Die Sklavin des Sultans - Jane Johnson - E-Book

Die Sklavin des Sultans E-Book

Jane Johnson

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Beschreibung

Intrigen, Sehnsucht und Begierden

Marokko 1677: Hinter den prächtigen Mauern und hohen Bogengängen des Sultanspalastes von Meknès wird Nus Nus, der Sohn eines verfeindeten Stammesfürsten, als Sklave gehalten und fristet ein tristes Leben als niederer Schreiber. Eines Tages wird er in die brutalen Intrigen der mächtigsten Angehörigen des Hofes hineingezogen: dem grausamen und rücksichtslosen Sultan Mulai Ismail, seiner einflussreichen Hauptfrau Zidana, berüchtigt für ihre Vorliebe für Gift und schwarze Magie, und dem hinterhältigen Großvisier Abdelaziz.

Zur selben Zeit wird die junge Engländerin Alys Swann von berberischen Piraten entführt und an den Hof von Meknès gebracht. Schon bald macht der Sultan sie zu seiner ersten Nebenfrau. In ihrem Kampf ums Überleben am Hof treffen Alys und Nus Nus aufeinander und gehen ein ungewöhnliches Bündnis ein – ein Bündnis, das zu einer tiefen und bewegenden Freundschaft wird. Doch Zidana setzt alles daran, die gefährliche Nebenbuhlerin auszuschalten ...

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JANE JOHNSON

DIE SKLAVIN

DES SULTANS

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON POCIAO

PAGE& TURNER

Die Originalausgabe erschien 2012

unter dem Titel »The Sultan’s Wife«

bei Viking, London.

Copyright © der Originalausgabe 2012

by Jane Johnson

Published in agreement with the author,

c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Gesetzt aus der Janson-Antiqua

bei omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-08049-5

www.pageundturner-verlag.de

FÜR ABDELLATIF

TEIL EINS

EINS

Erste Woche, fünfter Tag, Rabi’ al-awwal

1087 Anno Hegirae

(1677 nach dem christlichen Kalender)

Meknès, Königreich Marokko

Seit den frühen Morgenstunden fällt ein so heftiger Regen, dass der Boden nur noch Morast ist. Er trommelt auf die Dachziegel und die Terrassen, wo die Frauen normalerweise die Wäsche aufhängen und das Kommen und Gehen der Männer in den Straßen beobachten. Er prasselt auf die grüne Fayence der Chaoia-Moschee und auf die vier goldenen Äpfel mit dem Halbmond auf der Spitze ihres hohen Minaretts. Er zeichnet Flecken auf die Palastmauern, dunkel wie Blut.

Die Gewänder der Handwerker kleben an ihren Körpern, während sie die gewaltigen Stücke Zedernholz betrachten, die für das Hauptportal bestimmt und jetzt durchweicht und mit Lehm verschmiert sind. Niemand hat daran gedacht, das Holz vor dem Regen zu schützen: Es ist die Zeit, in der die Blüten der Tagetes die zerklüfteten roten Hügel ringsum bedecken wie orangefarbene Schneewehen und die Feigen in den Gärten der Stadt zu reifen beginnen.

Einen Kontinent entfernt ist der französische König mit extravaganten Plänen für seinen Palast und seine Gärten in Versailles beschäftigt. Sultan Moulay Ismail, Herrscher von Marokko, hat verkündet, er werde einen Palast bauen, der den von Versailles in den Schatten stellt: Seine Mauern sollen sich von Meknès dreihundert Meilen über die Berge des Mittleren Atlas bis nach Marrakesch erstrecken! Das erste Teilstück, das Dar Kbira mit seinen zwölf hohen Pavillons, Moscheen und Hamams, Höfen und Gärten, Küchen, Kasernen und koubbas, steht kurz vor seiner Fertigstellung. Das Bab al-Raïs, das Hauptportal zu der Anlage, soll am nächsten Tag eingeweiht werden. Provinzgouverneure aus allen Teilen des Reiches sind bereits zu den Feierlichkeiten eingetroffen und haben Sklaven, golddurchwirkten Stoff, französische Uhren und silberne Kerzenhalter als Geschenke mitgebracht. Um Mitternacht will Ismail eigenhändig einen Wolf schlachten, den Schädel öffentlich zur Schau stellen und seinen Kadaver unter dem Tor vergraben. Aber wie, wenn das Tor selbst, Inbegriff des gesamten großartigen Unternehmens, nicht fertig ist? Und was wird der Sultan tun, wenn seine Pläne durchkreuzt werden?

Zumindest einer der Handwerker fährt sich nachdenklich über den Nacken.

Auf der anderen Seite der Anlage sitzt eine Gruppe europäischer Sklaven auf der halb eingestürzten Außenwand und bemüht sich, ein gewaltiges Loch auszubessern. Der gestampfte Lehmboden steht unter Wasser: Vermutlich waren Sand und Kalk ohnehin nicht einwandfrei verarbeitet gewesen, und jetzt hat der Regen ein Übriges getan. Unter diesen Umständen können die Reparaturarbeiten nur misslingen, und dann werden sie alle für ihre Nachlässigkeit ausgepeitscht. Wenn es nicht noch schlimmer kommt.

