spalt zwischen zwei Häusern. Zu wenig, um Gasse genannt werden zu dürfen. Er würde sich durchquetschen können, da er hoch gewachsen und auf Grund lebenslanger Entbehrungen sehr schlank war. Seine muskelbepackten, mit Ausrüstungen beschwerten Feinde konnten ihm da hinein nicht folgen. Sayid schlüpfte unter den Armen eines Angreifers hindurch, der ihn zu packen versuchte, und eilte seitwärts in den Spalt. Es war riskant, das wusste er. Sollten die Kerle ihn töten wollen, konnte er hier nicht ausweichen und wenn sie am anderen Ende auf ihn lauerten … Mit zusammengebissenen Zähnen gab er alles. Der Stoff seiner gestohlenen Kleidungsstücke riss, er büßte mehr als einen Hautfetzen an Armen, Brust und Schultern ein. Sein nackenlanges schwarzes Haar klebte in schwitzigen Strähnen an seiner Stirn und er war nicht mehr in der Lage, Herzschlag und Atmung zu kontrollieren. Was, in Shilautys heiligem Namen, wollten diese Bastarde bloß von ihm? Es war zu eng, er kam kaum voran. Schneller!
Brennender Schmerz, als sich eine Pfeilspitze tief in seinen rechten Oberarm bohrte. Sayid stöhnte, hielt jedoch nicht inne in seinem Mühen, sich auf den helleren Fleck zuzuschieben. Noch zwei Schritte … Noch einer … Ein zweiter Pfeil, diesmal in den Oberschenkel.
„Ihr feigen Hunde!“, brüllte er wütend. Endlich, endlich war er durch! Er riss sich die Pfeile aus dem Leib, duckte sich in derselben Bewegung unter einem mörderischen Hieb mit einer Keule. Offenkundig war es gleichgültig, ob er lebend oder tot gestellt wurde. Seine Verletzungen behinderten ihn, der zweite Pfeil musste eine große Ader getroffen haben, denn das Blut spritzte mit jedem fiebrigen Herzschlag aus der Wunde. Es kümmerte ihn wenig, abgesehen von dem Ärgernis, dass diese Hose endgültig ruiniert war. Das Loch hätte er flicken können, aber getränkt von einem halben Maß Blut konnte er sie nicht länger tragen. Verflucht! Sie hatte wirklich perfekt gepasst. Es war mühsam, geeignete Kleidung zu stehlen.
Mit einem kaum weniger heimtückischen Schlag gegen den Kopf des Angreifers schaffte er sich den Keulenschwinger vom Hals. Allmählich reichte es ihm! Normalerweise vermied er es, Gegner schwer, geschweige denn tödlich zu verletzen. Es zog einfach zu viel Aufmerksamkeit mit sich. Wenn diese Bastarde es allerdings nicht anders haben wollten …
Sein Manöver hatte ihn in die Nähe des Kanals gebracht. Stur kämpfte Sayid sich den Weg frei, wobei er drei Schwertkämpfer überwinden musste, die sich dankbarerweise gegenseitig behinderten. Da vorne war das Wasser, Shilauty sei dank! Er nahm Anlauf, freute sich darauf, in das kühle Nass einzutauchen – und fand sich plötzlich auf dem Boden wieder, gefangen in einem Netz.
„Wir haben ihn!“, brüllte jemand triumphierend. Sayid trat dem Angeber vors Schienbein, zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Einen Moment später explodierte etwas in seinem Schädel, und es wurde dunkel um ihn.
VERFLUCHT!
„Elfen sind unsterblich, sofern sie nicht getötet werden, und drei Dinge, abgesehen von ihrem Leben, sind für die Ewigkeit gemacht: Ihre Erinnerung, ihre Liebe und ihr Hass.“
Keszay von Onara, Verfasser von „Elfen der Nordernreiche“ im Jahre 318 vor dem Krieg
nthanel kniete vor der lebensgroßen Statue nieder und legte den Blütenkranz ab. Ein weiteres Jahr war verflossen, ohne seinen Schmerz zu lindern. Ein weiteres Jahr unter der Schreckensherrschaft der Tyrannen. Einhundertneunzehn Winter waren gekommen und gegangen, seit die Magier beschlossen hatten, dieses Land an sich zu reißen. Vom Upakani-Gebirge waren sie gekommen, tausende Vertreter eines mysteriösen Volkes, über das bis heute niemand etwas wusste. Außer, dass sie wie Menschen aussahen, unsterblich wie Elfen waren, mittels Magie Dinge tun konnten, die allenfalls den Göttern zustanden, und nichts und niemand sie aufhalten konnte. Die einzigen, die es eventuell vermocht hätten, waren die Drachenreiter gewesen.
