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Roen Orm - das Zentrum der Macht. Der höchste Priester der Sonne versucht die Herrschaft über die ewige Stadt zu übernehmen, denn wer Roen Orm hält, beherrscht die Welt. Zu lange schon verbergen sich die Hexen vor der Priesterschaft im Zwielicht, als Inani geboren wird. Sie soll das Machtgefüge zugunsten der Töchter der Dunkelheit wandeln. Doch ist sie stark genug, sich ihrer Bestimmung zu stellen? Zudem verliebt sich die Traumseherin der Elfen in einen Prinz von Roen Orm und das Schicksal zweier Welten gerät in Gefahr … Erster Band der vierteiligen Fantasy-Saga über Magie, Macht, Schicksal und Liebe Ca. 80.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 390 Seiten
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Roen Orm - das Zentrum der Macht.
Der höchste Priester der Sonne versucht die Herrschaft über die ewige Stadt zu übernehmen, denn wer Roen Orm hält, beherrscht die Welt. Zu lange schon verbergen sich die Hexen vor der Priesterschaft im Zwielicht, als Inani geboren wird. Sie soll das Machtgefüge zugunsten der Töchter der Dunkelheit wandeln. Doch ist sie stark genug, sich ihrer Bestimmung zu stellen?
Zudem verliebt sich die Traumseherin der Elfen in einen Prinz von Roen Orm und das Schicksal zweier Welten gerät in Gefahr …
Erster Band der vierteiligen Fantasy-Saga über Magie, Macht, Schicksal und Liebe
Ca. 80.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 390 Seiten
Roen Orm
Teil 1
Töchter der Dunkelheit
von
Alexandra Balzer
Für Karin, ohne die kein einziges Wort dort stünde, wo es hingehört.
Die Göttin der Nacht ist gerecht, aber nicht gütig.
Fliehe, wenn du glaubst, du könntest Roen Orm entgehen. Ihr Fluch wird dich zurückholen, wohin auch immer du gehst.
Darum, Wanderer, wisse: Ein jedes Unheil wird aus dem Wunsch geboren, Gutes zu tun …
Die Gemeinschaft der Dunklen Schwestern besitzt nicht viele Regeln, doch diese müssen ohne Ausnahme befolgt werden. Diejenige Schwester, die gegen diese Gesetze verstößt, wird vor dem Rat angehört werden, ob es gute Gründe gab. War es Leichtsinn, ein Missgeschick, ein unglückliches Versehen, mag ihre Strafe leicht ausfallen. War es notwendig, um ihr eigenes Leben oder das einer Schwester zu retten, wird der Rat entscheiden, was richtig ist. War es Vorsatz, gibt es nur eine angemessene Strafe, und das ist der Tod.
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
Roen Orm
29. Nachim, im Jahre 9012 nach Gründung der Stadt
In der Nacht vor der Siuta
ollbracht.
Es ist vollbracht“, flüsterte die alte Frau heiser. Die Spindel fiel aus ihren knorrigen Händen. Nur mit Mühe schaffte sie es, das Weidenkörbchen auf den Boden zu stellen, ohne den Inhalt zu verschütten – das Symbol ihres Lebenswerks.
„Neunhundertsechzehn. Ich habe dich geschlagen, Yosi, wer hätte das gedacht?“
Leise sang sie vor sich hin und wartete.
Wer würde ihrem Ruf folgen? Würde überhaupt jemand kommen?
Schließlich war sie eine Verstoßene, und zu wenige Schwestern waren verblieben in dieser Welt des Wandels. Immer weniger Töchter der Dunkelheit wurden geboren. Mädchen mit der Gabe zu hören, was in der Finsternis verborgen war, zu sehen, was im Schatten lauerte, zu beherrschen, was die Sonne fürchtete. Die das Gleichgewicht der Kräfte mehr liebten als alles andere.
„Vielleicht ruht sie nur, die Gabe. Die Zeit der Göttin wird bald anbrechen“, murmelte sie. „Ah, Loéys wird es sein! Sie hat den Mut, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Das allein bedeutet fast ein Lebenswerk.“
Sie seufzte unterdrückt, als eine neue Welle des Schmerzes durch ihren Körper brandete. Schwer atmend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
„Lauf schneller“, wisperte sie und ließ ihre Worte davontragen.
Nicht mehr lange, dann war es Mitternacht und die Siuta würde beginnen.
Wenn weder Unfall noch Mord eine Dunkle Schwester töteten, konnte sie zu jeder Siuta, dem Jahresbeginn und Frühlingsanfang, beschließen, dass ihr Lebenswerk vollbracht sei und ihre Seele in die Hände der Göttin legen – es sei denn etwas geschah, was sie bereits vorher dazu trieb.
Etwa vier Wegstunden entfernt hob Loéys den Kopf, lauschte im Wind, beschleunigte dann hastig ihre Schritte. Sie wusste, sie durfte nicht den kurzen Pfad nehmen, der sie binnen weniger Herzschläge herführen würde. Nur, wenn die Sterbende sonst ohne Segen gehen müsste, war dies erlaubt.
Die Alte lächelte. Noch musste sie warten, es war gut so. Noch blieb ihr Zeit.
Zeit ...
All die Jahre ...
So vieles war geschehen ...
Eine jede Tochter der Dunkelheit wird in der Nacht zum 29. Bashint geboren: Das, was die Menschen die Hexennacht nennen und wir Karr, den Tod des Jahres – das Ende des Herbstes, wenn alles, was lebt, dem Winter entgegen blickt. Nur in diesen Stunden kann ein Kind von der Göttin gesegnet werden.
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
ress schneller, Mädchen, bald ist Mitternacht!“, brummte Linna. Die alte Milchmagd hockte neben ihrer Enkelin, die seit eineinhalb Tagen in den Wehen lag. Völlig erschöpft und kaum noch bei Bewusstsein versuchte das junge Mädchen vergeblich, sich aufzubäumen. Ihr Kopf sank zurück ins Stroh, sie zitterte und stöhnte, als die Wehe nutzlos ihren Körper folterte. Das Kind saß viel zu hoch im Becken.
„Hab’s den Herrschaften gesagt, dass man warten sollte. Hab ich’s nicht gesagt, Mara? Schön und gut, dass sie bereits zwölf ist, viele Zwölfjährige spielen noch mit ihren Püppchen, hab ich gesagt. Ja, Kelina ist ein gutes Mädchen, fleißig und sauber, ja, sie hatte schon Brüste, aber noch das Becken eines Kleinkinds. Wartet zwei Sommer und verheiratet sie dann, das ist sich´rer, sagte ich. Und, hat einer gehört? Nee. Mit dem Stock gedroht haben die Herrschaften, was auch sonst. Und nun stirbt sie in der Hexennacht in diesem Drecksloch, weil sie immer noch zwölf ist und das Becken eines Kleinkinds hat und ihr Balg nicht durchrutschen will. Hab ich’s nicht gesagt, Mara?“ Linna drehte sich ungeduldig um, doch Mara, eine weitere Magd, lag schnarchend auf einem Strohhaufen. Nur das Milchvieh beobachtete das Elend, das sich vor ihnen abspielte.
„Steh auf, du faules Weibsstück!“, schrie Linna zornig und warf einen ihrer Holzschuhe nach dem Kopf der Frau. „Komm her, du musst helfen!“
„Is’ eh zu spät“, murrte Mara verschlafen, gehorchte allerdings, wohl wissend, Linna würde sie sonst den Stock schmecken lassen.
