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Maondnys vielschrittiger Tanz mit dem Schicksal findet ein Ende. Nur wenn die Herrscher der Elemente bereit sind, die Steintänzerin ihrer Bestimmung folgt und Roens Orms Tore sich für sie öffnen, kann sie ihr Ziel erreichen. Doch welchen Preis muss sie zahlen? Welches Opfer muss sie erbringen, welches Unglück zulassen, um noch größeres Unheil abzuwenden? Gemeinsam mit Inani und Thamar kämpft sie um die Zukunft zweier Welten. Doch der Schlüssel zu allem liegt in der Vergangenheit … Ca. 67.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 320 Seiten
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Maondnys vielschrittiger Tanz mit dem Schicksal findet ein Ende. Nur wenn die Herrscher der Elemente bereit sind, die Steintänzerin ihrer Bestimmung folgt und Roens Orms Tore sich für sie öffnen, kann sie ihr Ziel erreichen. Doch welchen Preis muss sie zahlen? Welches Opfer muss sie erbringen, welches Unglück zulassen, um noch größeres Unheil abzuwenden? Gemeinsam mit Inani und Thamar kämpft sie um die Zukunft zweier Welten. Doch der Schlüssel zu allem liegt in der Vergangenheit …Das furiose Finale der vierteiligen Fantasy-Saga!
Ca. 67.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 320 Seiten
Roen Orm
4.Teil
Herrscher der Elemente
von
Alexandra Balzer
Für Ralph. Ich liebe dich.
Wenn die Töchter der Dunkelheit, die Söhne des Lichts und die Kinder des Zwielichts einander umarmen, dann finden alle Kräfte ihr Gleichgewicht. Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Vergehen und Entstehen, Leben und Tod:
Alles herrscht gemeinsam, in vollkommener Eintracht.
Gemeinsam sind sie die Herrscher der Elemente, gemeinsam gibt es keine Grenze, die sie nicht überschreiten können.
Wenn Hass und Feindschaft, Liebe und Freundschaft nicht mehr zwischen ihnen steht, werden sie von nichts mehr zu trennen sein, nicht vom Schicksal, nicht von den Göttern.
Vollkommenheit.
Gleichgewicht.
Stillstand.
Bis der Moment vergeht, und die Allianz der Mächte zerbricht, wie alles in dieser Welt.
Glaubst du an die Vollkommenheit?
An die Herrschaft der Elemente?
Zweifle!
Denn ich sagte: Wenn …
„Wage alles und sieh dann, was es zu gewinnen gibt!“
Sprichwort der Famár
astlos drehte Ilat sich in seinem Bett herum. Es war viel zu heiß, um an Schlaf auch nur zu denken, und seine Gedanken liefen unentwegt im Kreis. Noch immer hielt Rynwolf ihn mit Versprechungen hin. Wäre es nach ihm, Ilat, gegangen, hätte er längst ein paar Provinzfürsten als Geiseln genommen. Oder Krieg gegen irgendjemanden begonnen, egal wen. Er musste raus, raus aus diesem Gefängnis namens Roen Orm! Auf einem Pferderücken, das Schwert in der Hand, quälten ihn keine Gedanken. Keine Stimme, die von Versagen flüsterte. Kein Verlangen nach Blut und Schmerz.
Etwas Kaltes, Feuchtes, streifte seine Wange. Ärgerlich schlug Ilat die Lider auf. Nebel? In seinem Schlafzimmer?
Er schloss die Augen wieder. Lästig, diese Träume. Man sollte nicht spät abends schweren Branntwein trinken. Zumindest nicht mehr als sechs Becher.
„Nun sieh mich endlich an!“, befahl eine spöttische Stimme. Ilat dachte kurz nach. Er kannte diese Stimme, es war keine von seinen eigenen. Die Stimme einer Frau. Widerwillig gehorchte er und blickte auf. Dort saß tatsächlich eine Frau, viel zu hübsch, um eine seiner von Trunkenheit erzeugten Einbildungen zu sein. Falsch. Viel zu schön, um wirklich zu sein. Jammerschade!
„Inanna, oder?“, murmelte er.
„Dicht dran, mein König.“ Die rothaarige Gestalt an seinem Bett lächelte sanft. Doch, er kannte sie, sie war die Tochter einer Hexe.
„Imare?“, versuchte er es noch einmal und gab dann missmutig auf. Wen interessierten Namen?
„Inani. Du kannst allerdings jeden anderen Namen wählen, der dir gefällt“, beschied sie ihm lachend. Ilat verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte die Erscheinung an. Wenn seine Träume immer solche rassigen Weiber hervorbringen würden, könnte er sich glatt das Aufwachen abgewöhnen!
„Ich will dir den einen oder anderen Vorschlag machen, der dir gefallen könnte, Ilat.“ Sie drehte sich ein wenig, was ihm einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté gewährte, und das mit Absicht, wie ihr Lächeln bewies. Er griff nach ihr, aber sie schlug ihm auf die Finger.
„Ah, ah, nicht so hastig, werter König“, ermahnte sie ihn lächelnd. „Es ist kein Zeichen mangelnder Bildung, dass ich dich duze oder so wenig Respekt und Angst vor dir zeige. Du weißt genau, was ich bin, nicht wahr?“
Ungeduldig verdrehte Ilat die Augen. „Du bist eine Hexe, ja. Na und? Muss ich mich jetzt fürchten?“, fragte er gelangweilt.
„Ein bisschen vielleicht. Ich kann dich auf tausend verschiedene Arten quälen und töten, wenn ich das will.“ Ihre Iriden schimmerten in einem noch tieferen Blau als zuvor, nur ganz kurz, als sie ihre Hand auf seinen Bauch legte. Intensiver Schmerz durchzuckte Ilats Körper, von solcher Gewalt, dass er nicht einmal schreien konnte. Nur einen Moment später lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und rang keuchend um Atem, blind vor Tränen. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war, wusste nur, die Schmerzen waren fort, und einen Herzschlag lang war er bereit alles tun, damit sie niemals wiederkämen. Doch Ilat war kein Mann, der sich leicht einschüchtern ließ. So würdevoll wie es ihm möglich war rappelte er sich auf, starrte finster auf die Hexe nieder, die ruhig auf seinem Bett saß – seinem Bett! – und ihn beobachtete.