Die Arbeiter sind ausgezehrt und blass, ihre Gesichter von Hunger gezeichnet, ihre Kleider zerlumpt und schmutzig. Einer von ihnen, mit dichtem Bart und tief in den Höhlen liegenden Augen, versenkt sich in den trostlosen Anblick. »Teufel auch, es ist so kalt, dass selbst ein Schwein eingehen würde.«

Sein Nachbar nickt bedrückt. »Eisig wie Hull im Winter.«

»Aber in Hull gibt es wenigstens Bier.«

»Aye, und Frauen.«

Allgemeines Seufzen.

»Nach fünf Monaten hier kommen mir selbst die Frauen von Hull ganz passabel vor.«

»Und zu denken, dass man zur See fuhr, um den Frauen zu entkommen!«

Das Gelächter, das auf diese Bemerkung folgt, ist kurz und bitter. Sie alle haben die monatelange Gefangenschaft in den stinkenden, unterirdischen Verliesen überlebt, in denen die fremden Teufel sie eingesperrt haben, nachdem sie Handelsschiffe und Fischerboote von Cork bis Cornwall überfallen und ihre Mannschaften als Beute verschleppt hatten. Die ersten Wochen in Marokko haben sie damit verbracht, sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen und den Traum von ihrer Heimat am Leben zu erhalten.

Plötzlich strafft Will Harvey den Oberkörper und streicht sich das triefende Haar aus dem Gesicht. »Lieber Himmel, seht euch das an!«

Alle fahren herum. Eine Innentür des großen Palastes öffnet sich, und eine seltsame Vorrichtung lugt heraus, gefolgt von einer Gestalt, die sich tief bücken muss, um durch die Tür zu passen. Dann richtet sich die Gestalt zu ihrer ganzen erstaunlichen Länge auf. Sie trägt ein dunkelrotes Gewand, das teilweise von einem weißen Umhang mit goldenen Borten verhüllt ist. Über dem Turban hält sie einen runden Baldachin aus Stoff an einem langen Stiel, der sie vor dem heftigen Regen schützt.

»Was zum Teufel ist denn das?«, fragt Harvey.

»Ich glaube, eine Art Schutzhaube«, meint Reverend Ebslie.

»Nicht das Gerät, du Dummkopf, das Ding, das es trägt. Seht nur, es sucht sich einen Weg wie ein dressiertes Pony.«

Behutsam tappt die Gestalt zwischen den Pfützen entlang. Über den mit Juwelen besetzten babouches trägt sie ein Paar hoher Holzschuhe, an denen der Schlamm gierig saugt. Die Arbeiter beobachten ihren Fortschritt mit wachsender Faszination, und es dauert nicht lange, bis sie anfangen zu johlen.

»Spinner!«

»Lustbengel!«

Es ist ein seltenes Vergnügen, einen Bruchteil ihrer Qualen auf jemand anderen übertragen zu können, selbst wenn die Zielscheibe ihres Spotts ein Fremder ist, der ihre Beschimpfungen gar nicht versteht.

»Eitler Geck!«

»Lilienweiße Tunte!«

»Nichts Halbes und nichts Ganzes!«

Als hätte diese letzte und harmloseste Bemerkung ins Schwarze getroffen, hält der Höfling plötzlich mitten in der Bewegung inne und schaut zu ihnen auf, wobei er die lächerliche Vorrichtung zur Seite schwenkt. Sollten seine Bewegungen oder seine Kleidung den Eindruck von Weiblichkeit erweckt haben, so wird dieser jetzt durch das Gesicht widerlegt. Lilienweiß ist es sicher nicht und weiblich erst recht nicht. Es sieht aus, als wäre es aus Obsidian geschnitzt oder aus einem harten, vom Alter geschwärzten Holz. Wie eine Kriegsmaske, grimmig und reglos; nichts deutet auf den Menschen darunter hin, abgesehen von der drohenden weißen Linie unter der dunklen Iris des Auges, als der Blick des Mannes über sie wandert.

»Ihr solltet besser darauf achten, wen ihr beleidigt.«

Ein schockiertes Schweigen fällt über die Gruppe von Sklaven.

»Ich muss nur mit den Fingern schnippen, und schon sind die Aufseher da.«

Im Schutz einer Türöffnung, etwa dreißig Meter entfernt, sind vier Männer dabei, Tee zu kochen. Der Dampf aus dem Kessel wabert um sie herum, sodass sie beinahe gespenstisch wirken. Doch der Eindruck des Unwirklichen trügt: Würde man sie auffordern, ihres Amtes zu walten, würden sie ihren Tee auf der Stelle vergessen und sich in die Welt von Männern, Peitschen und Knüppeln stürzen.

Die Gefangenen treten beunruhigt von einem Fuß auf den anderen; zu spät haben sie den folgenschweren Irrtum bemerkt. Normalerweise spricht kein Mensch in diesem gottverlassenen Land Englisch!

Der Höfling betrachtet sie gleichmütig. »Diese Männer wurden wegen ihrer Skrupellosigkeit ausgewählt. Sie haben keinen Funken Menschlichkeit mehr. Man hat sie darauf abgerichtet, die Faulen und Ungehorsamen gnadenlos zu bestrafen. Sie würden euch ohne die geringsten Bedenken umbringen und eure Leichen in den Mauern vergraben, die ihr gerade wiederaufbaut. An Nachschub für euch mangelt es nicht. In Meknès ist ein Leben nicht viel wert.«

Die Gefangenen wissen, dass er die Wahrheit sagt. Verzweifelt richten sich aller Augen auf ihren Sprecher Will Harvey – immerhin war es seine Schuld, weil er als Erster ihre Aufmerksamkeit auf den Mann gelenkt hat. Doch sein Kopf bleibt gesenkt, als erwartete er einen Schlag. Niemand spricht ein Wort. Die Spannung ist beinahe mit Händen zu greifen.

