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Um 1912 als Tierärztin arbeiten zu können, heiratet Nellie ihren Jugendfreund Philipp, der die väterliche Praxis übernimmt. Sie verspricht jedoch, ihn freizugeben, sobald er eine Chance sieht, seinen eigenen Berufswunsch als Musiker zu verwirklichen. Als sich ihm diese nach dem Ersten Weltkrieg bietet, verschwindet er plötzlich aus ihrem Leben. Mit ihrer Kollegin Maria versucht Nellie nun, eine Tierarztpraxis in Berlin aufzubauen. Doch die Vergangenheit und die Liebe holen Nellie schnell wieder ein ...
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Seitenzahl: 781
Band 1 der Reihe »Tierärztin-Saga«
Um 1912 als Tierärztin arbeiten zu können, heiratet Nellie ihren Jugendfreund Philipp, der die väterliche Praxis übernimmt. Sie verspricht jedoch, ihn freizugeben, sobald er eine Chance sieht, seinen eigenen Berufswunsch als Musiker zu verwirklichen. Als sich ihm diese nach dem Ersten Weltkrieg bietet, verschwindet er plötzlich aus ihrem Leben. Mit ihrer Kollegin Maria versucht Nellie nun, eine Tierarztpraxis in Berlin aufzubauen. Doch die Vergangenheit und die Liebe holen Nellie schnell wieder ein …
Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.
SARAH LARK
DIETIERÄRZTIN
ROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Landkarte: Kirstin Osenau; © franz12; Epifantsev; Starostov; avtor painter/Shutterstock
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Umschlagmotiv: © Ildiko Neer/trevillion.com; © 79mtk/shutterstock.com; photolike/shutterstock.com; Mickis-Fotowelt/shutterstock.com; PON-PON/shutterstock.com; Jukyelabs/shutterstock.com; coz1421/shutterstock.com; Ihnatovich Maryia//shutterstock.com; © Slonomysh; Hein Nouwens; solarseven/Shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0379-6
luebbe.de
lesejury.de
Belgien – Ledegem bei Kortrijk
1906
Nellie verließ die Tierarztpraxis und lief um das Haus der De Groots herum zur Pferdeweide. Sie war spät dran, und tatsächlich stand Phipps’ Pony nicht mehr auf der Koppel. Der Junge musste selbst damit ausgeritten sein. Dann hörte sie jedoch Geigentöne aus dem kleinen Stall, den sich das Pony mit dem Kutschpferd von Phipps’ Vater teilte.
Nellie lächelte. Ihr Ausritt war damit gerettet. »Phipps! Warum hast du Cees denn in den Stall gebracht?«
Sie stieß die Tür auf, und der kleine Schimmel begrüßte sie mit einem dunklen Wiehern. Der braunhaarige Junge, der auf einem Strohballen gesessen und seine Geige gestimmt hatte, sah zu ihr auf.
»Na, weil du nicht da warst«, antwortete er. »Und Mama sollte doch glauben, ich wär ausgeritten.« Auch der zwei Jahre ältere Philipp, den Nellie, seit sie sprechen konnte, Phipps nannte, hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, obwohl sie sich seit dem Vortag nicht gesehen hatten. Sie besuchten verschiedene Schulen in Kortrijk, der nächstgrößeren Stadt, und kamen stets erst im Laufe des Nachmittags nach Hause. Sobald sie sich dann trafen, war die Trennung allerdings vergessen. Nellie und Phipps waren Nachbarskinder, standen sich aber näher als Geschwister. »Warum kommst du so spät?«
Nellie schüttelte den Kopf. »Ich wurde aufgehalten.« Ihre hellbraunen Augen leuchteten auf, als sie zu erzählen begann. Sie nahm sich ebenfalls einen Strohballen vom Stapel und platzierte sich Phipps gegenüber. »Ich war bei deinem Vater in der Praxis. Ich hab ihm geholfen.« Sie wies fast stolz auf ihre weiten Leinenhosen, auf denen Blutflecken zu sehen waren. »Er musste einem Hund ein Bein amputieren. Ein Notfall. Und keiner war da, um ihm zu helfen. Ich hab gesehen, wie die Leute den armen Dropje brachten. Ein Jäger hat auf ihn geschossen, der Unterschenkel der linken Hinterhand war zertrümmert, Schienbein und Wadenbein durch. Aber Mevrouw De Boer wollte nicht, dass er eingeschläfert wird. Da hat dein Vater amputiert. Und er brauchte Hilfe – hat ganz schön geschimpft, dass du nicht da warst … Schließlich hat er mich assistieren lassen. Und Phipps, er hat mich gelobt! Er sagte, ich gäbe einen guten Tierarzt ab, wenn ich ein Junge wäre.«
Nellie erhob sich wieder, griff nach dem Putzzeug und begann, das Pony aufzuhalftern und zu striegeln. Sie war hoch aufgeschossen und schlaksig mit ihren vierzehn Jahren und strotzte vor Energie. Phipps dagegen war eher ein ruhiger Junge. Seine einzige Leidenschaft war das Geigenspiel. Leider sahen es seine Eltern gar nicht gern, wenn er sich mit seinem Instrument irgendwo versteckte, statt zu reiten, Ballspiele zu machen oder in der Gegend herumzustreifen wie ein »richtiger Junge«.
Früher hatte er Letzteres ganz gern getan – in der Regel gemeinsam mit Nellie. Sie hatten von Kindheit an zusammen gespielt, und ihr zuliebe fing Phipps denn auch mal Kaulquappen oder klaute Kirschen im Garten eines Nachbarn. Das alles hatte jedoch geendet, als er die Musik für sich entdeckte. Sie öffnete ihrem Freund eine ganz neue Welt.
In Ledegem, dem kleinen belgischen Dorf in dem Phipps und Nellie lebten, wurde nicht viel Musik gemacht. Allenfalls spielte beim Dorffest eine Blaskapelle. Wer Konzerte hören wollte, musste ins fünfzehn Kilometer entfernte Kortrijk fahren oder noch ein wenig weiter in die andere Richtung, nach Ypern. Nellies Eltern taten das gelegentlich. Theo und Greta De Groot machten sich dagegen nichts daraus, sie gingen höchstens mal ins Theater. Eine Geige hatte Phipps deshalb erst zwei Jahre zuvor zum ersten Mal gehört, als fahrendes Volk in der Gegend gastiert hatte. Phipps’ Vater hatte eines ihrer Pferde behandelt – und Phipps hatte sich ganz und gar in den feurigen Weisen verloren, die sie abends am Feuer gespielt hatten. Nellie dachte noch gern an das Abenteuer zurück, als sie damals bei Nacht hinausgeschlichen waren, um die Zigeuner spielen zu hören. Ausnahmsweise ein Unternehmen, das von Phipps initiiert worden war. Gewöhnlich war sie es, die verbotene Ausflüge vorschlug.
Phipps hatte danach keine Ruhe mehr gegeben und sich eine Geige gewünscht – zum Geburtstag, zu Weihnachten oder zu allem zusammen. Sonst, so hatte er seine Eltern angefleht, bräuchten sie ihm nichts zu kaufen. Für eine Geige hatte er jahrelang auf jedes Geschenk verzichten wollen.
Schließlich hatte er sein Instrument erhalten, ein billiges Ding, das zunächst nur schaurige Quietschtöne von sich gab. Niemand hatte geglaubt, dass Phipps ihm jemals mehr entlocken würde, doch das Wunder geschah. Er erwies sich als musikalisch außergewöhnlich begabt, und bald mussten seine Eltern ihn bremsen, damit er nicht den ganzen Tag mit Üben verbrachte. Nellie ertrug das gelassen und war immer bereit, Phipps zu decken, wenn er Freiräume brauchte. So pflegte sie zum Beispiel sein Pony zu reiten, während er heimlich im Stall Geige spielte.
Inzwischen hatte sie den Schimmel gesattelt und ihre langen rotblonden Zöpfe unter eine Mütze gestopft. Niemand sollte erkennen, dass es ein Mädchen war, das mit dem lebhaften Pony über Wiesen und Waldwege galoppierte.
»Ich würde wahnsinnig gern Tierärztin werden«, sinnierte sie, als sie Cees aus der Box führte. »Und ich sehe nicht ein, weshalb ich dazu ein Junge sein müsste.«
Phipps sah nur kurz auf. »Mädchen nehmen sie nicht an der Hochschule«, stellte er lakonisch fest.
Nellie runzelte die Stirn. Wie ihr ganzes schmales Gesicht war sie mit Sommersprossen übersät. »Dann geh ich in ein anderes Land«, beschloss sie. »Irgendwo kann ich bestimmt studieren.«
Phipps schüttelte den Kopf. »Nirgends«, beschied er sie. »Ich weiß das zufällig, weil mein Vater gerade was über Frauen im Medizinstudium gelesen hat. Dazu werden sie jetzt in einigen Ländern zugelassen. Aber im Veterinärwesen nicht, und das sei auch gut so, meint mein Vater.«
Nellie blitzte ihn an. »Du stimmst ihm da doch wohl nicht zu?«
Phipps verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Keiner wäre ein besserer Tierarzt als du. So verrückt wie du nach den Viechern bist.«
Nellie sammelte von jeher Vögel mit gebrochenen Flügeln und räudige Katzen, die sich von ihr erstaunlicherweise einfangen und mit selbst hergestellter Ringelblumensalbe behandeln ließen. Inzwischen fanden sich an jedem Abend ganze Scharen von oft einäugigen oder dreibeinigen Hunden und Katzen am Hintereingang von Nellies Garten ein. Ihre Mutter fand die Tiere abscheulich und schimpfte, Nellie stand zu ihren Schützlingen.