„Wenn du mich zu Tode foltern wolltest, hättest du nicht aufgehört“, knurrte er, zitternd vor kaum beherrschtem Zorn. „Du willst etwas von mir, Hexe. Also, ich lausche!“
„Heirate mich, Ilat. Mach mich zu deiner Königin und lass zu, dass ich Rynwolf vernichte. Er ist der Mörder meiner Mutter, ich will ihn sterben sehen. Die Zeit ist reif dafür, ich bin stark genug geworden, mich mit ihm zu messen.“ Sie trat dicht an ihn heran. „Du bekommst meinen Körper, Ilat. Ich ertrage großen Schmerz und kann mich selbst heilen, du könntest mit mir spielen, ohne dich je zurückhalten zu müssen. Du gewinnst mit mir eine Königin, die das Volk anbeten wird, und meine Magie wird deine Feinde zerschmettern. Gib mir den Thron an deiner Seite, und all das hier ist dein.“ Sie zerriss achtlos ihr Kleid, nackt stand sie vor ihm. Ilat verschlug es den Atem. Die adligen Damen, die für gewöhnlich seine Laken wärmten, waren entweder magere junge
Mädchen oder üppige weiche Frauen. Dieser Körper hingegen war sichtlich nur an einer Stelle weich und üppig und ansonsten von oben bis unten eine einzige sinnliche Verlockung. Gelassener Spott lag in dem eisblauen Blick, Intelligenz, große Kraft, verborgener Schmerz. Ilat studierte das schöne Gesicht, seine Faszination war mittlerweile größer als die sexuelle Gier.
„Du trägst bereits großen Schmerz in dir“, sagte er nachdenklich und ergriff ihre Hände. Irgendetwas an ihren Handgelenken war seltsam, die Haut schien makellos, und doch prickelte es in seinem Nacken, als er sie dort berührte. „Du verbirgst dich hinter deinem Spott und deiner Magie, um deine Narben nicht zeigen zu müssen.“ Er stellte sich hinter sie, fuhr zärtlich über ihre schmalen Schultern. Spürte die harten Muskeln, die sich unter seinen Fingern anspannten. Das hier war eine Kriegerin, so widersinnig es klingen mochte. Frauen kämpften nicht, sie wurden beschützt. Für Hexen galten wohl andere Regeln.
„Du gibst dich mir hin, wenn ich dir zu deiner Rache verhelfe?“, fragte Ilat, während er wieder vor sie trat, ganz dicht an sie heran. Er strich mit dem rechten Zeigefinger über ihren Hals hinab, zwischen ihre Brüste. Ihr Blick verhärtete sich, dennoch spürte er keine Angst und sie zuckte nicht zurück. O ja, sie würde sich ihm darbieten. Nicht aus Lust, und auch nicht mit jener selbstzerstörerischen Gleichgültigkeit, die Ilat schon bei einigen Frauen erlebt hatte. Frauen, die unter der Hand von Männern gelitten hatten, bis sie einen Schutz um ihre Seele legen konnten, durch den kein äußerer Schmerz mehr drang. Diese Hexe hatte gelitten, zweifellos, und der Schutzring um ihre Seele war aus unzerstörbarem Stahl. Aber es war kein Mann, der ihr das angetan hatte. Sie würde anders auf ihn reagieren, wenn dem so wäre. Diese Härte … Und noch etwas anderes. Sie liebte einen Mann, er spürte es. Sie war verliebt und begann trotzdem dieses Spiel mit einem wahnsinnigen König. Faszinierend, gewiss.
„Sag mir, wovor du Angst hast“, befahl er. Die Hexe zögerte. Einen Moment lang wirkte sie jung, beinahe mädchenhaft, und verletzlich. Sie sah kurz zu Boden, danach hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
Ja, sie musste ihm ihre Angst offenbaren, das war ihr klar.
Ilat genoss diesen winzigen Anblick von Schmerz und die Macht, die er nun besaß. Sie wollte etwas, das nur er ihr geben konnte, darum musste sie sich beugen.
„Sag es mir, sonst kannst du gehen!“
„Ich fürchte mich davor zu lieben, geliebt zu werden und diese Liebe zu verlieren“, bekannte sie tonlos.
Ilat nickte. „Also bist du unangreifbar für mich, denn ich kann dich nicht lieben, und du wirst wohl außer Mitleid und Verachtung nichts für mich fühlen. Was ist mit dem Mann, den du liebst?“
Sie zog die Augenbrauen hoch, versuchte aber nicht zu leugnen, was Ilat so deutlich erkannt hatte.
„Er fürchtet sich davor, dass er meine Liebe nicht verdient haben könnte und sie dadurch verlieren wird.“
„Ein Zweifler also? Und, hat er sie verdient, deine Liebe und Aufmerksamkeit?“
„Mehr als du“, parierte Inani in dem gleichen spöttischen Tonfall, mit dem er gefragt hatte.
Ilat seufzte. Er konnte sie nicht beherrschen, es war deutlich spürbar, dass sie nicht gelogen hatte und nur diese einzige Schwäche besaß. Diese Hexe war ihm mehr als ebenbürtig, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Ob ihm das gefiel, konnte er nicht entscheiden.
„Vielleicht will ich dich gar nicht?“, sinnierte er und zog sich einen Schritt von ihr zurück. Inani stutzte, einen Moment lang überrascht, doch sie ließ sich von ihm nicht täuschen.
„Was dein Körper will, Ilat, ist nicht zu übersehen“, sagte sie leichthin. „Verlangst du mehr? Weder meine Seele noch mein Herz stehen zu Gebot. Du kannst diesen Leib als Spielzeug haben, sobald er von Roen Orms Krone geschmückt wird, du kannst dir meine Magie nutzbar machen und die Welt unterwerfen. Was willst du noch?“
„Nichts mehr“, murmelte er. Schwermut überflutete sein Bewusstsein, schwarzes, hoffnungsloses Nichts. Er wollte nicht denken. Am liebsten hätte er Inani genommen, sofort, mit Gewalt, sie getötet und sich so seine Ruhe gesichert. Er wusste, dieser Frau war er nicht gewachsen, und sie würde mehr von ihm verlangen, als er geben konnte. Sollte er sie wegschicken? Konnte er ein solches Angebot ausschlagen?
Nein. Er wollte spielen. Er brauchte alles, was sich bot, um sich vor der großen Leere in seinem Inneren abzulenken. Die Stimmen fernzuhalten, die ihn quälten, wann immer er nüchtern war.
