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Ist es Wahnsinn oder Liebe, als Inani ein gefährliches Ritual nutzt, um Janiel an sich zu binden? Ihr Leben hängt davon ab, dass Janiel diesen magischen Bund vollendet. Er muss sich nun entscheiden, ob er zum Licht oder zu Dunkelheit gehört oder auf ewig in der Dämmerung verharrt. Währenddessen beginnen sich die vergessenen Völker zu regen: Die Kinder des Zwielichts sind mehr als nur eine Legende und treten aus dem Schatten hervor, in dem sie sich freiwillig verbargen.
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Ist es Wahnsinn oder Liebe, als Inani ein gefährliches Ritual nutzt, um Janiel an sich zu binden? Ihr Leben hängt davon ab, dass Janiel diesen magischen Bund vollendet. Er muss sich nun entscheiden, ob er zum Licht oder zu Dunkelheit gehört oder auf ewig in der Dämmerung verharrt.Währenddessen beginnen sich die vergessenen Völker zu regen: Die Kinder des Zwielichts sind mehr als nur eine Legende und treten aus dem Schatten hervor, in dem sie sich freiwillig verbargen.Dritter Band der vierteiligen Fantasy-Saga um Magie, Macht, Schicksal und Liebe
Ca. 62.000 Wörter
Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ca. 300 Seiten
Roen Orm
3.Teil
Kinder des Zwielichts
Für meine Mutter, ohne die ich die Steintänzerin nicht auf die Reise hätte schicken können
Wenn Licht und Dunkelheit einander umarmen, entsteht das Zwielicht.
Die Dämmerung, in der Kinder beider Götter leben; gesegnet, doch nicht vereint. Denn das Licht strebt zur Dunkelheit, die es vernichtet, die Dunkelheit strebt zum Licht, das es vernichtet, und gemeinsam zerstören sie einander, immerdar …
Und so leben die Dämmerungskinder auf ewig in Sehnsucht nach dem, was nicht ist und nicht sein darf und niemals sein kann.
„Entscheidet eine Dunkle Schwester, dass ihre Lebensaufgabe beendet ist, dann erinnert sie sich an ihr Leben. An alles, was war, was sie getan hat. Diejenige, die ihr den Todeskuss gibt, wird all diese Erinnerungen mit ihr teilen und für den Rest ihres Lebens in sich tragen. Es ist eine große Verantwortung, solch eine Kostbarkeit anzunehmen. Wählt klug, Töchter der Pya! Geht lieber ohne das Ritual, als mit der falschen Hexe eure Seele zu teilen.
Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
um letzten Mal: Zahl die drei Kupferlinge, oder geh nach Hause, Alter!“
Der Bauer murrte, doch er hatte keine Wahl. Er musste zahlen, sonst würde er mit seinen Ziegen heute nicht am Markttag teilnehmen können.
Inani betrachtete die Szene lächelnd. Gleich war sie an der Reihe. Sie trug ein schlichtes braunes Leinenkleid, ein Tuch verbarg ihre leuchtend roten Haare. In dieser langen Warteschlange von Bauern, Bürgern und Händlern fiel sie nicht weiter auf.
Gelangweilt wurde sie von dem Torwächter gemustert. Inani wusste, er sah nichts als eine kleine, zierliche Frau. Eine Magd oder Bäuerin, wie so viele andere hier. Nach einem kurzen Abschätzen des Weidenkorbs voller Leinentücher, den sie auf der Hüfte gestützt trug, sagte er: „Ein Kupferling Wegezoll, und mach schnell!“
Inani sah zu ihm auf. Ihre hellblauen Augen leuchteten, als sie seinen Blick gefangen nahm.
„Ich habe bereits bezahlt. Erinnerst du dich nicht?“,wisperte sie in sein Bewusstsein.
Der Torwächter taumelte, Inani spürte, wie glühender Schmerz in seinem Kopf explodierte.
„Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Herr?“, rief sie laut.
Der Moment verging, und der Wächter rang krampfhaft hustend nach Luft. Er taumelte haltlos umher, die Hände fest gegen die Schläfen gepresst.
„Was machst du da, Ryk?“, brüllte jemand aus der Wachstube.
„Nichts, alles in Ordnung“, rief der Wächter ins Leere. Er wandte sich Inani zu, die ihn mit besorgter Miene betrachtete.
„Geh weiter, du hältst die Leute auf!“, herrschte er sie an.
„Hey, die musste nichts zahlen, das ist ungerecht!“ Eine Bäuerin mit einer Tragekiepe voller Eier stemmte empört die Fäuste in die Seiten.
„Halt’s Maul! Natürlich hat das Weib den Zoll bezahlt, wie jeder andere auch. Und du wartest gefälligst, bis du dran bist, sonst hast du gleich keine Eier mehr zum Verkauf!“
Inani rückte derweil ihren Korb zurecht und marschierte zufrieden lächelnd in die Stadt.
Sie sah aus den Augenwinkeln die dunkle Gestalt, die sich am Tumult vor dem Tor vorbeidrückte.
Ein wunderbarer Tag!, dachte sie begeistert. Lautes Geschrei in ihrem Rücken zeugte davon, dass die wütende Bäuerin jetzt wohl tatsächlich ihre Ware verloren hatte. Dummes Ding. Wann würden die Menschen endlich einsehen, dass Gerechtigkeit nichts war, das man mit Worten einfordern oder gar von Göttern erflehen konnte, sondern ein teures Handelsgut, bezahlt mit Gold oder Blut?
Der Name dieser Stadt war Rannam. Inani atmete tief den Gestank von Verfall und Armut, Fäkalien und jeglicher Art Dreck ein.