»Dann musst du mich einfach mitstudieren lassen, wenn du an der Universität bist«, schlug sie jetzt vor. »Du schreibst bei den Vorlesungen mit, und ich lese deine Bücher. Wenn ich etwas nicht verstehe, erklärst du es mir. Das machst du für mich, oder?«
»Ich werde kein Tierarzt«, erklärte Phipps. »Ich werde Geiger, das weißt du doch.«
Nellie schüttelte nachsichtig den Kopf und machte Anstalten, das Pony aus dem Stall zu führen. »Ach, Phipps … natürlich wirst du Tierarzt. Dein Vater wird darauf bestehen, dass du später die Praxis übernimmst.« Dr. Theo De Groot hatte eine gut gehende Landpraxis. »Allenfalls könntest du stattdessen Medizin für Menschen studieren. Das ist ja wohl noch angesehener, da würde dein Papa nachgeben. Du müsstest dich dann nur woanders ansiedeln. Der Doktor für die Gegend hier wird später schließlich mein Bruder.«
Nellie war die Tochter des örtlichen Landarztes. Dr. Pieter Van der Heyden betrieb seine Praxis im Nachbarhaus der De Groots, und im Gegensatz zu Phipps konnte sein Sohn es kaum erwarten, ihm eines Tages nachzufolgen. Lukas war deutlich älter als Nellie und Phipps und würde in zwei Jahren mit dem Studium beginnen.
»Ich werde gar nichts in der Richtung«, sagte Phipps. »Ich kann kein Blut sehen.«
Nellie lachte. Das stimmte definitiv nicht, Dr. De Groot bestand seit Jahren darauf, dass ihm Phipps bei der Arbeit zur Hand ging. Er tat das nicht gern, aber übel wurde ihm dabei nicht.
»Wir werden ja sehen«, meinte sie und brach jetzt wirklich auf.
Kurz darauf galoppierte sie über die Feldwege rund um Ledegem und träumte von ihrer künftigen Praxis. Natürlich würde sie Tierärztin werden! Nellie war überzeugt davon, alles schaffen zu können, was sie sich vornahm. Phipps traute sie eine solche Entschlossenheit nicht zu. Sosehr er sich wünschte, Musik zu studieren – letztlich würde er tun, was sein Vater von ihm verlangte.
Belgien – Ledegem
Niederlande – Utrecht
1908 bis 1912
»Ich finde das überhaupt nicht erfreulich«, hörte Nellie ihre Mutter schimpfen, schon bevor sie die Wohnzimmertür geöffnet hatte. Ihre Eltern hatten sie zu einem ernsten Gespräch zitiert. »Natürlich ist es gut, wenn ein Mädchen rechnen kann – es muss ja eines Tages einen Haushalt führen, da sollte es lernen, mit seinem Budget auszukommen. Aber wozu braucht es Physik und Chemie? Diese Nonnen erziehen mir einen Blaustrumpf! Ich bin keineswegs dafür, ihnen Cornelia länger als nötig zu überlassen.«
Nellie hatte so etwas erwartet, doch als sie die Tür öffnete, fand sie es noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Ihr Vater hielt ihr Zeugnis in der Hand, das er aufmerksam studierte, ihre Mutter stand hinter ihm und warf ebenfalls einen Blick auf die Noten. In der Schule hatte es an diesem Tag Zwischenzeugnisse gegeben, und Nellie selbst war durchaus zufrieden mit sich. Sie war in allen wissenschaftlichen Fächern Klassenbeste und hatte es auch in Französisch und Niederländisch zu guten Noten gebracht. Im Anhang enthielt das Zeugnis die dringende Empfehlung, sie nach Abschluss des Schuljahrs weiter das Lyzeum besuchen zu lassen und ihr damit zu ermöglichen, das Abitur abzulegen. Die Mädchenschule in Kortrijk, ein strenges, von Nonnen geleitetes Institut, bereitete die Schülerinnen nicht nur auf ein Leben als Hausfrau vor, sondern ebenso auf eine berufliche Laufbahn. Der Abschluss des Lyzeums nach dem zwölften Schuljahr berechtigte sie zum Studium der wenigen Fächer, in denen Frauen zugelassen waren, sowie zum Eintritt in ein Lehrerinnenseminar.
Die meisten Eltern ließen ihre Töchter allerdings nicht so lange zur Schule gehen. Fast alle Mädchen verließen das Institut mit sechzehn Jahren nach dem zehnten Schuljahr, und für Nellie stand jetzt eine Entscheidung an. Sie wünschte sich glühend, die Hochschulreife zu erwerben, obwohl Frauen der Weg in ihr Wunschstudium der Tiermedizin weiterhin verwehrt war. Sie blieb jedoch optimistisch, in zwei Jahren konnte sich einiges ändern. Sie hatte ihre Mutter also hoffnungsvoll auf die Empfehlung hingewiesen. »Darüber sprechen wir heute Abend mit Vater«, hatte sie Nellie beschieden, wobei ihre Miene nichts Gutes hatte ahnen lassen.
Jetzt, noch vor dem Abendbrot, fand dieses Gespräch statt. Ihr Vater, Dr. Theo Van der Heyden, liebte es, sich mit einem kleinen Cognac vor dem Kamin zu entspannen, nachdem er die Praxis geschlossen hatte. Nellies Mutter pflegte diese Ruhestunde zu nutzen, um unangenehme Themen anzusprechen. Sie ersparte sich damit lange Diskussionen, da ihr Mann um diese Zeit das dringende Bedürfnis hatte, Probleme rasch zu lösen, um sich dann wieder seiner Zeitung und seinem Cognac zuwenden zu können. Meistens stimmte er den Vorschlägen seiner Frau einfach zu.
Ihre Mutter begann, Nellies Handarbeitskorb zu inspizieren. Wahrscheinlich wollte sie nachsehen, was ihrer Tochter die schlechte Note in Nadelarbeit eingebracht hatte. Angewidert schaute sie auf eine Stickerei.
»Ich geb mir im nächsten Halbjahr mehr Mühe«, erklärte Nellie, noch bevor sie ihren Vater begrüßte. »Versprochen, ich …«
»Und was ist das hier?«
Anklagend hob ihre Mutter ein Stück Stoff hoch, auf dem sie verschiedene Handstiche geübt hatte. Rückstich und Blindstich, Hexenstich und Langettenstich hatte sie erkannt, ein paar andere Nahtformen gaben ihr anscheinend Rätsel auf.
Nellies Vater warf einen kurzen Blick auf die Handarbeit. »Das ist eine Einzelkopfnaht«, bemerkte er. »Damit verschließt man gewöhnlich Wunden.« Er schien nichts Besonderes daran zu finden, aber seine Frau gab eine Art Schnauben von sich. »Und das andere ist eine Intrakutannaht. Tadellos ausgeführt …«
Nellies Mutter sah ihn verständnislos an. »Du meinst, das sind … chirurgische Nähte? Aber wieso …? Kannst du mir das erklären, Cornelia?« Mevrouw Van der Heyden achtete streng darauf, ihre Tochter mit ihrem richtigen Namen anzusprechen, statt sie einfach Nellie zu nennen.
Nellie nickte. »Das … war eine Aufgabe«, sagte sie. »Wir sollten die Nahtformen ausführen, die wir kennen. Und dann vor der Klasse vorstellen.«
Dr. Van der Heyden runzelte die Stirn und wandte sich endlich seiner Tochter zu. »Und woher kennst du chirurgische Nähte?«, fragte er, weniger missbilligend als interessiert.
»Von Phipps’ Vater«, gab Nellie Auskunft. »Ich helfe ihm doch manchmal bei den Tieren.«
Am liebsten hätte sie das in jeder freien Minute getan, aber Dr. De Groot schien es nicht geheuer zu sein, sie in der Praxis zu haben. Sehr viel lieber ließ er sich von seinem Sohn helfen, wenn eine ungebärdige Katze oder ein Hund festgehalten werden musste, meistens übernahm das sowieso seine Frau.
Dr. Van der Heyden lachte. »Da hast du es, Josefine«, bemerkte er seiner Frau gegenüber. »Sie ist der Nadelarbeit durchaus zugewandt, nur nicht der Schneiderei.«
»Ich finde das nicht komisch, Pieter!«, erklärte ihre Mutter. »Im Gegenteil, ich wage gar nicht daran zu denken, was die Lehrerin dazu gesagt hat …«
»Schwester Irene fand das gar nicht so schlimm«, verteidigte sich Nellie. »Sie hat mich sogar die Unterschiede erklären lassen, und wo man die Nähte einsetzt …«
»Und dabei sind wir wieder beim Thema«, ereiferte sich Mevrouw Van der Heyden. »Die Mädchen werden ermutigt, sich für Dinge zu interessieren, die Frauen nichts angehen. Sie werden, wie ich schon sagte, zu Blaustrümpfen erzogen – am Ende will Cornelia noch studieren …«
»Und warum nicht?«, fragte Nellie, jetzt doch etwas aufsässig.