Erschöpft taumelte Ilat zu seinem Bett und ließ sich schwer niederfallen.
„Ich kann auf Rynwolf nicht verzichten, ich plane Krieg, einen großen, wichtigen Krieg. Es würde zu Unruhen kommen, wenn der Erzpriester jetzt stirbt, so wie damals bei Garnith. Schlimmer noch, denn durch den nahenden Tod meines Vaters waren alle abgelenkt.“ Er musterte sie vorwurfsvoll. „Wart ihr das auch, ihr Hexen?“
„Garnith starb durch meine Hand“, grollte sie, und für einen Moment lang leuchteten ihre Augen wie Bernstein. „Ich war es, die ihn über Jahre hinweg in den Wahnsinn trieb, aus Rache für das, was er Unschuldigen angetan hatte. Sei unbesorgt, Ilat, Rynwolf würde weder heute noch morgen sterben. Gewähre mir deinen Schutz und lasse dich ein auf mein Spiel. Es wird dir gefallen, es beinhaltet Gewalt, Intrigen, Lügen und Täuschung. Sei auf meiner Seite, wir werden viel Spaß haben. Wenn du mich hast, wirst du keinen Rynwolf mehr brauchen, um Krieg führen zu können.“ Nun schnurrte sie wieder wie ein Kätzchen, diese kleine Bestie, schmiegte sich an ihn, biss spielerisch in seine Schultern. Ilat seufzte erneut. Nein, er konnte dieses Angebot nicht ausschlagen. In den Krallen dieser Raubkatze umzukommen war vielleicht nicht die schlechteste Art zu sterben …
„Es sei“, sagte er. „Rynwolfs Tod und der Thron dieser Stadt als Bezahlung für jegliche Art von Kurzweil und Macht, die du mir bieten kannst.“
„Roen Orm“, flüsterte Inani, Triumph glühte in dem stolzen Gesicht.
„Roen Orm“, bestätigte Ilat. O ja, er hatte die ewige Stadt an eine Hexe verkauft, ohne zu wissen, ob sie ihm wirklich geben würde, was sie versprach. Es war ihm gleichgültig, sollte sie eben untergehen, diese Stadt! Aber möglicherweise gab es doch einen Weg, Inani in die Knie zu zwingen? Sie zu zerbrechen? Eventuell, indem er jenen Mann fand, dem ihr Herz gehörte?
Nur wer wagt, kann gewinnen!
„Friede. Wir betreten euer Gebiet nicht, ihr achtet unsere Grenzen. Wer sich nicht daran hält, wird umgebracht und ist schuld an der neuen Fehde.“
Traditionelle Worte zum Schluss eines Waffenstillstandes zwischen zwei Loy-Sippen
iven starrte orientierungslos in das Blätterdach über seinem Kopf. Avanya und er waren die ganze Nacht lang gewandert, sie befanden sich mittlerweile tief im Gebiet der Bussard-Loy. Es war zu gefährlich, hier tagsüber unterwegs zu sein, deshalb hatten sie sich ein Versteck zum Schlafen gesucht, Eiven in der Krone eines dicht gewachsenen Baumes, Avanya unter einem Busch. Es musste später Nachmittag sein, entschied Eiven. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ob sich Loy in der Nähe befanden?
Ein unterdrückter Schrei trieb ihn hoch. Avanya!
Mit einem Satz war er am Boden, eilte lautlos in die Richtung, aus der nun Gelächter zu hören war, und duckte sich in den Schutz des Unterholzes, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Vier junge Loy-Krieger, offenbar eine Patrouille, umringten Avanya. Es schien, als hätte Durst Eivens Gefährtin aus ihrem Versteck getrieben, denn die Gruppe befand sich neben einer Quelle, die an dieser Stelle unter den Wurzeln eines gestürzten Baumes entsprang.
„Was bist du überhaupt?“, rief einer der Krieger in dem Moment, als Eiven in Hörweite kam, und stieß Avanya dabei hart gegen die Schulter. Eiven kochte das Blut in den Adern, er kannte diesen Tonfall. Diese Gewissheit, ein hilfloses Opfer vor sich zu haben. Die Vorfreude auf die Angstschreie, die man diesem Opfer noch entlocken wollte. Er klammerte sich an einen Baumstamm, um nicht blindlings auf die Loy zu springen und sie mit bloßen Händen zerreißen zu wollen. Wenn auch nur einer von ihnen es wagen sollte, Avanya zu verletzen, würde es Tote geben! Bislang beschränkte es sich auf Spott und raue Späße, die Avanya mit brütender Gelassenheit ertrug. Eiven hatte nur eine ungefähre Vorstellung von ihrer Kampfkraft. Sie war extrem schnell und wendig, dazu ausdauernder und stärker, als ihr zerbrechlicher Körper vermuten ließ, dies alles hatten die Kämpfe gegen die Saduj bewiesen. Ob die kleine Kriegerin es mit vier jugendlichen Loy aufnehmen konnte? Ob die Beinverletzung, die zumindest ihre Fähigkeit zu laufen nicht einschränkte, sie in irgendeiner Weise behindern würde?
„Ich bin eine Nola“, sagte Avanya laut. Ihre helle, kristallklare Stimme trug weit, Eiven zuckte unbehaglich zusammen. Hoffentlich lockte sie nicht noch weitere Loy an, sonst wäre alles verloren!
„Eine Nola? Und was sonst? Nolas sind Geschichten, sonst nichts!“
„Hm, ich weiß nicht, sieh sie dir an, Lishar, ein Mensch ist sie auf jeden Fall nicht“, mischte sich einer der Krieger ein, der bislang das Treiben seiner Gefährten nur still beobachtet hatte.
Eiven wusste, es gab nur geringe Aussicht, diese Begegnung unblutig zu beenden. Wenn überhaupt, dann musste er jetzt hervortreten, solange sie noch zweifelten, bevor die jungen Krieger sich gegenseitig zu Dummheiten aufschaukeln konnten.
„Sie ist eine Nola, wer Augen hat zu sehen, kann sie nicht für irgendetwas anderes halten!“, sagte er, während er langsam, mit erhobenen Händen, auf die kleine Gruppe zutrat. Alle vier Krieger wirbelten herum, zwei bedrohten ihn sofort mit ihren Speeren, während die beiden anderen Avanya im Blick hielten. Die Nola verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Eiven, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Ob sie sich wunderte, dass er ihr gegen seine eigenen Artgenossen beistand?