Er hasste die Drachenreiter! Die vollständige Vernichtung dieses Volkes war das einzig Gute, was aus dem Magierkrieg entstanden war. Keiner dieser treulosen Verräter hatte überlebt, denn die Magier, auf deren Seite sie sich geschlagen hatten, kannten ebenfalls keine Treue. Sie hatten die Drachenreiter benutzt, um alle Völker der Nordernreiche von Küste zu Küste zu unterwerfen. Anschließend hatten sie die Reiter wie auch die Drachen mit ihrer Magie ausgerottet. Jahrtausendelang waren die Drachenreiter unüberwindbar gewesen. Keine Verletzung hielt länger als zwölf Stunden vor, und wenn sie eine tödliche Wunde erlitten, starben sie zwar, doch nur, um innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder unversehrt aufzuerstehen. Man musste ihnen die Köpfe abschlagen und diese mitsamt den Körpern verbrennen, um sie tatsächlich zu vernichten. Ihre Kraft war legendär gewesen, genau wie ihre Ausdauer und Waffenkunst und nicht zuletzt die Tatsache, dass ein jeder von ihnen einen Drachen als persönlichen Gefährten besaß. Rund tausend von ihnen hatte es gegeben, sie waren die Hüter und Wächter der Nordernreiche gewesen. Vollkommen unbegreiflich ihr Verrat, als sie sich den Magiern anschlossen …
Er zwang seine Gedanken fort von dieser Erinnerung.
Die Hüter waren fort, die Magier waren geblieben. Sie regierten das Land mit eiserner Faust. Menschen waren ihr Spielzeug, die Sterblichen ihnen hilflos ausgeliefert. Not und Elend herrschten in den einst blühenden Handelsstädten. Hunger war die wirksamste Waffe, um die Menschen zu kontrollieren. Wer zu rebellieren versuchte, wurde mit magischen Flüchen belegt.
Weniger schlimm war die Lage für die Bauern, da die Tyrannen ihre Fähigkeiten nutzten, um die Ernten zu beschleunigen und die Tiere gesund zu halten. Doch auch hier galt: Wer aufbegehrte, fand den Tod, zumeist gemeinsam mit jedem, den er jemals gekannt hatte.
Die Elfen hatten einen wackligen Frieden mit den Magiern erwirkt, nachdem sie einen nahezu unermesslichen Blutzoll bis an den Rand der vollständigen Vernichtung leisten mussten. Er beruhte größtenteils auf „tu mir nichts, ich tu dir nichts“. Zusammen mit jährlichen Zahlungen an die Tyrannen, die zwar keine Garantie dafür waren, dass diese niemals versuchen würden, die letzten Elfen aufzuspüren, doch bislang funktionierte der Handel.
Traurig strich Anthanael über das steinerne Ebenbild einer Elfin, die ihm einst die Welt bedeutet hatte. Zu viele dieser Statuen standen in seinem Haus. Er ertrug es kaum, morgens die Augen aufzuschlagen und gleichgültig, wohin er sich wandte, ihm begegnete Trauer und Erinnerungen an eine Vergangenheit, in der alles Schöne und Gute begraben lag. Wie oft schon hatte er fortgehen wollen! Fliehen vor den Erinnerungen, die niemals verblassten. Er wollte zu gerne einen Tag verbringen, an dem etwas Neues geschah. Etwas Überraschendes, gleichgültig ob gut oder schlecht. Sein Leben verrann ohne Nutzen, mit nichts als Tränen und dem Wunsch, er hätte damals ebenfalls sterben dürfen.