Sperrt Tiere auf einen Haufen, und du wirst im Mist ertrinken. Egal, ob es Ziegen oder Menschen sind, dachte sie, während sie mit geschürztem Rock leichtfüßig über die matschigen Straßen trippelte. Manchmal vermisste sie die raffinierten Kanalleitungen und die fleißigen Straßenfeger von Roen Orm, doch niemals an Tagen wie diesen. Der heutige Tag war Pya geweiht, auch wenn die braven Bürger davon noch nichts wussten.
„Nimm, die Göttin segne dich“, rief sie einem zahnlosen Bettler zu und gab ihm ein Stück sauberes weißes Leinentuch aus dem Korb.
„Danke, Herrin, danke!“, murmelte der Alte verwirrt. Er drehte und wendete das Tuch, steckte es schließlich in seine Tasche. Es mochte wertlos für ihn sein, trotzdem, es war ein Geschenk. Inani huschte um die nächste Häuserecke, blieb allerdings nah genug, um ihn noch beobachten zu können. Lange musste sie nicht warten …
„Was hat die Frau dir gerade gegeben?“ Ein Mann baute sich über dem Bettler auf. Groß gewachsen war er, der dunkle Umhang und die Kapuze verbargen Gestalt und Gesicht – nicht aber den Schwertgriff über seiner Schulter.
„Nichts Unrechtes, Herr. Sie schenkte mir ein Stück Stoff“, wimmerte der Alte. Er wollte nach dem Tuch greifen, doch der Mann winkte hastig ab.
„Lass gut sein, Alter. Hier, geh in die Taverne dort und iss eine Suppe.“ Er warf dem Bettler ein Beutelchen zu, in dem es verführerisch klimperte. Noch bevor der Bettler etwas erwidern konnte, war der Fremde verschwunden.
„Bei allen Feuern des Himmels!“, murmelte der Alte misstrauisch und schlug vorsichtshalber den Sonnenkreis gegen böse Geister. Inani beeilte sich weiterzukommen, bevor ihr Verfolger sie noch erwischte. Genug gespielt! Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Inani erkannte das Zeichen über der Tür sofort. Nur wenige Menschen waren in der Lage, die magischen Schutzrunen in den Holzbalken zu sehen, selbst jene mit der Gabe nicht.
„Die gute Yosi wird bestimmt schon warten“, murmelte sie besorgt, nachdem sie den Stand der Sonne überprüft hatte. Sie hatte mehrere Stunden damit zugebracht, ihren Korb zu leeren. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, die letzten beiden Leinentücher an zwei Bettelkinder zu verschenken.
„Was soll’n wir’n damit?“, fragte das Größere der beiden mürrisch.
„Wisst ihr denn nicht, dass man den Toten die Augen verbinden soll? Sie dürfen nicht sehen, wohin ihre Seele getragen wird, sonst lässt Geshar, der Seelenträger, sie in den Abgrund fallen, der zwischen der Welt der Lebenden und Toten liegt“, erklärte Inani geduldig.
„Wissen wir doch. Aber warum gibst du uns dann so’n Tuch?“
Sie beugte sich zu dem Kind hinab. Es schien ein Mädchen zu sein, auch wenn es unter all dem Schmutz kaum zu bestimmen war.
„Pass sorgsam auf dieses Tuch auf. Du wirst es schon sehr bald brauchen!“, wisperte sie. Voller Angst starrte das Kind sie an, umklammerte das Tuch, packte seinen Gefährten und rannte mit ihm davon, so schnell es konnte. Inani horchte in sich hinein – nein, sie war ihren Seelentieren im Moment nicht nah. Das Mädchen hatte nicht vor Reptilien- oder Raubtieraugen fliehen müssen. Das war wichtig, Inani musste ganz und gar Mensch sein, um das Ritual durchführen zu können.
Die Tür öffnete sich, bevor Inani sie berührt hatte.
„Du kommst spät, verdammt!“, murrte eine brüchige Stimme aus der Finsternis des Raumes. Das gesamte Haus bestand aus diesem einzigen Raum. Es gab kein Fenster, nur ein prasselndes Feuer auf dem Boden, in einem von Steinen umgebenen Loch, sorgte für Licht und bullige Hitze. Eine uralte Frau erhob sich mühsam von einem Hocker. Vor ihr stand ein Webrahmen, neben ihren Füßen ein niedriges Körbchen. Das Symbol ihres Lebenswerks.
„Ich habe schon seit Tagen alles fertig, wo bleibst du denn? Ich dachte schon, ich müsste ganz alleine gehen.“ Milchweiße Augen starrten vorwurfsvoll in Inanis Richtung.
„Ich werde verfolgt. Ein Priester aus Roen Orm. Hitziger junger Bursche, wahrscheinlich will er mich mitten auf dem Marktplatz zu verhaften suchen.“ Inani lächelte nachsichtig. Der junge Geweihte verfolgte sie seit Wochen. Sie spielte mit ihm, hinterließ immer wieder Spuren, damit er auf ihrer Fährte bleiben konnte. Bislang war er ihr nie wirklich nah gekommen. Heute aber, das spürte sie, würde sie mit ihm zusammenstoßen. Heute war ein guter Tag! Auch wenn eine zarte Stimme der Vernunft darum bettelte, sich von ihm fernzuhalten. Zu ihrem eigenen Schutz, und um ihn nicht ungewollt zu vernichten.
„Unterschätze ihn nicht. Der Glaube, das Richtige zu tun, verleiht den Menschen Kräfte, die deinen gleichwertig sein können“, brabbelte die Alte, und sank stöhnend zurück auf den Hocker. Als sie vor drei Tagen nach Inani gerufen hatte, war sie eine schöne junge Frau gewesen, um deren honigblondes Haar Inani sie immer beneidet hatte.
„Nimm das Zeug endlich mit, ich will meine Ruhe.“
„Gewiss, Liebes“, flüsterte Inani, kniete neben der Frau nieder, die ihr eine Freundin gewesen war, und umarmte sie. Gemeinsam sprachen sie die geheiligten Worte des Rituals auf Is’larr. Yosis Leib bäumte sich auf, sie stöhnte tief. Doch Inani wiegte sie weiter sanft in ihren Armen, küsste ihre Stirn, strich beruhigend über das schüttere weiße Haar, bis der alte Körper schlaff zusammensackte.