Am Ende hebt Harvey den Kopf. Sein Ausdruck ist stur. »Bist du ein Mann? Oder ein Teufel? Würdest du uns wegen ein paar unbedachter Worte sterben lassen?«

Den anderen bleibt die Luft weg, aber einen Augenblick lang schenkt ihm der Höfling ein düsteres Lächeln. »Ob ich ein Mann bin? Ah, das ist eine gute Frage …« Er macht eine Pause und gewährt ihnen einen langen Blick auf seinen mit Gold geschmückten Umhang, die kostbaren Armreife an den muskulösen Unterarmen, den silbernen Ring an seinem linken Ohr. »Ich bin nichts Halbes und nichts Ganzes, ein Nichts, ein Sklave so wie ihr. Ihr solltet dankbar sein, dass sie mir das Herz ließen, als sie mich verstümmelt haben.« Damit richtet sich der Baldachin wieder auf und verbirgt sein Gesicht.

Keiner der Gefangenen spricht, niemand weiß, was damit gemeint sein kann. Sie sehen zu, wie der Höfling seinen Weg durch den Schlamm vorsichtig fortsetzt und auf den breiten Streifen unbebautes Land zusteuert, der sich zwischen dem Palast und der Medina erstreckt. Er kommt an den Aufsehern vorbei und bleibt stehen. Sie halten den Atem an. Ja, es ist eindeutig, man tauscht Grüße aus, mehr nicht. Schließlich nehmen sie ernüchtert und in dem Bewusstsein, nur um Haaresbreite dem sicheren Tod entronnen zu sein, ihre nie endende Schufterei wieder auf. Sie leben, um zu arbeiten und eines Tages zu sterben. Mehr kann man am Ende nicht erwarten.

ZWEI

Friede sei mit Euch, Sidi.«

Sidi Kabour ist ein schlanker, älterer Mann mit einem makellos weißen Bart, sorgfältig manikürten Händen und tadellosen Manieren. Kein Mensch käme auf die Idee, dass er der größte Giftmischer in ganz Marokko ist. Er legt den Kopf schief und lächelt mir zu, ausdruckslos höflich. Die neutrale Förmlichkeit seiner Begrüßung soll den Eindruck erwecken, als wäre er mir noch nie zuvor begegnet, als wäre ich nur ein zufälliger Kunde, der über seine versteckte Bude am Ende des Henna-souq gestolpert ist, angezogen vom Duft des Räucherwerks, von Safran aus Taliouine und verbotenen Substanzen. In Wahrheit kennt er mich gut: Meine Herrin nimmt seine Dienste häufig in Anspruch.

Sogleich bin ich alarmiert. Ich sehe auf ihn herab, denn meine lächerlichen Holzschuhe machen mich noch größer, als ich bereits bin. »Und mit Euch, fkih.« Nichts wurde verraten.

Sein linkes Auge zuckt, und ich sehe an ihm vorbei. Im hinteren Teil des Ladens steht ein Mann. Als mein Blick zu dem Verkäufer zurückschweift, spitzt er die Lippen. Vorsicht!

»Was für ein Regen!« Ich versuche es mit gespielter Heiterkeit.

»Meine Frau, Gott schütze sie, hat gestern Mittag alle Teppiche aus dem Empfangszimmer zum Lüften auf die Terrasse gehängt.«

»Und dann vergessen, sie wieder hereinzuholen?«

Sidi Kabour zuckt hilflos mit den Achseln. »Ihre Mutter war krank. Sie hat die Nacht an ihrem Bett verbracht und sich erst nach dem ersten Gebet an die Teppiche erinnert. Meine Großmutter hat sie mir vererbt, gewebt aus guter, fester Wolle, aber die Farben sind ausgelaufen.« Er verzieht das Gesicht, doch ich weiß, diese Konversation ist nur für die Ohren des neugierigen Kunden bestimmt. Als er die Kräuter aufzählt, die er für seine Schwiegermutter gemischt hat, und erzählt, wie sie sich auf deren Verstopfung ausgewirkt haben, unterbricht er.

»Hast du auch Wolfszwiebeln?«

Mir sträuben sich die Nackenhaare. Die Wolfszwiebel ist eine Pflanze mit sehr widersprüchlichen Eigenschaften. Wohltuende Substanzen aus der Knolle können Blutungen stillen und die Heilung von Wunden beschleunigen, wie ich selbst nur allzu gut weiß. Doch wenn man die Blätter auskocht, erhält man ein tödliches Gift. Die Pflanze ist so selten, dass sie auf dem Markt außerordentlich hohe Preise erzielt. Der Akzent des Kunden verrät, dass er aus der Gegend irgendwo zwischen dem Mittleren Atlas und der Großen Wüste stammt, wo die Wolfszwiebel am weitesten verbreitet ist, und als mein Blick ihn streift, fällt mir auf, dass er runde babouches trägt, die hier oben im Norden ungewöhnlich sind. Er muss wissen, dass man im souq von Tafraout weit weniger dafür bezahlt. Mit anderen Worten, für diesen Mann oder den Herrn, dem er dient, spielt Geld keine Rolle, und der Bedarf nach der Pflanze muss groß sein. Bleibt nur die Frage: Braucht er sie zum Heilen oder zum Töten?

