Die Stille ist ein Geräusch - Juli Zeh - E-Book

Die Stille ist ein Geräusch E-Book

Juli Zeh

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Beschreibung

Juli Zeh ist eine Ausnahmeerscheinung unter den jungen deutschen SchriftstellerInnen. Ihr Debütroman "Adler und Engel" begeisterte Lesepublikum und Kritik gleichermaßen und wurde mit dem Deutschen Bücherpreis ausgezeichnet. Nun legt sie ihr zweites Buch vor, "sprengt literarische Genres und schafft eine kleine Kostbarkeit" (Frankfurter Neue Presse). Im Sommer 2001 fährt Juli Zeh, nur begleitet von ihrem Hund, nach Bosnien. Sie möchte mit eigenen Augen sehen, ob "Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann. Oder ob er zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwand". Mitgebracht hat sie eine eindringliche Reiseschilderung aus einem Land, das in einem prekären Frieden lebt, in dem gehasst, aber auch gelebt wird. Sie versucht nicht, Gut und Böse zu erkennen, Erklärungen zu finden, sie erzählt vielmehr spannend und oft witzig von einem Land, in dem die Stille selbst eine Stimme hat.

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Seitenzahl: 314

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Juli Zeh

Die Stille ist ein Geräusch

Eine Fahrt durch Bosnien

btb

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2002.

Genehmigte Ebook-Ausgabe Juli 2018 im btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe Luchterhand, Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Photonica/Johner

ISBN 978-3-641-24271-8V003

www.btb-verlag.de

Dla W., z którym chciałabym podróżywać przez całeżcie.

Reisen ist, wenn man Dinge erlebt, an die man sich ein Lebtag zu erinnern glaubt und die man, kaum zu Hause, sofort wieder vergisst.

Pascal hat mal gesagt

Der Hund guckt von draußen durch die Glastür, die Nase dicht an der Scheibe. Wenn er Daumen hätte, würde er sie drücken. Dafür, dass es jemandem hier gelingt, mir die Idee auszureden.

Die Frau im Reisebüro teilt seine Auffassung. »Was wollen Sie dort? Da ist doch Krieg!«

Gewesen. Ich verzichte auf Richtigstellung und starre auf die Landkarte vor mir, die ich nur zu sehen bekomme, weil ich »Recherche« statt »Tourismus« sage. Einige nicht sehr große Länder liegen unordentlich nebeneinander, ein paar Namen von Städten und Flüssen kenne ich aus den Zwanzig-Uhr-Nachrichten. Im Herzen der Finsternis liegt ein weißer Fleck, in dem geschrieben steht: »Dieses Land eignet sich nicht für touristische Reisen«. Das ist Bosnien-Herzegowina.

Pascal hat mal gesagt, alles Unheil auf der Welt komme daher, dass der Mensch nicht ruhig zu Hause auf seinem Hintern sitzen kann.

Der Hund guckt noch immer so. Ich beschließe, ihm wegen Illoyalität das Abendessen zu kürzen.

Sixt glaubt selbst nicht, was ein Monat Autofahren in Bosnien kostet. »Moment, das muss ein Fehler sein.« Beschämt nennt er die Summe: Dreitausendfünfhundert. Nämlich US-Dollar. Dafür, wende ich ein, könne ich mir das ganze Land kaufen und zuschicken lassen. Er stimmt zu. Wir trennen uns in gegenseitigem Einvernehmen.

Nach mehrtägigem Telephongespräch mit kurzen Unterbrechungen für Nahrungsaufnahme und Nachtschlaf vermittelt der ADAC mir einen Wagen, dessen Mietpreis nicht das Bruttosozialprodukt meines Reiselandes übersteigt. Ich hatte ohnehin vor, bei der nächsten Bundestagswahl für den ADAC zu stimmen.

Im Buchladen finde ich einen Touristenführer aus den achtziger Jahren mit lustigen Bildern von Dingen, die höchstwahrscheinlich nicht mehr existieren, fünf Tonnen Kriegsberichterstattung und drei Bücher über das historische Bosnien im Mittelalter.

Es gibt eben Dinge im Leben, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Um etwas Sinnvolles zu tun, kaufe ich Stiefel, einen Schweizer Armeerucksack und ein Fahrtenmesser im Army-Shop. Den Hund lasse ich beim Friseur von seinem Pelz befreien und besorge ihm ein neues, leuchtend blaues Geschirr. So sieht er aus wie ein Fisch mit Hosenträgern und wird von Tschetniks nicht für einen Streuner gehalten und nicht versehentlich erschossen werden.

Meine Mutter sagt am Telephon, Griechenland sei schön und auch weit im Südosten.

Der vorwurfsvolle Blick des Hundes wird intensiver, als ich anfange, den Rucksack zu packen. Er verlangt eine Erklärung. Ich versuche es: Nach zwei Wochen vergeblicher Reisevorbereitung bin ich urlaubsreif. Wir müssen endlich mal wegfahren. Wie wär’s mit Bosnien?

Das weist er als Zirkelschluss zurück. Ich gebe auf und unterbreche das Packen, zumal ich nicht weiß, was ich mitnehmen soll. Im Badezimmer schneide ich den Pony meiner Topffrisur extra kurz, auf Vorrat. Als ob man sich dort die Haare nicht schneiden könnte. Der Hund sitzt auf der Schwelle und fixiert mich. Ich versuche es noch einmal.

»Vor etwa acht Jahren, als du noch klein warst, fragte mein Bruder einmal, wo die Städte Moslemenklavebihać und Belagertessarajevo liegen.«

Der Hund versteht nicht.

»Ich will sehen, ob Bosnien-Herzegowina ein Ort ist, an den man fahren kann, oder ob es zusammen mit der Kriegsberichterstattung vom Erdboden verschwunden ist.«

Der Hund hört nicht zu. Er nimmt zur Kenntnis, dass sein Futter obenauf geschnallt wird. Zum Schlafen legt er sich nicht wie üblich neben das Bett, sondern im Flur an die geschlossene Wohnungstür.