„Es ist zu spät, wenn ich es sage. Los, du bist stärker als ich, nimm sie unter den Armen! Sie muss stehen, damit das Kind tiefer rutschen kann.“
Ächzend zerrten beide Frauen an der nun Bewusstlosen herum, bis sie halbwegs auf ihren Füßen stand.
Ein Schwall tiefgrünes Fruchtwasser lief ihr die Beine hinab.
Mara versuchte, ein Sonnenzeichen zu schlagen, ohne das Mädchen loszulassen.
„Hol dich der Finstre, halt sie fest!“ Linna fluchte laut, als Mara nicht gehorchte. In diesem Moment kam Leben in Kelina: Sie riss die Augen weit auf und begann anhaltend zu schreien, bis eine Presswehe sie packte und mit Macht nach unten zog.
„Gut, Mädchen, sehr gut!“, rief die alte Magd und ließ sie so langsam wie möglich zu Boden gleiten. Kelina schlug um sich vor Schmerz, bis sie lag, dann wurde sie wieder still.
„Hol’s der Finsterling, da ist bestimmt was im Becken gebrochen“, murmelte Linna, doch da kam schon die nächste Wehe. Kelina schrie, bis ihre Stimme brach. Das Köpfchen des Kindes trat durch.
„Lauf, Mara, hol den Priester. Mindestens einer von beiden wird diese Nacht nicht überleben, und wenn’s Kelina ist, soll sie gesegnet sterben!“, befahl Linna, während sie versuchte, das Kind aus dem Geburtskanal zu ziehen, ohne ihre Enkelin noch stärker zu verletzen.
„Nicht für Gold und gute Worte geh ich da raus!“, rief Mara entsetzt. „Es hat Mitternacht geschlagen, hast du’s nicht gehört? Die Hexennacht, die Nacht der Toten ist gekommen!“ Sie bewegte ihre Finger fahrig als Sonnenkreis vor ihrer Brust.
Doch als Linna schrie: „Mach, das du raus kommst hier! Es gibt keine Hexennacht, du dummes Ding!“, da rannte die junge Frau aus der Scheune. Sie würde nicht wiederkommen, sondern in der Küche des Haupthauses Schutz suchen, das wusste Linna selbst. Ganz so, wie sie es geplant hatte.
Bei der nächsten Wehe zerrte sie rücksichtslos an dem Kopf des Kindes, ohne sich darum zu kümmern, ob sie es damit umbringen könnte – Kelina musste leben! Ein wimmerndes, blaugraues Etwas fiel zu Boden. Linna beachtete es nicht weiter, sondern warf hastig ein Stofftuch darüber.
„Nun los, Mädchen, du bist frei, das Balg ist draußen. Nur noch die Nachgeburt, jetzt wird alles gut!“, flüsterte sie Kelina zu. Wie klein und jung sie aussah – genauso wie ihre Mutter damals, als man sie in das Grab gelegt hatte, kaum zwanzig Sommer alt.
Als die Nachgeburt endlich zu Boden plumpste, erhob sich Linna steif. Sie wusch Kelina das Blut vom Leib, schlang ihr ein sauberes Leinentuch um die Scham, deckte sie warm zu. Mehr konnte sie für ihre Enkeltochter nicht tun, außer wachen, warten und beten. Davor aber kam die hässlichste Aufgabe in dieser Nacht an die Reihe. Sie durchtrennte die Nabelschnur und betrachtete zum ersten Mal ihre Urenkelin. Rote Locken umrahmten das winzige Gesicht, blaue Augen sahen neugierig zu ihr auf. Nicht der verschwommene Blick, den Neugeborene für gewöhnlich besaßen, die noch von den Lichtfeen träumten; nein, ein wacher, intensiver Blick, der bis in Linnas Seele zu forschen schien. Schaudernd wickelte sie das kleine Mädchen in ein Tuch, achtete dabei sorgfältig darauf, es nicht mit der bloßen Haut zu berühren. Dann hob sie es auf den Arm, packte die Nachgeburt und humpelte nach draußen in die Nacht. Dichte Nebelschwaden machten es unmöglich, auch nur auf zehn Schritt etwas zu erkennen. Linna sah noch nicht einmal das Haupthaus.
„Hol’s der Finsterling“, murmelte sie, schlug im Geiste das Schutzzeichen und schritt mit zusammengebissenen Zähnen voran. Sie war hier geboren, kannte jeden Stein im weiten Umkreis. Undenkbar, sich hier zu verlaufen! Hinter dem Brunnen nach rechts, an der Scheune vorbei, den Pferdeställen, den Karrenpfad entlang. Zweihundert Schritt, dann kam der Waldrand.
Sie hörte ihr Herz pochen, viel zu rasch. Ihren keuchenden Atem. Den leise wispernden Wind. Das Ächzen der Bäume. Unzählige Geräusche der Nacht.
„Mich kriegt ihr nicht, ihr Todesgeister“, knurrte Linna. „Zweiundfünfzig Sommer habt ihr mich nicht gewollt, warum also gerade heute Nacht? Und ich habe ein Geschenk für euch, ein Hexenkind!“ Linna schreckte vor den dunklen Schatten zurück, die plötzlich vor ihr aufragten, aber es waren nur die Stämme der Bäume. Sie hatte den Wald erreicht.
Das Mädchen schrie auf, als sie es auf die kalte Erde legte, die hohen, jammernden Töne quälten ihre überreizten Sinne.
Jaob schlägt mich tot, wenn er das Kind hier finden sollte. Ah, er schlägt mich sowieso tot, er glaubt ja nicht an Hexen! Dass ich seine Tochter wegschaffen musste, wird er mir niemals verzeihen. Ich hätte sie erst erwürgen und ihm vorzeigen sollen. Nur hätte er sie gesegnet begraben, und alle wissen doch, was die Hexen dann tun! Der Fluch hätte uns alle vernichtet.
Linna wühlte mit bloßen Händen in der feuchten Erde, hob ein knietiefes Loch aus.
Die Wölfe werden’s finden, oder die Saduj, sei’s drum! Ich muss zurück zu Kelina.
Sie warf die Nachgeburt in das Loch und begrub sie rasch mit Erde. Es gab vorgeschriebene Regeln, wie man diese Arbeit richtig auszuführen hatte, damit kein Diener der Dunkelheit die Nachgeburt nehmen und finstere Riten damit vornehmen konnte. Aber die kannte Linna nicht – sie hatte nie mit einer richtigen Wehenfrau sprechen können, ihre Herrschaften wollten solche dummgläubigen Weiber nicht auf dem Gutshof sehen.
Und du, kleine Hexe? Du bringst mir den Tod. Deine Mutter hast du wahrscheinlich schon umgebracht, also, was soll’s? Sie war der letzte Mensch, der zu mir gehörte.
„Hol dich der Finsterling, die Todesgöttin und all das Pack!“ Sie schluchzte auf, spuckte zu Boden und ließ das weinende Kind zurück, ohne es zu begraben. Sie war am Ende ihrer Kräfte und ihres Mutes angelangt, wollte nur noch fort, fort von hier!
Kaum war sie im Nebel verschwunden, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel der Bäume. Schlanke Hände hoben das Mädchen vom Boden hoch, strichen sanft über das winzige Köpfchen. Die jämmerlichen Schreie verstummten sofort.
„Lass dich ansehen, meine Schöne“, wisperte eine warme Stimme.
„Ist sie lebensfähig, Shora?“ Eine zweite Gestalt kam hinzu.
„Ja, sie ist gesund und stark.“ Shora drehte sich, um das Kind präsentieren zu können.