Es galt als untragbare Sünde, wenn sich ein Elf das eigene Leben nahm. Zu viele seines Volkes hatten es bereits getan. Gefangen in Schmerz und vergangenes Leid waren sie unfähig geworden, die Schöpfung zu genießen, zu lachen, zu leben. Es wurden kaum noch Kinder geboren, da man sie nicht dazu verdammen wollte, Teil dieses Leids zu werden, in einer Welt, die von Magiern geknechtet wurde.
„Es ist dein Schicksal, Anthanael“, flüsterte eine zarte Mädchenstimme hinter ihm. Er hatte gehört, wie sie sich ihm näherte, darum fuhr er nicht erschrocken zusammen, sondern drehte sich langsam und beherrscht zu seinem Gast um.
„Maondny, du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn du ohne zu klopfen in mein Haus kommst“, tadelte er das Kind. Sie war gerade einmal acht Jahre alt, doch in dem winzigen Körper steckte eine uralte, bereits mehrfach wiedergeborene Seele. Sie war ein Mysterium, eine Traumseherin und die einzige Hoffnung, die ihr Volk überhaupt besaß.
„Ich weiß das. Du weißt dafür, dass ich es nicht schätze, wenn du meinen Namen verstümmelst. Ich heiße P’Maondny. Pe-Ma-Ont-Ni. Nicht einfach Maondny.“
„Wenn du mir vergibst, vergebe ich dir“, sagte er und neigte respektvoll den Kopf. Anthanael versuchte erst gar nicht zu verbergen, dass er sich vor diesem Mädchen fürchtete. Sie sah hübsch aus, hatte taillenlanges schwarzes Haar mit einer einzelnen silbernen Strähne. Ihre Augen erstrahlten blau, wenn sie sich geistig voll und ganz in Tan’aara, dieser Welt befand, und golden, wenn sie sich am Schicksalsfluss aufhielt und das zukünftige wie vergangene Geschick sämtlicher Lebewesen studierte. Maondny wusste alles über jeden, vom Tag seiner Geburt bis zu seinem Tod, einschließlich sämtlicher Gedanken, die jemals gehegt und aller Sätze, die irgendwann gesprochen wurden. Sie wusste genau, welche alternativen Schicksale die Person, die ihr gegenüberstand, haben konnte oder hätte haben können. Einen Becher mit der linken statt der rechten Hand zu ergreifen konnte eine Kette von Auswirkungen nach sich ziehen, die zur Auslöschung eines gesamten Volkes führte. Allein darüber nachzudenken verursachte ihm Kopfschmerzen. Für Maondny war es müßiges Tageswerk.
Anthanael wusste nicht, warum sie seit einigen Wochen immer wieder in sein Haus kam. Meist sprach sie nicht einmal zu ihm, sondern starrte ihn bloß für eine Weile mit ihren goldfarbenen Augen an, bevor sie von ihrer Mutter geholt wurde. Die Kleine brauchte intensive Betreuung, sie neigte dazu, in ihren Visionen verloren zu gehen und dabei essen, trinken, Schlaf und sämtliche reale Gefahren ihrer Umgebung zu vergessen. Es machte ihm Angst, was ihre Anwesenheit bedeuten könnte. Sie sprach zu kaum jemandem, außer um gelegentliche Warnungen vorzubringen; unendliche Variationen von „Wenn du beschließen solltest, diesen Weg zu nehmen, dann warte noch einige Minuten“. Erklärungen gab es nie, manchmal wurde im Nachhinein offensichtlich, dass sie damit das Leben desjenigen gerettet hatte.
„Ich habe den Segen des Weltenschöpfers, im kleinen Rahmen einzugreifen“, flüsterte Maondny, den Blick an die Decke gerichtet, die Finger in ihr weißes Leinenkleid verkrallt. „Das habe ich schon immer getan und er zürnt mir nicht, dass ich damit manchmal für Unordnung sorge. Chaos ist es, was er liebt …“
„Und was liebst du?“, fragte Anthanael impulsiv.
