Die Tanzmeisterin - Daniela Brotsack - E-Book

Die Tanzmeisterin E-Book

Daniela Brotsack

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Beschreibung

Victoria von Sommerauer wächst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Reichenhall auf. Tanzen ist ihre absolute Leidenschaft und Victoria hat einen großen Traum: Sie möchte Tanzmeisterin werden. Eine Ehe führt sie nach München und emöglicht ihr den gesellschaftlichen Aufstieg. Victoria reist nach Bayreuth, Paris und Wien. Und überall hört sie von Frauen, die ihre Berufung leben und von der Gesellschaft hoch geschätzt werden. Einige lernt sie persönlich kennen. Sie bestärken Victoria darin, ihren eigenen Weg zu gehen.

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Das Leben ist zu kostbar, um es mit Nichtigkeiten zu vergeuden!

Inhalt

Januar 1774

Ein Blick zurück

Kindheit

Erwachsen werden

1771

Der Ball und seine Folgen

Zwischen den Stühlen

Eigeninitiative

1772

Veränderung

Hurra, eine Freundin

Von der Kunst, mit Falken zu jagen

Alltag zieht ein

Sommervergnügen

Ein Geschenk

Hirschjagd

Tanzstunde

Konzertausflug

Die Ballsaison

Die Sauhatz

Abschied

1773

Das Leben geht weiter

Gedächtnistanz

Scheunentanz

Ein traumhafter Abschluss

Die erste Zeit

Und was jetzt?

Auf Reisen

Bayreuth

Erlangen

Weiter unterwegs

Paris im August

La Reine de la danse

Gesellschaftstratsch

Auf der Bühne

Weiter, weiter ...

Herbstliches Wien

Wieder daheim

1774

Entwicklung in Amerika

Tanztee

Nochmals Tea Party

Anton Adner

Osterzeit

Literarischer Salon

Ein schwerer Schlag

Geschäfte in Frauenhand

Glückliche Wendung

Freunde wie Gold

Sonnwendtanz

Dancing Playford

Tanzmeisterin

Alte Philosophen

Besuch

Felsentheater Hellbrunn

Speisen alfresco

Der Brief

Almer Wallfahrt

Am Chiemsee

Kaffeehaus

Der Ball des Bischofs

Nachrichten

Magdalena

Erinnerung an eine Hexe

Besuch in München

Frederiks Ball

Eine neue Liebschaft

Heimkehr Seraphia

Gefallene Mädchen

Casanova

Schloss Triebenbach

Ball bei den Mozarts

Kathrein stellt den Tanz ein

Neuigkeiten aus aller Welt

Winterfreuden

Epilog

Nachwort

Protagonisten

Familie

Gute Freunde und Angeheiratete

Dienstboten und weiterer Kreis

Literaturverzeichnis

Bücher und Schriften

Landkarten

Literaturtipps

Musikverzeichnis

Danksagung

Vorwort

Mit diesem Buch halten Sie einen besonderen Roman in Ihren Händen. Daniela Brotsack lässt uns mit ihrer Geschichte in die Zeit des 18. Jahrhunderts eintauchen, in der auch Wolfgang Mozart in Salzburg lebte. Dieser Roman macht Lust auf Kultur! Und nebenbei erfährt der Leser viel Interessantes aus der Geschichte dieser Zeit.

Die Autorin Daniela Brotsack ist seit vielen Jahren Teilnehmerin meiner Tanzgruppe in Salzburg, in der wir Kontratänze der Zeit Mozarts und englische Country Dances tanzen. Inspiriert durch unsere Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Tanz reifte bei Daniela die Idee zu diesem Roman und so habe ich als heutige Tanzmeisterin die Ehre, das Vorwort zu schreiben.

Gemeinsam haben wir viele Feste mit Tanz und Musik erlebt und Daniela beschreibt in ihrem Roman authentisch, wie das gemeinsame Tanzen uns Menschen verbindet, glücklich macht und stärkend wirkt. Genauso erleben wir es immer wieder.

Auch wenn das Buch „Die Tanzmeisterin“ heißt, ist Tanz nicht der Hauptinhalt. Wie ich im ersten Satz schon schrieb: Sie halten ein besonderes Buch in den Händen.

Warum? Weil dieser Roman etwas ganz Besonderes bewirken kann: Er hat das Potential, durch das Lesen eine wohltuende Atmosphäre zu verbreiten.

Es wirkt heilsam für die Seele, in diesem Roman zu erleben, wie sich im Kreis um die Hauptperson und Erzählerin die Menschen wertschätzend, mit gegenseitiger Achtung und Würde begegnen. Wie in jedem Menschen, unabhängig von sozialem Stand, vor allem das Sein, der gute Wille und die Ehrlichkeit zählen. Für diese Werte setzt sich die Protagonistin mit eigenem Vorbild und genialen Ideen, die sie in die Tat umsetzt, ein und nimmt den Leser mit in ihre Welt.

Natürlich gibt es dort nicht nur Sonnenschein und Heiteres. Die Welt, in die uns die Autorin führt, spielt alle Stücke des Lebens – von Unglück, Leid und Trauer bis Freude, Erfolg und Glücklich-Sein.

Der Umgang mit Schicksalsschlägen und Ereignissen wird durch die Erzählerin Victoria und ihre Familie geprägt. Die Menschen helfen einander, sie hören einander zu, sind füreinander da und kommen, auf diese Weise gestärkt, gemeinsam durch Krisen. Dabei helfen auch die Kultur – im Roman besonders hervorgehoben – die Musik und der Tanz. Daniela Brotsack lässt ihre Erzählerin besondere Perlen der Musik hören oder selber musizieren und beschreibt sie in einer Weise, dass man sich am liebsten sofort jedes Stück anhören möchte.

Und – wie könnte es anders sein – alle diese menschlichen Werte, die das Leben so lebens- und liebenswert machen und die durch diesen Roman lebendig werden, erlebe ich bei der Autorin selbst. Wo immer möglich, bereichert Daniela ihre Umwelt durch Ideen und Initiativen, um gemeinsam Schönes und damit Stärkendes zu erleben.

Auch ihre beiden früheren Romane sind erfüllt von diesen Werten. Der erste Roman „Mit dem Mut einer Löwin“ spielt im Mittelalter, der zweite „Des Falken Treue“, wie eine Fortsetzung des ersten, erzählt eine Geschichte unserer heutigen Zeit.

Ich wünsche viel Freude beim Lesen des Romans „Die Tanzmeisterin“.

Salzburg, im März 2021

Verena Brunner,

Tanzmeisterin von heute

Kurz erklärt

Liebe Leserin,

Lieber Leser,

irgendwann um das Jahr 2007 entdeckte ich meine Begeisterung für mittelalterliche Tänze. Kurz vor dem 1. Paris Lodron Ball der Universität Salzburg in den Räumen der fürsterzbischöflichen Residenz 2012 habe ich dann auch die Tänze aus der Mozartzeit kennen und lieben gelernt und bin seitdem in der Salzburger Tanzgruppe von Verena Brunner mit Mitgliedern aus sieben Jahrzehnten, die mit viel Spaß und Freude historische Tänze probt.

In früheren Jahrhunderten tanzten alle bis zum höchsten Fürsten. Das hat sich leider geändert. Tanz wird heutzutage oft als unmännlich angesehen. Dabei gilt vor allem ein guter Tänzer bei vielen Frauen bis heute als besonders attraktiv. Um der verbreiteten Tanzfaulheit etwas entgegenzusetzen, wollte ich über eine Tanzmeisterin schreiben, um auch andere für das Tanzen zu begeistern.

Nach den ersten etwa vierzig Seiten meines Manuskripts stockte mein Schreibfluss. Als ich wieder weiterarbeitete, entwickelten einige meiner Protagonisten ein Eigenleben. Sie wollten so gar nicht das Leben akzeptieren, das ich ihnen zugedacht hatte und ließen mich nicht in Ruhe, bis ich alles umgeschrieben hatte. Was allerdings auch hieß, dass der zeitliche Rahmen meiner Erzählung sich ändern musste.

Da eine Frau im 18. Jh. so eine Profession wie Tanzmeister nur schwerlich auf sich allein gestellt ausfüllen konnte, sah ich mich gezwungen, meiner Protagonistin einen Bruder an die Seite zu stellen, der die Begeisterung für den Tanz mit ihr teilt.

Obwohl ich auf keinen Fall einen Liebesroman schreiben wollte (zum wiederholten Mal), sah ich das Problem, dass eine ledige Frau zu der Zeit in den Augen der Gesellschaft nichts galt, weshalb meine Tanzmeisterin nicht unverheiratet bleiben durfte – und dadurch auch die Liebe mit dabei ist.