„Wie viele hocken noch dort im Gebüsch?“, fragte Lishar gereizt und presste die Metallspitze seines Speeres gegen Eivens Brust.
„Niemand mehr. Ich begleite die Nola nach Roen Orm.“
„Und das ausgerechnet durch unser Gebiet?“ Lishar verstärkte den Druck minimal, die Spitze drang durch Eivens Lederweste, verletzte ihn aber nicht. Noch nicht.
„Ich bin Eiven von der Adlersippe. Es gibt keinen geeigneteren Weg nach Roen Orm als durch euer Gebiet. Wir sind nachts gewandert und wollten eigentlich jede Berührung mit den Bussarden vermeiden.“
„Du bist der Bastard, nicht wahr?“ Der zweite Krieger, der Eiven bewachte, hob seinen Speer, drückte mit der Waffe gegen die Wange seines Gefangenen, zwang ihn so, den Kopf zu drehen.
„Haben sie dich ausgestoßen? Sollen wir dein Elend sofort beenden?“ Er zog den Speer ein Stück hinab, wobei er oberflächlich Eivens Haut aufritzte, von der Schläfe hinab bis zum Kinn.
„Lasst ihn in Ruhe!“, grollte Avanya drohend. Sofort hoben ihre Wächter die Waffen, bereit, sie bei der geringsten Bewegung zu töten.
„Ich bin kein Ausgestoßener.“
„Du bist allein in feindlichem Gebiet. Was solltest du sonst sein, Bastard?“, fragte Lishar höhnisch.
„Soweit ich weiß, sind die Bussarde keine Feinde der Adler. Und ich bin nicht allein, ich begleite die Nola“, erklärte Eiven mit erzwungener Ruhe.
„Mir gefällt die ganze Sache nicht“, murmelte der stille Krieger, der bei Avanya stand. Offenbar war er der Anführer der Gruppe, denn die anderen drei Krieger blickten ihn sofort an.
„Was denkst du, Triyak?“
„Wenn er wirklich ein Begleiter ist, würde seine Geschichte schon Sinn ergeben, es gibt keinen besseren Weg nach Roen Orm. Wir Bussarde sind die einzige Sippe, mit der die Adler beinahe verbündet sind, durch das Gebiet der Falken oder der Eulen zu gehen wäre Selbstmord. Um Erlaubnis zu fragen hätte womöglich den Frieden gefährdet; man würde auch gewiss nicht gleich mehrere gute Krieger auf Monate, vielleicht sogar Jahre wegschicken. Außerdem war Niyam von der Adlersippe jahrelang in der großen Stadt, ohne ein Ausgestoßener zu sein.“ Triyak schritt auf Eiven zu und musterte ihn intensiv.
„Dagegen spricht allerdings, dass wir zahlreiche Gerüchte von einem vermissten Adlerkrieger gehört haben“, sagte Lishar. „Die meisten Gerüchte behaupten, es wäre der widerliche Bastard, der verloren gegangen ist. Wer kann uns sagen, ob du nicht einfach feige von deiner Sippe abhauen willst, und die Nola nur zufällig deinen Weg kreuzte? Sie ist zwar ein bisschen arg klein geraten und bleich wie Vogeldreck, aber vielleicht gefällt einem Bastard so etwas ja?“ Lishar senkte seine Waffe, drückte seinen Speer in Eivens Haut, knapp unterhalb des rechten Schlüsselbeins – nicht tief, trotzdem blutete es sofort. Eiven ballte die Fäuste, ließ sich den Schmerz allerdings sonst nicht weiter anmerken.
Plötzlich stöhnte jemand hinter ihnen; sie wirbelten alle zugleich herum. Avanya presste ihr Schwert in den Nacken des Loy, der einen Moment zuvor noch ihr Wächter gewesen war, nun hingegen bewusstlos am Boden lag.
„Wenn euch sein Leben irgendetwas bedeutet, lasst ihr jetzt die Speere fallen und hört auf das, was Eiven zu sagen hat“, befahl sie mit eisiger Stimme. Ihre Perlenaugen schossen tödliche Blitze. Verblüfft starrten alle sie an, Eiven eingeschlossen. Lishars Miene verfinsterte sich.
„Wenn dir das Leben des Bastards irgendetwas bedeutet, solltest du Miro freilassen!“ Er verstärkte den Druck auf seine Waffe, Eiven zischte leise vor Schmerz.
„Lishar“, begann Triyak, hob die Hand, wohl, um den jüngeren Krieger von Dummheiten abzuhalten. Doch in diesem Moment rauschte es plötzlich über ihren Köpfen, der Himmel verdunkelte sich, bevor die Flügelpferdstute mitten unter ihnen landete. Sie schritt zu Avanya hinüber, witterte kurz an dem bewusstlosen Loy zu ihren Füßen, drückte dann ihren Kopf gegen die Schulter der Nola. Avanya lehnte sich an den mächtigen Körper der Stute und streichelte ihren Hals. Entgeistert starrten die Bussard-Loy auf dieses Geschöpf, das ebenso Legende war wie die Nola selbst. Avanya ließ zu, dass die Stute sie mit sich drängte, fort von Miro, und schritt gemeinsam mit ihr zu Eiven hinüber. Die Krieger ließen hastig ihre Waffen sinken und wichen von Eiven zurück, bis die Flügelstute zwischen den beiden Gruppen stand – Eiven und Avanya auf der einen Seite, die vier Bussarde auf der anderen.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Triyak schließlich heiser.
„Wir haben diesem Flügelpferd geholfen, jetzt hilft es uns. Wir beide wollen nicht gegen euch kämpfen oder euren Familien schaden, wir wollen einfach nur so schnell wie möglich durch euer Gebiet gelangen und nach Roen Orm ziehen“, erwiderte Eiven.
„Ihr könnt gehen“, sagte Triyak entschieden. „Haltet euch nördlich. Wenn ihr nicht zu lange pausiert, seid ihr noch vor Sonnenuntergang in den Großen Ebenen, ohne in die Nähe unserer Wohnbäume zu geraten.“
„Triyak!“, murrte Lishar, doch der ältere Krieger schüttelte ungeduldig den Kopf.