Wer die Hölle überleben will

Was da am Bahnhof von Maribor auf dem Nebengleis steht, ist kein Ausstellungsstück, sondern ein Nahverkehrszug, aus verschiedenen alten Waggons zusammengestückelt, einer davon ganz aus Holz wie ein Schuppen auf Rädern. Mein Zug spricht wienerisch und ist so gut klimatisiert, dass die Hitze draußen an Glaubwürdigkeit verliert. Der nackte Hund, von den Hosenträgern schlecht gewärmt, zittert auf meinen Füßen. Ich hole ihn neben mich auf die Sitzbank, immerhin hat er bezahlt. So lässt es sich aushalten. Ich könnte fünf Wochen lang zwischen Wien und Zagreb hin und her fahren und entspannt den eigenen Gedanken lauschen, wie sie unablässig die Umgebung kommentieren.

Falls es nicht nur an den schmutzigen Fensterscheiben liegt, sind die Farben draußen blass und das Licht trüb wie in der Sahara. Vor der Hitze fürchte ich mich am meisten. Außer vor Landminen, Serben, Nächten im Freien, unbekannten Krankheiten, Diebstahl der Dokumente, Tod und Teufel.

Kaum dass die Zugtüren offen sind, beginnt der Hund zu hecheln. Auf dem Bahnsteig wird mir übel, ich setze den Rucksack ab und mich darauf. Es lag nicht an den schmutzigen Fensterscheiben.

Wer die Hölle überleben will, muss ihre Temperatur annehmen. Das versuche ich gerade, als ein Ehepaar mich anspricht. Ich erkläre auf Polnisch, dass der Hund nicht von Natur aus nackt ist, mit buschigem Kopf, Schwanz und Beinen. Sie verstehen, nicken und lächeln mir jedenfalls zu. Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen gelungen, auch wenn es erst mal Kroaten sind. Ob ich allein unterwegs bin? Aber klar doch.

Zagreb empfängt mich mit so weit ausgebreiteten Armen, dass mir schwindelt, während ich mich hineinfallen lasse. Die Stadt kann gucken, als hätte sie einen schon immer vermisst.

Unter den Platanen mit vielfarbig abblätternder Rinde sitzen Liebespaare, junge und alte, und passen vollkommen dorthin, als würden sie von der Stadtverwaltung für ihren Aufenthalt auf den Bänken bezahlt. Der Hund krümmt sich zum Fragezeichen und kackt neben den Springbrunnen mitten in die Szenerie. Einstweilen betrachte ich interessiert die herrschaftlichen Fassaden und bin verwirrt. Ich hatte mir Zagreb wohl als einen Bombenkrater vorgestellt, an dessen Rand in Lumpen gehüllte Flüchtlinge sitzen.

Die Häuser sind unsaniert auf eine Art, die mit Verfall nichts zu tun hat, sondern nur mit der Frage, ob man es nötig hat, sich zu schminken. Wenn ich nicht fünf Wochen lang im Zug nach Zagreb sitzen kann, könnte ich wenigstens fünf Wochen in Zagreb herumsitzen. Ich muss stramm gehen, Blick geradeaus, sonst bleibe ich an jeder Ecke stehen und komme niemals bei Mile an.

Mile ist ein Freund eines Freundes und hat einen Wohnverlag, wie andere Leute eine Wohnküche haben. Er spricht besser Deutsch als ich. Vor Ehrfurcht bin ich tief in den großen Bürostuhl gerutscht. Wir rauchen meinen holländischen Tabak und trinken Mineralwasser, während der Hund Ursachen und Folgen von Arroganz an Miles Hauskatzen studiert.

Ich erhalte eine Einführung in bosnischer Staats- und Gesellschaftskunde. Seit dem Friedensvertrag von Dayton ist das Land eine Föderation. Die beiden Bundesländer heißen: »Republika Srpska«, wo die bosnischen Serben leben, und »Konföderation«, das Gebiet der bosnischen Moslems und Kroaten. Welch klangvolle Namen.

Im Übrigen solle ich niemandem trauen. Unter scheinbarer Ordnung verberge sich Anarchie. Ich habe es schon geahnt, jetzt sagt er es selber:

»Ich bin so drastisch, weil ich Sie warnen will.«

Wovor, wissen wir beide nicht genau. Wir schweigen eine Weile. Das Schnurren der Katzen im offenen Fenster wird lauter. Erst vorhin am Bahnhof habe ich mal wieder beschlossen, niemandem zuzuhören, der diese Reise für gefährlich hält. Mile sieht es mir an.

»Meiden Sie wenigstens die Republika Srpska. Dieser Landesteil ist verwildert. Kein Schwein will dort leben, und jeder, der Grips hat, ist längst auf und davon.«

Klingt nach Mordor. Der Hund bekommt zum Abschied eine Ohrfeige von der hellgrauen Katze, ich noch einen Ratschlag.

»Wenn Sie mit Leuten von internationalen Organisationen sprechen, tun Sie so, als wüssten Sie, was abläuft. Nennen Sie Bücher, die Sie gelesen haben. Alle machen das. Sonst weiß niemand, wie er mit Ihnen umgehen soll.«

Das leuchtet ein. Auf dem Weg zurück ins Zentrum denke ich mir ein paar Titel aus. »Bomben auf Bihać«, »Sarajevo und danach«, »Die Kinder von Karlovac«. Letzteres ziehe ich zurück, weil Karlovac in Kroatien liegt. Weil ich überzeugt bin, dass es Bosnien nicht gibt, passen Bücher, die es auch nicht gibt, wie der Deckel zum Topf.

Der Hund sieht aus, als hätte er eine Theorie entwickelt, den Zweck unserer Reise betreffend. Er ist heute dreimal von Rüden angefallen worden, die größer waren als er. Die Lufttemperatur beträgt dreißig Grad, und beim Versuch, ein Bad zu nehmen, wäre er beinahe im beleuchteten Brunnen ertrunken, weil das Wasser tiefer war, als es aussah. Was bleibt ihm anderes übrig, als eine Theorie zu entwickeln?