Ich hoffe, ich habe den Spagat zwischen historischen Fakten und einer gut lesbaren Geschichte mit sympathischen Menschen soweit geschafft, um meine Leserinnen und Leser auch für jene Frauen zu faszinieren, die gegen alle Widerstände in früherer Zeit ihren Weg gingen und durchaus erfolgreich waren.

Trotz der zahlreichen historisch belegten Personen und Fakten weise ich darauf hin, dass meine Geschichte ein Roman ist, in dem es auch viele fiktive Dialoge und Szenen gibt. Ich hatte nicht den Anspruch, jedes Detail historisch korrekt wiederzugeben und habe mir die Freiheit genommen, meine Protagonisten auch gegen manche damals herrschenden Konventionen agieren zu lassen. Denn: wer weiß schon, ob es nicht auch zu der beschriebenen Zeit Menschen und Ideen gab, die den von mir erdachten ähnelten?

Noch ein Wort zum Cover: Zu der beschriebenen Zeit waren Fächer ein sehr verbreitetes Accessoire. Dadurch, dass die Damen Korsetts und oft unzählige Lagen von Stoff trugen, war ein Fächer wenigstens eine kleine Hilfe, um in stickiger Luft einer Ohnmacht vorzubeugen. Ich dachte mir, der ganz persönliche Fächer einer Tanzmeisterin könnte die Insignien ihrer Kunst zusammen mit einigen Zeichnungen von Tanzfiguren zeigen. Manche Tanzmeister propagierten als Voraussetzung für ihre Profession die Beherrschung folgender Fähigkeiten: Tanzen, reiten, fechten und Pochette (Taschengeige) spielen.

Den Freunden meiner Protagonistin Victoria habe ich Namen von zu der Zeit längst ausgestorbenen Adelsgeschlechtern aus Bayern gegeben.

Ich wünsche viel Vergnügen mit der Tanzmeisterin und ihren Abenteuern!

Deine

Daniela Brotsack

„Ein jeder will gern ein verständiges Weib haben, aber die Mittel des Verstandes will man ihnen nicht zulassen.“

Dorothea Christiane Erxleben, Ärztin und Pionierin des Frauenstudiums (1715–1762)

Januar 1774

Es war kalt und wir hatten eine respektable Menge Schnee. Von Erzbischof Colloredo kam eine Einladung zu einer Schlittade vom Domplatz hinaus zum Schloss Hellbrunn mit anschließendem Maskenball in der Residenz ins Haus geflattert. Das dafür festgesetzte Datum war der nächste Vollmond am 27. des Monats, einem Freitag. Meine Mutter sollte im Schloss Hellbrunn die Gäste des Fürsten bei einem kleinen Empfang mit ihrer Musik unterhalten. Aus diesem Grund bekam unsere Familie das besondere Privileg, auch zur Schlittade selbst eingeladen zu werden und niemand, der sich auf den Beinen halten konnte, würde so eine Einladung ausschlagen.

Vater sprach das Thema am Abend an: „Wir haben zwei Schlitten und auch die dafür trainierten Pferde, die tauglich für so eine Ausfahrt sind. Das heißt, es ist Platz für jeden von uns. Den Schlitten mit eurer Mutter werde selbstverständlich ich selbst lenken. Den zweiten mit Victoria wirst du lenken, Christoph.“

Nun übernahm Mutter das Wort. „Gleichzeitig mit der Einladung des Fürsten kam übrigens eine weitere Einladung von eurem Onkel Josef und Tante Maria, in der sie uns anbieten, die Tage um die Schlittade bei ihnen in Salzburg zu nächtigen. Durch den Sekretär des Fürsten wissen sie natürlich, dass wir dabei sein werden. Ist das nicht wunderbar?“

Vater nickte zustimmend. „Dein Bruder Josef und seine Frau Maria sind liebe Menschen, die ich gerne wieder sehen möchte.

Ich freue mich schon sehr auf diesen Abend. Bitte versprecht mir, euch so vorzubereiten, dass mir keiner müde und unaufmerksam wird. Das könnte mit den Schlitten besonders in der Dunkelheit gefährlich werden. Ach ja, und damit meine Kinder beide ihren Spaß haben, werden wir auf dem Weg in die Stadt die Paare mischen. Christoph, du begleitest deine Mutter und ich werde mich in die fähigen Hände meiner Tochter begeben und ihr die Zügel überlassen.“

Ich umarmte meinen klugen Vater mit dem weichen Herzen. Er würde seine Entscheidung nicht bereuen.

Christoph und ich kümmerten uns um die Vorbereitungen in Stall und Remise. Zuerst inspizierten wir nochmals die Schlitten. Einer sah aus wie ein Wolf und der andere wie ein angriffslustiger Adler. Beide waren in gutem Zustand und mussten nur etwas gesäubert werden. Hier und dort erneuerten wir noch die Farbe.

Es waren zwei wirklich komfortable Schlitten, die von Vaters Eltern stammten. Sowohl der Wolfs- als auch der Adlerschlitten hatten unter dem Sitz einen Raum, in dem man einen heißen Ziegelstein verstauen konnte, damit es die sitzende Person schön warm am Allerwertesten hatte. Und beide hatten an den Kufen, wo der Kutscher stand, ein aufgeschraubtes Gestell, das etwa kniehoch war und unten nach hinten gebogen war. Darauf stand der Pferdelenker und es schützte ihn und seine Beine vor Schnee und Nässe von vorne, was eine große Erleichterung bedeutete und kein Standard war. Zudem hatten beide Gefährte jeweils eine Laterne vorne mittig, die den Weg direkt vor dem Pferd bescheinen sollte sowie Halterungen für Fackeln.

Für die Sitze waren aus Bärenfellen genähte Sitzsäcke vorhanden. Pelz innen und Leder außen. Damit waren Beine und Unterleib des Sitzenden geschützt vor Wind und Wetter.

Mutter und ich hatten unglaublich Spaß an den weiteren Vorbereitungen. Wir freuten uns wie die Kinder auf diese Ausfahrt und packten für zwei Tage und Nächte Kleidung ein, dachten aber auch an genügend Fackeln für die Schlitten.

Wenige Tage später machten wir uns am Vortag des Spektakels bei leicht bedecktem Himmel mit beiden Schlitten in Richtung Salzburg auf.

Ich hatte eine Winterhose und dicke Stiefel an und darüber einen einfachen Rock, den ich links und rechts nach oben knöpfen konnte. Als oberste Schicht einen langen Mantel. Wenn ich hinter dem Schlitten stand, konnte man nichts sehen, was Anstoß erregen könnte.

Auf einer langen Geraden ließen wir den Pferden freien Lauf und sie jagten dahin, dass es eine Freude war. Die Schellen an den Schlitten und den Geschirren der Pferde begleiteten jede Bewegung und alle vor uns hörten uns kommen und machten uns mit Hallo Platz.

Als sich Vater zwischendurch zu mir umdrehte, sah er sehr glücklich aus. So fröhlich hatte ich ihn schon länger nicht mehr erlebt. Ich hatte in der letzten Zeit immer das Gefühl, etwas würde ihn bedrücken. Aber er sprach nicht darüber.

Zwischendurch hörte ich hin und wieder ein „Juhu“ meiner Mutter oder das laute Schnalzen der Peitsche meines Bruders, was sein Pferd noch mehr anspornte. Es bedurfte der Aufforderung allerdings nicht sonderlich, denn unsere Tiere preschten aus reiner Lebensfreude vorwärts und keines schenkte dem anderen etwas.

Als wir bei Onkel Josef und Tante Maria mitten in der Stadt direkt am Ufer der Salzach ankamen, zwischen der Wohnung der Mozarts und der Residenz, waren die Pferde wieder einigermaßen trocken und wir freuten uns auf einen warmen Raum. Der Bursche meines Onkels würde sich mit einem weiteren Bediensteten um unsere Pferde und die Schlitten kümmern. Ein Mietstall, der auch Boxen vermietete, war gleich um die Ecke und da die Schlitten nicht groß waren, würde sich bei unseren Verwandten dafür ein geeigneter Unterstellplatz finden.

„Willkommen, ihr Lieben!“ Maria umarmte jeden von uns mit einer Herzlichkeit, die fast nicht zu überbieten war. Onkel Josef stand etwas linkisch daneben und bot jedem mit einem breiten Grinsen die Hand. Sein Händedruck war legendär und ich entwand ihm möglichst schnell meine Rechte, um keinen Schaden zu nehmen. Ich freute mich, beide so wohlauf zu sehen.

„Mensch Dionys, wie freue ich mich, dich mit so fröhlichem Glanz in deinen Augen und der gesunden Gesichtsfarbe zu sehen!“ Josef klopfte seinem Schwager wohlmeinend auf die Schulter.

