Die Spieluhr - Ulrich Tukur - E-Book

Die Spieluhr E-Book

Ulrich Tukur

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Beschreibung

Wilhelm Uhde, der großbürgerliche Preuße, und Séraphine, eine einfache Französin, die von den Bewohnern ihres Dorfes verspottet und von den Kindern mit Dreck und Steinen beworfen wird, trennen Welten. Und doch hat das Schicksal sie zusammengeführt: den sensiblen Kunstsammler und seine tiefgläubige Putzfrau, die Bilder malt, seit ihr ein Engel des Herrn erschien. Viele Jahre und zwei Weltkriege später wird beider Leben verfilmt. Der Schauspieler, der im Film Uhde verkörpert, macht dabei eine seltsame Entdeckung, die ihn unversehens in den phantastischen Kosmos der Séraphine de Senlis katapultiert: in ein Leben hinter den Bildern und Gobelins eines vergessenen Schlosses der Picardie. Ulrich Tukur erzählt von der Macht der Malerei und der Magie der Musik. Er nimmt uns mit auf eine Reise durch drei Jahrhunderte, in eine beunruhigende Welt zwischen Traum und Wirklichkeit.

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ULRICH TUKUR, 1957 in Viernheim geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt wurde ihm 2013 der Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache verliehen. 2005 erschien sein Erzählungsband Die Seerose im Speisesaal. Ulrich Tukur lebt mit seiner Frau, der Photographin Katharina John, in Venedig.

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ISBN 978-3-8437-0630-8

© 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

4. Auflage 2013

Agentur: Montasser Media

Umschlagmotiv: Steve Viezens »Schwarzwald 1«,

galerieKleindienst

Illustration »Gehängter« im Innenteil:

Bärbel Fooken, Hamburg

Autorenfoto: Katharina John – www.katharinajohn.com

Umschlag- und Innengestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook:LVD GmbH, Berlin

»Die Wirklichkeit ist der Schatten der Kunst. Es geht also nicht um die Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern um die Beschwörung des Mysteriösen, die Anrufung der verborgenen Seele der Menschen und Dinge.«

–– FRIEDRICH VON ROTHA

Wie das Leben in der Rückschau aus einer Flut visu­eller Erinnerungen besteht, keinem rationalen System und ständiger Verwandlung unterworfen, so besteht ein kinemathographischer Film aus einer Unzahl sy­stematisch montierter, unveränderlicher Bilder, die zusammengesetzt eine mehr oder weniger ergreifende Geschichte ergeben.

Ich bin Schauspieler, und um eine solche Geschichte zu erzählen, die die sonderbare Beziehung zweier durch alle Raster der Gesellschaft gefallener Menschen zum Gegenstand hatte, war ich auf Einladung einer Pariser Filmfirma vor einiger Zeit nach Frankreich gefahren und hatte in einem kleinen Dorf bei Meaux Quartier bezogen.

Das Zimmer, in dem ich wohnte, war die ehemalige Badekabine eines Schwimmbads, das sich am Ufer der Marne befand und irgendwann in ein Hotel umgebaut worden war.

Unterhalb der Wohnanlage floß still und träge der Fluß.

Bog man das dichte Gestrüpp an seinem Ufer aus­einander, so zeigten sich unter den Ästen und Zweigen müde herabhängender Weidenbäume die Reste eines Schwimmbeckens, das einen Zugang zum offenen Was­ser hatte und jetzt voller Frösche und reglos am schlammigen Grunde verharrender Fische war.

Etwas weiter flußabwärts stand ein Sprungturm aus porösem Stein, moosgrün sein Anstrich, jedoch vom Licht unzähliger Sommertage gebleicht, von Winterfrösten abgeblättert und an vielen Stellen kaum noch sichtbar.

Die Treppe, die hinauf zur Plattform führte, war eingestürzt, und am unteren Teil des verwitterten Geländers baumelte eine Kette, die angebracht worden war, als das Bad aufgegeben wurde und verhindern sollte, daß noch irgendwer hinaufstieg.

Aber niemand hatte mehr einen Sprung ins trübe Wasser des Flusses getan, und so war sie dort hängengeblieben, eine stumm vor sich hin rostende Erinnerung an Zeiten, da die Sommerluft erfüllt war vom Lärm und Lachen unzähliger Kinder, die im Wasser spielten oder auf dem Turm herumsprangen und sich schreiend in die Tiefe stürzten.

An einem jener heiteren, friedvollen Sommertage vor dem großen Sturm, der das alte Europa für immer hin­wegfegte, spazierte ein elegant gekleideter Herr nicht weit von jener Stelle das grüne Ufer der Marne entlang.

Er trug einen modischen Strohhut mit geschwun­gener Krempe und blaßblauem Band, einen grauen, ­schmal geschnittenen Anzug, dazu Stiefeletten aus zweifarbigem Leder, hielt einen Grashalm zwischen den Lippen und seine Hände auf dem Rücken verschränkt.