Ihre Mutter blitzte sie an. »Mach dich nicht lächerlich!«, beschied sie ihre Tochter, um sich dann wieder ihrem Mann zuzuwenden. »Da siehst du es. Also, meiner Meinung nach sollte Cornelia diese Schule nach Abschluss der zehnten Klasse verlassen. Sie wird bald sechzehn, und …«
»Und ist damit entschieden zu jung zum Heiraten«, bemerkte Nellies Vater. »Soll sie also die nächsten Jahre hier herumsitzen? Oder Dr. De Groot auf die Nerven fallen? Wenn sie nichts zu tun hat, wird sie sich noch mehr in die Sache mit ihren Viechern hineinsteigern. Ich habe durchaus bemerkt, Nellie, dass du wieder streunende Katzen verarztest, und ich kann es nur noch mal verbieten. Die Biester verschwinden aus dem Geräteschuppen, oder ich lasse sie vom Abdecker entfernen. Deine Tierliebe in allen Ehren … Wenn du mal verheiratet bist, kannst du dir gern ein Schoßhündchen halten, aber in einem Arzthaushalt … Wir wissen seit Langem, wie wichtig Hygiene in einer Praxis ist. Dieses Viehzeug schleppt nur Keime ein …«
Nellie biss sich auf die Lippen. Auch Dr. De Groot achtete peinlich genau auf Sauberkeit in seiner Praxis, und sie selbst hatte es von ihm übernommen. Ganz sicher würden ihre Schützlinge nichts und niemanden infizieren. Darüber war mit ihrem Vater jedoch nicht zu reden.
»Ja, Papa«, sagte sie demütig, schon, um ihn nicht weiter zu verärgern. Schließlich schien er, was die Schule anging, auf ihrer Seite zu sein.
Das erwies sich allerdings gleich als Fehlschluss. »Wie wäre es denn mit einer ordentlichen Hauswirtschaftsschule?«, fragte ihr Vater. »Wenn es Nellie denn schon an den Grundfertigkeiten der Haushaltsführung mangelt? Kochen kann sie ja wohl auch nicht … zumindest roch es hier neulich wie in einer Hexenküche, als ich nach Hause kam. Und Elfriede meinte, Nellie habe gekocht.«
Elfriede war das Hausmädchen der Van der Heydens.
»Ich habe Ringelblumensalbe angerührt«, erklärte Nellie. »Auf der Basis von Schweinefett. Natürlich riecht das nicht gut, aber man kann so kostengünstig ein Wundheilmittel herstellen, und …«
»Also wieder für die räudigen Viecher«, stellte Dr. Van der Heyden fest. »Das muss aufhören, Josefine. Nellie muss dazu angehalten werden, sich angemesseneren Beschäftigungen zu widmen. Gibt es eine Hauswirtschaftsschule in Kortrijk?«
Für Nellie brach kurz eine Welt zusammen. All ihre Pläne, wenigstens das Abitur zu machen, wenn sie schon nicht auf ihr Wunschstudium hoffen konnte, schienen zunichtegemacht. Andererseits wusste sie von keinem entsprechenden Institut in Kortrijk, was ihre Mutter gleich darauf bestätigte.
»Es liefe auf ein Pensionat hinaus«, überlegte Mevrouw Van der Heyden.
Allerdings klang das nicht so, als würde sie den Vorschlag ihres Mannes grundsätzlich ablehnen. Auch Josefine Van der Heyden selbst hatte eine hauswirtschaftlich orientierte Mädchenschule absolviert – in den Niederlanden, wo sie aufgewachsen war. Noch heute schwärmte sie von der schönen Zeit in der St. Elisabeth School in Utrecht.
Utrecht? In Nellie keimte eine Idee. Phipps würde im Frühling das Abitur ablegen und dann Tiermedizin studieren. Wie vormals sein Vater, sollte auch er die Universität von Utrecht besuchen.
»Kann ich nicht auf die St. Elisabeth School?«, fragte Nellie und legte Eifer in ihre Stimme. »Da, wo du hingegangen bist, Mama?« Sie bemühte sich darum, ein begeistertes Gesicht zu machen. »Du erzählst doch immer so viel davon – wie viel Spaß du mit den anderen Mädchen hattest. Und man kann sogar Abitur machen.«
»Puddingabitur« pflegte ihr Vater den Abschluss zu nennen, den seine Frau im Pensionat erworben hatte.
Mevrouw Van der Heyden rieb sich die Stirn. Sie schien hin- und hergerissen. »Ich weiß nicht, Cornelia … Natürlich ist St. Elisabeth eine großartige Schule. Aber so weit weg …« Die Stadt in den Niederlanden war über zweihundertfünfzig Kilometer entfernt. »Du könntest am Wochenende nicht nach Hause kommen …«
»Umso besser«, bemerkte Nellies Vater. »Dann muss sie sehen, dass sie sich anderen Zöglingen anschließt. Man wird sie während der Wochenenden zu fraulichen Beschäftigungen anhalten – und garantiert wird man ihr nicht erlauben, dort einen halben Zoo anzuschleppen.«
»Dein Wunsch hat aber nichts damit zu tun, dass Philipp De Groot zum Studium nach Utrecht geht?«, examinierte ihre Mutter sie.
Nellie blickte sie unschuldig an. »Phipps?«, fragte sie. »Den seh ich doch gar nicht mehr …« In der letzten Zeit hatte sie sich tatsächlich nur selten mit ihrem Freund getroffen. Phipps hatte viel mit der Schule zu tun. Das Lernen fiel ihm nicht so leicht wie ihr selbst, und wenn er ein einigermaßen gutes Abitur ablegen wollte, musste er sich anstrengen. Seine wenige Freizeit verbrachte er mit seiner Geige – nach wie vor oft im Stall, während Nellie sein Pferd ritt. Davon wussten ihre Eltern nichts. »Und wenn er erst auf die Universität geht, wird er mich sowieso nicht mehr kennen wollen! Jedenfalls gibt er sich bestimmt nicht mit einer kleinen Pensionatsschülerin ab …«
Mevrouw Van der Heyden blickte skeptisch drein. Sie hatte da anscheinend ihre Zweifel. Schließlich hatte auch sie ihren Mann als Student in Utrecht kennengelernt. Der war allerdings viel älter gewesen als Phipps und hatte nur ein Gastsemester in den Niederlanden absolviert. Er hatte mehr Zeit für gesellschaftliche Unternehmungen gehabt als ein Erstsemester üblicherweise, und sie selbst war nicht mehr zur Schule gegangen, sondern hatte sich in einer Wohltätigkeitsorganisation engagiert. Bei einem von der Armenhilfe veranstalteten Ball waren sie einander vorgestellt worden, und so hatten die Dinge ihren Lauf genommen.
Ihr Vater schien in Bezug auf Nellies Beziehung zu ihrem Freund keine Befürchtungen zu hegen. »Philipp kann auf der Reise ein Auge auf sie halten«, bemerkte er gelassen.
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Du willst das auch noch unterstützen?«, fragte sie unwillig. »Diese … diese Freundschaft?«
Dr. Van der Heyden richtete den Blick gen Himmel. »Josefine, die zwei stecken zusammen, seit sie Kinder waren. Ich kann in einer gemeinsamen Bahnfahrt keine größere Gefahr erkennen, als wenn er ihr hier behilflich ist, eine Katzenfalle zu bauen, um diesen räudigen Kater von der Straße zu kriegen, der seitdem in unserem Gartenschuppen sitzt. Ich sehe da keine … äh … erotischen Verwicklungen. Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge: Vor dem jungen Mann liegen vier Jahre Studium. Solange ist nicht ans Heiraten zu denken. Bis dahin hast du für Cornelia längst einen anderen Mann gefunden. Falls es nicht so sein sollte, und die beiden fühlen sich immer noch zueinander hingezogen, wird sie eben Tierarztfrau. Dr. De Groot hat ja durchaus sein Auskommen, und für Viehzeug hat sie nun mal ein Faible.«
Josefine Van der Heyden verzog das Gesicht. Sie dachte an eine gänzlich andere Partie für ihre einzige Tochter. Aber wie immer gab sie ihrem Mann schließlich recht.
»Dann schreibe ich morgen nach Utrecht«, sagte sie, nur noch ein wenig widerstrebend. »Wir werden sehen, ob Mevrouw Verhoeven einen Platz für sie hat.«
Mevrouw Verhoeven war die Gründerin und Rektorin der Schule und den Erzählungen ihrer Mutter zufolge äußerst streng. Nellie war trotzdem optimistisch. Sie würde es schon irgendwie schaffen, Phipps zu treffen und ihren vor Jahren ausgeheckten Plan wahr zu machen. Phipps musste seine Studieninhalte mit ihr teilen. Sie war ihrem Traum, Tierärztin zu werden, gerade einen Schritt näher gekommen.
Aufatmend verzog Nellie sich in besagten Geräteschuppen im Garten und sah nach ihrem neuesten Schützling, einem struppigen schwarzen Hund. Sie hatte ihn gebadet und stellte nun fest, dass er immer noch vor Kälte zitterte.
»Tut mir wirklich leid«, entschuldigte sie sich und frottierte ihn noch einmal gründlich ab. Es war ein nasskalter Tag, und sie selbst hätte auch nicht im Freien baden mögen. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich dich mit ins Haus nehmen, dann könntest du vor dem Kamin trocknen. Aber mein Vater meint, du verbreitest Krankheiten …« Vor dem ausgedehnten Bad mochte das sogar der Fall gewesen sein. Das Fell des Streuners, der seit einigen Tagen in Ledegem herumgelaufen war, war voller Flöhe gewesen, und die Räude schien er ebenso zu haben. Nellie musste ihn gegen all das behandeln, bevor sie ihm erlaubte, im Gartenhaus zu schlafen. Ein Bad mit milbentötendem Shampoo half da immer noch am besten. Nellie deckte ihren Schützling warm zu und sprach ermutigend auf ihn ein. »Gleich wird dir wärmer«, versprach sie.
Das schien den Hund nicht zu überzeugen. Er jaulte ihr nach, als sie sich von ihm abwandte, um ihre weiteren Pfleglinge zu streicheln. Der rote Kater Joppe hatte nur ein Auge und zurzeit obendrein ein verletztes Bein, und die knochenmagere Straßenkatze hatte sie blutend und mit fehlendem Schwanz am Bahnhof gefunden. Womöglich war hier ein Tierquäler am Werk gewesen. Die Katze war selbst vor ihr, Nellie, in Panik geflohen. Inzwischen ließ sie zu, dass sie ihre Wunde versorgte.