„Ich liebe es, wenn aus Chaos neue Ordnung entsteht, und Ordnung, die in Chaos zerfällt.“ Sie lächelte, ihre Iriden nahmen einen blauen Schimmer an. „Ich mag dein Haus. All diese hübschen Möbel und Statuen, Blumen und Fenster. Es ist eine Gruft, wie alle Häuser hier, aber bei dir spürt man wenigstens noch die Sehnsucht nach Leben. Das ist der Grund, warum ich zu dir komme, Anthanael. Während die anderen in unserem Dorf längst innerlich tot sind, begraben unter ihrer Trauer, besitzt du noch Hass, Zorn und Hoffnung auf Zeiten, in denen es Gutes geben könnte.“
„Die Seele deiner Mutter ist nicht tot“, erwiderte er, bemüht nicht zu zeigen, wie verstörend er ihre Worte empfand. „Sie liebt dich, sorgt sich um dich und würde alles für dich tun.“
„Sie ist tot. Ich bin es, die sie mit Träumen am Leben erhält, damit ich selbst nicht zugrunde gehe.“
Er wandte sich ab von ihr, konnte es kaum ertragen, welch schreckliche Dinge sie gänzlich emotionslos sagte.
„Siehst du, diese Fähigkeit, noch irgendetwas als schrecklich wahrzunehmen, genau das meine ich. Aber genug davon. Ich bin nicht hier, um dich zu quälen.“
„Warum dann?“, fragte er bitter und drehte sich zurück zu ihr.
„Ich wurde von den Göttern nach Tan’aara geholt, damit ich das Gleichgewicht zwischen den Kräften beeinflusse. Die Magier haben es gestört, es war weder ihr Recht noch der richtige Zeitpunkt, um die Macht an sich zu reißen. Die Herrschaft der Drachenreiter hätte erst in mehreren hundert Jahren enden dürfen und das Volk der Elfen noch lange blühen und gedeihen müssen. Es ist meine Aufgabe, dem Schicksal einen neuen Takt aufzuzwingen, damit die Schöpfung wieder in Harmonie schwingen darf. Viel ist es nicht, was ich tun kann. Einer der notwendigen Schritte besteht darin, dich auf den Weg zu schicken.“
„Wohin?“, fragte er erschrocken und wich vor ihr zurück. Sein Haus verlassen? All die Erinnerungen, die ihn fesselten abschütteln? Wenn es leicht wäre, hätte er es längst getan!
„Nicht weit. Du kennst das Wäldchen, zwei Meilen nordöstlich von uns.“
Anthanael nickte matt. In dieses Wäldchen ging er gelegentlich, um Heilkräuter zu sammeln. Auch in Trauer erstarrt erfüllte ein jeder in diesem Dorf seine Pflichten für die Gemeinschaft. Sie waren mehr als lebendige Statuen. Nicht viel mehr, aber immerhin …
„Folge dem Pfad, der aus diesem Wäldchen hinausführt. Du wirst deinem Schicksal begegnen, wenn du es tust, sofern du innerhalb der nächsten halben Stunde aufbrichst.“
„Und wenn ich es nicht tue?“, fragte er schwer atmend.
Maondnys Augen loderten golden auf, wie flammende Sonnen. „Dann besteht deine wahrscheinlichste Zukunft darin, zu Füßen von Ellianars Statue auszubluten, weil du in fünf bis zehn Jahren nicht mehr die Kraft hast, dich gegen die Verlockung des Todes zu stemmen.“
„Selbstmord also? Nichts Besseres als das? Es gibt sicherlich andere Männer oder Frauen, die du für deinen Tanz mit dem Schicksal auswählen könntest. Wenn die Tyrannen gestürzt sind …“
„… würde das nichts für dich ändern, Anthanael.“ Sie lächelte traurig und ergriff seine Hand. „Es gibt viele dort draußen, die deine Aufgabe übernehmen könnten. Genug, die sich glücklich und geehrt fühlen und mit Begeisterung die Waffen an sich reißen würden. Helden, die nicht von der Last der Erinnerungen zermalmt werden. Männer wie Frauen, die es verdient hätten, diesen Weg zu wagen, der sowohl zu unsterblichem Ruhm als auch einem frühzeitigen, grausigen Tod führen kann. Ich will, dass du es bist, Anthanael. Ich will dich retten, denn du bist der Letzte in diesem Dorf, für den ich Hoffnung sehe. Ob du siegst oder nicht, wird für die Welt einen riesigen Unterschied machen. Für unser Volk gar keinen. Sie sind längst verloren. Du bist mit mir der letzte lebendige Elf des Nordernreiches.“
Er begann zu zittern, musste sich für einen Moment Halt suchend an diesem Kind festklammern, das keines war.