„Sieh nur ihre Augen, Alanée, die Gabe ist stark in ihr.“ „Du hast Recht. Ja, wir werden sie als eine der unseren aufnehmen. Folge der Alten, du kennst das Gesetz!“
Shora nickte stumm. Es gab kein Gesetz, das sie mehr liebte:
Wird ein Kind der Menschen als Hexe in den Bund der Dunklen Schwestern aufgenommen, müssen zwei Menschenleben gerettet werden. Eines, um die Geburt des Kindes zu feiern, eines, um Ti, dem Gott der Sonne zu huldigen, der um ein Leben betrogen wird.
„Ich werde beide Frauen retten. Und, Alanée: Ich will das Mädchen für mich. Es soll meine Tochter sein.“
Eine Weile stand Alanée still. Dann erwiderte sie: „Das ist verboten, Shora. Der Rat muss darüber abstimmen, wem sie zugeteilt wird!“
„Ich will sie für mich, egal, ob der Rat damit einverstanden ist oder nicht.“
Ein Windstoß blies Shora das lange blonde Haar ins Gesicht. Sie strich es ungeduldig über die Schulter und sah zu Alanée auf, die sie forschend musterte.
„Du weißt, was geschehen könnte, wenn dies als Bruch des Gesetzes ausgelegt wird? Du hast zwar viele Freundinnen im Rat, sie müssen dich allerdings nicht schützen.“
„Dies ist meine Tochter“, sagte Shora schlicht und presste das Mädchen an sich. Ihre Freundin senkte seufzend den Blick.
Dann streckte sie die Arme aus, um das Kind an sich zu nehmen und sagte: „So soll es sein. Ich werde deine Tochter beschützen, bis du zurückkehrst. Nun eile dich, sonst ist es für Kelina zu spät.“
„Inani. Der Name meiner Tochter ist Inani.“
Shora verschwand im Nebel, lautlos und rasch. Alanée schob die Kapuze ihres Umhanges vom Kopf, um das Mädchen besser betrachten zu können, und fühlte sich gefangen von dem intensiven Blick des Neugeborenen.
„Inani also. Die Kriegerin. Ein starker Name, aber Shora hat Recht: Die Gabe ist stark in dir. Viel zu stark ... Heute ist ein glücklicher Tag für dich, kleine Inani: Wärest du nur eine Stunde früher geboren, hätte niemand mehr deine Mutter retten können. Beten wir zur Göttin, dass du auch deiner neuen Mutter Glück statt Tod bringst. Beten wir, dass du nicht bist, was ich in dir sehe.“
Shora wurde eins mit den Schatten in der Scheune. Sie war nicht unsichtbar, doch Linna hätte sie direkt anstarren können und trotzdem nichts von ihrer Anwesenheit gespürt. Die Alte saß zusammengekrümmt auf dem Boden und hielt die Hand ihrer sterbenden Enkelin, den Blick in die Leere gerichtet.
„Eiye skysh – Schlaf, schlafe tief!“, wisperte Shora, trat direkt hinter die Frau und berührte sie leicht im Nacken. Sofort erschlaffte die Alte. Shora fing sie auf und ließ sie behutsam zu Boden gleiten.
„Morgen früh, beim ersten Sonnenstrahl, wirst du erwachen und erkennen, dass alles gut ist. Das Kind kam kurz vor Mitternacht, es war zu schwach zum Überleben. Der Priester hat es gesegnet und begraben. Niemand sonst ist zu Schaden gekommen“, flüsterte sie in Linnas Ohr. Shora gehörte zu den wenigen Hexen, deren Luftmagie stark genug für Illusionen und Veränderungen des Gedächtnisses war.
Sie strich stirnrunzelnd über den Kopf der alten Frau – Krebsgeschwüre zerfraßen Linna von innen, sie würde nicht mehr lange leben.
„Du willst mich prüfen, Göttin? Oder ist dies zu Ehren Inanis? Dann ist meiner Tochter wohl wahrlich Großes bestimmt? Selten, dass eine Lebenssegnung so weitreichend ist.“
Shora kniete sich zwischen Kelina und Linna nieder, legte beiden die Hand auf die Stirn und begann leise zu singen, in dieser melodischen, fremdartigen Sprache, die kaum je ein Mensch zu Gehör bekam und anschließend noch davon berichten konnte. Mit geschlossenen Augen stillte sie Kelinas innere Blutungen, heilte das gebrochene Becken, stärkte die Lebenskraft des Mädchens. Danach vernichtete Shora die Geschwulste in Linnas Körper und heilte die Entzündung der Zähne, die sonst nach und nach das Blut der Frau vergiftet hätten. Die Alte würde zwanzig, vielleicht sogar dreißig weitere Sommer leben können.
Shora zitterte leicht, als sie sich erhob. Um Linna wirklich zu retten, musste sie nun noch die Erinnerung von allen Menschen auf diesem Gutshof verändern und den Priester dazu anstiften, ein leeres Kindergrab zu segnen.
Ah, vielleicht kann ich die Pferdeknechte auslassen, die waren im Stall, dachte sie müde. Doch dann schüttelte sie energisch den Kopf. Solche Nachlässigkeiten waren es, die Tod und Verderben über die Schwesternschaft brachten. Woher wollte sie mit Sicherheit wissen, dass keine der Küchenmägde in den Stall gekrochen war, um die gefürchtete Hexennacht nicht allein verbringen zu müssen, und dabei die Neuigkeiten mit sich getragen hatte, dass dem Schmied Jaob erst nach Mitternacht eine Tochter geboren wurde? Nein, es mussten alle sein, auch, wenn das Stunden voller Mühsal bedeuten würde, in denen sie sich vollständig verausgabte und sie anschließend tagelang auf Alanées Hilfe angewiesen war. Falls sie überhaupt vom Rat freigesprochen wurde und ihr Lebensrecht behielt.
Nun auf! Eine Hexe hat zahllose Pflichten, ich darf nicht müßig sein ...
„So lautet das zweite Gesetz der Dunklen Schwestern:
Wer in die Gemeinschaft aufgenommen wird, muss zwölf Jahre lang unter der Führung einer Hexe leben, die Gesetze ehren, der Göttin nahe gebracht werden. Es darf dem Mädchen an nichts mangeln, noch darf sie misshandelt oder verstoßen werden, es sei denn, sie bricht wissentlich die Gesetze der Gemeinschaft. Nach Ablauf der zwölf Jahre wird sie geprüft, und ist sie geeignet für das Leben einer wahren Dunklen Schwester, als Novizin angenommen. Zeigt sich aber, dass sie nicht für den Schatten der Nacht, sondern für das Licht des Tages geschaffen wurde, schicke man sie zurück in die Welt jenseits des Nebels, und tue ihr kein Leid an – sie weiß nichts, was sie verraten könnte, lebendig wird sie nützlicher sein.“
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
alt endlich still, sonst muss ich wieder von vorne beginnen!“, befahl Shora ungeduldig. Sie versuchte, die unbändigen rotblonden Locken ihrer Ziehtochter zu einem komplizierten Zopf zu flechten. Doch nicht nur die Haare waren widerspenstig, auch deren Besitzerin konnte keinen Moment ruhig sitzen. „Wie soll ich dich dem Rat der Schwestern präsentieren, wenn du wie ein Kleinkind zappelst? Soll ich sagen: Verzeiht, Inani ist noch nicht fähig, sich zu beherrschen, lasst uns die Prüfung bitte um zehn Jahre verschieben?“ Shora fluchte, als ihr die Flechten durch eine ruckartige Bewegung aus den Händen gerissen wurden.
„Ich werde mir mehr Mühe geben“, rief das Mädchen erschrocken, und rutschte dabei weiter auf ihrem Stuhl herum. Seufzend griff Shora nach dem Hornkamm und begann, die schon wieder neu verfilzten Strähnen zu glätten.