„Du warst eine der besten“, sagte Inani trauernd, und legte die tote Frau behutsam auf den Boden. Sie war dankbar, dass diese Ehre ihr zuteil geworden war. Die gesamten Erinnerungen der Hexe sickerten in ihr Bewusstsein ein. Mit der Zeit würden sie verblassen, im Moment aber erinnerte Inani sich an ein Leben, das sie niemals geführt hatte, und es waren viele Jahre gewesen. Ein Leben, gewidmet der Aufgabe, die Chroniken der Töchter Pyas zu schreiben. Inani erschauderte, denn auch sie war in diesem Buch verewigt, und zwar mit dem letzten Absatz:
„Nun beschließe ich meine Aufgabe, ich spüre, sie ist getan. Ein neues Zeitalter hat begonnen, und es begann mit Inani, Tochter der Shora, und Inani wird mein Leben beenden.“
„Vierhundertsiebzehn Jahre, das hat vor dir niemand erreicht. Ay, das wird ein Haufen Arbeit, dich und dein Lebenswerk zu würdigen.“ Inani weigerte sich, über die mögliche Bedeutung von Yosis Schlusswort nachzudenken. Sollte wirklich jetzt schon die Zeit gekommen sein, ihre Lebensaufgabe zu erfüllen? Selbst Maondny hätte ihr nichts dazu sagen können. Oder vielmehr, die Traumseherin könnte ihr mehr sagen, als Inani jemals hören wollte, doch sie würde es nicht tun.
Inani sang die Lieder, die Yosi so sehr geliebt hatte, während sie ihre Augen mit dem Tuch verband, das die Alte in ihren knorrigen Händen umklammert hielt. Dann griff sie nach dem Korb, in dem Yosis Werk lag: Fast unsichtbare Fäden, fein säuberlich aus Yosis eigenem Haar gesponnen. Vierhundertsiebzehn Stück, darauf konnte Inani sich blind verlassen.
„Wenn eine Schwester fühlt, dass sie gehen muss, wird sie nach uns rufen. Jene, die ihr besonders nahe ist, in Seele und Wegstunden, steht in der Pflicht zu ihr zu eilen, den Todeskuss zu geben und sie in die nächste Welt zu führen. Die Rituale müssen durchgeführt werden, und für jedes Jahr, das die Schwester gelebt hat, muss ein Mensch getötet werden. Nur so kann man sicher sein, dass die Schwester bei der Dunklen Göttin erwacht und von ihr aufgenommen wird.“
Inani erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem Shora diese Worte gesprochen hatte. Gemeinsam waren sie damals aufgebrochen, um dem Ruf einer Schwester zu folgen.
Dies alles lag schon so lange zurück ... Mutter, wir sehen uns wieder, zu Füßen der Göttin.
Inani riss sich zusammen. Es war nicht klug, zu lange an einem Ort zu verweilen, wenn man verfolgt wurde. Ihren eigenen, nun leeren Korb ließ sie zurück und wandte sich dann dem Feuer zu. Yosis wahres Vermächtnis – die Chronik, unzählige Pergamentseiten, gebunden in schweres Leder – trug sie unter ihrem Mantel verborgen. Sie wollte nicht den Nebel rufen, gewiss überwachte der Priester das magische Zwielicht. Sie wusste, er war fähig dazu, mehr als jeder andere …
Du wirst dich wundern, mein Freund! „Tanzt, Flammen, tanzt!“, befahl sie, und das Feuer loderte auf. Mit tiefer kehliger Stimme sang sie uralte Worte, die kein sterblicher Mensch jemals gehört hatte, bis die Flammen jeder ihrer Bewegungen folgten. Inani wiegte ihren Körper zu dieser langsamen Melodie und trat schließlich auf die brennenden Holzscheite. Die Tür flog auf, der Sonnenpriester sprang mit gezogenem Schwert in den Raum. Zu spät! Inani winkte ihm spöttisch zu, bevor die Feuersäule sie verschlang.
Sie lachte noch immer leise, als sie längst schon wieder aus dem Schatten der dunklen Gasse getreten war, zu der das Feuer sie auf ihr Geheiß getragen hatte. Kaum eine Hexe war zu diesem Flammenzauber fähig, ein Jammer, dass es zu lange dauerte, um ihn im Kampf nutzen zu können. Inani wartete ein wenig, sie hatte es nicht eilig. Das zornige Gesicht des jungen Mannes hatte keinen Raum für Zweifel gelassen, er würde niemals aufgeben sie zu suchen.
Inani freute sich schon auf dieses Duell, er sah mittlerweile nach einem fähigen Magier aus. Sie war gespannt, wie Janiel sich entwickelt hatte.
Im dichten Getümmel des Markttages fiel nicht auf, dass eine Frau silberglänzende Fäden auf die Umhänge der Menschen verteilte. Links und rechts, nach allen Seiten, stundenlang. Bis auch dieses Körbchen leer war.
„Nun darfst du unbeschwert mit Geshar fliegen, Yosi. Dein Lebenswerk ist vollbracht“, flüsterte Inani. Sie setzte sich auf die Randsteine eines großen Brunnens, das leere Körbchen achtlos zu Boden geworfen, das Kopftuch ruhte nun auf ihren Schultern. Die meisten Leute starrten ängstlich auf ihre leuchtenden rotblonden Locken. In den letzten Jahren hatte sich die von Garnith begründete Irrlehre, dass rote Haare Zeichen einer Hexe waren, immer weiter ausgebreitet. Gewiss Rynwolfs Werk. Der neue Erzpriester selbst war zu klug, um auf solchen Aberglauben zu verfallen, davon war Inani überzeugt, doch er wusste, wie viel Macht er damit über das einfache Volk gewinnen konnte. Leise summend spielte sie mit dem Wasser, wartete müßig, dass der Priester endlich seinen Weg zu ihr fand.