Sidi Kabour verschwindet in den hinteren Teil seiner Bude. Ich spüre den Blick des Mannes auf mir, werfe ihm ein nichts sagendes Lächeln zu und erschrecke angesichts der Intensität seiner Augen. Höflinge werden oft beneidet, Lustknaben und Mohren verachtet, daher schreibe ich sie derartigen Vorurteilen zu. »Salaam alaikum. Friede sei mit Euch, Sidi.«

»Und mit dir.«

Unter dem Vorwand, die verfluchten Überschuhe auszuziehen, schiebe ich den Zettel mit der Liste von benötigten Substanzen unter eine Flasche mit der bevorzugten Moschussorte der Herrscherin Zidana, wo Sidi Kabour ihn finden wird. Wir haben dieses System schon häufig benutzt: Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn man mit Geheimnissen zu tun hat. Die Überschuhe verstaue ich in einer Nische, wo ich sie später leicht wiederfinden kann, richte mich auf und klopfe dann unter großem Gehabe den Regen von meinem Burnus, damit der Fremde sieht, dass meine Hände leer sind.

Seine Augen ruhen noch immer auf mir; bei diesem Blick bekomme ich eine Gänsehaut. Bin ich ihm am Hof begegnet? Seine Gesichtszüge kommen mir irgendwie vertraut vor. Unter der roten Strickmütze spannt sich die Haut über den Knochen. Man könnte ihn als attraktiv bezeichnen, wäre da nicht eine gewisse Gehässigkeit um den Mund. Kein Sklavenring im Ohr. Ein Freigelassener? Ein eigenständiger Händler? Alles ist möglich: Marokko ist einer der Knotenpunkte für den Welthandel, das ganze Land ein einziger Markt. Doch wenn er nur ein Händler ist, warum hat Sidi Kabour mich dann gewarnt? Und warum versucht dieser Mann, in meiner Hörweite ein starkes Gift zu kaufen? Wenn er weiß, wer ich bin, muss er auch wissen, dass ich in einer ähnlichen Mission unterwegs bin wie er. Ist das eine Art Prüfung? Und wenn ja, wer steckt dahinter?

Natürlich habe ich einen Verdacht. Ich habe gewisse Feinde, genauso wie meine Herrin.

Sidi Kabour kommt zurück. »Ist es das, wonach du suchst?«

Der Kunde schnuppert an den Knollen, als könne er allein mit der Nase feststellen, ob sie seinen Ansprüchen genügen. Noch so eine falsche Note: Jeder echte Giftmischer weiß, dass es keine Rolle spielt, wie alt die Wurzel ist. Wie ihre Verwandte, die Lilie, bewahrt die Wolfszwiebel ihre tödliche Wirkung unbegrenzt lange.

»Wie viel?«

Der Kräuterhändler nennt einen weit überhöhten Preis, und der andere willigt nach kurzem Hin und Her ein. Das überzeugt mich noch mehr davon, dass hier etwas faul ist. Während der Mann aus dem Süden in seinem Beutel nach Münzen kramt, trete ich wieder hinaus in den Henna-souq, wo ich um ein Haar mit einem Handkarren zusammenstoße, der hoch mit Wasserkannen, Töpfen und Pfannen beladen ist, und bringe schnell ein paar Esel, eine Schar verschleierter Frauen und eine Bande von Kindern zwischen den Verfolger und mich. Ich suche Zuflucht unter der Markise einer Kaffeebude, sehe mich um und betrachte die Vorübergehenden auf der Suche nach den scharfen Zügen unter der roten Strickmütze. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass mir niemand folgt, verfluche ich meine Dummheit. Das Gejohle der europäischen Sklaven hat mich nervös gemacht. Ich bin nicht ich selbst.

Außerdem muss ich einiges für meinen Herrn erledigen. Ich habe keine Zeit, hier herumzustehen und meinen Verfolgungswahn zu pflegen. Am besten warte ich, bis Sidi Kabour mit dem Mann aus dem Süden fertig ist und sich der Bestellung der Herrscherin widmen kann. Ich werde später noch einmal vorbeigehen. Es gibt ein paar Substanzen auf der Liste, deren Zubereitung Zeit brauchen könnte.

Der Stand des Geschirrmachers liegt am anderen Ende des souq, hinter den Tuchhändlern, Kurzwarenhändlern und Schneidern, Flickschustern und Schuhmachern. Der Sattler ist ein hochgewachsener Mann, fast so dunkelhäutig wie ich selbst, mit einem großen, schwermütigen Gesicht, das sich bei meiner Frage zu einem Ausdruck komischen Entsetzens verzieht. »Einen Kotbeutel? Mit Gold bestickt?«

Ich nicke. »Für ein heiliges Pferd. Es hat die Pilgerreise nach Mekka gemacht; seine Exkremente dürfen nicht auf die Erde fallen.« So präzise und detailliert wie möglich beschreibe ich ihm den von Moulay Ismail gewünschten Entwurf.

Die Augen des Mannes treten hervor. »Und wie viel würde der Sultan für eine derart komplizierte Arbeit bezahlen?« Doch er wirkt bereits resigniert, denn er kennt die Antwort.