„Wie konnte das geschehen, Maondny? Warum?“
„Weil ein Volk zu viel Macht erlangt hat und diese weder weise nutzen noch Rücksicht auf die Schwachen üben will. Das ist der Lauf der Welt. Nun entscheide dich, Anthanael. Geh und begegne einem neuen Schicksal. Ich kann nicht weit vorausschauen, wie es sich entwickeln wird, es gibt zu viele Möglichkeiten, die danach entstehen werden. Doch es wäre das, was du dir seit viel zu langer Zeit vergeblich gewünscht hast: Etwas zu tun, was du noch niemals getan hast, abseits dieser Gruft und der ausgetretenen Wege. Oder bereite deinem Elend ein Ende und stirb. Wenn du wünschst, könnte ich dich töten, dann wäre es kein direkter Selbstmord.“
„Ich gehe“, rief Anthanael entsetzt. Solange der Weg ihn möglichst weit fort von diesem Kind führte, musste es ein guter Weg sein!
„Meinst du, das war die beste Wahl, die du treffen konntest?“
P’Maondny löste den Blick nicht vom Schicksalsstrom. Im Laufe ihrer Existenz hatte sie jegliche Angst vor diesem Geschöpf verloren, das sie gerade aufsuchte, auch wenn es im gesamten Universum keines von größerer Macht gab. Es war eine Eule, klein und ein wenig zerzaust, die sich auf ihrer Schulter niederließ. In dieser Gestalt schickte der Weltenschöpfer seine Gedanken aus. Warum genau es ein solcher Vogel sein musste, der zwar ein furchterregender Jäger der Nacht, aber keineswegs herausragend klug oder stark war, wusste nur er selbst.
„Es war nicht die beste Wahl“, erwiderte P’Maondny langsam. „Es gibt genug, die besser geeignet wären. Die Wahrscheinlichkeit, dass er helfen kann, das Gleichgewicht wieder herzustellen, ist sehr gering, doch zumindest vorhanden. Vorausgesetzt, er begeht nicht den größtmöglichen Fehler … Was leider sehr, sehr wahrscheinlich ist. Dennoch, ich mag ihn.“
„Wenn du versagst, oder vielmehr deine favorisierten Helden, stehen dir viele Jahre Leid auf dieser Welt bevor, um alles zu richten“, sagte die Eule und kicherte leise.
„Ich kann mir Schlechteres vorstellen. Diese Welt ist jung, sie hat großes Potential, einen Haufen streitsüchtiger Götter und starke magische Strömungen. Hier mit dem Schicksal zu spielen ist amüsant.“
„Ah, kleine Maondny, du bist und bleibst mein Liebling. Du benimmst dich genauso schlecht wie ich es tue.“
„Mein Name ist P’Maondny“, erwiderte sie steif. Die Eule kicherte lediglich albern und flatterte davon. Seit Jahrtausenden weigerte sie sich, diesen einfachen Namen richtig auszusprechen. Warum P’Maondny diesen dummen Scherz nicht längst müde war? Sie wusste es nicht, und das allein gefiel ihr gut genug, um ihn aufrecht zu erhalten.
„Keine noch so tiefe Wunde kann eine Narbe hinterlassen. Verlieren sie ein Auge, wächst ein neues, verlieren sie eine Hand, kehrt sie binnen weniger Stunden zurück. Unnatürliche Geschöpfe scheinen sie zu sein, diese Drachenreiter, deren wahrer Name niemand außer ihnen kennt. Sie sehen wie gewöhnliche Sterbliche aus und nur wer empfindsam dafür ist, spürt eine Aura von großer Macht an ihnen. Lediglich ein einziges Mal unterscheidet sie und macht sie leicht erkennbar für jeden: Etwa daumengroß und schwarz, auf der Brust direkt über dem Herzen gelegen, prangt bei Männern wie Frauen etwas, das wie eine Drachentatze geformt ist. Weder Klingen noch Feuer noch irgendetwas sonst kann dieses Mal entfernen, auch wenn die Drachenreiter es sicherlich oft genug versucht haben.“
„Von den Drachenreitern: Wächter des Nordernreiches“. Verfasser und Datum unbekannt.