Ein Aufschrei hallte über den Marktplatz, als ein alter Mann zuckend zu Boden fiel, die Hände über das Herz gekrampft. Der erste Tote in Yosis Namen. Inani lächelte nur und spielte weiter mit dem kühlen Wasser. Noch drei weitere folgten, bevor ihr Verfolger endlich kam.
„Hier bist du also, verdammte Hexe!“, brüllte er quer über den Platz. Er war offenbar wütend darüber, dass sie solch lange Zeit mit ihm gespielt hatte … Normalerweise beherrschte er sich besser. Wie schön es war, ihn wiederzusehen! Die Menschen wichen kreischend zurück, bis genug Freiraum entstanden war. Inani erhob sich gelassen, wischte ihre Hände am Rock ab.
„Sei gegrüßt, Priester. Du bist recht langsam“, sagte sie lächelnd, und griff über die Schulter. Ein schön gewundener Holzstab ruhte nun in ihrer Hand. Yosis Buch war mittlerweile am Rand der Nebelpfade geborgen. Dort war es in Sicherheit, selbst, wenn sie heute sterben sollte. Diese Gefahr schätzte Inani allerdings als nicht sehr groß ein.
Oh, sie wollte nicht übermütig oder gar leichtsinnig werden, sie wusste, dass die Geweihten von Roen Orm sehr sorgfältig ausgebildet wurden. Doch Janiel hatte seit dem Krieg gegen Lynthis nicht mehr gegen Feinde gekämpft und war noch nie, soweit Inani wusste, mit Magie und Schwert gegen eine Hexe angetreten.
Janiel warf seinen dunklen Umhang ab und offenbarte das sonnengelbe Emblem auf seiner Brust. Mit gezogenem Langschwert näherte er sich dem Brunnen.
In der vordersten Reihe der gaffenden Zuschauer schrie eine Frau laut auf, krümmte sich und sackte tot zu Boden.
„Zu langsam war ich, um diese Menschen zu retten, ja. Aber wenn ich dich vernichtet habe, wird die Welt von einer schrecklichen Plage befreit sein. Was hat diese Frau dir getan, dass du sie töten musstest?“, rief er anklagend.
Inani parierte seinen Angriff und schlug gewandt mit ihrem Stab zurück.
„Sie war krank. Ihre Leber hätte sie in den nächsten Wochen qualvoll zugrunde gehen lassen. Ich habe ihr Leiden verkürzt. Dasselbe gilt für alle anderen. Ihr Opfer war notwendig. Glaub es mir, ich habe mir viel Zeit bei der Auswahl gelassen, um kein blühendes Leben zu zerstören. Dies ist der Weg der Pya.“
Sie umtänzelten einander, deckten sich immer wieder mit schnellen Schlagfolgen ein, ohne dass es einem gelang, den anderen zu treffen. Er war schnell und besaß durch Kraft und größere Reichweite den Vorteil, mit dem er Inanis Erfahrung ausgleichen konnte.
„Es steht dir nicht zu, über das Leben von Menschen zu entscheiden, dies darf nur Ti, unser Gott. Du bist eine Mörderin, eine verfluchte Hexe!“, zischte er, als eine weitere Frau in sich zusammensank.
Inani stieß beide Fäuste vor, und ein magischer Energiestoß aus reiner Feuermagie traf ihn ungeschützt in der Brust. Er stürzte schreiend zu Boden. Jämmerlich. Ein vorzüglicher Schwertkämpfer war er, selbst wütend und unbeherrscht konnte er ihr standhalten. Bloß, was war mit seiner Magie? Er besaß so viel Kraft, sie leuchtete derartig stark, dass es Inani beinahe blendete, warum nutzte er sie nicht? Es schien fast, als wüsste er gar nicht, wie stark er wirklich war.
„Wir Töchter der Nacht sorgen für das Gleichgewicht auf der Welt. Wo Licht ist, muss Schatten sein, wo Leben ist, auch der Tod.“
Janiel riss die Hände empor, Lichtblitze lösten sich aus seinen Fingern. Doch Inani wich behände aus, die Blitze zerrissen harmlos die Erde.
„Ohne euch wird das Leben auf dieser Welt ein Zeitalter der Ordnung und des Friedens sein!“, erwiderte er voller Zorn, rappelte sich auf und griff erneut mit dem Schwert an.
„Ordnung und Frieden wird herrschen, sobald die Menschen dies wünschen, mein Freund. Vielleicht wirst du lange genug leben, um dies begreifen zu können.“
Immer mehr Tote stürzten reihum zur Erde. Ihre Angehörigen schrien verzweifelt, voller Angst und Entsetzen.
„Wir werden alle sterben!“, kreischte jemand.
Diese Worte lösten die Trance, in der die Menge sich befand. Massenpanik griff um sich, und sie rannten, weinten, flüchteten in alle Richtungen, vorbei an dem kämpfenden Paar.
„Du bist noch lange nicht soweit, mein Lieber“, sagte Inani irgendwann seufzend.
„Ein guter Krieger, aber deine magischen Fähigkeiten sind unterentwickelt, dazu fehlt es dir an Selbstvertrauen.“ Sie ließ den Stock fallen, wirbelte blitzschnell um die eigene Achse und stand im Rücken ihres Feindes, bevor der begriffen hatte, was geschah. Sie schlug ihm mit der flachen Hand in den Nacken, kraftlos sank er in sich zusammen. Bewegungsunfähig lag er am Boden, gebannt von ihrem mit Magie unterstützten Schlag.
„Wie heißt du, mein Freund?“, fragte Inani sanft, mehr, um ihn von dem Schock abzulenken. Sie drehte ihn auf den Rücken und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Er würde noch eine Weile gelähmt bleiben, rasch überzeugte sie sich magisch davon, dass seine Halswirbel nicht gebrochen waren.