Am Abend habe ich das Gefühl, immer hier gelebt zu haben und selten woanders gewesen zu sein. Man redet mit mir, in jeder Sprache, die gerade frei ist. Alles betrifft mich nur halb. Ich gehöre nicht mehr dazu als der Korken zum Wasser, auf dem er treibt. Dieses Gefühl, stelle ich fest, hat etwas von »Heimat«.

In Gedanken habe ich den ganzen Tag Frühstücksbrötchen in Eckläden gekauft, Autos geparkt, bin unterm Regenschirm geduckt zur Arbeit gehetzt, bei Sonnenschein auf den Markt gegangen und habe vor dem Schlafengehen Wein in der Altstadt getrunken. Bei manchen Haustüren zuckt mir die Hand in die Hosentasche, ich will den Schlüssel herausholen und ins Türschloss zwängen, aufschließen und oben meine Wohnung vorfinden, von der ich genau weiß, wie sie aussähe: Holzboden und Balkon, verwahrloste Blumenkästen vor den Fenstern und Klo auf dem Gang, und schon atme ich den Waschpulverduft feuchter Wäsche, die im Hof in der Sonne trocknet.

Mile hat noch gesagt, dass dieser Krieg, den wir im Westen alle nicht begriffen haben, ein Krieg der Bauern gegen die Städter war. Mir wird der Hals steif vom Zurücklegen des Kopfes vor einem Prachtbau, in dem, völlig unvorstellbar, normale Menschen zu leben scheinen.

Auf einer Pritsche im Jugendherbergszimmer liegend, betrachte ich die Wände, an denen große Wasserflecken mit Plakaten italienischer Urlaubsorte abgedeckt sind. Um Mitternacht weiß ich die Theorie vom Hund: Unsere Reise dient dem höchsten Zweck. Höhere Zwecke sind solche, die über der Augenhöhe von Hunden liegen, die oben auf Tischen oder in Regalen stehen oder an der Wand hängen. Weil ich seit unserer Ankunft in Zagreb nicht wie sonst mit zu Boden gerichtetem Blick durch die Gegend laufe, sondern mit zurückgelegtem Kopf gegen Autos und Laternenpfähle pralle, vermutet der Hund, dass der Zweck der Reise auch meine Augenhöhe übersteigt.

Wie recht er hat. Heute Zagreb, morgen Sarajevo, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind.

Die Acht-Uhr-früh-Sonne, schon bleich glühend im weißen Himmel, steht genau zwischen den Türmen der Kathedrale. Der Schatten des rechten wandert wie der Zeiger einer Sonnenuhr über glänzende Äpfel in erster Reihe, über hellgrüne Ballungen von Weintrauben dahinter, Berge erlegter Salatköpfe und satzzeichenhaft gebogene Bananen. Während die volle Stunde von Glocken besungen wird, als wäre es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte acht Uhr früh, betrachte ich die großen Steinengel, hinter Gitter gesperrt für die Zeit der Renovierung, und Gott läuft mir als Schweißbach den Rücken hinunter.

Im Park vor dem Bahnhof lege ich mich auf die Wiese, breite Arme und Beine aus, bis ich ein Kreuz bilde, mit mir selbst die Stelle auf dem Erdball markiere, an der ich liege. Das müsste von hoch oben zu sehen sein, so dass alle himmlischen Wesen erkennen: Dorthin mit unserem Segen!

Dann gehe ich los, um einen Zug nach Sarajevo zu suchen.

The Catcher in the Rye

Sie haben Glück. Es gibt wieder Züge zwischen Zagreb und Sarajevo«, lautet das Ergebnis einer zehnminütigen Verhandlung, während der ich mich mit dem Mann hinter der Glasscheibe auf einen Grundstock an gemeinsamen Handbewegungen und Vokabeln geeinigt habe. Nur weil man am internationalen Reiseschalter arbeitet, muss man noch lange nicht Englisch können.

Ist ja toll. Und wann fährt die Bahn?

»In zwei Wochen. Wenn die Linie wieder in Betrieb genommen wird.«

Nein, sonst gibt es keine Züge in Bosnien. Warum?

Man fährt halt hin. Wo soll das Problem sein.

Im Rucksack befindet sich alles, was ich wegen der Hitze nicht am Leib tragen kann, dazu ein halber Sack Hundefutter plus Napf, Turnschuhe, Bücher, Walkman und noch vieles mehr, an das ich mich nicht erinnere. Ameisen können das Doppelte ihres Körpergewichts mit sich tragen, aber die haben eine andere Technik.

Zwei Stunden schon beobachte ich das Treiben am Busbahnhof. Ich habe noch nie einen Bankraub geplant, aber gewisse Dinge lernt man in Sekunden, wenn es sein muss.

Der Mann hinter der Glasscheibe war sich seiner Sache sicher: Hunde sind in Autobussen nicht erlaubt. Auch nicht mit Leine. Auch nicht der beste Hund der Welt, nicht mit Maulkorb, gefesselt, geknebelt oder betäubt. Vielleicht könnte er im Gepäckraum reisen, am besten in einer Tasche. Wenn der Fahrer einverstanden ist. Ich hatte Lust auf eine international verständliche Handbewegung.

Dem Fahrer des ersten Busses habe ich Geld geboten. Erst fünfzig Prozent des Fahrpreises, dann hundert, dann zweihundert, es blieb bei Nein. Das also bedeutet »Probleme mit der Korruption«.

Zwei Frauen nähern sich, Zigaretten zwischen den Fingern, die sie mit schnellen Bewegungen an den Mund führen und ersetzen, sobald sie ausgeraucht sind. Ich muss entscheiden, in welche der beiden angebotenen Schachteln ich greife.

Ob ich Soba brauche, ein Zimmer? Nein, ich brauche ein Wunder, um den Hund und mich nach Sarajevo zu bringen.

Die Frauen lächeln mit dunklen Zahnreihen voller Lücken und streicheln den Hund, der mit dem Leben abgeschlossen hat. Weit und breit nichts als Abgase und Asphalt.