ayid schlug die Augen auf. Er lag in Ketten, das war das erste, was er bewusst wahrnahm. Man hatte ihm sein Hemd gestohlen, das war seine zweite Erkenntnis. Es musste seit seiner Gefangennahme genügend Zeit vergangen sein, denn er hatte keinerlei Schmerzen. Also war die Kopfverletzung vermutlich tödlich gewesen, andernfalls würde er jetzt noch etwas von der Pfeilwunde spüren. Modriger Gestank und flackerndes Licht gaben ihm den Hinweis, dass er sich in irgendwelchen Katakomben befinden musste. Das alles sprach dagegen, dass er von Handlangern der Tyrannen gejagt und entführt worden war – die Magier hätten ihn nicht in Eisenketten gelegt, da an diesem Material magische Flüche schlecht haften blieben. Außerdem würde er jetzt über einem Pferderücken hängen, um so rasch wie möglich in die Hauptstadt gebracht zu werden.
Wer also waren diese Kerle, die ihn durch die Nacht gehetzt hatten?
Sayid wusste lediglich, dass er allein in diesem Raum lag – diesem Kerkerloch mit vergittertem Fenster und eisenbeschlagener Tür, wie er nach einem prüfenden Rundblick feststellen musste. Er überlegte, ob er nach seinen Entführern rufen sollte. Andererseits war es im Moment schön ruhig hier. Nur er, die eine oder andere Ratte, und das feuchte Stroh, das als seine Bettstatt diente. Warum sollte er es eilig damit haben, seine Folterknechte herbeizuholen? Leiden würde er noch früh genug und herausfinden, warum sie ihn haben wollten auch. Wenn er es recht überdachte, gab es nicht viele Möglichkeiten. Diese Leute hatten ihn gnadenlos gehetzt, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben – oder seines. Da er persönliche Rache ausschloss und man einen Mann seines Alters nicht mehr für die Bordelle jagte, auch wenn er eher wie Mitte zwanzig als über hundert aussah … Nein, offenkundig hatten sie genau gewusst, wer und was er war.
Als Sayid sich weiter gründlich umschaute, fiel ihm auf, was mit diesem Raum nicht stimmte. Er kannte Kerkerzellen, hatte in seiner Jugend einige Male Freunde aus dem Gefängnis befreit. Selbst im Loch zu landen, hatte er bis zum heutigen Tag vermeiden können. Genauso, wie er es heutzutage vermied, sich Freunde aufzuhalsen. Irgendwann wurden eben Fragen gestellt, die nicht beantwortet werden konnten und die Lüge, dass er Elfenblut in sich trug und deshalb nicht alterte, hatte auch nie ewig vorgehalten. Darum bevorzugte er nun die vollständige Einsamkeit. An manchen Tagen gefiel sie ihm sogar.
Nun: Jedes Gefängnis sah anders aus, doch es gab grundlegende Gemeinsamkeiten. Den Gestank nach Exkrementen, alten Schweiß und Schimmel zum Beispiel. Dieser Raum roch einfach bloß feucht. An den Wänden waren keine Kratzspuren von Insassen, die versucht hatten die Tage zu zählen oder Nachrichten zu hinterlassen. Demnach befand er sich in irgendeinem Kellergewölbe, nichts weiter. Sayid entspannte sich, so gut das mit angeketteten Hand- und Fußgelenken möglich war. Sich Sorgen machen würde er, wenn er mehr über seine Gegner wusste.
Nach einer Weile hörte er Stimmen in der Ferne. Eine Frau sagte:
„Warum zweifelst du noch? Das Mal ist echt. Keine Tätowierung, kein Brandzeichen. Er wurde damit geboren. Glaub mir, ich folge ihm bereits lange genug und ich weiß, was ich tue. Er ist es, den wir suchen.“
„Ich meine ja nur …“
„Geh und schau ihn dir an! Du hast gesehen, dass er tot war. Wenn er nun wieder lebendig sein sollte, gibt es keine andere Erklärung, oder? Selbst Elfen kehren nicht mehr zurück, sobald ihr Herz einmal das Schlagen aufgegeben hat.“
Die Stimmen näherten sich. Sayid hatte sehr viel schärfere Sinne als ein normaler Mensch, doch es genügte nicht, um durch die eisenbeschlagene Tür hindurch die Anzahl der Leute zu bestimmen, die sich davor aufhielten.