„Es ist wahrscheinlich sowieso sinnlos. Dieser Busch von Haaren ist wie üblich nicht zu zähmen.“ Schweigend kämpfte sie sich voran, und diesmal hielt Inani tatsächlich still.
„Mutter, wird es sehr schwer?“, fragte Inani, die Stimme ungewöhnlich ernst und leise.
„Nein. Entweder hast du es in dir, eine Dunkle Schwester zu werden, oder nicht. Ich habe dich gelehrt, deine Kräfte zu beherrschen, die Gesetze der Menschen zu achten, die
vielfältigen Völker und Lebewesen zu begreifen. Du kennst die Götter und weißt genug über Enra, um überleben zu können. Entweder wirst du also morgen früh in die Gemeinschaft der Schwestern aufgenommen werden, oder ich nehme Abschied von dir und lasse dich bei den Menschen, falls es dir bestimmt sein sollte, dort deinen Lebensweg zu finden.“
„Ich will bei dir bleiben! Ich gehöre zu dir, Mutter!“, begehrte das Mädchen wütend auf, wie immer, sobald das Gespräch, das sie schon so oft geführt hatten, an diesen Punkt kam.
„Inani, zum letzten Mal, ich weiß nicht, ob du für das Leben unter Pyas Augen geschaffen bist! Wenn ja, werden wir beide zusammen bleiben und ihr gemeinsam dienen. Solltest du zum Gott des Lichts gehörst, würdest du an meiner Seite unglücklich werden. Sobald diese Nacht vergangen ist, wirst du verstehen, was ich damit meine, und nun Schluss damit!“
Shora atmete tief durch, schluckte ihren Ärger hinunter und beendete ihr kunstvolles Flechtwerk. Der größte Teil der hüftlangen Haarpracht ihrer Tochter war nun zu einem siebenteiligen Zopf gebändigt, wie es die Sitte vorschrieb. Einige aufmüpfige Locken kräuselten sich jedoch um Stirn und Wangen des Mädchens, das in einer Mischung aus Vorfreude, Angst und Trotz zu ihr aufblickte.
„Ich gehöre zu dir, Mutter, ob es dir passt oder nicht. Ich lasse nicht zu, dass du damals umsonst geschlagen wurdest.“
Erschrocken fuhr Shora zusammen und packte Inani am Arm.
„Woher weißt du das?“, zischte sie.
„Ich habe gute Ohren und einen leichten Schlaf. Alanée wird nicht müde, es dir immer wieder vorzuhalten!“, fauchte Inani zurück.
„Das ist wohl wahr.“ Shora dachte an die Stockhiebe, die Kythara ihr als Strafe auferlegt hatte dafür, dass sie ein Kind ohne nachzufragen für sich beansprucht hatte. Und für das, was sie sonst noch getan hatte. Eine demütigende, doch leichte Strafe. Hätte sie nicht in der Königin der Hexen eine wahre Freundin gehabt, wäre ihr der Tod gewiss gewesen.
Seit damals hatte sich einiges geändert. War Kythara noch auf ihrer Seite?
Alle werden neugierig sein, ob sie es schafft. Sollte sie abgewiesen werden, wird meine Position gefährdet sein. Viele warten auf einen Fehler von mir.
„Bist du bereit für den Nebel?“, fragte sie laut.
„Schon viel zu lange“, erwiderte Inani, und ihre eisblauen Augen glitzerten vor Aufregung.
Göttin, wenn ich es nur sicher wüsste! Ist sie diejenige, die du mir bestimmt hast? Ist sie wirklich die Kriegerin, die ich in ihr sehe?
Sie verließen das winzige Backsteinhäuschen am Rande des Bauerndorfes. Hier hatte Shora zwölf Jahre lang mit ihrer Ziehtochter unter gewöhnlichen Menschen gelebt, von jedem als ehrbare Witwe geachtet. Als fleißige und gottesfürchtige Frau genoss sie Ansehen in der Gemeinschaft, jeder schätzte ihre Töpfer- und Webarbeiten, die Seifen und Kerzen, die sie im Winter herstellte, den Honig, den sie im Sommer von wilden Bienenvölkern im Wald gewann. Mochte sie vielleicht auch etwas wortkarg sein, sich mit ihrer Tochter vom Dorfgeschehen eher fernhalten, das Werben verschiedener Männer freundlich abgelehnt haben: Shora und Inani waren allseits beliebt. An das Gerücht, dass in manchen Nächten Schatten um ihr Haus schlichen, glaubte niemand wirklich.
„Wohin des Wegs, ihr Schönen?“ Nuram, der Dorfgeweihte, lächelte Shora freundlich zu. Der hochgewachsene, hagere Sonnenpriester war ein ältlicher Mann, der Shora besonders hartnäckig umworben hatte. Es war nicht unüblich, dass Ti-Geweihte dem strengen, asketischen Leben der Tempel entflohen und sich entlegene Dörfer suchten, in denen sie der Gemeinde und ihrem Gott dienten. Diesen Männern war es sogar gestattet zu heiraten und Familien zu gründen.
„Wir gehen in den Wald, vielleicht finden wir noch ein paar späte Pilze.“
„Denkt daran, heute ist die Dunkle Nacht, bleibt nicht zu lange aus.“
Shora lächelte spöttisch. „Solltest du etwa an die Hexennacht glauben?“
„Natürlich glaube ich nicht, ich weiß, dass es die Dunklen Schwestern gibt. Sie mögen sich verborgen halten, doch wer Augen hat zu sehen, spürt ihr Wirken. Es sind auch nicht nur die Hexen, die in der Dunklen Nacht ihr Unwesen treiben, es gibt viele Kreaturen der Finsternis. Vielleicht wäre es klüger, wenn du morgen in den Wald gehst? Denk an Inani!“
„Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen“, murrte das Mädchen, allerdings vorsichtshalber so leise, dass der schwerhörige Priester sie nicht verstehen konnte. Shora drückte dennoch ihre Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Inani wäre fähig mit ihm ein Streitgespräch darüber zu beginnen, dass sämtliche Kreaturen der Finsternis – abgesehen von den Hexen – nur Einbildung und Aberglauben waren.
„Ich schätze deine Sorge, Nuram, du bist sehr aufmerksam. Wir werden nicht weit gehen, bloß bis zur Tannenlichtung, und zum Sonnenuntergang zurück sein.“
„Darf ich euch heute Abend zum Essen einladen? Ich habe von Burut wunderbaren Speck und Linsen geschenkt bekommen. Daraus wollte ich einen Eintopf kochen.“
„Vielen Dank, das klingt gut“, erwiderte Shora höflich.
Das freundliche Gesicht des Priesters begann zu strahlen. „Ich kann also mit dir und Inani rechnen?“
„Gewiss werden wir heute Abend durchgefroren und hungrig sein. Mit etwas Glück bekommst du noch Pilze für deinen Eintopf. Aber nun, wir müssen los.“ Shora nickte einen Abschiedsgruß, drehte sich mit Inani an der Hand um und marschierte zügig auf den Waldrand zu. Erst, als sie sicher außer Hörweite waren, lachte sie befreit auf.
„Vorbei! Egal, was diese Nacht uns bringt, ich werde nicht länger die verliebten Blicke dieses Ti-Jüngers ertragen müssen!“
„Du hast ihm Hoffnung gemacht.“ Eine helle Gestalt trat aus dem Schatten der Bäume hervor: Alanée, in ein weißes Kleid gehüllt, die silberhellen Haare flossen über ihre bloßen Schultern.