„Die Fahrt hierher konnte ich in vollen Zügen genießen. Ich hatte es recht gemütlich, weil mich meine Tochter bis zur Stadtgrenze kutschierte. Danke für die Einladung.“ Vater war bester Laune.

„Nun kommt endlich herein, legt ab und rasch mit euch in den warmen Salon. Wir haben heute eine kleine Abendgesellschaft mit einem leichten Abendessen unter guten Freunden. Ach ja, die Mozarts kommen auch. Also schlage ich vor, ihr ruht euch nach einer schönen heißen Tasse Mokka erst einmal aus.“

Meine Tante wechselte das Thema zum letzten Klatsch, wer sich verlobt hätte und welche Tanzveranstaltungen sie schon besucht hatten oder noch besuchen würden in dieser Faschingssaison. Auch Onkel Josef wusste über viele Neuigkeiten und Gerüchte bestens Bescheid.

Es gab natürlich nicht nur Mokka, sondern auch exzellentes Gebäck. Unter anderem hatte die Köchin eine Linzer Torte gemacht, die mein Bruder besonders gerne aß. Ich schätze, die Köchin wollte sich mal wieder einschmeicheln, weil Christoph so schöne Komplimente zu machen weiß.

Obwohl ich keine Müdigkeit verspürte, ging ich doch in das mir zur Verfügung gestellte Zimmer und legte mich hin. Nachdem ich zwei Seiten meiner Lektüre aus der Bibliothek meiner Verwandten gelesen hatte, fielen mir doch die Augen zu. Die Zofe meiner Tante weckte mich zur rechten Zeit und neckte mich dabei gleich, dass ich doch etwas verschlafen aussähe. Das freche junge Ding bringt mich immer zum Lachen.

Die Abendveranstaltung sollte ganz zwanglos sein. Das heißt, ich zog selbstverständlich eine Abendrobe an, aber nicht mein bestes Ballkleid. Ich hatte als Tischherren den Wolferl Mozart. „Seid gegrüßt, edle Gräfin von Falkenstein. Du siehst wieder allerliebst aus. Bevor mir noch jemand zuvor kommt, bitte ich um den ersten Tanz.“

„Danke für das Kompliment, Amadé von und zu Mozart. Selbstverständlich tanze ich den ersten Tanz mit dir. Es ist mir eine Freude. Durch deine Reisen nach Italien und Wien und meine Reise im letzten Jahr haben wir uns ja schon so lange nicht mehr gesehen, dass ich dich fast nicht wiedererkannt hätte.“

Natürlich war dies eine Übertreibung. Meinen alten Freund hätte ich immer und überall erkannt. Aber da er mit der Wahrheit auch sehr nach seinem Gutdünken verfährt, war das schon in Ordnung. Wolferl wusste viel zu erzählen von seinen Reisen und er machte wie immer Scherze, über die ich herzlich lachen konnte.

„Sag jetzt ja nicht, dass ich noch gewachsen bin.“ Er setzte sich sehr gerade hin und drückte seine Brust nach vorne, bis ich lachte.

„Jetzt, wo du es sagst: Groß bist geworden!“ Ich duckte mich von ihm weg und er knuffte mich in den Arm und lachte lauthals.

Zwischen den Gängen wurde geschwatzt und es kamen unterschiedlichste Themen auf. Eine ältere Dame, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, fragte in die Runde: „Wer von den Damen hat denn eigentlich schon die Geschichte des Fräuleins von Sternheim von dieser Schriftstellerin in Koblenz, Sophie von La Roche, gelesen? Überall wird daraus zitiert.“

Ganz eifrig ergriff meine Tante das Wort. „Selbstverständlich musste ich das lesen. Wisst ihr, dass die La Roche ursprünglich aus Kaufbeuren stammt? Sie ist eine geborene Gutermann zu Gutershofen“, also weitschichtig mit mir verwandt.

„Oh, das ist ja äußerst interessant. Dann haben Sie ja auch irgendwie Familienbande mit Christoph Wieland, dem Dichter. Wie aufregend!“, kam es sofort von der Dame zurück. „Der ist meines Wissens ein Cousin von der La Roche. “

Frau Mozart warf auch ihr Wissen in die Runde. „Sie sind jedenfalls beide sehr talentiert. Ich habe La Roches Sternheim und auch von Wieland ein paar Sachen gelesen. Vor allem seine Lady Johanna Gray ging mir sehr zu Herzen, obwohl ich doch durch und durch katholisch bin.“ Bühnenreif legte sie dabei ihre Hände über den Busen und sah nach oben. Wolfgang begann zu kichern und ich konnte mich auch nicht mehr zurückhalten. Vor allem, als sie es merkte und uns verschwörerisch zuzwinkerte, während sie die Geste noch weiter übertrieb.

Wie schon angekündigt, wurde nach dem Essen im Tanzmeistersaal, der zur Wohnung gehörte und zusätzlich einen separaten Eingang hatte, getanzt. Es waren genügend Musiker im Raum, die es in den Fingern juckte. Darunter auch meine Mutter und Vater Mozart, die sich ein Duett mit unbestimmtem Ausgang mit ihren Violinen lieferten. Es war herrlich, sie beide in ihrem Element zu sehen. Leopold Mozart ist sonst ein sehr rationaler und eher ernster Mensch. Doch die Musik lässt auch ihn strahlen.

„So, jetzt kommt eine Anglaise1!“ Meine Freundin Nannerl Mozart setzte sich ans Pianoforte und klopfte die Tasten wie ein Derwisch. Wir anderen tanzten auf die fröhlichen und manchmal fast zu schnellen Melodien mit viel Freude. Völlig erhitzt öffnete ich in einer Tanzpause kurz ein Fenster. Sofort kamen Rufe von allen Seiten, ich solle das Loch sofort wieder schließen, bevor es Tote gäbe. Warum sind nur alle immer so empfindlich? Ich muss fast vergehen vor Hitze, weil die anderen beim ersten Luftzug schon zu bibbern beginnen. So passierte mir das immer wieder.

In den frühen Morgenstunden fiel ich hundemüde, aber glücklich ins Bett. Es war ein Abend gewesen, an dem ich mich vollkommen wohl gefühlt hatte. Allerdings war es mir viel zu heiß gewesen und ich hatte Kopfschmerzen.

Erst am späten Vormittag stand ich leidlich ausgeschlafen wieder auf und kleidete mich an. Das Frühstück ließ ich ausfallen, da es mittags einen Imbiss geben würde. Mein erster Weg führte mich zu meinem Bruder, um gemeinsam mit ihm nach unseren Pferden zu sehen. Die beiden mussten schließlich heute besonders glänzen und auch fit für die Ausfahrt sein. Gegen ein kleines Geldgeschenk überschlugen sich die Stallburschen des Mietstalles mit Freundlichkeit und wollten sich alle besonders gut um unsere Pferde kümmern und sie herausputzen.

Schon kurz nach Mittag wurden also die Pferde angespannt und unsere kleine Gruppe machte sich auf den Weg zum nahen Domplatz. Dort tummelten sich schon viele unterschiedliche Gefährte mit Kufen.

„Sieh mal, Vic, dort drüben ist ein Bär.“

„Ja, und hier drüben gibt es sogar einen Drachen. Sein Grün gefällt mir. Es sieht so giftig aus.“

„Und dort noch ein düsterer Lindwurm. Welch Unterschied zum strahlend-goldschimmernden Drachen!“

Mutter rief herüber und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen Schlitten mit einem schön geschnitzten Wolf.

Wir bestaunten die unterschiedlichsten Schlitten, die teilweise richtige Schnitzkunstwerke waren. Andere Verzierungen schienen mir eher kunstvoll aus Pappmaché gefertigt. Zusammen mit den jeweils herrlich glänzenden Pferden und den elegant in Pelze gekleideten Menschen war es eine wahre Augenweide. Unzählige Schellen ließen ihren feinen Klang erklingen, man hörte scherzende Rufe, Pferdegewieher und Hundegebell. Eine freudig aufgeregte Stimmung herrschte auf dem Platz. Von allen Ecken und Straßen kamen Menschen herbei, die sehen wollten, was hier alles vor sich ging.

Und dann kam der Schlitten mit dem Erzbischof aus dem Hof der Residenz neben dem Dom.

Ihn zierte ein weißer Hirsch mit einem Kreuz zwischen dem Geweih2. Also das Tier aus der Legende des Hl. Hubertus.

Sein Kutscher, ein hoch gewachsener Mann, fuhr an die Spitze des Zuges und los ging es erst einmal im Trab zur Stadt hinaus. Draußen, auf dem freien Feld, wurde das Tempo dann kurzzeitig ein wenig erhöht und ich fühlte mich wundervoll, weil ich ein Teil dieses Spektakels sein durfte.