Ein Riegel wurde geöffnet, Schlüssel klapperten im Schloss. Man hatte sich Mühe gegeben, ihn gut wegzusperren, alle Achtung.
„Wie erwartet: Er ist gesund, munter und vollkommen unversehrt. Lediglich ein bisschen blutverschmiert.“ Eine junge Frau in braunem Lederharnisch und grüner Tuchhose schob sich in das Halbdunkel des Kerkers. Das dunkle Haar trug sie zu einem strengen Zopf nach hinten geflochten. Sehr schlank, beinahe zerbrechlich wirkte sie, war ungewöhnlich groß für einen Menschen. Die stählerne Härte in ihren schwarzen Augen zeigte, dass der Eindruck von Zerbrechlichkeit trog, genau wie der geringschätzige Zug um ihre Mundwinkel. Trotz ihrer perfekt gerundeten Ohren und dem sonstigen menschlichen Äußeren wusste Sayid, dass sie ein Elfenmischling sein musste. Schon allein, weil sie als einzige von der Gruppe, die sich um ihn scharte, einen Bogen trug und damit die Schützin sein musste, die ihn trotz der Dunkelheit beinahe erwischt hatte.
„Ein bisschen blutverschmiert ist untertrieben“, sagte er und lächelte möglichst charmant. Das würde sie vielleicht wütend machen und zu einem Fehler hinreißen, der ihm nützlich werden konnte. Oder schmerzhaft enden. „Ich sehe aus, als hättest du mir ein Schwein auf den Bauch gebunden und abgeschlachtet. Ich vermute doch richtig, dass du es warst, die mir den Schädel eingeschlagen hat?“
„So ist es, Drachenreiter“, erwiderte sie eisig. „Ich habe deine hübsche Hülle auch mit Pfeilen gespickt. Du hast meine Leute verletzt.“
„Vergib mir, meine Schöne. Deine Leute waren leider ein wenig aufdringlich.“
Sie ging neben ihm in die Hocke, strich mit einer Fingerkuppe über das Drachenmal. Ihr schmales Gesicht zeigte vollkommene Beherrschung. Sie ließ sich nicht leicht provozieren und würde ihm nicht freiwillig Gelegenheit bieten, ihren Schwachpunkt herauszufinden.
„Ich suche dich bereits seit dreißig Jahren. Und spar dir die Kommentare über mein Aussehen. Ja, ich sehe aus wie Anfang zwanzig, bin aber bereits knapp zweihundert Jahre alt. Und ja, ich habe Elfenblut in mir. Meine elfische Großmutter hatte eine fruchtbare Beziehung zu einem Menschen. Meine Mutter ebenfalls. Ich bin also zu einem Viertel Elfin. Das macht mich unsterblich. Keine weiteren Vorteile oder Fähigkeiten.“
„Dann überschätzt du die Nachtsicht eines gewöhnlichen Menschen, meine Liebe“, erwiderte Sayid. An der Art, wie sich ihre Augen verengten erkannte er, dass er keinen Zugang zu dieser Frau bekam, solange er nicht in ihr Spiel einstieg.
Bevor er etwas sagen konnte, meldete sich einer der schwer bewaffneten, finster dreinstarrenden Männer an ihrer Seite zu Wort.