Als er auf eine kleine Anhöhe kam, unter der der Fluß eine Biegung nahm, hob er den Kopf und schaute hinauf zu den weißen Wolken, die wie barocke Schiffe lautlos und in ungeheuren Höhen durchs Blau des Himmels segelten. Sie erinnerten ihn an Gemälde von Constable oder Corot, und um sie genauer zu betrachten, blieb er stehen, zog den Hut vom Kopf und legte sich ins Gras.

Der Sommerwind strich ihm sanft übers Gesicht, und als er nach einer Weile die Augen schloß, war sofort das kleine Bild wieder da, das er am Tag zuvor in der Wohnung seiner Vermieterin zufällig gesehen und ihr sogleich abgekauft hatte.

Ein Holztäfelchen, nicht viel größer als ein Blatt Papier, auf dem vor braunem Hintergrunde ein paar bunte Blumen gemalt waren.

Die Art der Ausführung verriet weder großes Talent noch technische Erfahrung, aber ihre schlichte Schönheit hatte ihn angerührt, und ihm schien etwas hinter diesem kindlichen Bilde zu schweben, das von einem Abgrund zeugte, der sich am deutlichsten in den fünf Blütenkelchen zeigte, die wie schwarze Sterne waren, aus denen Feuerschweife schlugen, oder auch Augen, die ihn aus dunkler Tiefe angstvoll anblickten.

»Verzeihen Sie, aber wer hat dieses Bild gemalt?« hatte er Madame Duphot gefragt, die ihm die große Wohnung im Unterstock ihres Hauses in Senlis für zwei Sommer zu vermieten geneigt gewesen war und bei der er nun zu Abend aß.

Und weil in seiner Stimme etwas Erregtes mitschwang, hatte sie ihn erstaunt angesehen, war der Richtung seiner Augen gefolgt und zeigte nun auf das bemalte Holztäfelchen, welches am Boden neben der Anrichte lehnte und gerade genug Licht auf sich zog, daß man es erkennen konnte.

»Ach das? Das ist nichts, Monsieur Uhde … Séraphine hat es mir geschenkt, Sie wissen doch, Ihre Putzfrau, sie malt. Nun ja, was man so malen nennt. Heutzutage tut das fast jeder, es ist geradezu eine Epidemie!

Sie ist ein wenig verrückt, wissen Sie, aber herzensgut und tut niemandem etwas zuleide.

Nehmen Sie es mit, wenn Sie es haben wollen, François wollte es schon wegwerfen …«

Und während sie ihm noch auseinandersetzte, daß Séraphine nie ohne ihren zerdrückten, schwarzen Stroh­hut ausging und die Bewohner ihres Hauses mit den frommen Gesängen, die sie beim Malen anstimmte, allmählich in den Wahnsinn trieb, sich beim Metzger kein Fleisch kaufte, sondern nur Ochsenblut erbettelte, welches sie in ihre Farben rühre, war er aufgestanden, hatte das Stilleben mit den fünf Blumen vom Boden genommen und hielt es nun ins Licht der über dem Tisch hängenden Gaslampe.

So schlicht es gemalt war, es besaß doch die gleiche Magie, die er auch bei Rousseau, dem Zöllner, oder Vivin und Bombois gespürt hatte und deren Gemälde nun die Wände seiner Pariser Wohnung zierten.

Das kleine Bild zeigte, was es nicht zeigte.

Und genau das schien ihm das Wesen jedes wahren Kunstwerks, daß sich nicht alles, der Tiefe entbehrend, an der Oberfläche zusammendrängte, daß die innere Welt, die diesen Ausdruck hervorgebracht hatte, im Un­sichtbaren vorhanden blieb, ja ihren weitaus größten Teil ausmachte.

Er mußte lächeln und an Picasso denken, der mit Braque und anderen Künstlern ein verwahrlostes Haus im Bateau-Lavoir am Montmartre bewohnte und unverkäufliche Bilder produzierte, die meist in ein melancholisches Blau, neuerdings in Rosa getaucht waren. Er – Wilhelm Uhde, und darauf war er ein wenig stolz – hatte sofort gespürt, daß sich hier ein ganz Großer anschickte, die Welt der Kunst zu erobern, und ihm ein Bild abgekauft, das ihn faszinierte, ja erregte, weil es frech die Strukturen der gemalten Gegenstände zerlegte, so daß nichts als Kreise, Kegel und Zylinder übrigblieben. Und doch blieb es in seiner Essenz nicht nur erhalten, es verstärkte sogar seine Wirkung. Ähnliches hatte er schon in den letzten Bildern des großartigen Cézanne gefunden, aber nun führte dieser Spanier hier eine Linie fort, von der er nur zu gerne gewußt hätte, wo sie hinführte …