Schnell beschließe ich die Entstehung einer neuen Sprache: Das Endepol. Es besteht aus zehn englischen, hundert deutschen und einer Menge polnischer Wörter und kommt fast ohne Grammatik aus. Es gibt nur eine Zeit, die Gegenwart, und keine Personen. Dafür zeigende Bewegungen auf mich selbst, den Hund und den Autobus.

Ich erkläre meinen Plan, fuchtele mit den Armen und könnte ohne weiteres eine Skizze zeichnen, mit gestrichelten Linien und Richtungspfeilen. Die beiden Frauen wollen eine Rolle.

»Das ist ein Scheißland«, sagen sie. »Wo man es verarschen kann, soll man es verarschen.«

Das lasse ich offen und ernenne sie zu Rucksackbewacherinnen.

Als der Bus vorfährt mit dem Sarajevo-Schild auf der Stirn, sind wir in Position. Der Hund schlecht versteckt hinter meinem Gepäck, flankiert von den rauchenden Damen, die andauernd lachen, was ich ein bisschen auffällig finde. Der erste Fahrer geht pinkeln, der zweite bückt sich zum Verladen der Koffer und verschwindet halb im Bauch des Busses. Das ist der Moment. Ich zerre den Hund zur offenen Vordertür und springe die teppichbeklebten Stufen hinauf. Ein paar der anderen Fahrgäste beobachten mich, ich lächele, damit sie nicht petzen. Über den Mittelgang rennen wir nach hinten. Der Hund legt sich auf die Seite und lässt sich an den Pfoten unter die Sitzbank schieben, es klappt, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Wenn er in dieser Haltung die Fahrt überlebt, muss er unsterblich sein.

Draußen klatschen die Damen in die Hände und lassen den Rucksack verladen. Während andere Passagiere einsteigen, tanzen sie mit hochgereckten Daumen vor meinem Fenster. Ich verteile Kusshände und Siegeszeichen und fürchte, dass die Fahrer Verdacht schöpfen bei dem Spektakel. Als der Bus anrollt, habe ich schon zwanzig Minuten lang das Atmen vergessen. Ich schaue mich um und bemerke das zarte Lächeln und Nicken einiger Mitreisender. Anscheinend hält man zusammen gegen jede Art von Obrigkeit.

Hinten auf der letzten Bank, wo bei Schulfahrten die Klassenelite saß, ist das Brummen des Motors von Halswirbel bis Unterschenkel im ganzen Körper zu spüren. Der Hund atmet flach, er hat keinen Platz, um tief Luft zu holen. Lange sitze ich vornüber gebeugt und halte ihm eine Pfote. Ich kenne ihn seit acht Jahren und bin immer wieder erstaunt, wie hart er im Nehmen ist. Ich würde auch für ihn unter der Sitzbank reisen, und die Vorstellung, er könnte das nicht wissen, schmerzt wie Heimweh.

Unablässig flieht die Landschaft in die Richtung, aus der ich gekommen bin. In Leipzig muss sich ein ganzer Haufen vor meiner Haustür ansammeln. Bäume und Häuser rasen vorbei, während die am Horizont beratend im Halbkreis zusammensitzenden Bergriesen dem Bus eine Weile das Geleit geben und sich dann, einen gediegenen Halbkreis beschreibend, langsam nach hinten abwenden. Schnell türmt das sogenannte Landesinnere sich auf. Oben verschwimmen Gipfel im Hitzenebel, unten dehnen sich graugrüne Flächen, die an manchen Stellen Felder sind. Wenn die Felswände dicht an den Bus heranrücken, steht der nächste Tunnel bevor.

Eine Weile freue ich mich daran, dass ganz Kroatien nach Waschpulver riecht, und betrachte glücklich die dazugehörende, weiß flatternde Wäsche in den Gärten am Straßenrand. Bis ich zwei Reihen weiter vorn zwischen den Füßen einer Frau die Familienpackung Ariel bemerke.

Mein Plan hatte einen Fehler: Er sah keine Zeit zum Einkaufen von Proviant oder Aufsuchen der Toilette vor. Der Bus hält, ich will den Hund nicht allein lassen und bleibe als einzige sitzen, ganz hinten in meiner Ecke. Mir ist klar, dass ich nicht durchhalten werde bis zum Ende der Fahrt. Meine Blase fühlt sich hart und rund an wie ein Stein, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Buckelpisten beginnen.

Vor mir liest einer »The Catcher in the Rye«. Ich lasse das Endepol gleich beiseite und frage auf Englisch.

Seine Berechnungen ergeben, dass wir etwa ein Elftel der Strecke bewältigt haben. Er legt das Buch zur Seite und setzt sich zu mir. Kaum hat er erfahren, wo ich herkomme, wechselt er ins Deutsche.

»Wieso quatschst du mich denn auf Englisch an?«

Ja, wieso eigentlich. Als Deutsche bin ich gewöhnt, im Ausland leise zu sprechen. Oder Englisch.

Und woher er so gut Deutsch könne? Er grinst, woher wohl, saudoofe Frage. Gut, dass ich schon rot bin von der Hitze.

Dario hat seinen Namen vom italienischen Gewinner der Europameisterschaft im Kanufahren, die vor zweiundzwanzig Jahren in Jajce ausgetragen wurde. Damit ist er noch jünger als mein kleiner Bruder, der für mich immer der jüngste Mensch der Welt gewesen ist. Von Jajce habe ich noch nie gehört. Nicht weiter schlimm, war bloß die Hauptstadt Bosniens bis zur Eroberung durch das Osmanische Reich. Vielleicht hätte ich es doch ausleihen sollen, das Buch über Bosnien im Mittelalter. Ich starre Dario an wie einen Außerirdischen. Mein erster Bosnier, mein erster echter Bosnier. Er sieht gut aus.

Beim nächsten Halt kann ich nicht mehr und bitte ihn, kurz auf den Hund aufzupassen. Er bückt sich, um unter die Sitzbank zu sehen, und taucht lachend und kopfschüttelnd wieder auf.

»Was wollt ihr hier, zum Teufel?«

Die Frage wird mir auffällig oft gestellt, meistens von mir selbst. Es ist höchste Zeit, mir eine kurze, prägnante Antwort zurechtzulegen.