»Was mache ich bloß mit euch, wenn mein Vater tatsächlich darauf besteht, dass wir den Schuppen räumen?« Nellie seufzte.
Das Leben war wirklich nicht einfach, aber aufgeben würde sie nie.
»Ich weiß immer noch nicht, wie das gehen soll«, maulte Phipps.
Er saß gemeinsam mit Nellie im Zug nach Utrecht, und sie hatte ihn erneut darauf eingeschworen, sie gemeinsam mit ihm studieren zu lassen. »Wir müssten uns dazu regelmäßig sehen – mindestens einmal die Woche. Du kannst keine Vorlesungen besuchen, nur meine Mitschriften lesen, und da macht man sich doch oft nur Stichworte …«
»Dann gehst du die Stichworte eben mit mir durch und wiederholst damit noch mal, was du gelernt hast«, erläuterte Nellie zum zwanzigsten Mal. »Das kann dir nicht schaden. Außerdem gibt es Bücher …«
Sie war gereizt. Hinter ihr lag eine anstrengende Zeit, sie hätte sich jetzt gern zurückgelehnt und noch etwas ausgeruht, bevor sie sich den Herausforderungen der St. Elisabeth School für Mädchen stellen musste. Phipps’ Bedenken wollte sie nicht mehr diskutieren. Schließlich lagen schon genug Gespräche hinter ihr, die ihre Überredungskünste bis zum Äußersten gefordert hatten. Es war nicht einfach gewesen, Menschen zu finden, die bereit waren, sich um ihre vierbeinigen Schützlinge zu kümmern – obwohl die nun alle gut aussahen und zahm waren. Wer wollte schon einäugige Kater und Katzen ohne Schwanz? Am leichtesten vermittelbar war noch der Hund gewesen, der inzwischen nicht mehr struppig war, sondern ein glänzendes Fell hatte und sogar als Wachhund dienen konnte. Letztlich hatte sie alle untergebracht und hätte beruhigt sein können, wenn nur Phipps nicht querschießen würde …
»Du wirst da auch gar nicht leicht rauskommen«, führte Phipps weiter aus. »Die Nonnen passen doch auf ihre Zöglinge auf …«
»Da sind keine Nonnen«, meinte Nellie. »St. Elisabeth ist eine säkulare Privatschule. Natürlich ein besseres Gefängnis, da hast du schon recht. Ich weiß noch nicht, wie ich rauskomme. Aber mir wird etwas einfallen. Bestimmt.« Phipps nickte trübsinnig. Eigentlich konnte er kaum Zweifel haben. So lange er sie kannte, war ihr immer etwas eingefallen. »Du musst mir nur deine Adresse aufschreiben.« Nellie kramte nach einem Block.
»Wozu? Mevrouw De Winter erlaubt keinen Damenbesuch.«
Phipps’ Vater hatte seinen Sohn bei einer Witwe eingemietet, die Zimmer an Studenten vergab und dabei wahrscheinlich genauso streng auf die Tugend der jungen Männer achtete wie Mevrouw Verhoeven auf die der Mädchen im Pensionat.
»Damit ich dich finde, wenn ich weiß, wie es weitergeht«, fuhr Nellie ihn an. »Mensch, Phipps, nun sei doch nicht so begriffsstutzig! Ich weiß, dass du schlechte Laune hast und keine Lust zu studieren und was nicht alles. Du würdest lieber im Konservatorium vorspielen und Geiger werden. Aber vielleicht hättest du das besser deinem Vater endlos vorgebetet statt mir. Dann hätte der womöglich irgendwann nachgegeben und es dich wenigstens versuchen lassen. Ich an deiner Stelle würde es auch jetzt noch versuchen. Vorspielen kostet nichts, und du wüsstest wenigstens mal, wie andere deine Geigerei einschätzen.«
»Ich spiele sicher nicht so gut, wie ich spielen könnte …« Phipps seufzte.
Dem konnte Nellie nichts entgegenhalten. Dafür, dass Phipps sich praktisch alles selbst beigebracht hatte, spielte er virtuos. Aber andere Musikstudenten mochten seit ihrer Kindheit Unterricht gehabt haben.
»Du könntest es trotzdem probieren«, beharrte Nellie. »Wie auch immer: Nur, weil deine Träume nicht wahr werden, muss ich nicht ebenso auf jeden Versuch verzichten, das zu lernen, was ich wirklich will. Also stell dich nicht an, sondern nimm dich zusammen und hilf mir. Vielleicht kann ich dir ja auch mal helfen. Wir müssen einfach versuchen, das Beste aus Utrecht zu machen.«
Phipps hatte die St. Elisabeth School ganz richtig eingeschätzt. Mevrouw Verhoeven nahm ihre Zöglinge sofort unter ihre Fittiche, sobald sie in Utrecht ankamen. Bereits am Bahnsteig wartete eine junge Frau auf Nellie, die sich als Doortje vorstellte, eine Schülerin der Abschlussklasse und offenbar zuverlässig genug, die Neuen anvertraut zu bekommen. Doortje war achtzehn Jahre alt und bereits verlobt, wie sie Nellie auf dem Weg zur Schule mitteilte, den sie in der pensionatseigenen geschlossenen Kutsche zurücklegten. Die dunkelhaarige junge Frau sprach in höchsten Tönen sowohl von der Lehranstalt als auch von ihrem Zukünftigen. Er war Notar, und sie würde eines Tages einen großen Haushalt führen, wie sie Nellie stolz mitteilte. Nach ihrer Zeit an der St. Elisabeth School fühlte sie sich dem jedoch vollständig gewachsen.
Die Schule lag in einem Vorort von Utrecht, in einem großen, eleganten Haus. Klassizistisch nannte Doortje das Gebäude, sie konnte auch einiges über seine Geschichte erzählen. Nellie konzentrierte sich eher auf den von einem hohen Zaun umgebenen kleinen Park. Sicher gab es Stellen, die vom Haus aus nicht einzusehen waren, aber der mit Pieken bewehrte Zaun war ganz sicher nicht kletternd zu überwinden. Außerdem würde man Nellie vermissen, wenn sie tagsüber einfach ein paar Stunden verschwand. Sie würde also eine Ausrede brauchen, die es ihr erlaubte, die Schule ganz legal durch den Haupteingang zu verlassen.
Doortje begleitete Nellie bis zum Büro der Direktorin, Mevrouw Verhoeven hieß neue Zöglinge persönlich willkommen. Die Schulleiterin war eine große, magere Frau mit harten Gesichtszügen, die dunkle Kleidung trug – sie war Witwe, wie sich Nellie jetzt erinnerte. Ihr Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Knoten gewunden. Immerhin lächelte sie verhalten, als sie Nellie begrüßte.
»Ich erinnere mich immer noch gern an deine liebe Mutter, Kind«, erklärte sie Nellie nach wenigen Begrüßungsworten. »Josefine gehörte zu meinen liebsten Schülerinnen. Ich hoffe, du wirst ihr nacheifern. Deine bisherigen Noten …«, sie warf einen Blick auf das Zeugnis, das Nellies Mutter ihr mitgeschickt hatte und das bereits in einer Akte lag, »… weisen dich ja als recht aufgeweckte junge Frau aus …« Nellie fragte sich, wie sie das meinte. »Allerdings gibt es wohl noch einige Lücken in deiner Ausbildung, wie deine liebe Mutter mir mitteilte. Du … spielst kein Musikinstrument?«
Nellie schüttelte den Kopf. Im Salon der Van der Heydens stand zwar ein Klavier, aber auch ihre Mutter spielte nur selten – und dazu nach Nellies Einschätzung ziemlich schlecht. Niemand in ihrer Familie war sonderlich musikalisch. Phipps jedenfalls hatte gequält geblickt, wenn jemand das Klavier anschlug. Seiner Einschätzung nach war es völlig verstimmt, was Nellies Mutter nie aufgefallen war.
»Das ist sehr schade, Cornelia. Wir versuchen hier, die künstlerischen Interessen unserer Zöglinge zu fördern. Es ist doch schön, wenn eine Frau ihren Gatten allabendlich mit einem kleinen Klaviervortrag erfreuen kann oder eine Gesellschaft mit einem Lied.«
Sie blickte noch einmal auf Nellies Zeugnis. Neben der für Nadelarbeit war auch die Note im Fach Singen eher mittelmäßig ausgefallen.
Plötzlich hatte Nellie einen Einfall. »Ich würde das sehr gern lernen«, sagte sie. »Also Klavier … oder Geige … Unterrichten Sie es hier?«
Die Rektorin nickte. »Ich weiß allerdings nicht, wie unsere Mevrouw Van Doorn zu Anfängerstunden steht. Die meisten Mädchen in deinem Alter beherrschen ihre Instrumente schon recht gut. Wir haben sogar ein kleines Orchester … Aber das wird sich finden. Ich werde dir jetzt erst einmal den Stundenplan aushändigen, dann wird dich die Hausmutter in dein Zimmer führen. Du wohnst im Westflügel im Van-Dyck-Zimmer. Du weißt, wer Anthonis Van Dyck war?«
»Ein Maler«, sagte Nellie.
Das immerhin hatte sie schon einmal gehört, obwohl sie dem Künstler kein Werk hätte zuordnen können.