Ich breite entschuldigend die Arme aus. Der Sultan trennt sich nur ungern von seinem Geld. Das Land und alles, was es enthält, gehören ihm: Wozu soll er zahlen? Was spielt Geld in einem solchen System für eine Rolle? Dennoch häuft mein Herr es in der Schatzkammer an, und wenn man Gerüchten glauben will, auch in vielen geheimen Kammern unter der Palastanlage. Am Tag nach dem Tod seines Bruders Sultan Moulay Rachid, der im vollen Galopp von einem tief hängenden Ast eines Orangenbaums erschlagen wurde, besetzte Ismail die Schatzkammer in Fès und erklärte sich selbst zum Herrscher. Die Armee, über deren Sold er fortan bestimmte, schwor ihm auf der Stelle Treue. Mein Herr ist ein schlauer Fuchs, und er hat einen Riecher für die Macht. Er ist ein guter Herrscher, obwohl er sich selbst dazu ernannt hat.

Ich erinnere den armen Geschirrmacher daran, dass der königliche Auftrag ihm mit Sicherheit weitere lukrative Bestellungen von denen einbringen wird, die dem Beispiel meines Herrn folgen wollen, doch als ich ihn verlasse, ist er offensichtlich nicht überzeugt, dass es viele Interessenten für goldbestickte Kotbeutel geben wird.

Der Rest meiner wichtigen Aufgaben lässt sich leichter erledigen, denn die Händler kennen die Spielregeln. Außerdem gilt es als Ehre, den Herrscher zu beliefern, da er ein direkter Abkomme des Propheten ist. Damit kann man sich brüsten. Manche haben sogar Schilder entworfen, auf denen zu lesen steht: Im Auftrag Seiner Majestät, Sultan Moulay Ismail, Herrscher von Marokko, Gott schenke ihm Ruhm und ein langes Leben. Er wird länger leben als wir alle, denke ich beim Weitergehen. Mit Sicherheit länger als jeder, der sich seinen Launen nicht entziehen kann. Oder seinem Schwert.

Auf mein nächstes Ziel freue ich mich am meisten. Der koptische Buchhändler kommt nur selten nach Meknès. Zu diesem feierlichen Anlass ist er außer der Reihe angereist, mit einem Werk, das Ismail für seine berühmte Sammlung heiliger Bücher bei ihm bestellt hat. Nicht dass Ismail ein einziges Wort aus diesen Werken selbst lesen könnte. Wozu auch, wenn er Gelehrte dafür bezahlen kann? Im Übrigen kennt er den gesamten Koran auswendig, eine Fähigkeit, die er gern und häufig demonstriert. Trotzdem liebt er Bücher und behandelt sie mit großer Verehrung: Vor seiner Bibliothek hat er erheblich mehr Respekt als vor dem Leben eines Menschen.

Nach den üblichen ausgiebigen Begrüßungsformeln und Erkundigungen nach Frau, Kindern, Mutter, Cousins und Ziegen entschuldigt sich der Ägypter, um sich zu einem Tresorraum zu begeben, den er während seiner Aufenthalte in der Stadt mietet. Derweil vertreibe ich mir die Zeit damit, den Duft von altem Leder und Pergament einzusaugen, andächtig die Umschläge zu betasten und die darin eingeprägten Verse zu studieren. Atemlos, erhitzt und mit durchnässter Kapuze kommt der Buchhändler wenig später eilig zurück. Als er das Buch aus dem Leinentuch wickelt, weiß ich, warum er es nicht bei den übrigen Beständen aufbewahrt. Seine Schönheit verschlägt mir den Atem. Der Einband schimmert in zwei verschiedenen Goldtönen. Der Mittelteil des Umschlags ist mit komplizierten Mustern in einem doppelten Rahmen geschmückt. Es erinnert mich an die Teppiche in den Privatgemächern des Sultans, herrliche Stücke aus den weit entfernten Städten Herat und Tabriz.

»Darf ich?« Mein Gesicht bleibt ausdruckslos, doch meine Hände zittern, als ich danach greife.

»Aus Schiraz. Angefertigt in der Zeit der frühen Safawiden. Siehst du die durchbrochenen Muster auf dem inneren Umschlag? Eine erlesene Arbeit, aber auch hochempfindlich.«

»Ist es Seide oder Pergament?« Ich fahre mit den Fingerspitzen über das filigrane Muster, das die Innenseite des Buchdeckels bedeckt und schimmernde Rauten des darunter eingearbeiteten Türkis offenbart.

Der koptische Buchhändler lächelt nachsichtig. »Seide natürlich.«

Ich schlage das Buch aufs Geratewohl auf und stoße auf die hundertdreizehnte Sure, Al-Falaq. Während mein Finger der verschnörkelten Kalligrafie folgt, lese ich laut: »Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht vor dem Unheil, das von dem ausgehen mag, was er auf der Welt geschaffen hat, von hereinbrechender Finsternis, von bösen Weibern, die Zauberknoten bespucken, von einem Neider, wenn er neidisch ist …« Es könnte eine Beschreibung meiner Welt sein. Ich blicke auf. »Eine Ausgabe, die ihres Inhalts würdig ist.«

»In der Tat, ein unbezahlbarer Schatz.«

»Wenn ich dem Sultan erzähle, dass dieses Buch unbezahlbar ist, wird er die Achseln zucken und erklären, dass sein Angebot ohnehin nicht ausreicht und er dir daher gar nichts zahlen wird.« Ich mache eine Pause. »Aber ich bin befugt, dir ein Angebot zu machen.« Ich nenne eine durchaus bedeutende Summe. Er nennt mir eine, die doppelt so hoch ist, und nach einigem höflichen Hin und Her einigen wir uns auf irgendwo in der Mitte.