Je weiter wir uns der Grenze nähern, desto unentschiedener wird das Gelände. Die struppigen Felder sind sich nicht im Klaren darüber, was auf ihnen wächst, und die Sonnenblumen schauen in alle Himmelsrichtungen, als könnten sie nicht erkennen, wo das Licht herkommt. Die Autobahn endet, es beginnt zu ruckeln und zu schütteln wie in einem Pferdekarren, ohne dass es in der Abfolge von Stößen zu Wiederholungen käme. Straße und Bus sind erfinderisch wie die Zahl Pi persönlich.

»Mach einfach, was sie sagen.«

Dario schubst mich vor sich her, mir bleibt kaum Zeit, den Hund anzuflehen, dass er ruhig liegen bleibt. Sie lassen uns das Gepäck ausladen und zu einem Campingtisch tragen. Der Bus entfernt sich, leer bis auf einen Fahrer. Und bis auf meinen Hund. Die Hitze hätte schon ausgereicht, um mich in Schweiß zu baden, ich spüre Darios Hand glitschig an meinem Unterarm. Gerade als ich ihn abschütteln und dem Bus hinterher sprinten will, hält dieser an, noch in Sichtweite. Zwei Uniformierte mit Taschenlampen steigen ein. Mein Herz hat Fäuste bekommen und trommelt damit von innen gegen die Wand. Jemand flüstert »Abwarten, erst mal abwarten« in mein Ohr.

Die beiden Männer steigen wieder aus. Sie haben ihn nicht gefunden. Oder sich nicht für ihn interessiert. Wäre ich eine Sonnenblume, ich hätte keine Ahnung, wo das Licht herkommt.

Bei den ersten zerstörten Häusern, die als Geröllhaufen in den Feldern sitzen, denke ich an einen Steinbeißer, der das Gebiet durchwandert und seinen Kot hinterlassen hat. Dann denke ich an den Zahn der Zeit und daran, dass alles mal kaputtgeht. Als wir an einer katholischen Kirche vorbeifahren, die mit zerrissenen Betonwänden aussieht wie ein kaputter Karton und deren Turm, waagerecht abgeknickt, bis fast in die Straße ragt, höre ich auf mit dem Unsinn.

In Folge sehe ich:

Die Knubbeldächer einer orthodoxen Kirche, von Kunstlicht angestrahlt trotz der Nachmittagssonne. Leere Denkmalsockel. Sattelschlepper voller Melonen am Straßenrand, jede groß wie ein Globus und das Stück zu achtzig Pfennig.

Das Hotel »Milka«, ganz lila und mit typischem Schriftzug. Daneben eine Milka-Tankstelle, deren Benzinpreise mit weißer Schnörkelschrift auf lilafarbenem Untergrund angegeben sind.

Ich verstehe nicht ganz. Die anderen Ausländer sind aus Aachen, ich sehe es an den Kennzeichen. Schilder mit Pfeilen bieten Dinge zum Verkauf, die kein vernünftiger Mensch geschenkt haben will. Eine junge, gut gekleidete Frau gibt einem schweißnassen Pferd mit Heuwagen etwas von der flachen Hand. Etwa hundert Fragen will ich Dario stellen und bringe nicht eine über die Lippen. Er erzählt von Berlin, wo er gerade zu Besuch war, und von seiner Entscheidung damals, mit den Eltern nach Jajce zurückzukehren, anstatt die Schule in Deutschland abzuschließen.

»Der Krieg«, sagt er gerade, »raubt dir die Kindheit. Heute bin ich ein großes Baby. Völlig kindisch. Das darf dich nicht stören.«

Als er aufsteht, um etwas aus seiner Tasche zu holen, sehe ich, dass er mindestens ein Meter neunzig groß ist.

Melonen gibt es nicht nur auf Sattelschleppern, sondern auch in Kisten, auf Handkarren, in Autos oder als statisch zweifelhafte Haufen auf dem Boden. Ich komme nicht darauf, wer die alle essen soll. Außerdem habe ich noch nie Melonen wachsen sehen. Ich will in die Felder spähen, aber da sind nur noch Straßendörfer, eins ins nächste übergehend, lauter frisch gebaute, unverputzte Ziegelwürfel, seltsame Gebilde, die manchmal Zwiebeltürme nachahmen oder die Form eines amerikanischen Motels. Manche sind groß wie Wohnkomplexe im Vorort einer Großstadt, da sollen wohl Leute einziehen, die dann die ganzen Melonen essen. Den meisten Häusern ist ein kleines, mit Werbung gepflastertes Geschäft angeschnallt wie ein greller Bauchladen.

»Ich habe noch nie jemanden gesehen«, sagt Dario, »der so leuchtend blaue Augen hat wie du.«

Falls aus mir sonst nichts wird im Leben, kann ich Kurse anbieten: »Hakenkreuze zeichnen – jetzt auch richtig rum«. Und die Fortgeschrittenen lernen, dass man »NATO« mit vier Großbuchstaben schreibt.

Über mehrere hundert Meter erstreckt sich die wilde Müllkippe, von Bebauung kann keine Rede mehr sein.

»Das ist die Grenze«, sagt Dario, aber zwischen was und was? Gerade noch sehe ich das Schild vorbeiflitzen: Auf Wiedersehen in der Republika Srpska. Nach ein paar Minuten gibt es wieder Felder. Von Melonen keine Spur.

»Also dann.«

Der Bus steht, das ist Jajce, aber müssen wir nicht erst durch Banja Luka? Da waren wir vor anderthalb Stunden. Dario zögert. Wie weit es noch bis Sarajevo ist, frage ich, sehr weit, sagt er, noch mal so weit. Sarajevo, da bin ich sicher, gibt es nicht. Jajce sehe ich durchs Fenster. Spatz in der Hand, denke ich und stehe auf. Im ersten Moment kann der Hund nur taumeln, dann wird er wach und folgt mir durch den Mittelgang, die Fahrgäste raunen, wir springen raus, der Busfahrer ruft mir etwas hinterher, das ich nicht verstehe, und Dario hat meinen Rucksack schon ausgeladen.