Mevrouw Verhoeven nickte wohlgefällig. »Ein Vertreter des flämischen Barocks, Weggefährte von Peter Paul Rubens. Es ist schön, dass du dich für Kunstgeschichte interessierst, Cornelia. Du kannst nun gehen. Sicher möchtest du deine Mitbewohnerinnen kennenlernen. Nore und Elsa sind seit der ersten Klasse bei uns und werden dir helfen können, dich zurechtzufinden.«
Nellie knickste brav und verließ den Raum, gleich darauf wurde sie von der Hausmutter in Empfang genommen. Allein ließ man die Mädchen hier wohl gar nicht. Nellie folgte der freundlichen, rundlichen Frau durch dunkle Korridore, an deren Wänden ebenso dunkle Gemälde hingen. Mevrouw Bakker informierte sie derweil über die Hausordnung, die Rufen, lautes Sprechen und Rennen in den Fluren sowie Essen auf dem Zimmer verbot. Die Mahlzeiten seien reichhaltig, erklärte sie Nellie, dazu gesundheitsfördernd. Es wurde nicht gern gesehen, wenn die Zöglinge darüber hinaus Süßigkeiten einschmuggelten. Überhaupt legte die Schule Wert auf ein gesundes Leben der Zöglinge. So begann jeder Tag mit Gymnastik zur Leibesertüchtigung, und ein Spaziergang im Garten zwecks Bewegung an der frischen Luft war Teil der Tagesroutine.
»Uns ist daran gelegen, körperlich und geistig reife und gesunde Frauen ins Leben zu entlassen«, erklärte Mevrouw Bakker.
Nellie konnte nicht anders, als an Zuchtstuten zu denken. Artgerechte Aufzucht im Herdenverband, gutes Futter und regelmäßige leichte Bewegung machten es wahrscheinlich, dass die Stute leicht aufnahm und gesunde Fohlen zur Welt brachte. Obwohl sie das Ganze frustrierte, hätte sie beinahe gelacht.
Das Zimmer, in das die Hausmutter sie führte, war zum Glück heller als die Flure. Es wies große Fenster auf, die Wände waren mit Reproduktionen der wichtigsten Gemälde Van Dycks geschmückt. Nellie registrierte das Porträt eines blond gelockten Jungen sowie das einer rot gekleideten Frau mit Kind.
Ansonsten standen drei Betten im Zimmer, drei Schreibtische, Nachtschränkchen und ein großer Kleiderschrank. Zwei Mädchen in Nellies Alter waren bereits dabei, ihre Sachen einzuordnen, was sie bedächtig und mit großer Sorgfalt taten. Sie selbst neigte eher dazu, ihre Kleidung so rasch wie möglich irgendwo zu verstauen und zu hoffen, dass Elfriede das schon in Ordnung bringen würde, und so fand sie die Hingabe ihrer Zimmergenossinnen durchaus bewunderungswürdig. Ihr dämmerte allerdings, dass es ihr nicht leichtfallen würde, den beiden nachzueifern.
Die Hausmutter stellte die Mädchen als Nore und Elsa vor, wobei es Nellie schwerfiel, sie auseinanderzuhalten. Beide waren blond und blauäugig und trugen kunstvolle Flechtfrisuren. Nellies Pferdeschwanz musterten sie ungnädig. Sie fragte sich, ob auch Frisieren zum Lehrplan gehörte, und warf erst mal einen Blick auf den Stundenplan, den Mevrouw Verhoeven ihr in die Hand gedrückt hatte. Er sah gänzlich anders aus als der ihrer früheren Schule. Zu den Unterrichtsfächern gehörten Schneidern, Kunstgeschichte und Zeichnen, sogar ein Kochkurs. Französisch und Niederländisch durften natürlich nicht fehlen, Musik nahm einen großen Raum ein. Biologie, Physik und Chemie waren unter dem Namen Naturkunde zusammengefasst. Nellie seufzte. Immerhin würde sie nicht viel Zeit zum Lernen brauchen. Sie würde sich ausreichend um ihre eigentlichen Studien kümmern können, sofern sie eine Möglichkeit fand, Phipps zu treffen.
»Was macht man denn an den freien Nachmittagen?«, fragte sie Nore, die ihr ein Bett am Fenster zugewiesen hatte.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Wir arbeiten an unseren Handarbeiten, oder wir haben Musikstunden … Ein paar Mädchen, die von Landgütern kommen, haben Reitunterricht.«
»Gibt es hier Pferde?«, wunderte sich Nellie.
Nore schüttelte den Kopf. »Nein, die Mädchen fahren zu einem Tattersall irgendwo in der Stadt«, gab sie Auskunft.
»Also kann man … die Schule verlassen?« In Nellie keimte Hoffnung.
Nore nickte. »Nur mit gutem Grund natürlich«, schränkte sie dann ein. »Du kannst nicht auf eigene Faust in der Stadt herumstreichen. Aber wenn die Rektorin dir erlaubt, außerhalb Unterricht zu nehmen oder Verwandte zu besuchen …«
Nellie dachte kurz nach. Ihre Großeltern lebten noch in Utrecht, und sie sollte jedes zweite Wochenende bei ihnen verbringen. Konnte sie da wohl vorgeben, sie obendrein zweimal in der Woche sehen zu wollen? Sehr glaubwürdig würde das nicht klingen – zumal, wenn sie gar nicht dort auftauchte.
Dann jedoch fiel ihr die Sache mit dem Klavier wieder ein. Sie nahm sich vor, am kommenden Morgen bei der Rektorin vorzusprechen.
Nach reiflicher Überlegung verschob Nellie ihren Vorstoß auf die folgende Woche. Es war sicherlich sinnvoll – und glaubwürdiger –, wenn sie sich erst mal in der Schule umsah und einlebte. Also folgte sie Nore und Elsa, zwei seit Jahren enge Freundinnen, die an Nellie wenig Interesse zeigten, zunächst in den Speisesaal, wo solide Hausmannskost serviert wurde. Während der Mahlzeiten las eine Schülerin vor, zurzeit einen Briefroman von Aagje Deken. Die anderen Mädchen waren angehalten, schweigend zu lauschen. An jedem der langen Tische saß eine Lehrerin, die jeden Verstoß gegen die Tischmanieren rügte.
Nellie fand all das ziemlich freudlos, sie fühlte sich erst wieder wohler, als nach dem Abendessen Freizeit gewährt wurde und die Mädchen fröhlich durcheinanderredeten, dabei Gesellschaftsspiele spielten oder sich der Nadelarbeit widmeten. Einige vertieften sich in Bücher. Nellie befand zu ihrer Erleichterung, dass es gar nicht auffallen würde, wenn sie ein Lehrbuch über Tiermedizin unter dem Umschlag eines Gesellschaftsromans verbarg.
In den folgenden Tagen las sie französische Gedichte und mühte sich in Konversation über ein Werk von Willem Kloos. Sie versuchte, sich angemessen in die Werke des Künstlers Caspar David Friedrich zu versenken, und lernte im Hauswirtschaftsunterricht, wie man Karamell herstellte, um damit Süßspeisen zu kreieren, und Zuckercouleur, um Soßen zu färben. Die chemischen Hintergründe wurden dabei nicht angesprochen, obwohl sie Nellie mehr interessierten als der Einsatz des Farbstoffes. In Musik musste sie vorsingen und wurde der zweiten Stimme im Chor zugewiesen. Dass sie bislang kein Instrument spielte, empfand die Lehrerin als bedauerlich. Schließlich kam der erste freie Nachmittag, und sie langweilte sich mit ihrer Stickerei. Ihr Entschluss stand inzwischen fest. Bei nächster Gelegenheit wollte sie die Rektorin aufsuchen und sie bitten, außerhalb der Schule Klavier- und Geigenunterricht nehmen zu dürfen.
Mevrouw Verhoeven runzelte die Stirn. »Gleich zwei Instrumente, Kind? Ist das nicht etwas … ambitioniert?«
Nellie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich einfach nicht entscheiden«, behauptete sie. »Es klingt beides so schön …«
Tatsächlich klang es eher wie eine gequälte Katze, wenn Elsa die Geige bearbeitete, und Nores Klavierspiel war auch nicht sonderlich virtuos. Die Rektorin nickte jedoch nachgiebig.
»Du hast ja einiges aufzuholen«, meinte sie. »Dann schauen wir mal, was sich machen lässt. Deine Eltern müssen dem Plan natürlich zustimmen …«
Nellie nickte. Der Privatunterricht würde ihren Eltern zweifellos in Rechnung gestellt werden. Sie befürchtete allerdings nicht, dass ihre Mutter sich da querstellen würde. Mevrouw Verhoeven eine Absage zu erteilen kam für Josefine Van der Heyden sicher nicht infrage.
Tatsächlich rief die Rektorin Nellie schon nach wenigen Tagen wieder zu sich und gab ihr die Adresse ihres künftigen Lehrers. Zu ihrer Verwunderung handelte es sich um einen Musikstudenten, der bei einer Mevrouw Smit-Visser zur Untermiete wohnte.
»Mevrouw Smit-Visser war in unserer Schule als Lehrerin tätig«, erklärte die Rektorin. »Nun bessert sie ihre Pension auf, indem sie Schülern des Konservatoriums eine Bleibe bietet und ihnen die Möglichkeit gibt, in ihren Räumen Musikunterricht für Anfänger zu erteilen. Die jungen Herren verdienen sich damit ihr Studium und sind Mevrouw Smit-Visser äußerst dankbar. Natürlich wird sie immer im Hause sein, wenn dein Unterricht stattfindet. Die jungen Herren sollen ja nicht auf dumme Gedanken kommen …«
Nellie nickte brav, obwohl sie ein Seufzen unterdrücken musste. Die Anwesenheit der früheren Lehrerin würde die Sache erschweren. Als sie dann jedoch – erst mal allein – zur ersten Stunde antrat, stellte sie schnell fest, dass ihre Befürchtungen unbegründet waren. Mevrouw Smit-Visser hatte ein gutes Gehör, und die Töne, die ein Anfänger – besonders auf der Geige – produzierte, quälten sie regelrecht. Insofern floh sie stets in die entlegensten Räume ihres hübschen Stadthauses, wenn Frederique Leclerc oder Ulrich Van Loon ihre Schüler und Schülerinnen empfingen. Für Nellie zeichnete Mijnheer Frederique Leclerc verantwortlich, der sowohl Geige als auch Klavier unterrichtete. Nellie fand ihn gleich sympathisch. Er war dunkelhaarig und ziemlich klein, stammte aus dem französischsprachigen Teil Belgiens und sprach Niederländisch mit einem leichten Akzent. Monsieur Frederique, wie er sich nennen ließ, war nicht viel älter als Phipps und begrüßte Nellie überraschend mit der Frage, was sie in Wirklichkeit herführe.