„Eiven mag sein was er will, ein Feigling ist er nicht. Wer sich mit nichts als einem lächerlichen Messer im Gürtel freiwillig vier Wächtern stellt, um einer Sippenfremden beizustehen, ist entweder wahnsinnig oder sehr mutig. Wahnsinn habe ich bei ihm nicht gesehen.“ Er nickte Eiven anerkennend zu. „Außerdem erzählen alle Legenden, dass Flügelpferde nur denen helfen, die es verdient haben, oder? Geh, Eiven, nimm die Nola mit dir. Es soll nicht die Schuld der Bussarde sein, dass der Frieden mit den Adlern zerbricht, oder die Finsternis der Legendenzeit sich wiederholt.“
Das Flügelpferd schnaubte leise und senkte den Kopf vor Triyak.
Eiven nahm Avanya bei der Hand und zog sie mit sich Richtung Norden, den Blick fest auf die Krieger gerichtet, bis er sicher war, dass niemand sie hinderte zu gehen.
Als die beiden verschwunden waren, erhob sich die Flügelpferdstute in die Luft. Miro war mittlerweile aufgewacht und starrte dem wunderschönen Geschöpf hinterher.
„Was bei allen Sturmwinden war das?“, rief er keuchend.
„Der Beginn einer neuen Zeit. Oder die Rückkehr der alten Zeiten. Wer weiß das schon?“, murmelte Triyak erschüttert.
„Ich stand vor dem Splitter der Pya. Es war ein Baum, nichts als ein schlichter Baum. Eine Eiche, verkrüppelt und augenscheinlich tot.“
Übersetzung eines nagaurischen Dokuments
hamar stand bereits seit dem Morgengrauen vor der toten Eiche. Er wusste, dies war ein Splitter von der Flöte Pyas. Das Dokument hatte ihm die genaue Beschreibung geliefert, wie er hierher finden konnte, es war so leicht gewesen.
„Wie die Götter sagten, fand ich den Baum.“
Er kannte den gesamten Text auswendig, jedes einzelne Wort, das er übersetzt hatte.
„Ich wusste nicht, was geschehen würde, wusste nur, ich soll ihn berühren, wenn Ti und Pya gemeinsam am Himmel wachen. Also wartete ich, bis Pyas Auge erschien. Dann berührte ich den Baum und verlor alles, was ich war, alles was ich bin, alles, was ich hätte sein können.“
Thamar wartete geduldig auf ein Zeichen von Maondny. Wenn sie nicht zu ihm sprechen wollte, würde er ebenfalls warten, bis Sonne und Mond am Himmel scheinen würden, obwohl die Wolken so dicht waren, dass er diesen Zeitpunkt vermutlich gar nicht bestimmen konnte. Immer vorausgesetzt, der Mond würde heute schon am Tag aufgehen wollen. Eigentlich war er auch sicher, dass dies nicht das war, was Maondny beabsichtigt hatte. Der nagaurische Fremde war durch Raum und Zeit geschleudert worden, tausende Jahre in die Zukunft, aus keinem anderen Grund, als ihm, Thamar, eine Botschaft zu hinterlassen, wo der Splitter zu finden war. Der bloße Gedanke an dieses Schicksal zerriss sein Herz! Maondny wollte ihn allerdings nicht auf eine ähnliche Zeitreise schicken, sie wollte, dass er einen Splitter dieses göttlichen Artefakts zu ihr brachte. Zumindest glaubte er das.
„Maondny, sprich mit mir, ich bin hier!“, dachte er. „Selbst, wenn ich jetzt noch auf den richtigen Augenblick warten muss, bitte, sprich mit mir. Ich habe Angst vor diesem Splitter. Es scheint nur ein Baum zu sein, aber wenn man ihm nahe ist, spürt man einfach, er ist so viel mehr!“
„Das ist er, Thamar, er ist viel mehr.“
Ihre Stimme beruhigte seine aufgewühlten Sinne, erleichtert atmete er auf.
„Nur wer weiß, was er ist, kann ihn sehen. Vor einem Monat hättest du an diesem Splitter vorüber schreiten können, in seinem Schatten schlafen, und ihn niemals bemerkt. Kein Tier, kein Lebewesen, nicht einmal Regen oder Staub kann zu ihm vordringen. Neben mir und dir selbst könnte nur noch Ronlad diesen Ort finden und den Splitter erkennen.“
Thamar lächelte bei der Erwähnung des alten Sonnenpriesters. Er hatte Janiel zum Tempel von Kashuum begleitet und den jungen Geweihten persönlich Ronlad vorgestellt, bevor er weitergezogen war. Hastig schob er den Gedanken an Janiel und Inani beiseite. Was diese beiden planten, war jenseits von Irrsinn und Tollkühnheit!
„Es entspricht Inanis Natur. Auf diesem Weg kann sie zerstören, was jene bedroht, die sie beschützen will. Sie benutzt ihr eigenes Leben ohne Rücksicht als Waffe. Es ist auch für Janiel wichtig, er muss die Fesseln der Vergangenheit abstreifen, um sich seinem wahren Ich zu stellen.“
„Werden sie sterben, Maondny?“, fragte er, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
„Ich weiß es nicht, Thamar. Wirklich nicht. Alles kann geschehen.“
Thamar konzentrierte sich auf den Baum vor ihm. Dieses verkrüppelte, tote Ding strahlte schwache Magie aus, er kannte dieses prickelnde Gefühl auf der Haut. Für ein Artefakt von göttlicher Macht eigentlich ziemlich wenig, um genau zu sein.
„In wenigen Minuten wird Pya das Auge von Ti teilweise verdunkeln, Thamar. Eine unvollständige Sonnenfinsternis, die auf Grund der dichten Wolkendecke kaum zu beobachten ist. Pya wird selbst blind sein in dieser Zeit, geblendet von dem Feuer ihres Himmelsbruders, dem sie wiederum die Sicht auf Enra versperrt. In diesem Zeitraum schläft die Magie. Sie verschwindet nicht gänzlich, eine Hexe, die im Nebel wandert, wird nicht ihren Weg verlieren, ein Sonnenpriester, der gerade das Feuer beschwört, nicht ohne Flammen zurückbleiben. So etwas würde nicht einmal bei einer vollständigen Sonnenfinsternis geschehen. Aber sie alle werden spüren, dass ihre Kräfte schwinden. Dieser Splitter wird seine ohnehin schon sehr geringe Energie für diesen kurzen Moment verlieren, und du kannst ihn berühren, ohne von seiner Kraft in den Strom der Zeit geschleudert zu werden.“
„Und dann? Was soll ich tun, was wird geschehen?“, drängte Thamar, als sie zögerte, weiterzusprechen.