„Ich habe ihm nichts versprochen. Wenn er meine Worte als Zustimmung auslegen wollte, ist das nicht meine Schuld.“ Shora umarmte die Freundin, dann riss sie den Kipe von sich – das dunkelgraue Schultertuch, das ihren angeblichen Witwenstand kennzeichnete. Achtlos warf sie das wollene Tuch zu Boden. Es sollte den Dörflern als Zeichen dienen, dass ihr und Inani ein Unglück zugestoßen sein musste.
„Falls Inani versagt, wird er sich um sie kümmern.“
„Ein Sonnenpriester? Bist du sicher, dass er gut für sie wäre?“
„Du kennst Inani. Er könnte sie zu nichts zwingen, was sie nicht will. Außerdem ist Nuram kein Wolf seines Herrn, nur ein harmloser Welpe. Der beißt nicht.“ Shora wandte den Kopf, als sie Inani missbilligend schnauben hörte.
„Reden wir über deinen Kopf hinweg, Liebes?“, fragte Alanée nachsichtig lächelnd. Eine Weile schwiegen nun alle drei, während sie den von unzähligen Füßen hart getrampelten Forstweg verließen und durch das verwelkende, nasse Unterholz schritten. Shora und Alanée nickten einander heimlich zu, in Anerkennung über Inanis tapfere Versuche, ebenso leicht und lautlos zu gehen wie die erwachsenen Frauen.
„Ist sie bereit?“ Alanée sprach nun in Is’larr, der geheimen Sprache der Dunklen Schwestern, die Inani kaum beherrschte.
„Sonst hätte ich den Rat um Aufschub gebeten, das weißt du genau. Ich habe nicht vor, mich zu blamieren. Wenn sie scheitern sollte, dann nicht, weil sie schlecht vorbereitet war.“
„Was denkst du – wird sie scheitern?“
Shora zögerte lange, bevor sie antwortete. Während sie durch Farne und an Baumschösslinge vorbei schritten, woben die beiden Hexen magische Muster, die das Gefüge der Welt veränderten.
Mit jedem Atemzug, jedem Schritt, entfernten sie sich von Enra, der wahrhaftigen Welt. Sie hoben den Schleier, der sie in das Reich dazwischen brachte. Nebel wallte um sie herum, wurde immer dichter. Die Frauen kümmerten sich nicht darum. Inani hingegen, die diesen Nebel nur aus den Erzählungen ihrer Mutter kannte, war sichtlich beeindruckt: Mit großen Augen starrte sie in die tiefgrauen Schwaden, verwirbelte sie verzückt lächelnd mit den Händen. All dies hätte auch in einem einzigen Atemzug geschehen können, doch Shora wollte das Mädchen diesen ersten Schritt in die geheime Welt genießen lassen.
„Ich bin nicht sicher, Alanée“, murmelte Shora schließlich. „Sie ist von ungewöhnlich starker Liebe zu allem Lebendigen erfüllt. Ich weiß nicht, ob Mitgefühl für sie wichtiger als das Gleichgewicht ist.“
Inanis Hand suchte nach ihr, sie ergriff die bebenden Finger des Mädchens. Der Nebel war nun so dicht, dass sie blind laufen mussten. Es war nichts mehr zu sehen, außer für jene, die wussten, wohin sie gehen wollten. Zwar hatte Inani verstanden, dass sie nicht gegen einen Baum prallen oder auf sonstige Hindernisse stoßen konnte, denn diese Zwischenwelt war vollkommen leer. Aber Shora erinnerte sich gut genug an ihren ersten Marsch durch den Nebel, um die Ängste ihrer Tochter, sich in der Endlosigkeit zu verlieren, nicht verstehen zu können.
Zumal diese Sorge berechtigt war.
„Ruhig, Kleines, gleich sind wir durch.“
Ohne Übergang verschwand der Nebel. Düsteres Licht wartete auf der anderen Seite. Neugierig drehte Inani den Kopf überall hin, doch es gab keinen offensichtlichen Unterschied zwischen dieser und der anderen Welt: Sie liefen weiter zwischen Baumstämmen und Sträuchern umher, in pfadloser Wildnis. Dennoch blitzten Inanis Augen, sie atmete rasch und befreite schließlich ihre zitternden Hände von dem Griff ihrer Mutter.
„Sie spürt die Magie!“, sagte Alanée beeindruckt in der geheimen Sprache.
„Natürlich, was dachtest du?“ Shoras Atem beschleunigte sich ebenfalls. So lange, zwölf unendliche Jahre, war sie nicht mehr hier gewesen, hatte die magischen Unterströmungen zwischen Erde und Himmel nicht mehr auf der Haut knistern gefühlt und die Nähe ihrer Schwestern entbehren müssen. Endlich war sie Zuhause.
Eine Lichtung öffnete sich vor ihnen. Mehrere Dutzend Holzhütten standen dort im Kreis um ein Versammlungshaus.
Spuren eines großen Lagerfeuers waren im Moment das einzige sichtbare Zeichen von Leben, doch Shora spürte die Schwestern, die hier lebten und aus allen Richtungen herbeieilten. Inani stand still, während sie den bleigrauen Himmel absuchte.
„Mutter, da kommt die Königin, nicht wahr?“, flüsterte sie aufgeregt, lächelte begeistert und starrte dann wieder wie gebannt zum Himmel hinauf. Nur einen Herzschlag später fuhr sie herum, als die Aura, die sie wahrgenommen hatte, sich bewegte und nun hinter ihnen befand. Auch Alanée und Shora drehten sich und begrüßten Kythara, die Königin der Dunklen Schwestern.
„Willkommen in meinem Reich, Inani“, sagte die hochgewachsene Frau, deren blauschwarze Haare wie Rabenflügel das ausdrucksstarke Gesicht umrahmten. Schlanke Muskeln spielten unter dem schwarzen Kleid, das ihr auf den Körper gemalt zu sein schien. Kraft und Leidenschaft sprachen aus jeder ihrer Bewegungen, als sie auf die Lichtung kam, doch ihre Augen blickten hart und kalt. Das Mädchen zuckte kurz zusammen, wich aber nicht zurück.
„Wir haben dich vermisst, Shora, es ist schön, dich zu sehen. Und Alanée, du bist so selten daheim“, richtete Kythara nun das Wort an die beiden Frauen. Ihre vertraute, dunkle Stimme zu hören war der Willkommensgruß, den Shora erhofft hatte. Kythara küsste Shoras und Alanées Wangen, strich sanft über Inanis Gesicht; dann schritt sie majestätisch zum Versammlungshaus.
„Gut gemacht. Vor Kythara darf man keine Schwäche zeigen“, wisperte Alanée.
„Ist sie böse?“, hauchte Inani mit weit aufgerissenen Augen.
„Böse? Nein. Du wirst hier Frauen begegnen, die wirklich bösartig sind, doch Kythara ist nur auf ganz gewöhnliche Weise mächtig und gefährlich. „Denk daran, was deine Mutter dich gelehrt hat: Gut ist nicht derjenige, der Gutes will, sondern es erreicht. Das Böse ist eine Kraft, die in jedem von uns liegt. Das Gleichgewicht ist entscheidend und erst unsere Nachfahren richten über unsere Taten.“
Inani blinzelte verwirrt, in ihrem Blick lagen mehr Fragen als Erkenntnis. Alanée drückte sich zu kompliziert für ein Kind aus, sie hatte nie die Sorge für eine Junghexe übernommen.
Während nun von allen Seiten die Dunklen Schwestern herbeiströmten und Shora begrüßten, stand Inani unbeweglich da, mit versteinertem Gesicht, unerreichbar für Worte und Berührungen.