»Fühlen Sie sich wahrhaft berufen zur Musik, oder geht es in erster Linie darum, trostlosen Nachmittagen im Pensionat zu entkommen?« Er zwinkerte ihr zu.
»Weder noch«, antwortete Nellie und schilderte dem jungen Mann ihr Anliegen. Frederique reagierte darauf verwundert, aber nicht von vorneherein ablehnend.
»An Ihrer Stelle soll ich also Ihren Freund unterrichten?«, fragte er ungläubig. »Während Sie …«
»… während ich Tiermedizin studiere. Genau«, sagte Nellie. »Ich werde gar nicht stören. Ich hocke mich einfach irgendwo hin und lese oder mache mir Notizen …«
»Da haben Sie sich ja was vorgenommen …«, bemerkte der junge Pianist und rollte mit den Augen. »Ein Medizinstudium aus zweiter Hand stelle ich mir schwierig vor. Und was sagt der … hm … Betroffene dazu? Kann der sich wenigstens für Musik begeistern?«
Nellie lächelte ihm spitzbübisch zu. »Dem kann gar nichts Besseres passieren«, meinte sie. »Sie werden sich wundern … Dann also nächste Woche Donnerstag?«
»An mir soll’s nicht liegen«, sagte Frederique. »Wenn ich mein Geld kriege, ist es mir völlig egal, wen ich unterrichte.«
Nellie wartete bis zu ihrem ersten Wochenende bei den Großeltern, bevor sie Phipps einen Brief schrieb. Sie glaubte nicht, dass die Briefe der Schülerinnen an der St. Elisabeth School zensiert wurden, aber sie wollte sichergehen. Zudem gab es für sie nicht viel zu tun im Stadthaus der Van de Veldes. Abel Van de Velde war ein angesehener Arzt gewesen, hatte seine Praxis allerdings einige Jahre zuvor verkauft und lebte jetzt als Privatier, ganz versunken in seine Bücher, die von Reisen in ferne Länder handelten. Er selbst verreiste nie, selbst ihre Tochter in Belgien hatten die Van de Veldes nie besucht.
Seine Frau Henriette dagegen war gesellschaftlich aktiv. Sie saß in den Vorständen diverser Wohltätigkeitsvereine sowie Verbände zur Förderung der Künste. Ständig standen Bälle, Vernissagen oder Vorträge auf ihrem Programm, aber Henriette befand Nellie als noch zu jung, um an den meisten dieser Veranstaltungen teilzunehmen. Immerhin sollte sie im Laufe ihrer Pensionatszeit zahlreiche Konzerte, Theateraufführungen und Kunstausstellungen besuchen – eine willkommene Abwechslung zum Internatsleben. Ihre Großmutter freute sich schon im Voraus auf ihre Gesellschaft – der Großvater ging nur widerwillig aus. Nellie verstand sich allerdings auch mit ihm sehr gut, vor allem, weil sie ihn niemals störte und obendrein Interesse für seine Bibliothek aufbrachte. Sie fand darin viele medizinische Werke, die ihr beim Studium nützlich sein würden. Zwar ging es hier ausschließlich um Humanmedizin, aber Nellie war sicher, dass Mensch und Tier so unterschiedlich nicht sein konnten.
Nun galt es jedoch erst mal, mit dem Studium zu beginnen. Sie schrieb Phipps einen kurzen Brief, mittels dessen sie ihn am folgenden Donnerstag in das Haus der Mevrouw Smit-Visser zitierte. Bring Deine Geige mit und warte unauffällig vor dem Haus, führte sie aus. Ich selbst komme mit einer Droschke, und der Fahrer ist sicher angewiesen, mich zu beobachten, bis ich drin bin. Danach kannst Du klingeln. Frag nach Mijnheer Frederique Leclerc.
Am Donnerstag stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass ihr neuer Mitverschwörer die Heimlichkeiten bereits minutiös geplant hatte. Monsieur Frederique würde Phipps selbst öffnen, für Nellie hatte er einen geheimen Arbeitsplatz vorbereitet.
»Sie können in meinem Zimmer lernen«, erklärte er. »Dann haben Sie etwas mehr Ruhe. Vor allem sieht Mevrouw Smit-Visser Sie nicht, wenn sie doch mal reinkommt. Das passiert zwar selten, ist aber möglich. Wo ist er denn nun, Ihr künftiger Doktorvater?« Er grinste.
Im gleichen Moment ertönte auch schon die Türglocke, und tatsächlich stand Phipps mit seinem Geigenkasten sowie einer Aktentasche vor der Tür. Frederique führte ihn in den Salon, und Nellie strahlte ihn an.
»Hat das nicht wunderbar geklappt?«, fragte sie euphorisch. »Erzähl mir schnell, wie es dir geht und wie die ersten Vorlesungen waren. Hast du mitgeschrieben?«
Phipps wirkte etwas überrumpelt, berichtete dann allerdings, dass sein Quartier in Ordnung war, die Mitbewohner nett und das Studium anstrengend. Um alles mitzubekommen, musste er sich sehr konzentrieren. Obendrein ging es anfänglich noch gar nicht um Tiere, sondern um Physik und Chemie.
»Das brauchst du eigentlich nicht«, behauptete er.
Nellie blitzte ihn an. »Wenn ich das nicht brauchen würde, müsstest du es doch wohl nicht studieren, oder? Es wird sich um Grundlagenwissen handeln. Also zeig mal her …«
Sie wartete ungeduldig, bis Phipps eine Kladde mit seinen Mitschriften sowie die zugehörigen Lehrbücher ausgepackt hatte.
»Und was soll ich so lange machen?«, fragte der junge Mann. »Wo sind wir hier überhaupt? Das Haus … die Wohnung …«
»Ist eine Musikschule«, bemerkte Frederique Leclerc. »Und ich bin der Lehrer. Mademoiselle Van der Heyden meinte, Sie würden gern das Geigen- und Klavierspiel erlernen.«
Nellie lächelte. »Überraschung!«, sagte sie vergnügt. »Genau wie ich gesagt habe: Du hilfst mir, und ich helfe dir.«
Phipps schluckte. So langsam begann er zu begreifen. Schließlich strahlte er.
»Dann packen Sie mal aus«, ermutigte Frederique ihn und wies auf die Geige.
Kurz darauf war er es, der überrascht war. Phipps’ Spiel verzauberte ihn vollkommen. Nellie zog sich zurück, um sich in Ruhe über ihre Bücher beugen zu können, und versuchte, die erste Chemievorlesung zu rekonstruieren, wobei sie sich Notizen machte. Nur mit halbem Ohr bekam sie mit, dass Phipps und Frederique intensiv zu arbeiten begannen. Dem jungen Musiker machte es anscheinend größten Spaß, dem Geigenspiel des Naturtalents Schliff zu geben.
Alle drei waren mehr als zufrieden, als die Stunde endete.
»Klavier habe ich allerdings noch nie gespielt«, bemerkte Phipps noch, bevor sie sich verabschiedeten. »Da bin ich wirklich Anfänger.«
»Sicher nicht lange«, sagte Frederique zum Abschied.
Das erste Semester in Utrecht verging wie im Flug für Phipps und Nellie. Beide lebten für die Stunden im Haus der Mevrouw Smit-Visser. Phipps spielte schon nach wenigen Wochen besser Klavier als Nellies Zimmergenossin Nore nach etlichen Jahren, und Nellie saugte den Lehrstoff des tiermedizinischen Vorstudiums auf wie ein Schwamm. Mit Frederique Leclerc verband sie beide bald eine Freundschaft. Alle freuten sich diebisch, als sie erste Klippen umschifften wie den Besuch Mevrouw Smit-Vissers in Phipps’ Geigenstunde. Die alte Dame hatte das virtuose Spiel gehört und wollte nun sehen, welcher von Frederiques Schülern sich da als solchermaßen talentiert entpuppte. Sie hörte andächtig zu, während Nellie in Frederiques Zimmer Blut und Wasser schwitzte. Aber natürlich gab es keinen Grund für Mevrouw Smit-Visser, das Zimmer ihres Untermieters zu inspizieren. Voll des Lobes ging sie wieder, und Frederique konnte Nellie befreien.
Schließlich nahte jedoch das Ende des Semesters, und damit kamen die Prüfungen. Nellie kämpfte mit der Aufgabe, selbstständig eine Schürze zu nähen, und Phipps mit Physik und Chemie. Säuren und Basen und ihre Einwirkung auf organische Stoffe waren einfach nicht das Seine.
»Fall bloß nicht durch«, warnte Nellie und strich kurzerhand eine seiner kostbaren Musikstunden, um ihn abzuhören. »Du weißt, ich hab nur zwei Jahre in Utrecht. Wenn du das Chemieseminar nun zweimal machen musst, ist ein halbes davon vergeudet.«
Dann wurde es für Nellie selbst jedoch kritischer als für Phipps. In der St. Elisabeth School stand eine Abschlussfeier an, und von den musizierenden Schülerinnen wurde ein Vortrag erwartet.