Der bunte Zug bewegte sich, anfangs noch von vielen Schaulustigen begleitet, in einer größeren Schleife über die verschneiten Felder gen Hellbrunn. Offensichtlich war der Weg schon vorgespurt worden. Vermutlich, um die Sicherheit zu gewährleisten, da man bei dem Schnee Löcher und kleine Gräben nicht sieht. Ich erspähte außerdem eine Menge Tierspuren.

Durch den Schnee war die Natur zwar auch in der Stadt vordergründig still geworden, aber dort gab es trotzdem immerwährend Geräusche durch Handwerker, Rufe, Pferdekutschen und vieles mehr.

Hier hörte ich nur das feine Klingeln der Glöckchen, das Schnauben der Pferde und das fröhliche Lachen der Menschen. Mein Herz ging auf und ich fühlte mich richtig glücklich.

Als wir am Schloss ankamen, war es noch hell und es sah alles aus wie aus einem Märchen. Es waren eigens viele Diener abgestellt worden, welche die Pferde zu versorgen hatten. Die Gäste der Schlittade waren eingeladen, im Carabinierisaal des Schlosses einen kleinen Empfang zu besuchen. Es wurden Champagner und Kleinigkeiten gereicht. Dann spielte meine Mutter gemeinsam mit ein paar exzellenten Musikern ein Kammerkonzert von etwa einer Dreiviertelstunde. Es war traumhaft.

Ich hatte während der Darbietung einen Platz neben einem Fenster. Alles um das Schloss herum sah spektakulär aus, als die Sonne langsam hinter den Bergen verschwand. Und kurz darauf schien der Himmel zu glühen. Es war ein herrliches Abendrot, das ich beobachten durfte und welches besonders mit der schönen Musik unglaublich wirkungsvoll war.

Wieder draußen, wurden die mitgebrachten Fackeln angezündet. Natürlich gab es wieder Gäste, die keine Vorkehrungen in dieser Richtung getroffen hatten und die auf die Bereitstellung von Fackeln für ihr Gefährt durch die Dienerschaft des Erzbischofs angewiesen waren. Na, vielleicht hatten sie auch damit gerechnet und sparten sich dadurch etwas. Doch wir hatten für alles vorgesorgt und so war der Pferdebursche auch nicht gezwungen, uns weitere Dienste zu leisten.

Ich wollte mich schon in den Ledersack auf dem Adlerschlitten kuscheln, als Vater meinen Arm hielt. „Victoria, ich weiß, dass du nachts die besseren Augen hast und dass du außerdem die bessere Schlittenlenkerin von uns beiden bist. Ich würde mich also gerne bis zur Stadtgrenze in deine geübte Hand begeben und mich als Passagier begnügen.“

Ich war überrascht und erfreut zugleich. So half ich meinem Vater, eine bequeme Sitzposition zu finden, raffte meine Röcke, unter denen ich bei der Kälte sowieso Hosen trug, und bereitete mich auf die Abfahrt vor. Der Diener, der unser Gespann hielt, blickte erstaunt und indigniert, als er den Wechsel bemerkte. Er war sicher der Meinung, was noch nie war, dürfe auch nicht sein. Ich schenkte ihm mein freundlichstes Lächeln und wurde belohnt damit, dass er gleich nicht mehr so grantig dreinblickte.

Dann nahm ich ihm die Decke ab, mit der das schwitzende Pferd bedeckt gewesen war und verstaute sie am Schlitten. Daraufhin begab ich mich an meinen Platz auf den Kufen und sah herausfordernd zu meinem Bruder hinüber.

Dieser lachte fröhlich und meine Mutter sah mir mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck entgegen. Nur wenige Minuten später startete die Schlittade des Erzbischofs wieder zurück zur Stadt. Der volle Mond beschien die Landschaft und hüllte alles in einen silbernen Glanz.

„Ihr werdet sehen, dass nicht alle heil in der Stadt ankommen werden. Einige der Herren haben hier sehr tief ins Champagnerglas geblickt. Wartet ab, wir können einen Zwischenfall vorhersehen.“ Christoph spielte wieder mal Kassandra. Er wurde nicht enttäuscht.

Nicht lange nach dem Aufbruch gab es auch schon den ersten Unfall. Einer der Gäste hatte sein Pferd nicht im Griff. Es brach aus und rannte genau auf einen Graben zu. Es sprang darüber und kam auch glücklich drüben an. Doch der Schlitten landete mitsamt Dame und dem machtlosen Kutscher im Graben. Dieser führte zum Glück kein Wasser, aber er war morastig und der Schlitten hatte offensichtlich Schaden genommen. Da in kürzester Zeit genug helfende Hände am Werk waren, fuhren wir weiter und genossen unser Abenteuer.

„Seht nur, wie wunderschön die Landschaft ist!“ Mutter rief uns zu und deutete begeistert auf die Silhouette der Stadt.

Von weitem sah es aus, als glitten wir auf eine Stadt zu, die nicht von dieser Welt war. Auf der Hohensalzburg, die sonst dunkel aufragt, sah man Feuer lodern und auf dem Gaisberg wurde ein Feuerwerk gezündet. Es war wie in einem angenehmen Traum!

„Wie glücklich sind wir, ein solches Leben leben zu dürfen. Das ist nicht vielen vergönnt. Möge es immer so bleiben, dass wir uns keine großen Sorgen machen müssen!“ Vater sah auffordernd zu mir hoch und ich erhöhte das Tempo. Es war, als ob Christophs und mein Schlitten über den Schnee flögen. Ich konnte förmlich die Freude der Pferde an diesem Ausflug spüren und in dem Moment liebte ich unsere kleine Gemeinschaft noch mehr.

Die Rückfahrt dauerte nicht so lange, da nur ein großes „S“ gefahren wurde. Als wir die ersten Häuser genauer im Blick hatten, sahen wir schon die vielen Menschen. Mein Vater hieß Christoph und mich halten und wir wechselten nochmals die Positionen. Unkonventionell zu handeln ist eines, aber es der Öffentlichkeit zu präsentieren, ist eine andere Geschichte.

In der Stadt war mehr Licht und mein Vater fühlte sich als Kutscher wieder sicher. Außerdem hatte ich meinen Spaß gehabt und wusste, dass ich nicht weiter auf meiner Rolle bestehen durfte, um einen angenehmen weiteren Verlauf des Abends zu gewährleisten. An der Residenz kamen wir also wieder so an, wie wir nachmittags gestartet waren und niemand würde etwas zu bemäkeln haben.

„Dionysius, lass uns schnell zu Maria und Josef fahren. Deren Burschen können sich um die Pferde kümmern und wir haben noch die Zeit, uns in Ruhe umzuziehen.“ Mutter hatte natürlich Recht. Von unseren Verwandten konnten wir uns auch mit einem der Sänftendienste zur Residenz bringen lassen und der Maskenball erforderte auf jeden Fall einen Kleiderwechsel.

Für meinen Geschmack dauerte es viel zu lang, bis wir alle wieder fertig zum Aufbruch waren. Natürlich waren wir noch gut in der Zeit, aber ich werde immer zappelig, wenn so viel Zeit für unnütze Tätigkeiten vertan wird. Also saß ich schon längstens in der Bibliothek und las, als endlich das Zeichen zum Aufbruch kam.

Wie viele andere Frauen hatte ich die 1763 publizierten Briefe der Lady Mary Wortley Montagu gelesen, die als Frau eines Botschafters in Konstantinopel war. Davon hatte ich Christoph so vorgeschwärmt, dass wir beide uns über Vater original türkische Kleidung hatten besorgen lassen. Natürlich würden wir weder die ersten noch die originellsten Masken im türkischen Stil sein, aber vermutlich mit die stilvollsten, weil original.

So trug Christoph ein Unterkleid mit reichem floralen Muster, eine dazu passende, typische Şalvar, also eine sogenannte Haremshose. Darüber einen prunkvollen Gürtel mit Halbedelsteinen. Das wichtigste war ein reich bestickter Kaftan aus Seide und ein dazu passender weißer Turban, wie ihn die Türken selbst tragen.

Ich hatte auch ein Unterkleid und eine Şalvar an, die im unteren Drittel reich bestickt war. Dann eine goldbestickte, türkische Bluse und darüber wiederum einen prächtigen Entari mit Schleppe, wie das Übergewand heißt, welches in meinem Fall ab der Taille offen getragen wurde. So, wurde mir gesagt, wäre die Kleidung der Palastdamen in der Türkei.

Beide trugen wir spitze Schuhe aus weichem Leder, die speziell zum Tanzen gemacht waren.

Meine Haare hatte ich schon zu Beginn des Tages zu ganz dünnen Zöpfen flechten lassen, was man unter meiner Mütze nicht gesehen hatte. Dazu trug ich einen mit Federn und Edelsteinen sowie einem filigranen Schleier verzierten Hut.