»Komm am Morgen nach der Einweihung zum Palast«, schlage ich vor. »Der Großwesir wird dich bezahlen.«

»Ich bringe es lieber morgen selbst dem Sultan.«

»Nein, ich muss es gleich mitnehmen: Moulay Ismail kann es kaum abwarten, das Buch in den Händen zu halten. Außerdem ist morgen Freitag, Tag der Versammlung; da empfängt er keine Besucher.«

»Bei dem Wetter? Wenn auch nur ein Tropfen Regen darauffällt, ist es ruiniert. Lass es mich am Sabbat zum Palast bringen, dem Anlass entsprechend verpackt.«

»Ich riskiere Kopf und Kragen, wenn ich ohne das Buch zurückkomme, und so hässlich mein Kopf auch sein mag, irgendwie hänge ich an ihm.«

Der Mann schenkt mir ein schiefes Lächeln, und ich erinnere mich, dass er trotz seiner viel gepriesenen Frau und seiner Kinder ein oder zwei Knaben haben soll, die er für ihre Gefälligkeiten bezahlt, eine Praxis, die in Ägypten durchaus akzeptabel sein mag, in Ismails Marokko aber besser verborgen bleibt. »Hässlich ist er nicht, und ich möchte keinesfalls, dass du ihn verlierst, Nus-Nus. So nimm es denn mit, aber hüte es wie deinen Augapfel. Ich komme am Sabbatmorgen wegen der Bezahlung.« Mit einem Seufzer macht er sich daran, das Buch vorsichtig wieder in das Leinentuch einzuschlagen, und überreicht es mir. »Vergiss nicht: Es ist unersetzlich.«

Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, dass es mich nicht nervös macht, einen solchen Schatz mit mir herumzutragen, aber ich muss nur noch zwei Aufgaben erledigen: ein paar Gewürze für meinen Freund Malik kaufen und noch einmal kurz bei dem Kräuterhändler vorbei, um Zidanas Bestellung abzuholen.

Malik und ich haben die Angewohnheit, uns gegenseitig Gefallen zu tun. Nicht nur aus Not, sondern auch aus Zuneigung sind wir Freunde geworden; er ist Ismails oberster Koch und ich bin – abgesehen von vielen anderen Aufgaben – sein Vorkoster. Gegenseitiges Vertrauen ist unter solchen Umständen nützlich. Maliks Bedürfnisse – ras al-hanout, das nach seinem eigenen Rezept gemischt wird, und eine Attar-Essenz, die Ismail für sein Couscous besonders schätzt – führen mich zurück in das Gewürzviertel, wo ich die entsprechenden Einkäufe tätige. Von dort ist es nur ein Katzensprung zurück zu Sidi Kabours verstecktem Stand.

Ich beuge mich unter der Markise hindurch und bin erstaunt, den Laden leer vorzufinden. Vielleicht ist er kurz weggegangen, um Tee mit einem der benachbarten Standbesitzer zu trinken oder neue Holzkohle für seine Kohlenpfanne zu besorgen. Ich rücke das Moschusglas zur Seite und sehe mit Befriedigung, dass Zidanas Liste verschwunden ist. Vielleicht ist er auch unterwegs, um eine der Substanzen von einem diskreteren Ort zu holen …

Die Zeit vergeht, und immer noch ist nichts von Sidi Kabour zu sehen. Das schwere Aroma des brennenden Räucherwerks in dem Messingbrenner wird immer drückender. Es ist nicht der übliche angenehme Duft, den Sidi Kabour sonst bevorzugt – ein wenig Elemiharz vermischt mit weißem Benzoin –, sondern eine komplexere Mischung, in der ich Aloeholz und die unvereinbaren Aromen von Amber und Kiefernharz erkenne, das eine süß, das andere bitter. Niemand, der etwas davon versteht, würde sie zusammenbringen.

Nun mach schon, murmele ich leise und merke, wie sich mein Magen vor Angst verkrampft. Soll ich warten oder gehen? Meine Nervosität wächst. Bald wird der Sultan mit seiner nachmittäglichen Runde beginnen und erwarten, dass ich ihn wie immer begleite. Doch wenn ich ohne Zidanas Bestellungen zurückkomme, wird sie toben oder, noch schlimmer, in einem düsteren Schweigen versinken, das normalerweise einem Akt grausamer Vergeltung vorangeht. Diese beiden Möglichkeiten bergen die allgegenwärtige Gefahr meines Lebens: Manchmal lässt sich kaum sagen, was gefährlicher ist – der Sultan mit seinen maßlosen Tobsuchtsanfällen und unerwarteten Gewaltausbrüchen oder seine Lieblingsfrau mit ihrer ausgeklügelten Grausamkeit. Ich bin nicht sicher, ob ich an die Wirksamkeit ihrer Magie glaube, denn obgleich wir in ähnlichen Traditionen aufgewachsen sind – ich bei den Senufo, sie bei den benachbarten Lobi –, bilde ich mir ein, mir auf meinen Reisen ein gewisses Maß an Vernunft angeeignet zu haben. An ihrer Fähigkeit, alle Arten von subtilen Giften wirkungsvoll einzusetzen, zweifle ich jedoch keine Sekunde. Es ist nicht gerade ein Vergnügen, verschiedene Arten von Gift für die Herrscherin zu transportieren und sie in ihren lebensbedrohlichen Machenschaften zu unterstützen, aber als Palastsklave bleibt mir keine andere Wahl. Der Hof von Meknès ist ein Spinnennetz aus List und Tücke, Verwirrung und Intrigen. Sich an einem solchen Ort an einen geraden Weg zu halten, ist so gut wie unmöglich: Selbst der aufrechteste Mann muss hier verhängnisvolle Kompromisse eingehen.