»Wenigstens am Klavier«, meinte die Musiklehrerin, als Nellie versuchen wollte, sich damit herauszureden, dass sie noch nicht wirklich viel konnte. »Die Geige ist schwierig, das sehe ich ein. Aber ein einfaches Klavierstück …«
Nervös erschien Nellie zum Unterricht bei Frederique. »Sie müssen mir schnell was beibringen«, bat sie. »Nächste Woche muss ich irgendwas vorspielen.«
»Bis nächste Woche ist das nicht zu schaffen«, beschied der Student sie. »Meine Güte, das hättest du doch voraussehen müssen! Ich hätte dir wenigstens die Grundbegriffe beibringen können, aber in nur zwei Stunden …«
Nellie seufzte und überlegte. Schließlich fand sie die Lösung. »Ich seh’s ein«, sagte sie. »Also drückt mir jetzt ganz fest die Daumen, dass ich mir nicht wirklich was breche, wenn ich gleich vor der Schule beim Aussteigen aus der Droschke falle.«
Nellie simulierte die Handverletzung virtuos und nahm sich zähneknirschend vor, in Zukunft wenigstens ab und zu ein wenig Klavier zu spielen. Sie mimte die Zerknirschte, als ihre Eltern zur Feier anreisten und sie nichts vorzuweisen hatte, das die teuren Privatstunden rechtfertigte. Die Van der Heydens trugen das allerdings mit Fassung. Nellies Mutter zeigte sich hocherfreut über ihre halbwegs gelungene Schneiderei – Nähen lag Nellie mehr als Sticken und Stricken – und ihr Vater war sehr davon angetan, dass sie auch während der Ferien zu Hause ein damenhafteres Verhalten an den Tag legte. Sie kochte keine Ringelblumensalbe mehr, sondern Karamellpudding, und von einem Universitätsstudium war nicht mehr die Rede.
Phipps’ Vater war ebenfalls zufrieden – sein Sohn hatte all seine ersten Prüfungen mit der Mindestnote bestanden. »Im nächsten Semester wird es praxisorientierter, das wird dir mehr liegen«, hoffte er. »Du kannst gleich morgen in der Praxis helfen, dann arbeitest du dich schon etwas ein.«
Doktor De Groot machte seine Ankündigung wahr und bestand auf Phipps’ Anwesenheit in den Sprechstunden. Phipps hasste folglich jeden einzelnen Tag seiner Ferien, während Nellie ihn glühend beneidete. Sie waren beide froh, als sie wieder im Zug nach Utrecht saßen.
»Bei uns kommt demnächst Anatomie dazu«, berichtete Phipps mit leidendem Gesichtsausdruck. »Und Papa hat gestern schon mal einen Hund mit mir seziert. Ich hasse es, an diesen toten Tieren herumzuschneiden …«
»Es geht aber nicht anders«, meinte Nellie. »Wir können schließlich nicht an lebenden Tieren das Operieren üben.«
»Wie stellst du dir das überhaupt vor mit dem ›wir‹?«, erkundigte sich Phipps. »Ich kann dir die toten Tiere nicht mit zu Mevrouw Smit-Visser bringen.«
Nellie lachte. »Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte sie gelassen. »Ich freu mich auch nicht gerade auf das nächste Schuljahr. Im nächsten Halbjahr beginnen wir mit Gesellschaftstanz. Nore und Elsa können sich vor Aufregung kaum halten, sie haben schon vor den Ferien von nichts anderem mehr gesprochen. Dabei tanzen wir nur miteinander – erst im letzten Schuljahr gibt es gelegentlich mal einen Tanztee mit ausgesuchten jungen Herren.«
»Ich würde lieber tanzen als sezieren«, maulte Phipps.
Nellie zuckte mit den Schultern. »Wir werden das schon beide überstehen.«
Im nächsten Semester wurde zwar Anatomie unterrichtet, aber noch nicht seziert, Nellie konnte also weiterhin einfach mitlernen. Das Tanzen gefiel ihr ganz gut, außerdem entdeckte sie ein gewisses Talent für das Zeichnen. Zeichnen und Malen ergänzte in diesem Halbjahr den Unterricht in Kunstgeschichte, und Nellie schaffte es, die Realität sehr gut nachzubilden. Für das Frühlingskonzert übte sie halbherzig eine kleine Etüde am Klavier ein – Frederique und Phipps lauschten gleichermaßen gequält, wenn sie sich hindurchkämpfte.
Schließlich betrat sie mit klopfendem Herzen das Podium und hämmerte verbissen in die Tasten. Der anschließende, eher spärliche Applaus gab ihr die Möglichkeit, den Kommentar ihrer Musiklehrerin mitzuhören.
»Für all die Zeit, die sie mit Musikstunden verbringt, spielt sie bemerkenswert schlecht«, raunte Mevrouw Van Doorn Mevrouw Verhoeven zu.
Die Rektorin zuckte mit den Schultern. »Manchem ist es eben nicht gegeben«, murmelte sie. »Dafür zeichnet sie recht nett, wenn ich Mevrouw De Haan da richtig verstanden habe.«
Die Kunstlehrerin hatte sich eigentlich über Nellie beschwert. Statt Porträts oder Blumenbilder hatte sie anatomische Zeichnungen bei ihr gefunden. Nellie hatte die Illustrationen in Phipps’ Anatomiebuch kopiert und war in äußerste Erklärungsnot geraten, als Mevrouw De Haan sie entdeckt hatte.
Im vierten Semester wurde es dann wirklich ernst mit Phipps’ Anatomiestudium. Mehrere Stunden in der Woche verbrachten die Studenten im Sezierraum, und Nellie wurde wieder einmal vom Neid zerfressen. Immerhin genoss sie im letzten Schuljahr an der St. Elisabeth School mehr Freiheiten. Die Mädchen durften das Schulgelände allein verlassen, um zum Beispiel kleine Besorgungen zu machen. Nellie führte der erste Weg in ein Geschäft im Universitätsviertel. Sie hatte ihr Taschengeld lange gespart und erstand nun stolz ein vollständiges Operations- und Präparierbesteck.
»Ein Geschenk für den Herrn Bruder?«, fragte der Verkäufer. »Oder gar für den künftigen Gatten?«
Nellie biss sich auf die Lippen. Dem Mann schien gar nicht aufgefallen zu sein, wie wählerisch sie bei der Auswahl der Skalpelle und Klingen gewesen war und wie viel Fachkenntnis sie dabei bewiesen hatte. Dass eine Frau diese Dinge für sich selbst kaufte, war für ihn wohl völlig undenkbar.
Der Eisenwarenhändler, bei dem sie anschließend ein paar Mäuse- und Rattenfallen erstand, wunderte sich dagegen in keinster Weise. Anscheinend hielt man Frauen zwar für zu zartfühlend, um bei Hunden und Katzen Blut zu sehen. Kleinen Nagern den Garaus zu machen, traute man ihnen dagegen durchaus zu.
Nellie tat die Ratte leid, die sie am folgenden Tag in der Speisekammer der Schullehrküche fing, doch sie packte sie trotzdem sorgfältig ein und nahm sie zur nächsten Musikstunde mit. Phipps und Nellie pflegten den Klavier- und Geigenunterricht neuerdings auszuweiten, sie nutzten Nellies neue Freiheiten für Spaziergänge im Park oder gemeinsames Lernen in einem Kaffeehaus.
Für die Sache mit der Ratte würde allerdings Frederiques Zimmer im Haus der Mevrouw Smit-Visser herhalten müssen. Nellie wappnete sich gegen dessen Protest.
»Wir werden bestimmt nichts schmutzig machen«, beteuerte sie. »Ich hab extra einen Klapptisch gekauft, und es fließt auch kein Blut, wenn das Herz nicht mehr schlägt.«
Frederique wollte sich vor Lachen ausschütten. »Phipps wird begeistert sein«, erklärte er. »Weißt du übrigens, dass er ein Lied für dich geschrieben hat? Er traut sich nur nicht recht, es vorzutragen.«
Nellie winkte ab. »Ich kenne es doch längst. Phipps sagt immer, für ihn sei jeder Mensch eine Melodie. Und meine hat er mir vor Jahren schon vorgespielt.«
»Inzwischen hat er das ausgebaut. Und ich kann’s nicht leugnen, man erkennt dich darin wieder.«
Frederique setzte sich ans Klavier und spielte das Stück an. Es klang schnell und fordernd, lebhaft und verspielt, man meinte, Tierstimmen und Hufschlag herauszuhören, Humor ebenso wie Zielstrebigkeit. Das Ende klang fast wie ein Triumphmarsch.
Nellie lächelte. Ganz offensichtlich glaubte Phipps an sie. Da sollte er sich jetzt auch nicht querstellen, wenn es einen Schritt weiterging mit ihrer Ausbildung.
»Die Todesursache steht fest«, sagte Nellie, als sie die Ratte schließlich auspackte. »Stumpfes Trauma durch Schlag auf den Hinterkopf. Sie ist heute Nacht in die Falle gegangen. Ein ganz frischer Kadaver. Stinkt noch kaum. Skalpelle hab ich hier. Also legen wir los …«
Phipps drehte sich beim Anblick der toten Ratte fast der Magen um. Aber Nellie hatte natürlich recht. Auch an Nagern konnte man die inneren Organe studieren. Widerwillig wies er Nellie darin ein, den ersten Schnitt zu setzen. Sie zeigte sich dabei geschickter als er selbst und verdrehte die Augen, als er ihr ein Kompliment machte.