„J... Janiel“, wisperte er, sichtlich von kaum erträglichen Schmerzen gepeinigt. Er zitterte unkontrolliert, als sie ein wenig Druck von seinen Nervenbahnen nahm, seine Augen starrten voller Angst und Wut zu ihr empor. Er hatte sich an sie als Hofdame von Roen Orms Königin erinnert. Sie lächelte über den Mann, der aus dem Kind geworden war. Selbstverständlich kannte sie seinen Namen, aber er sollte sich nicht einbilden, sie hätte es nötig gehabt, ihn sich zu merken.
Wenn du ahnen würdest, wie verbunden ich dir bereits war … Wie viel ich über dich weiß … Sie hatte in seine Seele geblickt, um ihn zu heilen. Nie zuvor war Inani einem Mann so nah gekommen, nicht einmal Thamar.
„Du bist noch nicht bereit, um einer erfahrenen Hexe zu begegnen. Wer nur war so wahnsinnig, dich auf die Jagd zu schicken? Oder bist du gegen den Rat deiner Meister ausgezogen?“ Zärtlich streichelte sie sein Gesicht, tupfte mit dem Ärmel ihres Umhanges den Schweiß von seiner Stirn. Er war nahe davor, in Schock zu verfallen, das Atmen fiel ihm schwer. Rasch heilte sie die innere Blutung, die im Gewebe um seine gequetschten Wirbel entstand, so weit, dass er leichter atmen konnte – und sich nicht selbst benässte.
„Ich spüre große Kraft in dir, Janiel. Kehre zurück nach Roen Orm zu deinem Meister und lerne. Wir werden uns wiedersehen und erneut unsere Macht gegeneinander stellen. Ich freue mich sehr auf diesen Tag!“ Sie küsste ihn sacht auf die Lippen, was er hilflos geschehen lassen musste.
Wie gut du schmeckst! Wenn du wüsstest, dass ich dich … Ich wünschte …
„Hast du Angst?“, flüsterte Inani in sein Ohr, getrieben von einer wahnwitzigen Idee. Kythara würde Feuer spucken! Es war mehr als Wahnsinn … doch sie spürte, es war richtig und verdrängte alle Zweifel, für die keine Zeit blieb.
„Hast du Angst?“, wiederholte sie und blickte ihm ins Gesicht.
Er verdrehte nur die Augen als Antwort, unfähig zu sprechen.
„Das ist gut. Angst wird dein Leben retten. Aber du fürchtest mich noch nicht genug. Darum will ich dir etwas geben, damit du dich auf ewig an mich erinnerst, und niemals mehr vergisst, dass eine Hexe nicht mit Wut allein zu bezwingen ist.“
Sie legte seinen Kopf vorsichtig auf den Boden, setzte sich anschließend rittlings auf seine Brust und ergriff seine Handgelenke. Noch immer zur Bewegungslosigkeit verdammt, blieb Janiel nichts als hilfloses Wimmern, um seine Angst zu zeigen, als sie sich ganz langsam über ihn beugte. Sie küsste ihn leidenschaftlich und zärtlich zugleich, bis sein Widerstand erlahmte. Er erwiderte den Kuss, zaghaft, doch spürbar. Dann ließ sie ihre Magie frei. Er versteifte sich bei dem brennenden Schmerz, ohne sich wehren zu können, während sie ihn weiterhin küsste. Inani wollte nicht aufhören, sie hatte sich lange nach einem Kuss gesehnt, viel zu lange … Er weckte hitzige Leidenschaft in ihr, der sie nicht nachgeben durfte, sonst würde sie ihn umbringen.
Als sie ihn endlich freigab, hatte er die Augen fest geschlossen. Zwei einzelne Tränen auf den Wangen waren das einzige Zeichen, dass er noch lebte.
„Auf bald, Janiel, bis zum Tag unseres Wiedersehens“, sprach sie leise, strich ein letztes Mal sanft über sein Gesicht, hinab zu seinem Hals. Dabei heilte sie ihn vollständig. Danach verschwand sie in den Schatten einer schmalen Gasse.
Janiel brauchte sehr lange, bis er fähig war, sich zu bewegen. Langsam richtete er sich auf, von Schmerz und Angst gepeinigt. Er stöhnte, als er seine Handgelenke betrachtete. In feurigroten Buchstaben war dort auf beiden Seiten ihr Name eingebrannt: Inani. Sie hatte ihn nicht nur besiegt, sie hatte ihn zerstört! Er wusste, er würde diese Narben bis zu seinem Tod tragen, niemals vergessen dürfen, welche Hexe ihm das angetan hatte. In den alten Schriften hatte er davon gelesen: Nicht einmal mit Feuer oder tiefen Schnitten in die Haut würde er dieses Mal auslöschen können. Warum, und was dieses Ritual bedeutete, hatte er nie herausgefunden.
Janiel war ausgezogen, um Rynwolf zu beweisen, dass er kein Schwächling war. Kein unfähiger kleiner Junge, zu feige, um sich einer Gefahr zu stellen. Diese Hexe, die er seit seiner Kindheit fürchtete, hatte er in Roen Orm gesehen, sie all die Zeit verfolgt, sich über sein Geschick gefreut, ihre Spur nicht zu verlieren. Es hatte schon viel zu lange gedauert, ihre Illusion als sittsame Hofdame zu durchschauen, mit der sie ihn jahrelang genarrt hatte.
Wahrscheinlich hat sie nur mit mir gespielt. Ich bin eben doch ein Schwächling, eine Gefahr für mich und andere. Zu dumm, zu ungeschickt, um die Kraft zu nutzen, von der jeder behauptet, sie wäre in mir. Sie hätte mich töten sollen, dann wäre die Welt von mir erlöst. Nun denn. Schleiche ich also gedemütigt heim.