Ich hatte nicht gewusst, dass Vater auch für sich und Mutter türkische Kleidung besorgt hatte und war überrascht, dass auch sie wie ein Sultan und seine Herzensdame aussahen.

Kurze Zeit später betraten wir die Residenz, die mit Hilfe von vermutlich tausenden Kerzen zum Strahlen gebracht wurde. Die hohen Wände mit Stuck – ein glänzender Ort, an dem für mich zahlreiche Erinnerungen hängen.

Es waren schon viele Gäste versammelt mit teilweise ausgefallenen Masken, die von viel Fantasie zeugen. Andere wiederum hatten sich mit ihrer Verkleidung keine große Mühe gemacht. Sie trugen nur eine Halbmaske oder ein Hütchen mit Schleier zu einer normalen Abendrobe.

Das Orchester war schon versammelt und Mutter flüsterte Vater gerade zu, welche der Musiker sie kannte, als sie stutzte und sich uns zuwandte. „Oje, ich habe meinen Fächer bei Maria auf der Kommode liegen lassen. Ohne den werde ich den Abend nicht überstehen!“ Christoph machte eine kleine Verbeugung, wedelte ein wenig mit den Armen – und hatte plötzlich Mutters Fächer in der Hand.

„Ich war schon neugierig, wie lange es dauern würde, bis sein Verlust bemerkt würde. Er lag bei unserem Aufbruch so alleine auf dem Möbelstück und rief mir zu ,nimm mich mit!’, dass ich gar nicht widerstehen konnte.“

„Habe ich dir schon einmal gesagt, dass ich mir keinen besseren Sohn wünschen könnte? Du bist ein wunderbar aufmerksamer Mensch. Herzlichen Dank, somit ist mein Abend gerettet.“ Damit schenkte sie ihm eine Kusshand und nahm ihren Fächer an sich.

Noch hatte es angenehme Temperaturen im Raum, doch mit mehr Menschen und durch die vielen Kerzenflammen würde es in ein paar Stunden brütend heiß werden.

Das Erklingen von Fanfaren ließ alle Ballbesucher aufmerksam werden. Natürlich wurde hier und dort noch getuschelt. Manche können halt ihren Mund einfach nicht halten. Aber es wurde merklich leiser und alle Aufmerksamkeit wendete sich dem Eingang des Saals zu. Dort erschien der Gastgeber in einer prunkvollen Robe mit einer venezianischen Maske, während das Orchester den Einzug der Königin von Saba aus dem Oratorium Salomon von Georg Friedrich Händel spielte. Was für ein Auftritt!

Fürsterzbischof Colloredo hieß seine Gäste willkommen und bat zum Tanz.

Gleich darauf begann das Orchester, den ersten Tanz zu spielen, den ich schon meinem Bruder versprochen hatte. Es war ein Menuett3.

Danach tanzte ich mit meinem Onkel Josef, der es verstand, mich durch witzige Bemerkungen oder kurze Grimassen und Gesten zum Lachen zu bringen.

Es war eine Anglaise in der langen Gasse. Wir standen im ersten Drittel und tanzten nach unten. Nach gut zwanzig Minuten waren wir am unteren Ende angekommen und tanzen wieder nach oben.

Der Tanz hatte etwa eine Stunde gedauert und wir hatten eine Menge alter Bekannter getroffen. Mit jedem Paar, das wir schon kannten, tauschten wir kurze Nettigkeiten aus – soweit der Tanz uns die Möglichkeit gab. Wir holten uns völlig erhitzt etwas von der Bowle, die bei den Erfrischungen stand. Sie war sehr gut, aber auch mit Vorsicht zu genießen. Ich merkte die Wirkung des Alkohols sehr schnell und hielt mich fortan zurück.

Dann ging es weiter mit einer Quadrille4. Ein Freund meines Vaters hatte mich zu diesem Tanz aufgefordert. Ein guter Tänzer und ein vollendeter Gentleman. Ich hatte ihn schon als kleines Kind verehrt. So wie er sollten in meiner kindlichen Vorstellung alle Männer sein: Immer freundlich, gut erzogen, nett zu Kindern und versierte Tänzer. Zudem war Herr Blumenau auch noch sehr belesen und hatte einen erfrischenden Witz. Mit ihm verging der Tanz viel zu schnell.

Während einer Tanzpause stand ich in einer angenehmen Runde, in der jeder etwas zu erzählen wusste. Einer der Herren hatte eine Tante in Berlin.

„Dieser verdammte Preußenkönig Friedrich! Ihr könnt euch doch noch an seine Tartoffel-Befehle oder wie das Zeug heißt, erinnern?“

Ein anderer Herr meldete sich zu Wort: „Du meinst Erdäpfel, heißen die nicht Kartoffeln bei den Preußen? Die Dinger sollten die Bauern anbauen, weil sie nahrhaft sind. Das war sicher sinnvoll bei der Hungersnot in Sachsen vor drei Jahren. Aber mit Zwang? Es gab doch da auch die sogenannten Knollenprediger, die über Land zogen und überall erzählten, dass man das Gewächs anbauen sollte.“

Ich wusste auch etwas zum Thema. „Viele Bauern wussten anfangs mit der Pflanze nichts anzufangen. Sie kapierten lange nicht, dass es die Knollen sind, die essbar sind und nicht das Kraut und die Blüten. Das hat dann zu einigen Todesfällen geführt. Verständlich, dass die Bauern nichts mehr davon wissen wollten.“

Eine Dame meinte: „Ich habe gehört, Friedrich ließ als List sogar einmal Kartoffelfelder bewachen, damit die Bauern meinten, die Pflanzen seien wertvoll. Scheint geklappt zu haben. Er ist ein richtiges Schlitzohr! Inzwischen müssen die Bauern angeblich auf einem Zehntel ihres Ackerlandes die Pflanzen anbauen. Ich mag das Zeugs nicht. Aber in der Hungersnot hat es trotzdem gute Dienste geleistet.“

Endlich sprach der erste Redner weiter „Stimmt alles. Naja, über Geschmack lässt sich bekanntermaßen vortrefflich streiten. Doch nun macht Friedrich sich an den Kaffee. Der ist nämlich in Preußen vom verrückten Fritz mit einer Luxussteuer von 150 Prozent belegt! In Berlin kosten die Bohnen also um ein Vielfaches mehr als beim Vater von unserer Vic, von dem ich sie immer beziehe – obwohl wir hier im Süden auch schon einiges mehr zahlen als in Hamburg durch die vielen verschiedenen Zölle vom Norden hier herunter.“

„Ach was, der ist ja verrückt! Und warum das?“, wollte die Dame wissen.

„Weil er nicht will, dass Bürgertum und normale Leut’ das Gebräu trinken. Das hat mir meine Tante in einem ihrer Briefe erzählt. Letztens wurde ein großes Paket zu ihr tatsächlich durchsucht. Da die Inspektoren darin Kaffee5 fanden, der nicht angegeben war, musste ich nun auch noch eine saftige Strafe zahlen. Außerdem wurde der Kaffee konfisziert!“ antwortete ihr der erste Sprecher.

„Die Preußen waren mir schon immer suspekt. Dass man in deren Herrschaftsgebiet überhaupt noch leben möchte, kann ich nicht verstehen.“ Die Dame hatte ihre eigene Meinung dazu.

Ich stand daneben und konnte mich nur wundern, auf welche Ideen manche Herrscher kamen. Doch nicht lange, denn mein nächster Tänzer stand schon vor mir und wollte mich zur Tanzfläche begleiten.

Es war ein rundum stimmiges Fest. Der ganze Tag war ein besonderes Erlebnis. Für mich war die Schlittade die erste, die ich in so einer Form miterlebt hatte, obwohl es so etwas an vielen Höfen in deutschen Landen wie zum Beispiel in Dresden gibt. Doch ich hatte immer nur von solchen Veranstaltungen gehört.

Für mich war dieser Tag ein ganz besonderes Erlebnis, das mir bis zu meinem Lebensende in guter Erinnerung bleiben wird. Die nächtliche Ausfahrt, die Menschen, die Musik, es passte einfach alles und ich fühlte mich an diesem Tag richtig glücklich.

1 Ein Tanz in einer langen Gasse, bei dem das erste Paar nach und nach mit jedem anderen Paar tanzt. Wenn es unten angekommen ist, tanzt es in der Rolle des anderen Paares wieder zum Ausgangspunkt zurück.