»Ich hab jetzt bald zwei Jahre damit zugebracht, Stoffe zuschneiden zu lernen – mal ganz abgesehen vom korrekten Tranchieren eines Bratens und von der Herstellung possierlicher Röschen aus Radieschen, um damit kalte Platten zu garnieren. Es gibt viele nützliche Dinge, die man in Mädchenpensionaten lernt. Warte erst mal, bis du mich nähen siehst!«
Nellie legte ihr »Puddingabitur« letztlich fast nebenbei ab. Der Lehrstoff an der St. Elisabeth School war begrenzt, in den wenigen wissenschaftlichen Fächern bestand sie mühelos und mit hervorragenden Noten. Ihr Meisterstück in der Schneiderei fiel gut aus, und wenn sie sich konzentrierte, brachte sie inzwischen sogar ein recht schmackhaftes Menü zustande. Um eine wirklich gute Köchin zu werden, fehlte es ihr zwar an Geduld, aber im Grunde war das auch nicht übermäßig wichtig für die Absolventinnen der Schule. Die meisten Schülerinnen würden sehr bald begüterte Männer heiraten und reichlich Hauspersonal haben, allem voran eine Köchin.
Nellie trug mit einem erneut jämmerlich gespielten Klaviervortrag zur Abschlussfeier bei. Sie schämte sich zwar ein wenig, doch ihre Mutter zeigte sich begeistert – wenngleich ihre Großmutter säuerlich guckte. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war Henriette Van de Velde recht musikalisch.
»Ich … hör ehrlich gesagt lieber zu«, sagte Nellie, als sie nach der Feier zu ihrer Familie stieß und ihr Abiturzeugnis präsentierte. »Das Klavierkonzert, das wir neulich besucht haben, war wunderschön, Großmutter. Dagegen fällt meine Klimperei natürlich ab.« Sie war in diesen Tagen nervös und deprimiert, denn sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie es nun für sie weitergehen sollte. Auf keinen Fall konnte sie nach Ledegem zurückkehren. Sie musste in Phipps’ Nähe bleiben, um weiter mit ihm studieren zu können. Der passende Geistesblitz kam ihr dann genau in dem Moment, in dem sie versuchte, ihr stümperhaftes Klavierspiel zu entschuldigen. »Überhaupt werde ich das alles vermissen«, fügte sie traurig hinzu. »Die Ausstellungen, die Konzerte … Ich habe dich so gern begleitet, Großmutter. Und gerade jetzt, wo die Ballsaison bevorsteht …«
Nellie war kurz zuvor achtzehn geworden, und Henriette Van de Velde hatte davon gesprochen, dass sie nun in die Gesellschaft eingeführt werden könne.
Ihre Mutter seufzte. »Ja, kulturell hat Ledegem natürlich nichts zu bieten. Und Kortrijk … Na ja, da bewegt sich schon etwas, aber es bleibt Provinz. Es wird nicht einfach sein, Cornelia standesgemäß zu verheiraten …«
Nellie bemühte sich, besorgt auszuschauen. Henriette Van de Velde blickte überlegend von ihrer Tochter zu ihrer Enkelin sowie zu ihrem Mann, der schon wieder in höheren Sphären zu schweben schien und die Gesellschaft kaum wahrnahm. Wenn Nellie abreiste, würde sie wieder auf seine Begleitung angewiesen sein, wenn sie nicht allein zu ihren geliebten kulturellen Veranstaltungen gehen wollte.
»Vielleicht könnte Cornelia ja noch ein oder zwei Jahre bei uns bleiben«, meinte sie schließlich. »Sie ist uns mehr als willkommen. Eine so angenehme, zurückhaltende junge Frau …«
Nellie hatte die Wochenenden bei den Van de Veldes meist lesend verbracht – ein medizinisches Fachbuch versteckt unter dem Umschlag eines Gedichtbandes oder Gesellschaftsromans. Ihr Großvater kontrollierte nie, welche Bücher sie sich aussuchte. Natürlich blieb es ihr nicht erspart, mit ihrer Großmutter und deren häufigen Besucherinnen Konversation zu machen, doch das beherrschte sie inzwischen perfekt.
Josefine van der Heyden sah ihre Tochter verwundert an. Zurückhaltend war eigentlich das letzte Adjektiv, das sie zu ihrer Beschreibung gebraucht hätte, aber selbstverständlich hatte sie sich gebessert, seit sie die St. Elisabeth School besucht hatte.
»Ich würde sehr gern die Aufgabe übernehmen, Cornelia in die Gesellschaft einzuführen«, sprach Henriette weiter. »Sie würde sozusagen … den letzten Schliff erhalten. Und falls sich dabei ein passender Bewerber um ihre Hand finden wird …«
Nellies Herz klopfte heftig. Ihre Großmutter hatte genauso reagiert, wie sie gehofft hatte. Jetzt mussten nur noch ihre Eltern zustimmen.
Josefine van der Heyden überlegte. »Was meinst du denn dazu?«, fragte sie ihren Gatten, der ähnlich abwesend wie sein Schwiegervater neben ihr stand.
Dr. Van der Heyden zuckte mit den Schultern.
»Schaden kann’s Nellie sicher nicht«, bemerkte er. Wahrscheinlich dachte er an den Wurf kleiner Katzen, den seine Tochter während der letzten Sommerferien gefunden und in seinem Gartenschuppen aufgepäppelt hatte. Er hielt Nellies frauliches Verhalten zwar für angemessener als früher, aber längst nicht für mustergültig. »Auch wenn es natürlich schöner wäre, sie in Kortrijk zu verheiraten. Man will seine Enkel doch um sich haben.«
Das wiederum wunderte Nellie, sie hatte bei ihrem Vater bislang kein besonderes Interesse an Kindern feststellen können.
»Ich komme bestimmt zurück!«, beeilte sie sich zu versichern. »Aber die Ballsaison hier in Utrecht … Ich hab so lange davon geträumt.« Sie bemühte sich um einen schwärmerischen Ausdruck, wozu sie nur an die kleinen Katzen denken musste.
Ihre Mutter sah sie wohlgefällig an. »Den Winter über sollten wir sie auf jeden Fall bleiben lassen«, entschied sie. »Danach kann man ja weitersehen.«
Nellie atmete auf. Zumindest das nächste Semester war gesichert.
Kurz nach der Abschlussfeier – Nellie war gerade bei ihren Großeltern eingezogen – kam es allerdings zu einer weiteren Bedrohung für die Weiterführung ihrer Studien.
Nellie hatte beschlossen, mit dem Ende ihrer Schulzeit auch die Klavier- und Geigenstunden zu beenden.
»Es geht einfach nicht weiter«, erklärte sie dem enttäuschten Phipps. »Im Pensionat ist es nicht aufgefallen, dass ich praktisch nie geübt habe. Aber meine Großmutter wird das kontrollieren. Sie würde auch merken, dass ich gar keine Geige habe, ich hab ihr bislang nur von den Klavierstunden erzählt. Auf jeden Fall würden wir auffliegen, und das darf einfach nicht sein. Außerdem können wir uns jetzt überall sonst treffen. Ich werde bestimmt oft unterwegs sein – allein die Ankleidetermine für die Ballsaison … Meine Großmutter lässt mir Berge von Kleidern für alle möglichen Anlässe schneidern.«
Phipps sah das ein – während Frederique nicht hinnehmen wollte, dass es nun vorbei sein sollte mit dem gemeinsamen Musizieren. Zwar konnten sich die Männer immer noch in ihrer Freizeit treffen, aber viel weiterkommen würde Phipps dabei wohl nicht.
»Andererseits habe ich dir sowieso schon alles beigebracht, was ich selbst kann«, meinte der junge Musiker. »Mit der Geige … Ich sag’s ja nicht gern, aber da bist du längst besser als ich. Es ist eine Schande, dass du nicht Musik studieren kannst. Tierärzte gibt es viele, so begabte Musiker dagegen …«
»Ein Musikstudium würde mein Vater nicht unterstützen«, erklärte Phipps zum wiederholten Mal und schloss seinen Geigenkasten. »Ich säße von einem Moment auf den anderen ohne Geld da. Und sag mir nicht, ich könnte ja Unterricht geben wie du. Damit verdiene ich die Studiengebühren nie und nimmer.«
Mit dem letzten Argument hatte er Frederique auf eine Idee gebracht. Bei Nellies letzter Klavierstunde eröffnete er seinem Freund und Schüler, dass er einen Vorspieltermin für ihn im Konservatorium ausgemacht hatte.
»Professor Grimaldi wird dich anhören«, erklärte er enthusiastisch. »Und ich bin mir sicher, dass man dir anschließend ein Stipendium anbietet. Mit Mevrouw Smit-Visser hab ich auch schon gesprochen. Sobald ein Zimmer frei wird – und soweit ich weiß, hat Ulrich im Winter sein erstes Engagement in Leipzig –, kannst du hier einziehen und dir die Miete mit Klavier- und Geigenstunden verdienen. Wenn das nicht allzu schnell anläuft, wird sie dir das Geld stunden. Sie kennt dich ja und möchte dein Talent fördern. Los, Philipp, keine Widerrede! Du musst das einfach machen.«
Phipps ließ sich schließlich überreden, zumindest das Vorspielen zu versuchen. Nellie erwartete ihn in einem Kaffeehaus nahe dem Konservatorium. Als er endlich herauskam, hatte er rote Flecken auf den Wangen, wirkte aufgewühlt, aber alles andere als glücklich.
»Was ist denn los? Hat es ihm nicht gefallen?«, fragte Nellie verwundert und winkte dem Kellner, um eine Schokolade für Phipps zu bestellen. Er liebte dieses Getränk. Außerdem hatte es eine tröstende Wirkung.