„Der Splitter wird dich in sich aufnehmen, Thamar. Wenn Pya und Ti sich voneinander lösen, wird seine Magie wieder erwachen. Dein Körper wird an diesem Ort bleiben, dein Geist hingegen wird in den Zeitenstrom wandern. Dort werde ich auf dich warten“, flüsterte sie mit einem furchtsamen Ton in der Stimme.
„Mit welchem Ziel? Was soll dadurch erreicht werden?“
„Ich werde dich zurück an den Anfang aller Dinge dieser Welt führen. Es ist nur möglich, weil wir beide einander vertrauen. Ich kann dich vor dem Wahnsinn bewahren und davor, in der Unendlichkeit verloren zu gehen. Dort, am Anbeginn der Zeit, ist etwas geschehen, das den Splitter beinahe zerstört hätte. Wir beide gemeinsam können dies verhindern. Wenn das gelingt, gelangst du zurück zu deinem Körper, und du wirst dich von einem lebendigen, blühenden Baum lösen können. Von ihm nimmst du einen Zweig und bringst ihn mir. Es ist ein mächtiges Werkzeug reinster Magie, das einen neuen Zugang zur Heimatwelt der Elfen erschaffen kann.“
Wie erschlagen starrte Thamar auf die tote Eiche.
„Was bedeutet es für Enra, wenn der göttliche Splitter von Neuem zu voller Blüte erwacht?“, fragte er.
„Für Enra nichts, keinerlei spürbare Veränderung, denn er gibt kaum Energien ab und nimmt nichts von dieser Welt für sich. Für die göttlichen Geschwister bedeutet es sehr viel. Nur wenn die Splitter lebendig sind, kann irgendwann einmal die Flöte der Pya wieder erklingen und die himmlische Sphärenmusik den Schöpfer beglücken. Für mich bedeutet es alles.“
„Falls es nicht gelingt?“
„Dann, Thamar, bleiben die Elfen auf Enra gefangen. Unsere Heimatwelt wird untergehen, du wirst sterben, die Sphärenmusik verloren sein und das Schicksal aller Menschen dieses Zeitalters kann sich nicht erfüllen. Was allerdings nur bedeutet, dass sie ein neues Schicksal erfahren werden.“
Er lachte bitter, ohne zu wissen warum. All dies überstieg sein Begriffsvermögen.
„Maondny, nur noch eines: Haben die Götter wirklich vor tausenden von Jahren schon gewusst, dass es irgendwann ein Prinzlein geben könnte, der sich in eine Elfe verliebt, die von ihrem Vater in den magischen Zeitenfluss geschickt wurde und genau deshalb in der Lage ist, diesen Splitter zu retten?“
„Nein.“ Auch sie lachte, womöglich war es das einzige, was in diesem Wahnsinn noch sinnvoll war. „Es war eine winzige Möglichkeit unter unzähligen anderen. Die Götter wollten lediglich dafür sorgen, dass alles bereit ist, sollte sich diese unbedeutende Gelegenheit tatsächlich bieten. Gleichzeitig haben sie noch viele, viele andere Schritte unternommen, mit denen dieses oder jenes mögliche Schicksal gefügt, gehindert oder vorbereitet wird. Fast alle diese Schritte waren umsonst, doch das ist es nun einmal, was die Unsterblichen tun.“
„Sich gegen das göttliche Gesetz hemmungslos einmischen und unser Leben zerstören, statt es nur zu beobachten, meinst du?“
„Genau das meine ich. Aber tröste dich, normalerweise beobachten sie wirklich nur.“
Einen Moment lang schwiegen sie beide. Dann fragte sie verzagt: „Wirst du es tun, Thamar? Wirst du das Wagnis auf dich nehmen? Du hast die Wahl, es ist dein Leben. Du kannst dich umdrehen und fortgehen.“
„Maondny …“ Aufgewühlt schüttelte er den Kopf. „Glaubst du wirklich, ich würde dein Volk der Verdammnis überlassen? Und glaubst du, ich könnte auch nur einen Moment lang daran denken, auf die Begegnung mit dir zu verzichten? Sollte ich alles richtig verstehen, werden wir durch die Unendlichkeit reisen. Also, selbst wenn es für mich nur einige Augenblicke sein werden, unsere Seelen werden sich niemals wieder vollständig aus dem magischen Zeitenstrom lösen, nicht wahr?“
„So ist es. Ein Teil von uns wird für alle Zeiten dort zusammenbleiben können, während auf anderen Ebenen des Bewusstseins das Leben weitergeht. Du wirst diese ewige Reise tatsächlich nur als wenige Minuten empfinden und nichts davon spüren, dass etwas von dir zurückbleibt, das muss dir klar sein“, sagte sie warnend.
„Das ist mir gleich. Wenn ich weiß, dass irgendetwas von mir für alle Zeiten bei dir sein kann, das ist ein wunderschöner Gedanke.“
Er spürte ihre Freude, ihre tiefe Liebe, die sie mit ihm verband. Für sie wollte er alles wagen, es gab kein Opfer, das zu groß sein könnte.
„Sei bereit, die Finsternis hat begonnen. Du wirst spüren, wann der richtige Moment da ist.“
Thamar fühlte eine seltsame Schwere in sich. Der Wind hatte sich gelegt, er starrte in den Himmel, konnte jedoch nicht erkennen, wo die Sonne stand. Die Magie, die von dem toten Baum ausstrahlte, wurde immer geringer, bis dieses Prickeln vollständig verschwunden war.
„Jetzt!“, flüsterte er und trat einen Schritt vor. Einen Herzschlag lang hörte er etwas, ferne Musik, von solcher Vollkommenheit, dass er aufschreien wollte vor Glück. Dann war da Finsternis, Stillstand, und er wusste nichts mehr.
„Wer ohne Mutter aufwächst, wird nie der Göttin nahe sein. Wer ohne Eltern aufwächst, ob sie vom eigenen Blut sind oder nicht, ist für beide Götter verloren.“
Sprichwort der Hexen
era, Jordre und Ledrea verbrachten die Nacht in Merpyn, in einem leerstehenden Haus, das die Fren ihnen zuwies. Die Orn dieses Dorfes wichen weiterhin ängstlich vor ihnen zurück, niemand wagte, mit ihnen zu sprechen.