2 Solch ein Schlitten ist nicht belegt.

3 Höfischer Gesellschaftstanz im 3/4-Takt

4 Kontratanz zu 4 Paaren

5 Ein paar Jahre später, am 21. Januar 1781 wurden von Friedrich dem Großen 400 Veteranen verdingt, die als „Kaffeeschnüffler“ unterwegs waren. Ab da war nämlich verboten, Kaffee selbst zu rösten (damit der geschmuggelte Kaffee gefunden werden konnte).

„Wir lieben an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge als den Verstand. Wir lieben an ihr das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Charakter, ihre Fehler, ihre Capricen, und Gott weiß was alles Unaussprechliche sonst; aber wir lieben nicht ihren Verstand.“

Johann Wolfgang von Goethe (1824)

Ein Blick zurück

Kindheit

Nun habe ich meine Leserinnen und Leser mitten in mein Leben geworfen und einfach angefangen zu erzählen, ohne mich selbst zu erklären. Dies möchte ich nun nachholen.

Beginnen will ich damit, dass ich nach einiger Zeit in der Fremde seit Ende 1773 wieder überwiegend bei meiner Familie bei Reichenhall im Süden Baierns6 lebe, wo ich auf einem schönen Anwesen zwischen den Dörfern Nonn und Karlstein aufgewachsen bin.

Ich wurde auf den Namen Victoria getauft, werde aber von allen nur Vic gerufen. Der wichtigste und wertvollste Mensch in meinem Leben ist mein Zwillingsbruder Christoph. Er ist der einzige Mensch, der mich wirklich in- und auswendig kennt – so, wie ich ihn. Wir wissen von den Ängsten und Träumen des anderen und verstehen einander auch ohne Worte.

Christoph und ich waren schon immer wie Pech und Schwefel. Wir machten als Kinder fast alles gemeinsam und wissen auch jetzt noch, dass wir uns aufeinander verlassen können. Gemeinsam konnten und können wir es gegen jeden Gegner aufnehmen – sogar gegen unseren gutmütigen, aber doch sehr strengen Vater.

Lange hatte Vater versucht, uns geschlechtergerecht zu erziehen, also so, wie es die Gesellschaft verlangt. Doch nichts hatte gefruchtet. Wir beide haben uns ihm entgegengestellt und geschworen, lieber gar nichts zu lernen, wenn wir nicht gemeinsam unterrichtet würden.

So musste er denn nachgeben und mir die gleiche Bildung angedeihen lassen wie meinem Bruder. Es hat uns beiden nicht geschadet und gemeinsam haben wir mit Spaß gelernt. Mit fortschreitendem Alter schätzt Vater uns beide gleichermaßen. Christoph meint, Vater sei sehr stolz auf seine gebildete Tochter – was er aber in der Öffentlichkeit nie offen zum Ausdruck bringt. Ich empfinde das als nicht gerecht, aber er ist auch nur ein Kind seiner Zeit und wurde sehr konservativ erzogen.

Vater ist Kaufmann. Er lässt vieles über den Seeweg von oder nach Hamburg verschiffen, weshalb er dort ein Kontor hat und in den Sommermonaten auch meist in der Hansestadt weilt.

Unsere Mutter Regina ist selbst eine hoch gebildete und sehr fortschrittliche Frau, die sich auch in ihrem Heim für die Rechte der hier arbeitenden Frauen einsetzt. Sie war immer schon für eine gute Ausbildung und beglückwünschte uns zu unserer glänzenden geschwisterlichen Strategie.

Mutter ist eine hervorragende Violinistin. Wenn sie spielt, kommen die Zuhörer ins Träumen. In jungen Jahren hat sie in den großen Fürstenhäusern Europas gespielt und sie ist immer noch eine begehrte Solistin für Konzerte. Weil Vater, der selbst sehr viel unterwegs ist, sie darum bat, reist sie aber nicht mehr so weit und konzentriert sich überwiegend auf Konzerte, die in der Umgebung stattfinden. Oder sie spielt in Hamburg, wenn sie Vater auf seinen geschäftlichen Reisen begleitet.

Mutter spielt auch recht gut das Pianoforte. An beiden Instrumenten gab sie uns Kindern Unterricht. Sie meint, wir hätten beide das Talent dafür, würden es aber wohl aus Mangel an Fleiß nie so weit bringen, Konzerte zu geben. Ich lernte zudem noch, die Flöte zu spielen und Christoph übte sich am Cello. Es gab viele schöne Stücke, die wir in wechselnden Konstellationen gemeinsam als Familie spielen konnten.

In unserer Gesellschaft war es mehr oder minder verboten, als Frau Blasinstrumente oder auch Violoncello zu spielen. Zweiteres vor allem aus dem Grunde, weil ein Mann – zumindest manche – leider auch eine Vorstellungskraft besitzt und sich seine Gedanken vielleicht auf Abwegen befinden könnten, sähe er eine Frau dieses Instrument spielen.

Stein des Anstoßes waren vor allem die vorhängende Brust und die gespreizten Beine beim Spiel eines Violoncellos oder die aufgeblasenen Wangen beim Gebrauch einer Fanfare.

Das Schlimme an der Sache ist, dass die Männer im Allgemeinen nicht lernen, sich und ihre Triebe zu beherrschen. Schon als Kindern wird ihnen alles gestattet und Anstößiges wird bei ihnen nur belächelt statt gerügt.

Frauen sollten möglichst in Bewegungslosigkeit verharren und auch nie laut sein. Sogar beim Spiel des Pianofortes ist darauf zu achten, dass wir nur sanfte Melodien spielen und nicht laut und fordernd werden. Frauen müssen immer vollkommen aussehen. Ich bin der Meinung, dass manche Frauen mit einer Flöte an der Lippe noch zauberhafter aussehen, als ohne. Das Flötenspiel wird glücklicherweise zum Teil toleriert. Zumindest wird eine Flöte spielende Frau damit nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Durch meinen Bruder lernte ich alles, was auch ein junger Mann von Stand können muss, also Lesen und Schreiben in deutscher, lateinischer, französischer und englischer Sprache sowie Rechnen bei einem recht modernem Hauslehrer. Nach anfänglicher Skepsis, weil er bisher immer nur Jungen unterrichtet hatte, war er begeistert von unser beider Fortschritte.

Er wusste aber auch wirklich, wie er den Lehrstoff so interessant verpacken konnte, dass Kinder ihn unbedingt begreifen wollten. Dafür sind Christoph und ich ihm heute noch dankbar.

Dazu gab es Unterricht in Historie und Philosophie. Diese Stunden liebten wir Geschwister. Des weiteren hatten Christoph und ich Fecht- und Reitunterricht. Wir übten vom Pferd aus zu fechten und machten so einiges, was durchaus nicht ungefährlich war. Zum Glück passierte kein Malheur bei unseren manchmal unbedachten Abenteuern.

Wenn wir gerade nicht lernen mussten, gingen wir sommers im Thumsee schwimmen und tummelten uns winters auf dem Eis des ungenannten Sees7.

Der Unterricht, der uns die meiste Freude bereitete, war jener bei unserer geliebten Tante Seraphia. Sie ist die jüngste Schwester unserer Mutter und seit ihrer Jugend eine begnadete Ballett-Tänzerin, die schon auf den bekanntesten Bühnen, vor den wichtigsten Monarchen Europas und sogar beim russischen Zaren getanzt hat. Seraphia hat an der Académie Royale de Danse in Paris studiert, welche 1661 von König Ludwig XIV. gegründet worden war.

Sie ist trotz ihres Alters eine strahlende Persönlichkeit und immer noch bildhübsch. Seraphia wirkt viel jünger. Noch immer ist sie viel unterwegs in aller Welt. Sie sieht uns Zwillinge als Ersatz für nicht existierende eigene Kinder und lehrte uns von Anfang an in den Zeiten zwischen ihren Engagements alles, was sie selbst je gelernt hat. So hatten wir von frühester Kindheit an eine profunde Ausbildung in Musik und Tanz.

Wenn Sie nicht unterwegs ist, lebt Tante Seraphia bei uns auf dem Anwesen in einem gemütlichen Haus am westlichen Tor mit ihrem Tanzpartner und einer Köchin und Zofe in einem. Sie hat von Beginn an Geld beiseite gelegt, von dem sie sich einen schönen Ruhestand würde leisten können.

Während ihrer Zeit hier gibt sie, gemeinsam mit ihrem Partner Heinrich, in besseren Häusern der Region Tanzunterricht. Christoph und ich durften sie schon oft dabei begleiten, um den Schülern die Schritte vorzutanzen und Gleichaltrige zu motivieren.

Als Christoph und ich noch Kinder waren, reisten wir für größere Feste mit Tante Seraphia bis nach München, Augsburg, Landshut, Regensburg und Passau sowie zu den Schlössern der Region wie Hohensalzburg und Triebenbach, wo unsere Tante auf besonderen Wunsch der hohen Gesellschaft tanzte. Oft begleitete uns auch Heinrich, welcher exzellent Violine und Cembalo zu spielen weiß.