Verliere ich sie? O Göttin, waren die langen Jahre umsonst? Du hast versprochen, dass ich deine tödlichste Klinge schärfen, deine Kriegerin aufziehen darf. Inani ist mein Lebenswerk, allein dir gewidmet. Es kann, es darf nicht sein, dass sie sich für das Licht entscheidet!
Inani erwachte aus ihrer Trance, als ihre Mutter sie hart an der Schulter packte.
„Alle sind da, komm jetzt!“ Sie spürte, wie unzufrieden ihre Mutter mit ihr war und straffte sich entschlossen. Auf gar keinen Fall wollte sie von Shora getrennt werden oder die Erwartungen enttäuschen, die in sie gesetzt wurden. Aufgeregt folgte sie Alanée und Shora in das Versammlungshaus. Von außen schien kaum genug Platz zu sein für die mehreren hundert Hexen, die in den umliegenden Hütten wohnten oder aus allen Teilen Enras herbeigeeilt waren – alle, die ihre Aufgabe für eine Nacht im Stich lassen konnten. Fasziniert sah Inani sich in diesem kühlen düsteren Steingemäuer um und betrachtete die vielen Frauen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Vom jungen Mädchen bis zur Greisin war alles vertreten, es gab edel gekleidete Schönheiten mit aufwändigen Frisuren und kostbarem Schmuck, schlichte, unauffällige Frauen, die wie Dienstmägde oder Bäuerinnen gewandet waren, Bürgersfrauen mit Abzeichen verschiedener Gilden, hässliche Weiber, deren Anblick kaum zu ertragen war. Inani spürte, dass gerade diese scheinbar entstellten Gesichter von Illusionszaubern herrührten. Wer konnte sich denn wünschen, alt und grässlich auszusehen?
Einige besaßen die dunkle Haut und die Mandelaugen der Menschen im Süden, andere schienen das Blut der nichtmenschlichen Völker in sich zu tragen. Inani bemerkte eine schwarzhaarige, grazile Frau ganz in der Nähe, von solch überirdischer Schönheit, dass sie gewiss ein Elfenmischling war – oder vielleicht eine Loy, nur ohne Flügel? Sie redeten in allen Sprachen und Dialekten des Kontinents, lachten, scherzten, schienen sich zu freuen, einander zu sehen. Inani sah aber auch Frauen, die sich von allen anderen fernhielten und spürte Spannungen zwischen einigen Gruppen. Immer wieder hörte sie ihren eigenen Namen, erhaschte neugierige, freundliche und feindselige Blicke.
Sie hassen Mutter … Warum hassen so viele von ihnen meine Mutter?, dachte sie verwirrt. Sie fühlte, dass der Hass sie einschloss.
Inani versuchte stolzen Gleichmut zu zeigen, bis Kythara den Raum betrat und sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Seid gegrüßt, ihr Töchter der Dunkelheit! Wir alle freuen uns auf das Karr-Fest, wenn der Herbst stirbt und Dunkelheit und Kälte Einzug halten in den Landen. Doch bevor wir der Göttin huldigen können, gilt es, zwei junge Mädchen zu prüfen, ob sie als Novizin in unsere Welt aufgenommen werden dürfen oder nicht.“
Überrascht sah Inani um sich und entdeckte schließlich ein blondes, pausbackiges Mädchen in ihrem Alter, das sich ängstlich hinter seiner Mutter versteckte.
„Siehst du Ylanka? Was denkst du von ihr?“, wisperte Shora in Inanis Ohr und wies dabei auf die Frau, die nun ärgerlich ihre Tochter von sich stieß, auf Kythara zu.
Nachdenklich musterte Inani die weiblich gerundete Frau mit den kastanienbraunen Haaren, gehüllt in ein schlichtes Leinenkleid, die kraftvollen Bewegungen, den entschlossenen Ausdruck auf dem ebenmäßigen Gesicht.
„Sie ist wütend“, erwiderte Inani leise.
„Ja, das ist sie, denn sie fürchtet, dass ihre Ziehtochter die Prüfung nicht bestehen wird. Sie selbst besitzt starke Magie, hohen Einfluss und zahlreiche Freundinnen hier im Schwesternbund. Was denkst du: Ist sie harmlos oder gefährlich?“
„Gefährlich. Sie wird sich verteidigen, wenn sie angegriffen wird und mit allen Mitteln kämpfen, um ihr Ziel zu erreichen.“ Inani ließ die Frau nicht aus den Augen, studierte die fühlbare Anspannung, mit der Ylanka ihre Ziehtochter der Königin darbot.
„Sie hat Angst und ist bereit zu Kampf oder Flucht, wie eine Wildkatze.“ Inani sah, wie Alanée und Shora einander zunickten.
„Sie ist durch ihre Angst und Wut unberechenbar, aber keine wirklich große Gefahr“, sagte Alanée. „Kythara weiß, was in ihr vorgeht und braucht sie nur zu beobachten, um rechtzeitig reagieren zu können. Merke dir: Eine Gefahr, die man erkennt, sollte man keinesfalls unterschätzen, doch man hat Zeit, sich auf sie einzustellen. Sage mir nun, wie du Kythara zu begegnen hast!“ Inani nickte. „Kythara ist mächtig und gefährlich. Sie kann mit mir machen, was sie will, niemand würde sie daran hindern. Ich darf nichts tun, was sie wütend macht und muss ihr gehorchen, dann wird mir nichts geschehen.“ Sie legte den Kopf schräg und betrachtete Shora aufmerksam. „Wirst du deshalb gehasst, Mutter? Weil du ihr nicht gehorcht hast?“
Shora wurde bleich, Alanée hingegen kicherte und legte den Finger auf Inanis Lippen.
„Sieh zu, dass du die Prüfung bestehst, Liebes“, flüsterte sie, „die Welt dort draußen ist zu klein für eine gewöhnliche Sterbliche, die solche Dinge sagt!“
Derweil war die Königin mit der Begutachtung von Ylankas Tochter – Corin war ihr Name – fertig und erhob sich wieder von ihrem Thron. Alle Hexen verstummten.
„Shora, bring deine Ziehtochter zu mir!“, verlangte Kythara ungeduldig und winkte herrisch. Inani wartete nicht, bis ihre Mutter nach ihrer Hand greifen konnte, sondern schritt hoch erhobenen Hauptes durch die Reihen der Hexen, die zögerlich vor ihr zurückwichen. Sie bemühte sich, unbewegt nach vorne zu starren, die Augen fest auf Kythara gerichtet.
Trotz weicher Knie weder zu schwanken noch zu stolpern unter den Blicken der Frauen, mal neugierig, mal höhnisch; und das leise Murmeln zu ignorieren.
„Schau, da ist sie, eitel wie ihre Mutter ...“
„Wer wird gewinnen? Ihr kennt den Orakelspruch, eine der beiden wird versagen!“
„Ach, die Prophezeiung stammt von Ula, die kann doch nicht mal vorhersagen, dass man sich an Feuer die Finger verbrennt.“
Endlich erreichte Inani den Thron, und die Schwesternschaft hinter ihr verschwand aus ihrem Bewusstsein. Sie sah Corin, die zitternd vor Angst in der Nähe stand. Blickte hinauf in die kohlschwarzen, funkelnden Augen der Königin. Das wilde Pochen ihres Herzens rauschte in den Ohren, so laut, dass sie die Königin beinahe nicht verstanden hätte.
„Du weißt, warum du die Gemüter der Schwestern so erhitzt?“, fragte Kythara mit einem feinen Lächeln, das in den Winkeln ihres Mundes hängen blieb.