„Yllanya, bist du dir wirklich sicher, was diesen Kerl angeht? Ich meine, er ist nicht schlecht, hat gut gekämpft, ist schnell und alles, aber schau ihn dir an! Diese zerrupfte, dreckige, hagere Gestalt hat nichts mit den Bildern und Statuen der Drachenreiter zu tun, die man noch finden kann. Und was er auf der Straße geboten hatte, sah nicht nach der legendären Kraft und Ausdauer aus, die ich mir vorgestellt habe.“
„Er ist eine Straßenratte, was erwartest du?“, erwiderte Yllanya gelassen. „Seit einhundertneunzehn Jahren versteckt er sich vor den Magiern und deren Häschern, die genau wissen, dass er noch lebt. Aus dem einfachen Grund, weil man seine Leiche nirgends gefunden hat. Ich bin ihm drei Jahrzehnte gefolgt, jedem windigen Gerücht nachgegangen und ihm dabei einige Male nahe gekommen.“ Sie wandte sich ihm wieder direkt zu. „Vielleicht erinnerst du dich an das Feuer vor zwei Jahren, in dem Haus, in dem du untergekrochen warst? Das hatte ich gelegt, um dich zu töten und anschließend deiner Leiche habhaft zu werden.“
Sayid zog verblüfft die Augenbrauen hoch – das war ziemlich radikal. Das Feuer hatte sieben Menschenleben gefordert, er selbst war mit schwersten Verbrennungen davongekommen. „Ein gewitzter Dieb ist er, sein größtes Talent besteht im Überleben und Fliehen. Er hat sich in den Gassen sämtlicher Städte des Reiches in die Schatten gekauert, von Abfällen ernährt. Niemand hat ihm beigebracht, wie ein Krieger zu kämpfen, niemand hat sich je um ihn gekümmert. Und auch er kümmert sich um nichts und niemanden als sich selbst. Und das Wichtigste: Er hat keinen Drachen zum Gefährten, von dem er die Hälfte seiner Kraft beziehen würde. Ist es nicht so, Drachenreiter?“
„Mein Name ist Sayid und mir ist nie eine geflügelte, feuerspeiende Riesenechse begegnet, die sich mit meiner Seele verbinden wollte, Shilauty sei Dank“, entgegnete er würdevoll. „Höre ich richtig heraus, dass ich gerade die Aufnahmeprüfung verfehlt habe?“ Nicht, dass er zu irgendeiner Gruppe dazugehören wollte.
„Du hast mit Glanz und Glorie bestanden, Sayid. Schon allein, weil du der einzige Anwärter bist und wir dich brauchen.“
„Ah, das ist der Punkt, an dem wir zum Geschäftlichen kommen? Hervorragend. Ich liege zwar gerne angekettet und halbnackt zu Füßen einer atemberaubend schönen Frau, aber mir sind entschieden zu viele Zuschauer dabei.“
Yllanya zwinkerte ihm zu, statt pikiert aufzustehen und sich von ihm zu entfernen. Ein gutes Zeichen, wenigstens war sie nicht gänzlich humorlos und verbittert, wie so viele andere Elfenmischlinge, die ihm bislang begegnet waren.
„Erzähl mir, meine Schöne, warum hast du mich dreißig Jahre lang gejagt? Und dabei das Leben jedes armen Tropfes riskiert, der das Unglück hatte, sich in meiner Nähe aufzuhalten?“
„Es gibt unter den Elfen eine Prophezeiung“, begann sie. Sayid verdrehte stöhnend die Augen.
„Himmlische Gnade, es gibt immer irgendwelche Prophezeiungen unter den Elfen! Genau wie Legenden, Visionen, Gedichte und traurige Lieder!“
„Das ist ihre Aufgabe in dieser Welt“, fauchte Yllanya. „Und du weißt genau, dass alle elfischen Prophezeiungen wahr werden können!“
„Wenn man sich sklavisch an jeden Punkt hält, der Wind niemals von Norden weht und keine Sonnenfinsternis in den Weg kommt, ja, dann schon! Aber auch nur, wenn man den richtigen magischen Spruch zur rechten Zeit am rechten Ort zu zitieren weiß und man niemals an Shilautys heiligen Tag Fisch verspeist hat. Oh, und was soll ich sagen? Der war vergangene Woche und ich hatte eine halbe, fast frische Makrele.“
Sayid zwang sich, tief durchzuatmen, statt weiteren Unsinn zu plappern. Er hasste elfische Prophezeiungen. Zu viele Menschen, die er geliebt hatte, waren auf Grund irgendwelcher Prophezeiungen und Legenden gestorben, seine Eltern an erster Stelle. Die meisten, weil sie geglaubt hatten, sie könnten die Vorherrschaft der Magier brechen.
In Yllanyas Blick flackerte etwas.