So waren Christoph und ich von Kindesbeinen an sowohl in Berchtolsgaden als auch in der Salzburger Residenz oder im Schloss Triebenbach zu Gast, wo wir zum Beispiel ein sehr präzise einstudiertes Menuett vortanzten.

Bei einem Aufenthalt in Triebenbach im Jahr 1762 lernten wir auch Nannerl und Wolferl Mozart kennen. Nannerl ist so alt wie wir. Wir vier tanzten und spielten von Anfang an gerne miteinander. Obwohl Wolferl fünf Jahre jünger ist, wurde er in fast alle Aktivitäten von uns Älteren eingebunden. Ich helfe Nannerl bei der Verbesserung ihrer Reitkünste, wofür die Freundin mir hilft, meine Fingerfertigkeit am Pianoforte weiter zu verbessern – zur Freude unserer Mutter.

Wir hatten jedenfalls eine wunderschöne Kindheit, in der es uns an nichts fehlte.

Erwachsen werden

Irgendwann kam dann Christoph in das Alter, in dem ein junger Bursche der besseren Gesellschaft zur weiteren Ausbildung entweder in eine Militärakademie eintritt oder eine Universität besucht.

Nun war es auch hier so, wie es schon bei unserer ganzen Erziehung gewesen war. Christoph weigerte sich strikt, ohne mich als Student in eine Universität – wo immer die auch sein mochte – einzutreten.

In dem Fall kam uns zugute, dass unsere Mutter Dorothea Erxleben gekannt hatte und vor allem deren Heilkunst verehrte. Diese Frau war eine exzellente und hoch geschätzte Ärztin gewesen. Die erste Frau, die im deutschen Staatenverbund mit einer persönlichen Erlaubnis des Königs Friedrich II. in Halle Medizin studiert und 1754 den Doktorhut erhalten hatte.

Dass also Frauen grundsätzlich zu dumm für ein Studium wären, war somit ad absurdum geführt. Der Direktor der Universität von Ingolstadt, Johann Adam Freiherr von Ickstatt, bot also unseren Eltern in Absprache mit seinem Fürsten einen Kompromiss an: ich durfte an den Jura-Vorlesungen teilnehmen und mich – in einem gewissen Rahmen – auch an den Diskussionen der Studenten beteiligen.

Ich musste allerdings hinter den männlichen Studenten Platz nehmen und würde nicht das Recht erhalten, einen offiziellen Abschluss zu machen. Zur Bedingung wurde außerdem gemacht, dass wir Geschwister erst mit Vollendung des 17. Lebensjahres zu studieren begannen.

So waren Christoph und ich zu gegebener Zeit zu Vaters Verwandten nach Ingolstadt geschickt worden, wo wir ins Familienleben integriert wurden. Wir waren tatsächlich auch fleißige Studenten der Jurisprudenz.

Unser vorübergehendes Heim war direkt an der Donau gelegen. Ich lernte den Fluss lieben. Stundenlang konnte ich an seinem Ufer sitzen und das Spiel des Lichts auf dem Wasser beobachten oder flache Flusskiesel in das Wasser werfen und sie hüpfen lassen. Das hatte mir Cousin Peter gezeigt. Er ist drei Jahre älter als wir und hat sich für die militärische Laufbahn entschieden. Daher war er während unserer Ingolstädter Zeit nur selten zu Hause anzutreffen.

Ganz anders unsere Cousinen Luise und Kreszentia. Beide sind jünger, Zenzi war zu dem Zeitpunkt eigentlich noch ein Kind. Beide störten uns öfter und hielten uns vom Lernen ab. Aber wir mögen sie recht gerne, weil sie auch ganz lustige Mädchen sind. Sie haben außerdem Schneid. Das gefällt sowohl Christoph als auch mir.

Christoph und ich sprachen in dieser Zeit viel über unsere Zukunft. Wir waren uns einig, dass wir uns beide einen Partner suchen würden, welcher dem jeweils anderen sympathisch wäre. Denn uns war unsere persönliche Bindung sehr wichtig. Wir konnten es uns nicht vorstellen, wie es wäre, keinen Kontakt mehr zu haben.

Tante Seraphia machte uns große Freude, denn sie war während unseres Studentendaseins immer wieder in unserer Nähe und organisierte regelmäßig Treffen mit uns und unserer Verwandtschaft in München oder Ingolstadt, bei denen ausgiebig getanzt wurde. Auch unsere Mitstudenten wurden zum Teil in diese Tanzabende mit einbezogen und somit wuchsen neue zum Teil innige Freundschaften, von denen die eine oder andere sicher noch lange halten würde.

Zu meiner Überraschung erhielt ich nach Abschluss des Studiums und der Prüfungen doch ein offizielles Dokument überreicht, welches mir erlaubt, die Juristerei auch öffentlich zu praktizieren. Zumindest theoretisch. Mit der praktischen Anwendung ist das so eine Sache ...

Es wurde gemunkelt, dass Direktor Ickstatt sowie der Professor Johann Adam Weishaupt8 sagten, sie hätten mich schätzen gelernt und hatten noch nie einen so umgänglichen Studentenjahrgang unterrichtet, da alle sich meinetwegen am Riemen rissen und sich einigermaßen gesittet benahmen. Außerdem hatte unser Jahrgang alles im Schnelldurchlauf erledigt.

Sie hatten sich anfangs nicht vorstellen können, dass eine Frau zu solchen Leistungen fähig wäre. Zu ihrer Überraschung seien meine Verträge wasserdicht, und das könne man nur von wenigen Juristen behaupten. Mein Bruder durfte nach unserem Abschluss noch einige Zeit bei einem Juristen in München die Praxis lernen, aber mir als Frau war so etwas verwehrt, weshalb ich wieder zu unseren Eltern reiste.

In der Zeit hatte ich Muße, alle Neuigkeiten zu inhalieren, derer ich habhaft werden konnte. So erfuhr ich, dass Maria Theresias 14-jährige Tochter Maria Antonia (die Franzosen nennen sie Marie Antoinette) im April in der Wiener Augustinerkirche per procurationem9 mit dem französischen Dauphin Luis-Auguste vermählt wurde, der zu seiner eigenen Hochzeit nicht anwesend war. Danach machte sie sich auf die Reise nach Versailles, wo dann die richtige Hochzeit mit dem Thronfolger stattfand.

Ich konnte mir vorstellen, dass es für die junge Frau nicht einfach werden würde. Plötzlich war sie mehr oder weniger auf sich gestellt in einem fremden Land und stand dort auch noch im Interesse der Öffentlichkeit. Egal, was sie tun würde, es würde immer Menschen geben, die sie kritisieren.

Aber ich hatte auch viel Kontakt mit Nannerl. Jedes Mal, wenn wir bei unserer Salzburger Verwandtschaft waren, versuchte ich, Nannerl zu treffen. Meist war dies möglich, weil die Häuser nur ein paar Straßen auseinander waren. Sie erzählte mir ganz stolz, dass Wolfgang am 26. Juni durch Papst Clemens XIV. mit dem Orden vom Goldenen Sporn ausgezeichnet wurde. Er darf sich nun Cavaliere, Chevalier oder Ritter nennen. Natürlich komponiert er auch in Italien sehr fleißig. Aber Nannerl ist auch nicht untätig geblieben. Sie komponiert und spielt ihrerseits sehr viel. Sie ist eine fantastische Pianoforte-Spielerin und wird immer noch besser.

Ich war immer stark an Neuigkeiten aus der ganzen Welt interessiert. So auch von Kapitän James Cook, der auf Expedition auf einem neuen Kontinent war, der seit Claudius Ptolemäus schon Terra Australis incognita10 genannt wurde. Cook hat für das Königreich Großbritannien den Ostteil von Neu-Holland11 in Besitz genommen und ihn New South Wales genannt.

Die Russen besiegten im Juli in der 3-tägigen Seeschlacht von Çesme12 die osmanische Flotte. Kurz darauf besiegten sie auch noch ein 80.000 Mann starkes Heer ihrer Feinde. So ist nun Griechenland diese Fremdherrschaft mit Hilfe der Russen los.

Ich bin so froh, dass es derzeit bei uns keine Kämpfe gibt.

6 Die Schreibweise Bayern statt Baiern wurde erst im Jahre 1825 per königlicher Anordnung von Ludwig I. eingeführt. Er war ein Verehrer Griechenlands.