„Ich bin nicht hier, um für die Fehler meiner Mutter zu büßen. Das hat sie bereits selbst getan, Herrin“, erwiderte Inani heftig. Sofort biss sie sich auf die Lippen, kalte Furcht packte sie und verdoppelte den bereits rasenden Puls – das war schlecht, ganz schlecht, sie wollte doch unterwürfig und gehorsam sein!
Das Lächeln um Kytharas Mundwinkel vertiefte sich.
„In der Tat, Shora hat gebüßt. Das wird dich nicht davor schützen, dich für deine eigenen Fehler verantworten zu müssen.“
Schweigend neigte Inani den Kopf.
Sei still, sei still, sei bloß still!, ermahnte sie sich, wütend auf sich selbst. Wohin sollte sie nur mit den schweißnassen, zitternden Händen?
„Glaubst du, für die Prüfung bereit zu sein?“
„Ich weiß es nicht, Herrin, da ich die Aufgabe nicht kenne. Ich werde mein Bestes geben.“ Hatte wirklich sie selbst gerade all die vielen Worte gesprochen?
„Mehr wird niemand von dir verlangen.“ Kythara nickte ihr zu und wies mit der Hand in die Ecke des Raumes, in der Corin bereits wartete. Doch als Inani an ihr vorbeigehen wollte, packte die Königin sie am Arm.
„Hüte dich, Tochter der Shora!“, zischte sie. „Hochmut, Stolz und Anmaßung sind Eigenschaften, die einer erwachsenen Hexe gut zu Gesicht stehen, denn sie weiß gewöhnlich, wann sie sich solch gefährlichen Luxus leisten kann. Du bist noch zu klein und unerfahren für dieses Spiel. Geduld ist immer dann am Wichtigsten, wenn man zu wenig davon besitzt. Glaube mir, ich erinnere mich an das Mühsal, zu jung zu sein, um respektiert zu werden! Shora hat zu viel riskiert und dafür teuer bezahlt. Es waren nicht die Stockhiebe, sondern der Verlust von Ansehen und Respekt, den sie erdulden musste, um dich zu gewinnen. Erinnere dich daran, wenn du das nächste Mal glaubst, deinen Stolz beweisen zu müssen!“
Inani versuchte, dem Blick dieser eiskalten Augen standzuhalten, doch sie konnte es nicht. Sie wich zurück, als Kythara sie freigab und ging mit gesenktem Kopf an ihren Platz. Wovon war hier die Rede? Wieso hatte Shora sie gewinnen müssen?
Ich will hier gar nichts beweisen, ich will an Mutters Seite bleiben! Es verwunderte sie, dass die panische Angst, die wie ein wildes Tier in ihrem Bauch tobte und sie zittern ließ, sie noch nicht zum Heulen gebracht hatte.
„Corin, Tochter der Ylanka!“, rief Kythara und wies mit ausgestrecktem Finger auf das Mädchen, das stumm weinend neben Inani wartete.
„Du wirst nun durch die rechte Pforte gehen. Bringe zurück, was du für würdig hältst, der Schwesternschaft zu präsentieren.“ Eine kurze Bewegung der Hand, ein Leuchten in den nachtschwarzen Augen, dann fühlte Inani, wie Magie floss. Ein Tor entstand in der Wand vor ihr, das zuvor noch nicht da gewesen war.
Schlangen, dachte sie zusammenhanglos. Sie trägt überall Schlangensymbole am Leib, ihre Ringe, am Ohr, die Kette … Warum?
Hektisch starrte Inani zwischen der Öffnung in der Mauer, Corins angstzerfurchtem Gesicht, Kytharas Fingern und der murmelnden Schar der Hexenschwestern hin und her.
„Geh!“, flüsterte sie Corin zu und schob das Mädchen voran, das wie erstarrt schien. Zögernd taumelte Corin in die Dunkelheit hinein.
„Inani, Tochter der Shora, dein Weg führt durch das Tor zur Linken. Bringe zurück, was du für würdig erachtest, der Schwesternschaft vorzuweisen!“
Ein Flimmern und nebliges Schaudern durchfuhr die fest gemauerten Steine der Wand. Beinahe glaubte Inani, das Stöhnen der Mauer zu hören, als Kytharas Magie sie zerriss, um eine weitere Pforte zu erschaffen.
Dankbar, der Aufmerksamkeit der Hexen zu entkommen, schritt sie durch das Tor hindurch in die absolute Finsternis. Was würde sie dort vorfinden?
Inani Herz schlug wie Trommeln. Erinnerungen überfluteten sie, an das letzte Frühlingsfest im Dorf, als sie am Feuer tanzen durfte – Karim hatte die Trommeln geschlagen und sie beobachtet, die halbe Nacht lang.
Wenn ich versage, werde ich Karim wiedersehen. Vielleicht fragt er in einigen Jahren, ob ich ihn heirate? Vielleicht wünsche ich es mir dann?
Sie tastete über raues Gestein, folgte dem engen, gewundenen Tunnel, den Kytharas Magie erschaffen hatte.
Wie mächtig sie ist! Ob ich auch so mächtig werden kann?
Endlich entdeckte sie ein mattes Leuchten vor sich, schritt eilig darauf zu und fand sich an einer Feuerstelle mitten in einer Höhle wieder. Daneben lagen zwei regungslose pelzige Körper. Inani kniete nieder und begriff nun, was von ihr erwartet wurde. Einige Herzschläge lang starrte sie blicklos in die Flammen – diese Aufgabe war leicht, widersinnig einfach. Und doch, sie war so schwer ...
Zwei Kaninchen lagen dort vor ihr. Inanis kundige Hände erspürten sofort, dass beide ihre Hilfe brauchten. Das eine Tier, ein graufelliges junges Männchen, war verletzt, aber es würde überleben, egal, ob man ihm half oder nicht. Das andere, ein grau-weiß geschecktes, schon älteres Weibchen, lag im Sterben – die Bauchdecke war aufgerissen, Blut tränkte das Fell. Beide Tiere zitterten vor Schmerzen, versuchten vor Inani zu fliehen, waren aber, außer einem Zucken der Hinterläufe, zu keiner Bewegung fähig.
Ein Korb stand neben dem Feuer bereit, in ihm lagen saubere Tücher, Heilkräuter und eine Phiole mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.
Daucorvel, dachte Inani. Sie musste das Siegel der Phiole nicht zerbrechen, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie wusste um dieses mächtige Gift, die Essenz jener Blume, die neunundneunzig Jahre lang schlief, um dann in einer einzigen Nacht – der Karr – zu erblühen und sofort zu sterben. Deshalb also hatte Shora ihr in den letzten Wochen immer wieder davon erzählt! Wer Daucorvel trank, und sei es bloß ein einziger Tropfen, fiel sofort in tiefen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gab. Ein gnadenvoller Tod, so hatte ihre Mutter es genannt.
„Inani!“ Das Mädchen blickte hoch, als sie Kythara hörte, doch sie war weiterhin allein, lediglich die Stimme der Königin hallte in ihrem Kopf wider.
„Wähle! Du kannst deine Entscheidung nicht rückgängig machen, und egal, was du aus dem Korb nimmst, alles andere ist danach verloren und kann nicht mehr zurückgeholt werden. Du kannst nur eine Tat begehen. Wähle klug!“
„Ich wusste auch so, dass ich nicht beide Kaninchen bringen soll!“, flüsterte Inani, aber sie erhielt keine Antwort mehr. Ein wenig ratlos streichelte sie beide Tiere und versuchte, ihrer widerstreitenden Gefühle Herr zu werden.