Beunruhigt trete ich in den hinteren Teil des Ladens. Schachteln mit Stacheln von Stachelschweinen oder Mäusewimpern – säuberlich nach männlichen und weiblichen Exemplaren getrennt –, Antimon, Arsen und Goldstaub, getrocknete Chamäleons, Igel, Schlangen und Salamander. Zauber gegen den bösen Blick, Liebestränke, Leckerbissen, um djenoun anzulocken, so sicher wie Honig die Bienen. Als ich mich an der schmutzigen Wand entlangtaste, fällt mein Blick plötzlich auf ein riesiges Glasgefäß voller Augäpfel. Ich fahre heftig zurück, wobei ich mit der Hüfte gegen das Regal stoße. Das Glas schwankt gefährlich hin und her und versetzt den Inhalt in Bewegung, bis es aussieht, als starrten sie alle mich an, als hätte ich unzählige eingesperrte djenoun geweckt. Dann fällt mir auf, dass sich das Regal verschoben hat. Ich lege den in Leinen gewickelten Koran vorsichtig auf den Boden, rücke das Regal wieder zurück, damit das Glasgefäß einen sicheren Stand hat, und beglückwünsche mich im Stillen, weil ich eine Katastrophe abgewendet habe. Ich frage mich, wo Sidi Kabour so viele menschliche Augenäpfel herhat, doch dann bemerke ich, dass die Pupillen vertikale Schlitze sind, wie bei Katzen- oder Ziegenaugen.

Wirklich, ich kann hier nicht länger warten. Ich werde geradewegs zum Palast zurückkehren, um Moulay Ismail zu begleiten, Zidana erklären, dass ihre Bestellung aufgegeben wurde und ich sie später abhole, und hoffen, dass mir das Glück treu bleibt. Jedenfalls ist es das einzig Vernünftige, was ich tun kann. Entschlossen drehe ich mich um, zu schnell … stolpere über ein Hindernis, das hinter mir am Boden liegt, und verliere das Gleichgewicht.

Normalerweise bin ich sehr wendig, aber die Augäpfel haben mich aus der Fassung gebracht, wenn nicht gar den Sturz provoziert, gerade als ich mir auf die Schulter klopfen wollte, weil ich glaubte, mich ihrem bösen Einfluss entzogen zu haben. Als Nächstes weiß ich nur, dass ich nach hinten falle und mit dem Kopf gegen einen Stapel Körbe schlage. Sie schwanken, geraten ins Rutschen und überschütten mich mit Stachelschweinstacheln, getrockneten Skorpionen und einem ganzen Schwall von … toten Fröschen. Ich hebe einen auf und halte ihn voller Abscheu hoch. Dann springe ich auf und klopfe die ekelhaften Dinger von meinen Kleidern. Die Stacheln der Schweine und die Scheren der Skorpione haben sich in der Wolle des Burnus verhakt und wollen nicht loslassen. Ich muss sie einzeln abpflücken und dann auch noch die Rückseite meines Umhangs inspizieren. Dabei fällt mir auf, dass es mir tatsächlich gelungen ist, auch noch ein Glas mit Koschenille umzustoßen, die wie eine gierige rote Welle langsam durch die weiße Wolle nach oben kriecht.

Jetzt verliere ich endgültig jeden Rest von Haltung: Der Burnus, ein wunderbares Stück, feiner, als ich es mir je hätte leisten können, war ein Geschenk von Ismail, und jetzt ist er ruiniert. Normalerweise kann man mit einem Geschenk verfahren, wie man will, der Sultan aber hat eine scharfe Erinnerung und die unglückliche Angewohnheit, zu fragen, warum man nicht trägt, was man seiner Großzügigkeit zu verdanken hat. Mehr als einmal habe ich miterlebt, wie einer seiner Untergebenen wegen einer unbefriedigenden Antwort einen Arm, ein Bein oder gar das Leben verlor.

Ich hebe den Zipfel des Burnus an und versuche, die rote Flüssigkeit auszuwringen. Sie ist zähflüssiger und klebriger als Koschenille, und gleich darauf steigt mir ein durchdringender Geruch in Nase und Mund, der nichts mit zerquetschtem Ungeziefer, Räucherwerk oder etwas Schönem oder Heiligem zu tun hat.

Als ich mich mit einigem Grauen umsehe, entdecke ich, dass das Hindernis, über das ich gestolpert bin, Sidi Kabours Leiche ist. Jemand hat ihm so sauber wie einem Schaf am Aid el-Kebir die Kehle aufgeschlitzt. Sein weißer Bart liegt abgeschnitten als dicker, blutverklebter Klumpen auf seiner Brust. Im Moment des Todes haben sich seine Eingeweide entleert, womit sich der widerliche Gestank erklärt, der den metallischen Geruch nach Blut durchzieht. In dem Versuch, ihn zu verbergen, hat der Mörder offenbar alles auf den Messingbrenner geworfen, was in greifbarer Nähe war.