7 Listsee bei Reichenhall

8 Johann Adam Weishaupt war 1776 Gründer des Illuminatenordens.

9 Kraft Vollmacht – Trauung per Stellvertreter

10 Südliches, unbekanntes Land.

11 So hieß Australien erst einmal nach der ersten Entdeckung durch die Holländer

12 Im Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774)

„Um klar zu sehen, genügt ein Wechsel der Blickrichtung.“

Antoine de Saint-Exupéry Französischer Romancier (1900–1944)

1771

Im Jahr 1771 wurde auch bei uns, die wir ein wesentlich besseres Leben hatten als der Großteil des Bevölkerung, Schmalhans Küchenmeister. Schon im vorangegangenen Jahr waren die Ernten wegen Überschwemmungen und Unwetter äußerst schlecht ausgefallen. Und dies schien kein Ende zu nehmen. Getreide wurde immens teurer und auch für uns zu einer Art Luxus.

Vater hatte in weiser Voraussicht Getreide in seinem Hamburger Speicher gelagert und gab diesen in kleinen Mengen auch zu sehr humanen Preisen an Bedürftige aus. Er musste diesen Speicher und die Lieferungen aber auch bewachen lassen, wie seinen Augapfel. Bei uns auf dem Hof lagerten auch viele Säcke Getreide, von denen nur ein paar wenige Personen wussten. Die Getreidepreise waren inzwischen in Baiern auf das Siebenfache gestiegen.

Nun war auch Christoph wieder zu Hause und ich half ihm bei der Bearbeitung der Fälle, die er von Klienten erhielt, die in unserer Gegend lebten. Leider half mir meine ganze Juristerei nicht gegen das, was mich etwa ein Jahr nach dem Abschluss unseres Studiums ereilte.

Seraphia hatte eine Einladung zu einer großen Gesellschaft in Ingolstadt im September des Jahres 1771, die Christoph und mich mit einschloss. Wir freuten uns alle auf diesen Abend. Seraphia hoffte auf neue Verbindungen, die ihrer Karriere dienlich wären und wir Geschwister freuten uns, ein paar Mitstudenten wieder zu sehen.

Wir waren schon zwei Wochen vorher angereist und hatten uns mit unseren früheren Mitstudenten und Dozenten getroffen. Es waren lustige Tage mit viel Geplänkel, aber auch spannenden und ernsthaften Diskussionen. Manche waren im Vergleich zum ersten Tag unseres Studiums erwachsener geworden, andere waren noch die gleichen gedankenlosen Burschen geblieben.

Einmal wohnten wir einer Vorlesung für Studienanfänger bei. Geleitet wurde diese von Graf Jacob von Falkenstein. Er war ein sympathischer und gutaussehender Mann mit Witz und Charme. Von Falkenstein bezog uns fertige Juristen mit ein und schien dann überaus erstaunt, dass so manche Frage von den Herren an mich zur Beantwortung weitergegeben wurde. Man konnte ihm die Überraschung ansehen, die er empfand, als er von mir genau die richtigen Antworten zu hören bekam.

Von Falkenstein war einige Jahre älter als wir. Er unterstützte im Monatsrhythmus die Universität als Dozent. Er war gegen Ende unserer Studienzeit als Dozent gekommen und wir hatten ihn nur wenige Male erlebt. Er war Sympathieträger und gut in dem, was er tat. Und von Falkenstein wusste, wie er Studenten bei Laune halten und ihren Arbeitseifer anstacheln konnte.

Seraphia hatte uns erzählt, dass seine Mutter, eine exzentrische Person, in ihrer Jugend den Ehrgeiz gehabt hatte, die beste Violinistin im deutschsprachigen Gebiet zu werden. Sie war auch wirklich gut, wurde dann aber schnellstens an den Grafen von Falkenstein verheiratet und war damit weg von den Bühnen der Soireen. Laut Seraphia hat sie es nie überwunden, dass sie nicht mehr vor größerem Publikum spielen konnte, während unsere Mutter trotz Heirat eine Karriere machte.

Bei einem geselligen Abend war von Falkenstein auch dabei. Er lachte und scherzte mit uns und ich konnte ihn mir gut als verlässlichen Freund vorstellen. Wir beide unterhielten uns kurz über einen strittigen Fall eines Familienzwists. Er war ein recht guter Jurist und ein, wie mir schien, feinfühliger Mensch.

Der Ball und seine Folgen

Nun aber zu dem Ball, der nur zwei Abende später folgte. Für diesen sehr festlichen Anlass trug ich ein goldfarbenes Seidenkleid, kombiniert mit einem grünen Brusteinsatz und grünen Ärmeln. Das Kleid war perfekt gearbeitet und relativ schlicht verziert.

Ich mag diese überladene Mode nicht, die teilweise immer noch auf den großen Empfängen und Bällen zu sehen ist. Da komme ich mir vor wie eine Kuh beim Almabtrieb. Christoph machte mir ein Kompliment, als er mich sah. Das möchte etwas heißen. Er ist in solchen Dingen meist eher zurückhaltend.

Wir kamen in einem großen Stadthaus an und wurden den Gastgebern vorgestellt. Sie hatten einen herrlich großen Ballsaal, der geschmückt war mit tausenden von bunten und duftenden Blumen, die vermutlich aus unzähligen Glashäusern stammten.

Fast sofort entdeckte mein Bruder unsere Studienfreunde und wir begaben uns zu ihnen. Das war ein Hallo, als wenn wir uns schon Jahrzehnte nicht mehr gesehen hätten, statt nur ein paar Stunden!

So schnell konnte ich gar nicht schauen, wie die Herren mich nach meiner Gunst für die einzelnen Tänze fragten. Einen Tanz hatte ich auch dem Grafen von Falkenstein versprochen. Er war übrigens der Neffe der Gastgeber und hatte schon gleich, als wir seinem Onkel und dessen Frau vorgestellt wurden, danach gefragt. Er bestand auf einem Menuett zu späterer Stunde.

So tanzte ich also das erste Menuett mit Fritz, den ersten Deutschen mit Konstantin, die erste Anglaise mit Johann und so weiter. Natürlich tanzte ich das zweite Menuett mit meinem Bruder.

In der Tanzpause standen wir zusammen und tranken Bowle. Mein Bruder gab mir einen Stoß in die Rippen. „Schau, da drüben tut sich was.“

Ich sah in die angegebene Richtung und entdeckte eine junge Dame, die wie besessen an den Spitzen ihrer Handschuhe kaute13, während sie einen älteren Mann fixierte, der mir auch schon unangenehm aufgefallen war. „Sie will ihn loswerden“, sagte ich. „Das verstehe ich. Ich hoffe, sie hat Erfolg!“

„Er scheint nicht zu verstehen, was sie ihm sagen möchte. Mancher kennt sich halt in der geheimen Sprache der Handschuhe von euch Damen nicht aus. Oder er will sie nicht verstehen.“ Er kicherte.

Es war schon nach ein Uhr, als ich mich in einer weiteren Orchesterpause entfernte, um mich etwas zu erfrischen und meine Frisur im Spiegel zu begutachten. Ich hatte das Gefühl, es hätten sich ein paar Haarnadeln gelöst.

Mit der Unterstützung einer Zofe, die unsere Gastgeberin genau für solche Zwischenfälle abgestellt hatte, saß in kurzer Zeit meine Frisur wieder fest und ich wollte mich zurück in Richtung des Ballsaals begeben, als mich Leonhard von Falkenstein, der jüngere Bruder von Jacob von Falkenstein aufhielt. Begleitet wurde er von einer jungen Dame und seinem Bruder.

„Ah, da sind Sie ja! Liebe Demoiselle von Sommerauer, bitte erübrigen Sie uns ein paar Minuten. Es geht das Gerücht, Sie wären gut mit allen Arten von Verträgen. Ich möchte, dass an meinem Vertrag mit einem Geschäftspartner nichts zu rütteln ist. Sie würden mir eine besondere Freude machen, wenn Sie die Schrift gemeinsam mit meinem Bruder kurz durchsehen würden. Es sind nur zwei Seiten. Es dürfte sich also nur um wenige Minuten handeln, bis Sie mir sagen können, ob daran noch etwas zu ändern ist.“

Obwohl er mir nicht sympathisch war, konnte ich schlecht dem Neffen unseres Gastgebers eine Abfuhr erteilen. Außerdem waren ja sein Bruder und diese junge Frau dabei. Also gingen wir vier in die Bibliothek. Dort setzten wir uns auf zwei über Eck stehende Kanapees. Jacob von Falkenstein und ich beugten uns über die Papiere, während sein Bruder wieder aufstand und rastlos auf und ab ging.

Jacob und ich diskutierten über die Formulierung eines Satzes, als plötzlich jemand die Tür der Bibliothek aufriss und Mordio schrie. In dem Moment wurde mir bewusst, dass Jacob und ich alleine im Raum waren und ich aus dieser Situation nicht mehr unbeschadet herauskommen würde. Von Falkenstein sah genauso erschrocken aus, wie ich mich fühlte.