Meine Füße, tastend beim ersten Kontakt mit bosnischem Boden: Alles klar. Trägt.

Stadt der Eierschalen

Das Plätschern des türkisfarbenen Wassers ist in meinen Ohren schon Sirenengesang. Den Hund würde kein Mastbaum halten. Alle guten Vorsätze im Kopf, versage ich bei erster Gelegenheit. Gelbe Plastikbänder, die aussehen wie Absperrungen an einer Baustelle, sehe ich nicht, aber die sind nicht überall, wo sie sein sollten, und, wie auch immer, die befestigte Straße darf nicht verlassen werden. Niemals.

Ein seltsames Gefühl, diese ersten Schritte auf möglichem Minenfeld, die Beinmuskeln reagieren mit Verspätung. Als könnte das helfen, taste ich mich mit den Fußspitzen vorwärts wie über dünnes Eis, bis mir auffällt, dass das Gras gemäht ist. Eine Weile denke ich über die Bauweise von Rasenmähern nach, ob sie beim Drüberrollen alles zum Detonieren brächten. Eins ist klar: Ich kann nicht die gesamte Reise auf Asphalt verbringen, das Land auf Sicherheitsstegen durchqueren wie einen tückischen Sumpf. Ich gebe den Hund frei. Wir sind hier, und es ist, wie es ist.

Schmetterlinge schwitzen nicht, immer sind sie frisch und unbeschwert. Eine kleine himmelblaue Sorte mit orangefarbener Borte an jedem Flügel interessiert sich für meine ausgezogenen Stiefel, unzählige bedecken die schweren Schnallen und das Innere der Schäfte. Der Hund fischt Kiesel aus dem Fluss, taucht prustend die Nase unter Wasser, quietscht und singt vor Vergnügen. Das hat er lange nicht gemacht.

Erst glaube ich, der Wind wirbele Plastikfetzen durch die Luft, aber es geht kein Wind. Es sind Libellen, knallblau mit schwarzen Flügelunterseiten, und ich würde gern sehen, was passiert, wenn eine von ihnen sich im Netz der daumenlangen Kreuzspinne verfängt. In manchen Welten geht der Krieg nie vorbei.

Die bemoosten Felsen kauern im Fluss wie Tiere, die ständig den Kopf unter Wasser haben. Eine Wolkenfamilie führt ihre Schatten gemächlich über Berghänge, deren Gestein durch löchriges Mischwaldgewand schimmert. Es ist friedlich, besonders im Maisfeld zur Rechten. Trotzdem sehe ich mich alle zwei Minuten um, ob mein Rucksack noch da ist, ob doch noch etwas in die Luft fliegt oder ein Mörder sich nähert.

Was ich auf den ersten Blick für garstige Brennnesseln gehalten habe, stellt sich als duftende Minze heraus. Ich entschuldige mich bei Gras und Pflanzenbüscheln und überhaupt bei allem: Es ist halt mein erster Tag.

Dario kommt sorglos quer über die Wiese gestiefelt: »Schön hier, oder?«

Ansonsten ist Jajce ein Scheißnest. Allein der Name: »Jaje« heißt »Ei«. Ich soll raten. Ich murmle etwas von Neuanfang, von Keimzelle einer neuen Ära. Oder so.

»Sie haben den Mörtel aus Eierschalen gestoßen«, sagt er. »Die Stadt war weiß. Als es die alten Häuser noch gab.«

Ansonsten alles im Lot: Die Eltern sind übers Wochenende an die Adria gefahren, andernfalls wäre ich mit dem Hund nicht in die Wohnung gekommen. Mir ist das unangenehm, vielleicht brauche ich erst mal einen Kaffee.

Damit ich was lerne über bosnische Kultur:Schuhe aus und vor der Tür lassen, raunzt er mich an. Die dicken Teppiche sind angenehm unter den Fußsohlen. Das Kaffeepulver ist mit an die Adria gefahren, wir trinken das sauberste Wasser Europas aus der Leitung. Seit die Fabriken kaputt sind, ist alles voller Forellen, und trinken kann man direkt aus den Flüssen.

Während er duscht, nehme ich Trauben, Pflaumen und Nektarinen aus der Obstschale und ordne den Rest so, dass es nicht auffällt. Mein leerer Magen zwickt sich selbst, er glaubt zu träumen. Im Zimmer herrscht Ordnung, die Gardinen hängen in parallelen Falten, die Bücher im Regal sind nach Größe sortiert, die Kissen auf Couch und Sessel liegen perfekt, als wären sie festgenäht. Wir stören, mein Rucksack, der Hund und ich.

I say my darling, you look wonderful tonight: An meinem ersten Nachmittag in Bosnien-Herzegowina, in einer kleinen Stadt, von der ich nur gesehen habe, dass sie auf seltsame Art zerfahren wirkt und keine Geschäfte besitzt, außer den Lebensmittelläden mit von Coca-Cola-Werbung umrandeten Schaufenstern und dem immer gleichen Sortiment aus Melonen, Äpfeln und Limonadenflaschen vor der Tür, bringe ich die Sofakissen eines bosnischen Ehepaars durcheinander und singe dabei Eric Clapton. Im Duett, mit Gitarrenbegleitung.

Wenn man’s weiß, erkennt man die mittelalterliche Form des Marktplatzes, die von kommunistischen Flachbauten nachgezeichnet wird. Einer von ihnen ist »Dom Kulture«, durch dessen Glasscheiben riesige, photorealistische Portraits der Familienangehörigen eines jungen Künstlers auf die Straße starren. Wo kein Lebensmittelladen ist, befindet sich ein Café, und in jedem wird eine andere, zu laute Radiomusik gespielt, die ich am liebsten gegen das Pfeifen leerer Wellen tauschen würde. Eine Katze mit einem Viertel Pizza im Maul rennt vorbei, ohne dass der Hund sie bemerkt. Er starrt die lebensgroßen Bronzeabbildungen junger Löwen an, die unmotiviert auf einem Rasenstück sitzen. Immerhin kann ich drei Tassen Kaffee in schneller Folge trinken.