Eine große Traurigkeit überschwemmt mich. Der Islam lehrt, dass der Tod eine Verpflichtung sei, die uns auferlegt ist, eine Aufgabe, die man erfüllen muss, der man nicht ausweichen darf, dass er weder eine Strafe noch eine Tragödie ist und daher auch nicht gefürchtet werden muss. Doch irgendwie passt diese sanfte Philosophie nicht zu einem so brutalen Tod. Sidi Kabour war zu Lebzeiten ein anspruchsvoller Mann; dass man ihn derart abschlachtet und in seinem eigenen Blut liegen lässt, mit Augen, die blind in die Düsterkeit starren, ist widerwärtig. Ich bücke mich, um die starren Lider zu schließen, und sehe, dass etwas zwischen den fahlen Lippen steckt. Ich ziehe es heraus.

Noch bevor ich es genauer untersuchen kann, weiß ich mit Bestimmtheit, was es ist. Eine halb zerkaute Ecke der Liste mit Zidanas Bestellungen. Offenbar hat der alte Mann versucht, sie zu retten, indem er sie verschluckte. Entweder das, oder jemand hat sie ihm in den Mund gestopft. Der Rest ist verschwunden, ob in seiner Speiseröhre oder den Händen seines Mörders, lässt sich nicht sagen. Aber ich kann unmöglich bleiben, um es herauszufinden, denn jetzt kommt mir erst eine grauenhafte Erkenntnis und dann noch eine.

Die erste ist, dass ich mit Blut bedeckt bin und mich jeder deutlich als Mörder erkennen kann. Die zweite ist die Erinnerung daran, dass ich den unbezahlbaren Koran auf den Boden legte, bevor ich das Regal mit dem Glas voller Augäpfel wieder zurückschob.

Ich spüre, wie mir die Galle hochkommt, drehe mich um und sehe meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Das ehemals makellose Weiß des schützenden Linnens ist jetzt rot gefleckt. Hastig ziehe ich das Tuch von dem kostbaren Objekt …

Blut auf einem heiligen Koran ist ein schreckliches Sakrileg. Doch Blut auf dem Safawiden-Koran, den Ismail ungeduldig erwartet, bedeutet einen langsamen und qualvollen Tod.

Für mich.

DREI

Ich starre auf das ruinierte Buch und dann auf den toten Mann, während ich noch versuche, die ungeheuerliche Situation einzuschätzen, und meine Gedanken in alle Richtungen jagen. Ich müsste den Mord anzeigen, eine Erklärung vor der Obrigkeit abgeben und meine Unschuld beteuern. Doch wer würde einem Sklaven Glauben schenken? Denn das ist alles, was ich bin, ganz gleich, welchen Status ich innerhalb des Palastes habe. Im Innern seiner Mauern befindet sich ein magisches, geschütztes Reich, doch außerhalb davon bin ich nichts weiter als ein viel zu fein gekleideter Schwarzer, der mit dem Blut eines ehrbaren Kaufmanns besudelt ist. Und ich gaukele mir nicht vor, dass der Sultan sich herabließe, mir mein Schicksal zu ersparen, falls ich festgenommen würde. Viel wahrscheinlicher ist, dass er einen seiner Wutanfälle bekommt, weil ich mich verspätet habe, und mir den Kopf abschlägt, sobald ich ihm wieder unter die Augen trete.

Ich streife den ruinierten Umhang ab und wickle den bluttriefenden Koran hinein. Dann sehe ich mich um und entdecke Sidi Kabours uralten Burnus an einem Haken neben dem Eingang. Er kleidete sich nicht wie ein wohlhabender Mann, aber das ist charakteristisch für Muselmanen: Man erhebt sich nicht über seine Nachbarn. Ich tappe zu dem Burnus und merke zu spät, dass ich eine Spur von blutigen Fußabdrücken hinterlasse. Der Burnus ist zu kurz, aber ich fühle mich verborgen darin, abgesehen natürlich von den juwelenbesetzten gelben babouches, die mittlerweile eine stumpfe rote Farbe angenommen haben. In diesem Land tragen nur Frauen rotes Schuhwerk, und was immer ich auch sein mag, eine Frau ganz bestimmt nicht. Ich ziehe sie aus und stecke sie in das Bündel mit dem Buch. Lieber barfuß als blutbefleckt, besser, man hält mich für einen Bettler oder Juden als einen Mörder. Ich stülpe die lange, spitze Kapuze über den Turban, ziehe den Kopf ein, um meine Größe zu verbergen, werfe mir das Bündel über die Schulter und trete mit gesenktem Kopf hinaus in den souq.

»Sidi Kabour!«

Die Stimme klingt neugierig, fragend. Ich wende mich nicht um.

An der ersten Torreihe winken mich die Palastwachen durch. Sie frieren und sind zu gelangweilt, um sich über meinen seltsamen Kostümwechsel zu wundern. Ich überquere den für Paraden bestimmten Platz, haste vorbei an den Depots und den vielen Baracken, wo die aus zehntausend Mann bestehende Schwarze Garde des Sultans stationiert ist, und passiere auch die zweite Torreihe, die zu den Pavillons führt.

Während ich eilig ausschreite, muss ich Haufen von Sand und Pyramiden von Kalkmörtel, Bottichen mit tadelakt, Stapeln von Holz und Kacheln ausweichen. Ich laufe an der koubba vorbei, wo der Sultan die Geschenke aufbewahrt, die man ihm darbietet. Was würden die Spender sagen, wenn sie wüssten, dass die Raritäten, die sie so sorgsam ausgesucht haben, auf einem großen Haufen ähnlicher Objekte landen, wo sie dann verstauben? Ismail ist wie sein kleiner Sohn Zidan: Schon wenige Minuten nachdem er ein Geschenk in Empfang genommen hat, langweilt es ihn.

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