Als ihm bewusst wurde, dass er war der einzige Lebende unter unzähligen Leichen war, schrie er voller Grauen, packte sein Schwert und den Mantel und floh.
Inani wandte sich lächelnd ab, sie hatte ihn aufmerksam aus den Schatten heraus beobachtet.
Ein vollkommener Tag, dachte sie zufrieden, während sie ihre Haare verhüllte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die beiden Bettlerkinder, die sich über zwei Leichen beugten und ihnen sorgfältig die Augen verbanden. Auch andere, die sie auf ihrem Weg beschenkt hatte, kamen nun auf den Marktplatz, manche weinend, die meisten starr vor Trauer und Entsetzen.
Anmutig schritt sie fort. Das Leben einer Hexe war erfüllt von Pflichten, und sie wollte nicht länger müßig sein.
„Wenn du aufhörst, bessere Zeiten zu erhoffen, kannst du trotzdem leben. Wenn du aber aufhörst, die Schönheit der Welt zu bewundern und ängstlich zu warten, was der neue Morgen bringt, dann bist du bereits tot.“
Zitat von P’Maondny, Traumseherin der Elfen
un komm weiter, Pera, wir sind fast oben!“, rief Jordre drängend. Sie quälten sich durch einen Schneesturm, die weißen Massen reichten ihnen fast bis zur Brust. Seit Tagen wanderten sie durch die stille Bergwelt, in der sie die einzigen lebendigen Wesen waren. Beide wussten sie nicht, was schlimmer war: Die tödliche Kälte und Einsamkeit hier oben, oder das übermäßige feindliche Wimmeln von Kreaturen in den Tälern, die nur im Sinn hatten, sie zu töten. Im Moment schien es zumindest, dass die kalte Leere Osmeges Zielen besser diente. Sie waren nicht für ein solches Wetter gerüstet, Pera wusste kaum, was Schnee eigentlich war.
„Nun komm, wir haben es bestimmt gleich geschafft!“
Pera blickte nicht einmal auf. Er wiederholte diese Worte bereits seit Stunden. Sinnlos, ihm zu widersprechen, sie wusste, er wollte sie nur dazu bringen weiterzulaufen. Stehenbleiben wäre der sichere Tod. Auch wenn sie in Dunkelheit und Sturm längst den Weg verloren hatten.
Wir sind nicht allzu weit gekommen damit, die Welt zu retten. Ob Chyvile enttäuscht sein wird? Ihr Opfer war umsonst. Alles war umsonst. Wäre Chyvile doch bei ihnen geblieben! Wahrscheinlich ist sie längst tot. Und es ist ja tatsächlich nicht mehr viel von dieser Welt da, was noch wert ist, gerettet zu werden …
Pera fand sich im Schnee liegend wieder, ohne sich erinnern zu können, wann sie gestürzt war. Sie hörte, wie Jordre auf sie einsprach, an ihr zerrte, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Er war wirklich lieb, warum sah er nicht ein, wie sinnlos das alles war?
Was ist das?, dachte sie.
Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Zu lange schon dämmerte sie dahin, allein.
Allein …
Selten wagte sie einen Blick in die andere Welt. In die Welt der Lebendigen. Es gab zu wenig echtes Leben dort, das sie sehen wollte. Nur Monster. Chimären. Entartete Bestien. Osmeges Hass durchzog alles wie Gift.
Osmege …
Der Dunkle hatte getötet, was sie am meisten geliebt hatte.
So lange war das her ...
Sie war müde. Müde mit anzusehen, was aus der Welt geworden war. Längst hatte sie vergessen, warum sie noch hier verweilte. Worauf sie wartete oder hoffte.
Es gibt keine Hoffnung.
Irgendetwas störte sie. Eine Gegenwart, die sie so lange nicht mehr gespürt hatte, doch die Namen ...
Beinahe hätte sie sich erinnert.
Gereizt schlug sie die Augen auf und quälte sich hoch. Alles drehte sich, die Wände ihres Schlafraums schienen auf sie niederzufallen. Ihr Gefängnis. Ihre Zuflucht.
Stöhnend blickte sie durch den dünnen Schleier, der ihr Exil von der Wirklichkeit trennte, suchte die Präsenz, die ihre Träume störte. Sie war immer noch da, diese Präsenz, sogar zwei Lebewesen.
Ja, ich bin mir sicher …
Sie war überzeugt davon, die Wesen erkannt zu haben. Lediglich die Namen wollten ihr nicht einfallen. Auf der anderen Seite lagen zwei, die sie kannte. Sie müsste nur durch den Schleier gehen.
Kälte. Schnee.
Lohnt sich die Mühe? Die Gefahr? Wenn er mich sieht? Wenn es nur eine List ist? Ich könnte so tun, als wäre da nichts gewesen …
Mühsam riss sie sich zusammen. Noch war sie nicht tot. Noch war der Kampf nicht verloren. Sie würde eben noch ein klein wenig länger durchhalten. Wenn der Dunkle sie überwältigen sollte, während sie einer Illusion nachlief, wäre das kein Schaden, aber diejenigen, die ihre Hilfe brauchten im Stich zu lassen, würde alles zerstören. Den Grund, warum sie sich so lange an dieses Leben geklammert hatte. Falls die beiden wirklich da waren. Sie wollte zumindest nachsehen ...
„Lass mich, ist gar nicht mehr so kalt“, murmelte Pera. Sie spürte Bewegungen, starke Arme, die ihren erfrierenden Körper umfingen und schaute auf. Jordre hatte sich neben sie in den Schnee gelegt, er umarmte sie, schenkte ihr Trost und zumindest ein bisschen Wärme durch seine Nähe. „Wir sterben, wenn wir liegen bleiben“, flüsterte er ihr zu.