Wenn ich an Darios Arm entlang irgendwohin schauen soll, muss ich mich auf eine kleine Mauer stellen, auf einen Stein oder umgedrehten Eimer. Da unten liegen die Reste des Hauses seiner Familie, mit bloßem Auge schwer auszumachen. Sie haben es nicht nur mit Granaten zerschossen, sondern später noch gesprengt. Von Hand. »So gründlich waren sie bei uns.«

Jajce hat eine verfallene Krönungsburg, darunter eine Gruppe in den Hang gekauerter Häuschen im türkischen Stil, ein Stück römischer Tempel, leerstehende Habsburgische Verwaltungsgebäude, Teile einer osmanischen Befestigungsmauer, eine Menge Höhlen, Titos Villa, einen vier Kilometer langen Wasserkanal aus Österreich-Ungarn, kroatische Alltagsarchitektur, eine stillgelegte Fabrik, viele weiß schäumende Staustufen und einen dreißig Meter hohen Wasserfall mitten in der Stadt, von dem ein Showspringer sich einst zu Tode stürzte. Ich stehe in einem Setzkasten der Geschichte, und nichts ist nicht kaputt. Sogar der Wasserfall war höher, bevor ein Felsbrocken in den Fluss hinunterbrach.

Wir kommen mühsam voran, weil Dario alle zehn Meter einen Bekannten begrüßen muss. Und zu jedem Kieselstein gibt es eine Geschichte.

»Und die Menschen?«

»Was für Menschen?«

Ja. Eben, irgendwie. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Hast du ein Problem mit, sagen wir, zum Beispiel Serben?«

»Ich hab mit niemandem ein Problem. Es gibt Leute, die reden nicht mehr miteinander, aber das sind nicht viele.«

Außer mit den Bauern, fällt ihm ein, mit denen gibt es ein Problem. Sie sind von den Feldern in die Städte gekommen und haben sich genommen, was sie schon immer wollten. Viele sind stinkreich geworden, und deshalb hat es ihn gegeben, den Krieg. Er zeigt auf zwei Lebensmittelläden und ein Café.

»Der Typ, dem die gehören«, sagt er, »hat vor zehn Jahren noch Mais angebaut.«

Irgendetwas hat er mit meinen Augen. Er schaut nicht hinein, er schaut sie an, betrachtet sie wie etwas Lebloses, wie zwei interessant geformte Steine, und dass es die schönsten Augen der Welt seien, hat er den Nachmittag lang wiederholt. Am Anfang hielt ich es für Schmeichelei. Inzwischen vermute ich eine Obsession.

»Deine Augen lachen«, sagt er, »auch wenn du ernst bist.«

Über meinen Gesichtsausdruck habe ich immer nur gehört, ich solle nicht grimmig schauen, und das, während ich bloß dasaß und nachdachte.

Ab und zu steht er auf, um mich von der Seite und von hinten anzusehen. Auch ich stehe ab und zu auf, um nach dem Hund zu schauen, der außerhalb der Terrasse auf der Wiese warten muss. Wenn jemand mit Hund ein Restaurant betreten will, sagt Dario, weiß man sofort: Das ist ein Deutscher.

Oder wenn jemand davon ausgeht, es habe sich auf dem Balkan um einen Krieg aus Völkerhass gehandelt.

Uns trennen vier Forellen, zwei Platten in Öl gebratener Kartoffelscheiben und ein paar Schüsselchen mit verschiedenen Salaten, die über den Rand des Tisches zu kippen drohen. Der Kellner ist wie jeder in Jajce außer den Bauern ein alter Freund von Dario. Er heißt »Svemir«, was »Universum« bedeutet, und behandelt uns vorzüglich. Der Mond beendet seinen Klimmzug am oberen Rand des Bergkessels, er ist vollkommen rund, ein in den Himmel gestanztes Loch, durch das die dahinterliegende Lichtmenge schimmert. Ich freue mich, ein schönes Startlicht. Tief im schwarzen See liegt ein zweiter Vollmond bereit, der in einem Monat aufgehen wird. Zum Ende der Reise.

Berlin hat sich in fünf Jahren gar nicht verändert, und im Vergleich zu Bosnien mag das stimmen. Dario hat seine ehemalige Basketballmannschaft besucht, seine Ex-Freundin, die fast genauso heißt wie ich, und seinen früheren Deutschlehrer.

»Es ist kaum zu verstehen«, sagt er, »dass Berlin und Jajce die ganze Zeit auf dem selben Planeten existieren. Gleichzeitig, nicht abwechselnd.«

Das Problem kenne ich. Spätestens seit wir hier sitzen, kommt mir die Existenz von etwas wie Leipzig fragwürdig vor. Wir essen mit einer Hand, mit der anderen schlagen wir Mücken tot.

Als ich etwas Nettes über Jajce sage, will Dario wissen, ob ich ihn verarsche. Von dem Geld, das er als Fahrer beim UNHCR verdient, leben auch seine Eltern, und so schafft er es, seine Rückkehr nicht zu bereuen. Ich schlucke einen Satz herunter, der mit »Du könntest doch« anfängt, und verbiete meinem Kopf, für alles eine Lösung finden zu wollen. Ich höre zu, verschlinge mein Essen und sammele Fischhäute für den Hund.

Leider, sagt Universum, ist das Boot des Restaurants voll Wasser, sonst könnten wir rausfahren. Stattdessen setzen wir uns an den See und öffnen die zweite Flasche Wein. Als Dario wieder von meinen Augen anfängt, lenke ich vom Thema ab und frage, ob er Geschwister hat.

»Gehabt«, sagt er. »Eine Schwester, sechs Jahre älter. Wie du.«

»Jahrgang vierundsiebzig«, sage ich, als ob das eine Rolle spielte.

»Ja, ja«, sagt er. »Vierundsiebzig.«

Wir lauschen eine Weile der Partymusik, die vom anderen Ufer herüberdringt.