„Sie haben seit Jahrhunderten keinen Fremden mehr gesehen, außer Chelsa, die, ähnlich wie du, Jordre, als Findelkind hier aufgezogen wurde. Diese wenigen Orn sind die letzten Nachkommen einer großartigen Stadt. Es gibt nichts, keine Magie, kein Wunder auf dieser Welt, das diese Geschöpfe noch retten könnte“, sagte Ledrea traurig.
„Du weißt, woher ich stamme?“ Jordre wagte kaum, sie anzusehen. All die Jahre hatte diese Frage ihn beschäftigt, er musste sie auszusprechen. Auch wenn er nicht sicher war, ob er die Antwort hören wollte.
„Ja, das weiß ich. Du wirst es bald erfahren. Schon sehr bald.“
Mehr wollte Ledrea nicht sagen, sie zog sich von ihren beiden Gefährten zurück, erschöpft und voller Trauer, wies sogar Peras Anteilnahme ab.
Am Morgen kam Chelsa zu ihnen, eine alte Ornfrau schubste sie heran.
„Wusste immer, dass einer sie irgendwann holen kommt“, brabbelte die Alte. Ledrea schenkte den Dörflern Saatgut und Nahrungsmittel, die sie in ihrer Traumwelt entstehen ließ. Ausdrücklich nicht als Bezahlung für das Mädchen, doch niemanden kümmerte diese Erklärung. Chelsa stand derweil neben Pera, den Kopf gesenkt, und ließ sich mit keiner Frage dazu locken, auch nur ein Wort zu sprechen. Alles an ihr war scheu, zart und misstrauisch, stets bereit zur Flucht.
Sora packte das Mädchen schließlich und bewies damit, dass die Fren sich durchaus schnell bewegen konnte, wenn es zwingend sein musste.
„Chelsa, das sind Pera und Jordre. Sie werden dich begleiten und schützen.“
„Sie werden mich in den Tod begleiten und nur beschützen, bis ich an der richtigen Stelle zu sterben habe, nicht wahr?“, stieß Chelsa unter Tränen hervor.
„Die Prophezeiung ist nicht eindeutig, Chelsa“, widersprach Ledrea, aber das Mädchen schüttelte heftig den Kopf.
„Es heißt: Ihr Tod wird die Erde zerreißen. Was ist daran nicht eindeutig?“ Ihre wunderschönen grünen Augen starrten die Elfe vorwurfsvoll an, sie atmete heftig, bis sie schließlich die gesamte Prophezeiung zitierte:
„In fernen Tagen, wenn nicht viele mehr sind,
wird den Orn ein Mädchen geboren.
Unschuldig, zu schwach zum Kampf.
Ihre Schwäche ist ihre größte Macht.
Ihr Lächeln wird eine Rose gebären,
ihre Träume die Verlorene Blume wandeln.
Ihre Tränen werden einen Sturm entfesseln,
der auch dich, Osmege bindet.
Ihr Tod wird die Erde zerreißen.
Zwei einander verbundene Orn führen sie, hierher.
Sie wird auf dem Stein, der den Torweg versiegelt, tanzen.
Der Siegelstein, die Macht der Erde.
Marjcheog wird frei, sein Feuer frisst die Macht, die du nicht besitzt,
gezähmt von der Macht, die er nicht kennt.
Und die Elfen kehren heim, zu deiner Vernichtung.
In fernen Tagen, wenn nicht viele mehr sind.“
„Sagt es mir, was ist daran nicht eindeutig? Ich soll tanzen, was ich nicht kann, lächeln, was ich nicht will, und sterben, was ich auch nicht will. Was, wenn ich mich einfach weigere?“
Ledrea betrachtete sie mit mitfühlender Traurigkeit.
„Dann, kleine Orn, werden wir alle sterben. Pera und Jordre werden ihren Weg ohne dich gehen und im Kampf gegen den Finsteren versagen, die Magie, die ich als letzte Elfe Anevys wirkte, wird verloren sein. Sterben wirst du, Chelsa. Entweder in diesem Dorf oder in Osmeges Hallen. Welcher Tod schneller oder gnadenreicher sein wird, kann ich nicht sagen, denn ich bin keine Seherin.“
Chelsa starrte sie weiterhin an, weinte allerdings nicht mehr. Plötzlich verklärte sich ihr mageres Gesicht, und sie flüsterte: „Ich hatte schon immer einen Traum. Ich stehe im Auge eines Sturms, in völliger Dunkelheit. Der Lärm um mich herum muss gewaltig sein, doch ich höre nur eine leise Melodie. Sie ist so wunderschön, schöner als alles, was es gibt. Wenn ich aufwache, erinnere ich mich nicht mehr an das Lied.“ Sie starrte wieder Ledrea an, voller Wut diesmal. „Mir ist egal, was aus Merpyn oder dieser Welt wird. Nie hat jemand etwas für mich getan! Aber wenn die Prophezeiung dafür sorgt, dass ich dieses Lied besitzen kann, vielleicht nur in dem Augenblick, bevor es vorbei ist, dann auf. Gehen wir den Tod suchen!“
Mit erschrockener Miene riss sie sich von Sora los und rannte fort, außer Sicht zwischen die Trümmer der einst großartigen Stadt.
„Seltsames Ding“, flüsterte Pera Jordre zu. Er nickte, doch er konnte Chelsa nur zu gut verstehen. Niemand winkte dem Mädchen nach, niemand verabschiedete sich von ihr. Bei ihm hatte es wenigstens den einen oder anderen gegeben, der ihm zeigte, dass man ihn vermissen würde, die meisten allerdings hatten sich mehr oder weniger offen gefreut, den Fremden, den Eindringling loszuwerden. O ja, er verstand Chelsas Wut, und an Peras Gesichtsausdruck erkannte er, dass seine Liebste zumindest verstehen wollte.