„Küss mich“, bat sie. „Ich will nicht in den Armen meines Bundgefährten sterben, wenn ich ihn nie küssen durfte.“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Berührung seiner Lippen spüren konnte, doch das störte Pera nicht. Sie genoss, was Jordre an Trost und Lebendigkeit zu geben hatte, vertraute darauf, dass es ihm genau so erging. Ihn zu küssen war ein seltsam schönes Gefühl. Ein guter Weg, diese Welt zu verlassen.
„Es ist nicht so, dass ich stören will, aber mir scheint es, als wäre euer Liebesnest ein wenig kühl“, sagte plötzlich eine fremde Stimme. Sie waren beide zu schwach, um auseinanderzufahren, nur mühsam blinzelte Pera in die Höhe. Eine merkwürdige Gestalt kniete neben ihnen, fast nicht erkennbar in dem dichten Schneetreiben. Konnte das wirklich eine dunkelhaarige Frau in einem dünnen, fast durchsichtigen Kleid sein? Pera hätte nie geglaubt, dass der Tod von solch schöner Gestalt sein würde.
„Was machen zwei Orn hier im Niemandsland, inmitten von Osmeges jüngstem Wetterspiel? Dazu geschützt von wirklich beeindruckender Famár-Magie? Ich habe euch nur durch Zufall entdeckt.“
„Wer bist du?“, fragte Jordre mit verwaschener Stimme.
„Das will ich nicht aussprechen, wo andere uns hören könnten. Erlaubt ihr mir, euch mitzunehmen? Es sei denn, ihr habt diesen Ort absichtlich ausgewählt, um zu sterben, dann will ich euch nicht länger belästigen.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Pera. Ihr war nicht länger kalt, es war angenehm, still in Jordres Armen zu liegen. Wenn sie jetzt einschlafen dürfte, gerne für immer, wäre das sicherlich wunderbar.
„Nun kommt.“ Mühelos hob die Fremde Pera hoch, lehnte sie sich gegen die Schulter und zog danach mit der freien Hand Jordre in die Höhe. War das eine Göttin? Nein, wohl eher ein Traum …
„Schließt die Augen, bitte, sonst kann ich euch nicht mitnehmen.“
Irgendetwas geschah, was Pera nicht benennen konnte. Ähnlich, als wären sie durch einen Vorhang geschritten und dabei in einer neuen Welt gelandet, war plötzlich alles anders. Der Sturm verschwand, Wärme und Licht umgab sie. Sie fühlte, wie sie behutsam auf ein weiches Lager gebettet wurde, nur einen Moment später ruhte Jordre neben ihr.
„Ich werde euch in Schlaf versetzen, wenn ihr nichts dagegen habt, es verhindert die Schmerzen, die ihr sonst erleiden müsstet, sobald das Leben in eure Gliedmaßen zurückkehrt. Keine Sorge, ihr seid bei mir in Sicherheit“, sagte die Frau. Sie sah wirklich seltsam aus, das war keine Orn!
„Wer bist du?“, wiederholte Jordre seine Frage, kurz bevor eine fremde Macht Peras Bewusstsein stahl.
„Mein Name ist Ledrea. Ich bin die letzte Elfe dieser Welt.“
Es war so angenehm warm und friedlich, dass Pera gar nicht aufwachen wollte. Sie wusste, sie war nicht zuhause, aber ein Teil von ihr klammerte sich gerne an diese Illusion. Einfach im Bett liegen bleiben, bis Mama kam und sie lachend weckte.
„Na komm, ich weiß, du bist wach.“ Eine schmale Hand strich über Peras Kopf, und die weibliche Stimme war so freundlich, dass sie für einen Herzschlag nicht wusste, ob ihr Traum nicht vielleicht Wirklichkeit geworden war. Doch dann spürte sie Jordre neben sich, nahm den Duft fremdartiger Kräuter war. Mama war tot.
Traurig betrachtete Pera das wunderschöne, von nachtdunklen Augen beherrschte Gesicht. Spitze Ohren ragten durch glattes, schwarzes Haar, die in seltsamen Kontrast zu der sehr hellen Haut standen. Ein Hauch von Ferne, von Verlorenheit lag über der Fremden, wie bei einer Rosenblüte, die von Frost berührt worden war. Die schlanke, hoch gewachsene Gestalt beugte sich zu ihr und Jordre herab.
„Guten Morgen! Ich hoffe, euch geht es besser?“
„Ja – danke, hm – wo sind wir hier?“, stammelte Jordre verwirrt. Der Raum, in dem sie sich befanden, hatte keine Fenster. Außer dem Bett gab es keinerlei Möbel, auch keine Kerzen oder sonstige Lichtquellen. Trotzdem war es angenehm hell und warm.
„Ihr seid in meinem Traum.“ Die Frau lachte leise, ein bezaubernder, melodischer Laut.
„Wie ich letzte Nacht bereits sagte, mein Name ist Ledrea. Ihr habt vielleicht von mir gehört?“
„Natürlich. Du hast das Weltentor geschlossen, das vom Elfenkönig geschaffen wurde, damit sein Volk fliehen konnte. Aber alle sagten, du seiest tot, von Osmege getötet.“ Jordre starrte die Fremde offen an. Sie sah aus wie man es sich von Elfen erzählte, trotzdem wagte er nicht, ihr zu vertrauen. Es war unglaublich, einer wandelnden Legende zu begegnen. Wie sollte das möglich sein? Wenn es nun eine List von Osmege war?
„Es hätte nicht viel gefehlt, um mich zu den Jenseitswächtern zu schicken. Zum Glück bin ich nicht erst seit gestern auf der Welt, um genau zu sein, ich wurde bereits fünf Mal wiedergeboren.“ Ein Schatten legte sich über das schöne Gesicht, doch Ledrea fuhr rasch fort: „Es war eine grausame Erfahrung, jedes Mal aufs Neue. Irgendwann lernt man dabei, besser auf sich aufzupassen. Osmege hatte mich niedergeschlagen und wollte mich gerade mit seinem Zauber vernichten, dafür musste er sich allerdings einen Moment lang konzentrieren. Das reichte für mich, ich konnte fliehen, hierher. Dies ist ein, hm, stofflich gewordener Traum, den ihr beide nun teilt.“
„Ich verstehe nicht“, murmelte Pera kopfschüttelnd.