»Die haben keinen Stil«, sagt Dario. »Das sind die Bauern.«

»Warst du hier«, frage ich, »als sie kamen?«

»Sicher«, sagt er. »Jajce war schon ein halbes Jahr unter Belagerung. Ich saß im Treppenhaus, und durch die Einschusslöcher in der Wand hörte ich, wie sie sich draußen vor dem Haus unterhielten. Ich hörte ihre Stiefel und was sie planten. Es war ein schlechter Moment.«

Wir schweigen lange, anfangs wegen der schlechten Momente, dann auch, weil das Wasser so schwarz ist und der Berg dahinter noch schwärzer.

»Mach doch mal die Augen auf. Du bist ja müde.«

Und mir ist kalt. Der Hund schnarcht leise hinter uns und zittert im Schlaf.

»Weißt du, was ich mir am meisten wünsche?«

Er sagt es mir, und ich gebe ohne Zögern mein Wort. Für die schlechten Momente, seine und meine und die der ganzen Welt.

Schon wieder vergesse ich, die Schuhe auszuziehen. Ich warte mitten im Wohnzimmer, während Dario im Schrank zu kramen beginnt. Er reicht mir eine Lederjacke, dreiviertel lang, tailliert, mit Gürtel. Sie passt wie angegossen. »Stell dich ans Fenster, schau über die Stadt. Zünde eine deiner Zigaretten an. Die Asche wirfst du auf den Teppich.«

Ich wüsste gern, wie sie hieß. Ich rauche. Der Himmel ist weißlich von Sternen. Es ist vollkommen still. Ich höre den gleichmäßigen Atem vom Hund, meinen eigenen Herzschlag und Dario, der am anderen Ende des Raums, ab und zu leise die Nase hochzieht.

Als die Zigarette heruntergebrannt ist, richtet er mir ein Bett auf der Couch.

»Schlaf«, sagt er, »so tief und sicher, als könnte dir nie im Leben etwas passieren.«

Ich liege, wie versprochen, mit Jacke unter der Bettdecke, und kann lange nicht einschlafen, weil das Leder bei jedem Atemzug knirscht.

Im Taxi nach Mostar

Meine Augen sitzen wie Fremdkörper im Gesicht: Wenn ich sie schließen will, spüre ich Sand unter den Lidern, also lasse ich sie offen und starre durch das Küchenfenster, unfähig zu entscheiden, ob der zellstoffdichte Nebel draußen ist oder in meinem Kopf. Der Kaffee, den ich bräuchte, um das herauszufinden, hält sich nach wie vor an der Adria auf.

Dario ruft quer durch die Wohnung. Ich soll mich beeilen, unter die Dusche gehen und mich anziehen, er muss zur Arbeit. Sofort gehorche ich und ärgere mich nicht einmal über seinen Tonfall. Das ist einer der Tage, an denen ich alles tue, was man mir sagt, und aufpassen muss, dass es niemand merkt. Ich bin erschöpft, als wäre ich den Weg von Zagreb nach Jajce zu Fuß gegangen. Ohne irgendwo anzukommen. Die Lederjacke lege ich auf den Couchtisch, vorsichtig wie etwas Lebendiges. Als ich aus dem Bad komme, ist sie verschwunden.

Er trägt mir den Rucksack die Treppen hinunter. Zum Abschied sage ich »Laku noc«, gute Nacht. Es ist der einzige Satz, den er mir beigebracht hat auf Kroatisch.

Nach Sarajevo kann ich wirklich zu Fuß gehen, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Den ersten Bus habe ich durchfahren lassen, mit Hund und Gepäck hinter einer Säule lauernd, weil jeder Moment der falsche war. Kaum lichtet sich der Nebel, wird es heiß.

Gestern liegt, wie üblich, weniger als vierundzwanzig Stunden zurück. Dringend müsste eine zweite Zeitrechnung eingeführt werden, die sich nach jedem Einzelnen richtet, wie beim Wetter nach tatsächlicher und gefühlter Kälte unterschieden wird. Ich wäre seit einer gefühlten Woche auf Reisen und hätte täglich zehn gefühlte Zigaretten geraucht.

Nachschub kaufen muss ich so oder so. Weil Dario bis zur letzten Fischgräte alles für mich bezahlt hat, ziehe ich zum ersten Mal in diesem Land einen deutschen Geldschein aus dem Portemonnaie. Es funktioniert. Die Zigaretten kosten eins fünfzig, als Wechselgeld erhalte ich bunte, taschentuchweiche Lappen Konvertible Mark. Am besten gefällt mir der froschgrüne, konvertible Fünfzig-Pfennig-Schein. Meine deutschen Banknoten können sich glücklich schätzen: Im Exil werden sie den Euro überleben.

Das Kunststück gelingt beim nächsten Bus, als beide Fahrer ausgestiegen sind. Der Hund macht sich flach und kriecht freiwillig unter die Sitzbank. Ich überlege, was er sich am meisten wünscht, um es ihm zu schenken, sobald wir zu Hause sind. Weil ich das Gefühl nicht loswerde, dass einer der Fahrer uns gesehen hat, verrechne ich mich beim Bezahlen des Tickets zu seinen Gunsten. Er verzieht keine Miene.

Der Fluss Vrbas begleitete mich gestern schon bis Jajce, er ist wieder da, hat die Straßenseite gewechselt und glänzt wie aus Silberplatten zusammengesetzt. Der Straßenrand ist mit hellblauen Blumen gepudert, jetzt weiß ich, wo die Stiefel-Groupies von gestern sich Form und Farbe abgeguckt haben. Alle fünfhundert Meter dreht sich in einer Art Fahrradschuppen ein Kadaver am Spieß. Lange tippe ich auf Schweine, bis ich an einer Haltestelle das haarlose, gebratene Gesicht eines Lamms erkenne.

United-Nations-Konvois nerven auf engen Serpentinenstraßen. Der Laubwald tauscht sich gegen Nadelwald aus, so langsam, als sollte es niemand bemerken. Von Weitem entdecke ich einen See, dessen Oberfläche merkwürdig weiß zwischen den Bäumen leuchtet. Er ist zur Hälfte von Plastikflaschen bedeckt, die dicht an dicht auf dem Wasser schwimmen.

In den Kniekehlen der Serpentinen