„Man will, dass ich dich von deinem Leid erlöse. Du stirbst, und nichts kann dich mehr retten, außer starke Magie, die ich nicht besitze.“ Sie spürte den rasenden Herzschlag des Kaninchens, das durch seine breite Bauchwunde bereits so viel Blut verloren hatte, dass nur eine ausgebildete Hexe noch hätte Heilung schenken können. „Du hingegen, du leidest an Schmerzen, doch du brauchst meine Hilfe nicht. Es wäre Verschwendung, dich zu heilen und deine Gefährtin dafür elendig umkommen zu lassen. Warum soll nicht beides gehen?“ Ihre Finger strichen über den Nacken des Weibchens. Es wäre so leicht, den Halswirbel zu brechen, viel leichter als dem matten Tier Gift einzuflößen!
Wieder zuckten die Hinterläufe des todeswunden Weibchens, und bevor Inani weiter überlegen konnte, hatte sie es gepackt und sein Genick gebrochen. „Du bist erlöst“, wisperte sie zärtlich, drückte es kurz an sich, erfüllt von einem Gefühl zwischen Bedauern und zufriedener Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Dann griff sie in den Korb, nahm die Heilkräuter und die Verbandstücher in die Hand. Erneut zögerte sie – wurde von ihr erwartet, ein Kaninchen zu präsentieren, das weiterhin verletzt war, eingewickelt in Tücher?
Das ist wohl kaum der Schwesternschaft würdig. Soll ich es also liegen lassen und das tote Kaninchen zeigen?
Behutsam drehte sie das verletzte Tier um. Die Schnittwunde am rechten Vorderlauf ging tief in den Muskel. Ein sauberer, glatter Stich, mit einem scharfen Dolch geführt. Das Kaninchen litt Schmerzen, würde aber, sobald es den Schock überwunden hatte, auch auf drei Beinen gut vorwärts kommen.
Ich habe es schon einmal getan.
Inani zögerte. Shora hatte sie gelehrt, die magischen Energien zu beherrschen, damit sie von ihnen nicht überwältigt wurde. Es war ihr weder gestattet, sie zu nutzen, noch wusste sie mit Sicherheit, ob es ihr gelingen würde, sie überhaupt zu erreichen. Möglicherweise würde sie das Tier töten und damit alles verderben!
Ich habe es schon einmal getan. Es war leicht.
Kythara hatte gesagt, dass sie bloß eine einzige Handlung durchführen durfte. Hatte sie damit nicht längst versagt?
Ich habe es schon einmal getan. Es war leicht. Und ich schaffe es wieder!
Inani konzentrierte sich, dachte an die Lebensströme des kleinen Tiers in ihren Armen. Sehr bald spürte sie das schlagende Herz nicht nur unter ihren Fingern, sondern in ihrem gesamten Bewusstsein. Wie von selbst glitt ihr Daumen über den Brustkorb des Kaninchens. Sie lächelte, als sie fühlte, wie sich der rasende Puls verlangsamte. Und dort war die Wunde, ein klaffender Abgrund in dem vollkommenen Netz der Lebensenergie, die sie jetzt in diesem kleinen Geschöpf sah. Bloß ein Gedanke, eine kurze Willensanstrengung, und ein Geflecht erwuchs in diesem klaffenden Spalt.
Sie zuckte zusammen, als das Kaninchen plötzlich losstrampelte und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie in Trance gewesen war – hoffentlich nicht zu lange! Die Wunde war verschlossen, eine feine Narbe und etwas blutverkrustetes Fell war alles, was noch daran erinnerte.
Entschlossen packte Inani beide Tiere, das geheilte und das erlöste Kaninchen, und kehrte zurück zum Versammlungsraum.
Wenn ich schon untergehe, soll es wenigstens schnell gehen.
Es herrschte fröhlicher Aufruhr, als sie durch ihr Tor heraustrat. Corin hielt mit vor Stolz geröteten Wangen ein totes Kaninchen und eine leere Phiole hoch. Alle applaudierten ihr, Kythara sprach gerade lobende Worte. Inani verharrte still, um diesen Moment des Triumphes nicht zu stören, doch da hatte man sie bereits entdeckt. Schweigen trat ein, kurz durchbrochen von gemurmelter Empörung, als die Hexen sahen, dass Inani ihre Aufgabe offenbar falsch gelöst hatte. Dann war es wieder still.
Unheilvolles, wartendes Schweigen. Corin starrte sie hasserfüllt an, denn nun beachtete sie niemand mehr. Ihr großer Augenblick war vergessen und verloren.
„Was hast du der Schwesternschaft vorzuweisen, Inani, Tochter der Shora?“, fragte Kythara schließlich langsam.
„Ich habe das sterbende Tier von seinen Qualen erlöst, es brauchte mich am meisten. Das verletzte Tier konnte ich heilen, das war leicht. Ich hielt es für den richtigen Weg, das Gleichgewicht zu wahren.“ Mit diesen Worten, laut genug gesprochen, dass jeder sie hören konnte, legte sie beide Tiere in Kytharas Hände. Dann trat sie zurück, mit verschränkten Armen und erhobenem Kopf, gewillt, keine Schwäche zu zeigen. „Du hast heilende Magie eingesetzt?“, vergewisserte sich die Königin. Ein Hauch von Unsicherheit schwang in ihrer Stimme mit.
„Ja. Ich habe dies schon zuvor versucht, bei einem Pferd. Meine Mutter wusste nichts davon. Sie hat es mich weder gelehrt noch mich dazu ermuntert.“
„Woher weißt du, wie man die Lebensmuster erkennt? Woher weißt du, wie viel Kraft nötig ist, und wann es schädlich für dich selbst wird?“
Ratlos schüttelte Inani den Kopf. „Ich ... ich weiß es einfach.“
„Geht raus! Alle raus! Der Rat zu mir!“, befahl Kythara. Sie hatte so leise gesprochen, dass selbst Inani, die direkt vor ihr stand, die Worte kaum vernommen hatte. Dennoch gehorchten der Reihe nach alle Hexen, der Raum leerte sich. Unsicher, ob auch sie selbst gemeint war, wandte sich Inani zum Ausgang, doch Kytharas Hand schoss vor. Lange, spitze Fingernägel bohrten sich in ihre Haut.
„Du bleibst. Shora, du wirst hier ebenfalls gebraucht!“
Eine Welle der Erschöpfung schlug über Inani zusammen. Sie fand sich am Boden liegend in den Armen ihrer Mutter wieder, am ganzen Leib zitternd. Irgendwo in weiter Ferne murmelten mehrere Hexen miteinander. Inani verstand kein einziges Wort – und es war ihr gleichgültig. Sie wollte schlafen, einfach nur schlafen ...
Aber jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, kniff Shora sie leicht, um sie wach zu halten.
„Bald ist es vorbei“, hörte sie ihre Mutter wispern.
„Verzeih, ich habe dich enttäuscht.“
„Nein, Inani, du hast unsere Erwartungen bei weitem übertroffen!“
Es war Kythara, die diese Worte sprach. Das Gesicht der Königin tauchte verschwommen über ihr auf.
„Du hast die Aufgabe vollständig begriffen. Das geschieht nicht oft, immerhin sind es aufgeregte, völlig verängstigte zwölfjährige Mädchen, die geprüft werden. Kinder, die sich davor fürchten, ohne ihre Mütter in die Fremde verstoßen zu werden, oder aber mit ihr in eine neue, möglicherweise schreckliche Welt gehen zu müssen. Das Ziel der Prüfung ist zu erkennen, ob Mitleid für die leidende, leicht zu rettende Kreatur überwiegt, oder die Erkenntnis, dass man manchmal töten muss, um noch schlimmeres Leid zu verhindern.