„Ich verstehe es selbst nicht, aber es funktioniert. Damals wollte ich nur fliehen, egal, wohin. Meine Magie erlaubt mir nicht, einfach mit der Kraft meiner Gedanken irgendwo hinzugehen, also wollte ich mich an einen Ort träumen, an dem ich nicht spüren würde, was Osmege mir antut. Und plötzlich war ich IN meinem Traum ... Ich weiß bis heute nicht, ob mein Körper vernichtet wurde und nur meine Seele – oder ein Teil davon – in dieser Welt verblieben ist. Ich kann nach Anevy gehen, jederzeit, ich kann Dinge bewegen und mitnehmen. Oder vielleicht träume ich lediglich, dass ich dies alles tue?“
Noch verwirrter starrten Pera und Jordre sich an. War die Elfe verrückt?
„Würde das dann bedeuten, dass wir beide ebenfalls tot sind und nur mit dir gemeinsam träumen, wir würden uns unterhalten? Ich fühle mich eigentlich zu müde für einen Traum, und meine Kopfschmerzen scheinen auch recht wirklich“, sagte Jordre schließlich.
Ledrea lachte. „Bemüh dich nicht, ich denke schon seit etlichen Jahren über dieses Rätsel nach, Antworten habe ich zu viele gefunden. Bleiben wir bei den wichtigen Fragen. Ihr seid die Gefährten der Steintänzerin, nicht wahr?“ Sie lächelte, als Pera und Jordre nur erschrocken schwiegen.
„Es ist offensichtlich. Ihr seid von mächtiger Famár-Magie beschützt und getarnt, aber keine Famár ist bei euch. Ich habe flüchtig eure Gegenwart gespürt, und das war nur möglich, weil ich euch schon kannte ... Lassen wir das. Zufällig weiß ich, dass die mächtigste Wasseratmerin gerade durch das Land tobt und für Unruhe sorgt – weit fort von dem Bergpass, an dem ich euch fand. Chyvile neigt nicht zu unnötigen Risiken, wenn sie noch ein wenig so ist wie damals, doch sie scheut keine Gefahr, sobald es einen wichtigen Grund dafür gibt. Das einzige, was in diesen Tagen des Niedergangs wichtig sein kann, ist die Steintänzerin. Also, willkommen, Gefährten der Tänzerin. Wie kann die letzte Elfe dieser Welt euch zu Diensten sein?“
„Wir ... nun, wir müssen nach Merpyn, um die Steintänzerin zu finden“, sagte Pera zögernd.
„Dann lasst uns rasch frühstücken und aufbrechen. Ich denke, Eile ist geboten.“ Ledrea klatschte kurz in die Hände, das Bett verschwand. Pera und Jordre saßen nun an einem gedeckten Tisch auf bequemen Sitzkissen.
„Träume sind nützlich“, sagte die Elfe mit leerem Lächeln, und sah verloren in die Ferne. „Niemand sollte ewig im Traum verweilen.“ Eine einzelne Träne rann über ihr schönes Gesicht.
Pera und Jordre senkten schweigend die Köpfe. Was hätten sie der Elfe auch sagen sollen, die schon länger allein in einer Traumwelt ausharrte, als sie beide überhaupt lebten?
„Esst, nehmt, was immer ihr wollt“, rief Ledrea und wies lachend auf das Essen. Ihre Augen blieben leer. Sie erschien wie eine Statue, eine Erinnerung an etwas, das einst schön und lebendig gewesen war.
Nachdem sie die köstlichen kleinen Fruchtkuchen und den Tee genossen hatten, machten sie sich bereit für die Rückkehr in die wirkliche Welt. Ledrea träumte ihnen noch rasch geeignete Ausrüstung für den Tiefschnee herbei, dann mussten sie erneut die Lider schließen und warten, bis die Elfe die Veränderung erschaffen hatte und sie wieder im Schnee standen. Der Sturm hatte sich gelegt, doch der Himmel war tief verhangen und drohte, noch mehr von seiner weißen Last auf sie niedergehen zu lassen.
„Könnt ihr mich sehen?“, fragte Ledrea ängstlich.
„Ja, natürlich. Und schau, du hinterlässt Fußabdrücke“, versicherte Pera.
„Also ... bin ich vielleicht tatsächlich hier.“ Ledrea zitterte leicht. Pera streckte unsicher die Hand nach ihr aus, aber sie wich vor ihr zurück.
„Verzeih, ich ... war wirklich lange Zeit allein.“ Sie lachte, was diesmal beinahe wie Schluchzen klang. „Lass mich einfach, es wird schon gut werden. Irgendwann wird alles gut.“ Es klang wie ein Versprechen, das sie sich selbst einmal zu oft gegeben hatte.
„Wie hast du es ausgehalten? Die ganze Zeit allein, ohne Hoffnung?“, fragte Jordre behutsam.
„Hoffnung? Ach, die habe ich nicht weiter vermisst. Es war irgendwann ... irgendwie einfacher, weiter zu leben. Was hätte ich sonst tun sollen? Würde ich sterben, gäbe es niemanden, durch den ich wiedergeboren werden könnte. Ich müsste also bei den Jenseitswächtern ausharren, bis tatsächlich alle Elfen in allen Welten dahingegangen sind, und danach? Möglicherweise in einen nicht-elfischen Körper hineingeboren werden? Nein, es war einfacher, hier zu bleiben und zu lernen, nicht mehr zu warten. Ich wusste von der Prophezeiung, es gab darum einen Funken Hoffnung, dass sich irgendwann etwas ändert.