„Die Liebe brennt gleich verzehrenden Flammen, oh Herr, in meiner Brust. Die Ehrfurcht vor deiner Größe, mein Gott, raubt mir den Atem.“
Gebet der Verehrung für Ti
ynwolf war gerade dabei, Janiels Kammer aufbrechen zu lassen, als Inani ihn zurückbrachte. Es hatte tatsächlich einen Tag und zwei Nächte gedauert, bis man ihn vermisste. In dieser Zeit hatte er sich der Aufmerksamkeit dutzender Hexen stellen müssen, hatte ein langes Gespräch mit der Königin geführt und ein noch viel längeres mit Ronlad. Ah, wenn er Inani nicht kennen würde, wäre er nicht mehr aus diesem Tempel inmitten der Wildnis fortgegangen! Hier wurde Ti verehrt, wie es dem feurigen Gott gebührte. Doch sein Schicksal war gebunden, darum hatte er schweren Herzens Abschied genommen, als Inani zu ihm kam.
Die Schreie vor der Tür bewiesen, dass man wohl schon ziemlich lange vergeblich versuchte, sich Zutritt zu verschaffen. Ein Glück, dass die schmalen Gänge keinen Platz für Rammböcke ließen und man keine Feuermagie riskieren würde. Die schwere Tür hielt dem Ansturm seiner Brüder stand – noch.
Trotz der Gefahr blieb Inani noch lange genug für einen Kuss, bevor sie sich als Kyphra unter Janiels Bett verbarg.
Er selbst warf sich hastig vor seinem Gebetsschrein nieder, holte seine Tjuva, das Gebetsamulett, hervor und nahm eine kauernde Haltung ein, während er lautlos Lobpreisungen auf Ti rezitierte. Er rührte sich nicht, als die Tür mit Luftmagie aufgerissen wurde.
„Janiel!“
„Ist er tot? Schnell, sprich!“
„Nein, Herr, er ist … Seht selbst …“
Janiel umklammerte weiterhin die Tjuva und reagierte nicht auf die Stimmen der Geweihten. Erst als Rynwolf ihn behutsam an der Schulter berührte, hob er zögerlich den Kopf.
„Was ist mit dir? Warum öffnest du nicht die Tür? Du siehst völlig erschöpft aus“, rief er besorgt.
Janiel fühlte sich verwirrt genug, sodass er sich nicht groß anstrengen musste, um Rynwolf zu überzeugen. Mühsam richtete er sich auf, blickte dabei desorientiert von einem Gesicht ins nächste.
„Ich habe gebetet, Herr“, flüsterte er. „Gebetet und meditiert.“
„Über zwei Tage lang?“ Rynwolf nahm ihm sanft die Tjuva aus den Händen und zog ihn hoch.
„Ja, Herr. Ich war Ti so nahe wie noch nie in meinem Leben. Ich habe ihn gespürt, tief in mir!“ Janiel spürte, dass er bei diesen Worten von innen her strahlte wie die Sonne selbst – nur, dass der Grund dafür in Schlangengestalt unter seinem Bett lag statt fern am Himmel zu leuchten. Rynwolf lächelte, als er ihn stützte, damit er nicht zusammenbrach.
„Ich wusste, du hast wirkliche Hingabe tief in dir, Janiel“, sagte er voller Stolz. Auch die Priester, die Rynwolf begleiteten, wirkten begeistert.
„Bringt ihm Wasser, er muss trinken und ruhen“, befahl er. Janiel ließ sich von seinen sonst so ablehnenden Mitbrüdern umsorgen wie ein krankes Kind, hielt dabei das entrückte Lächeln die ganze Zeit aufrecht. Sie verbanden seine Knie, die zum Glück noch von seiner Begegnung mit Thamar verschrammt waren und seine Brüder restlos überzeugten, dass er tagelang gebetet haben musste. Seine zahlreichen anderen Blessuren erklärte er verschämt mit Stürzen in Momenten der Schwäche. Sie bedauerten und bewunderten ihn zugleich, während sie ihm mit Verbänden und Heilsalben zu Leibe rückten.
Als man ihn endlich allein ließ, gewaschen und frisch eingekleidet, glitt ihm die Kyphra über Arme und Bauch. Janiel ließ es geschehen, das riesige Reptil ängstigte ihn nicht, obgleich er froh war, als es sich endlich wieder in Inani verwandelte.
„Bist du müde nach dieser gelungenen Vorstellung?“, fragte sie neckend und küsste seine Nasenspitze.
„Nein. Eher erstaunt, dass Ti mich noch nicht für meine Lügen erschlagen hat.“ Ihm war allzu bewusst, dass Inani nackt neben ihm lag und er hatte das Verlangen in ihrer Stimme gehört.
„Inani, ich …“ begann er, voller Unbehagen und Scham.
„Willst du mich nicht?“ Sie lachte leise bei dieser Frage und schmiegte sich dicht an ihn.
„Doch! Es ist nur …“
„Sei unbesorgt, Janiel. Ich weiß, dass du noch keiner Frau nahe warst, sondern dein Leben mit beten, arbeiten und Schriftrollen verbracht hast. Wir haben nicht viel Zeit, Rynwolf wird gewiss dafür sorgen, dass man heute mehrfach nach dir sieht. Zudem war deine Erschöpfung keine Lüge. Auf keinen Fall will ich mit Hast zerstören, was mit Duldsamkeit blühen würde. Ich will die Liebe genießen!“
Sie küsste ihn voller Leidenschaft, wie schon einmal, als sie ihm ihr Zeichen eingebrannt hatte, und Janiel ergab sich gerne ihrer Führung. Ihre fordernden Lippen entflammten seine Lust, er öffnete sich ihrer suchenden Zunge, umarmte ihren schlanken, starken Körper. Doch sie wehrte ihn liebevoll ab, als er sie scheu zu streicheln begann.
„Nicht heute Nacht, mein Liebster“, wisperte sie in sein Ohr, kitzelte ihn dabei mit Zunge und Zähnen, bis er sich lachend unter ihr wand. „Heute will ich dich lediglich kosten und dir zeigen, was Lust bedeuten kann. Morgen Nacht gehöre ich ganz und gar dir.“
„Es ist gefährlich für dich, hier im Tempel zu sein und gleichzeitig mit Ilat zu spielen“, sagte er, zugleich stöhnte er unterdrückt und verlor beinahe die Beherrschung, als ihre Hände sich um seine Erektion legte und mit sanftem Druck zu reiben begannen.
„Ich lebe für die Gefahr!“ Sie schnurrte regelrecht und hielt ihn nieder, als er sich aufbäumte. Dann setzte sie sich rittlings auf seine Schenkel. „In diesem Tempel bin ich meinen Feinden begegnet, und meinem Liebsten. Meine Mutter, mein Seelenvertrauter und liebe Freundinnen sind hier gestorben.