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Nach ihrer Flucht aus Deutschland sind Nellie und Walter sowie seine Schwester Maria und deren Ehemann Bernhard in Neuseeland endlich in Sicherheit. Auf dem Gestüt der von Gerstorfs können die beiden Tierärztinnen eine neue Praxis eröffnen. Doch das anfängliche Glück währt nicht lange. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sind auch in Neuseeland zu spüren. So heuern Maria und Bernhard schließlich als Tierärzte bei einem Zirkus an, was sie nach Australien führt. Nellie und Walter stehen plötzlich vor ganz anderen Herausforderungen, vor allem machen sie sich große Sorgen um Nellies Tochter Grit ...
Eine fesselnde Familiengeschichte vor dem Hintergrund der 1930er- und 1940er-Jahre um zwei Frauen, die nie die Hoffnung aufgeben
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Seitenzahl: 839
Nach ihrer Flucht aus Deutschland sind Nellie und Walter sowie seine Schwester Maria und deren Ehemann Bernhard in Neuseeland endlich in Sicherheit. Auf dem Gestüt der von Gerstorfs können die beiden Tierärztinnen eine neue Praxis eröffnen. Doch das anfängliche Glück währt nicht lange. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise sind auch in Neuseeland zu spüren. So heuern Maria und Bernhard schließlich als Tierärzte bei einem Zirkus an, was sie nach Australien führt. Nellie und Walter stehen plötzlich vor ganz anderen Herausforderungen, vor allem machen sie sich große Sorgen um Nellies Tochter Grit … Eine fesselnde Familiengeschichte vor dem Hintergrund der 1930er- und 1940er-Jahre um zwei Frauen, die nie die Hoffnung aufgeben
Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.
SARAH LARK
DIETIERÄRZTIN
Voller Hoffnung
ROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021/2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Landkarten: Kirstin Osenau unter Verwendung von © Epifantsev; solarseven; Save nature and wildlife; Andrey_Kuzmin; PON-PON/Shutterstock
Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von © Ildiko Neer/trevillion.com; © Dmitry Pichugin/shutterstock.com; Adwo/shutterstock.com; PON-PON/shutterstock.com; Jukyelabs/shutterstock.com; coz1421/shutterstock.com; Peter Gudella/shutterstock.com; TomasDvoracek.cz/shutterstock.com
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0786-2
luebbe.de
lesejury.de
Auf dem Meer
Neuseeland – Auckland, Onehunga
1929
Das Meer lag wie eine graue Plane unter einem blassen Himmel. Nellie spürte nur ein langsames Auf und Ab, während sich das Dampfschiff durch die Wellen schob. Dabei war ihr dieser erste Teil der Reise eigentlich als der stürmischste und beschwerlichste der Überfahrt nach Neuseeland geschildert worden. Seit sie sich am Tag zuvor in Bremerhaven eingeschifft hatten, gab es jedoch kaum Wind, und bislang war auch niemand seekrank geworden. Nellie befand, dass dies ideale Voraussetzungen waren, um sich mit Marias Ansinnen an den Kapitän der Adelinde zu wenden. Er konnte eigentlich nicht zu beschäftigt sein, um sie anzuhören. Ob er ihre Bitte ernst nehmen würde? Walter hatte sich am Morgen eher amüsiert, als Bernhard an ihre gemeinsame Kabinentür geklopft hatte, um ihnen von Marias Problem zu erzählen.
»Sie hat auf dem Boden geschlafen?«, hatte er lachend gefragt.
Bernhard, ein mittelgroßer Mann mit blondem Haar und sanften blauen Augen, hatte den Kopf geschüttelt.
»Natürlich nicht«, hatte er beleidigt erklärt. »Ich habe auf dem Boden geschlafen. Aber ich möchte das ungern während der ganzen Reise tun, und Maria ist mit der Lösung auch nicht sehr glücklich.«
»Sie hat deinen Heiratsantrag aber doch angenommen?«, hatte sich Nellie vergewissert.
Als es am Tag zuvor zur Verteilung der Kabinen gekommen war, hatte Maria sich bereit erklärt, die ihre mit Bernhard zu teilen – obwohl sie die Nähe anderer Menschen gewöhnlich mied.
»Ja«, hatte Bernhard bestätigt. »Allerdings hat sie irgendwann im Laufe ihrer Erziehung zur höheren Tochter verinnerlicht, dass es für eine Frau richtig ist, erst nach der Eheschließung mit einem Mann das Bett zu teilen. Daran will sie sich nun halten.«
Nellie hatte die Stirn gerunzelt. Sie wusste, dass ihre Freundin Maria von einmal getroffenen Entscheidungen kaum abzubringen war – erst recht, wenn es um etwas ging, was sie als richtig oder falsch einschätzte.
»Konntest du nicht damit argumentieren, dass Nellie und ich ebenfalls miteinander schlafen, obwohl wir nicht verheiratet sind?«, hatte Walter gefragt, immer noch amüsiert.
Bernhard hatte das Gesicht verzogen. »Das ist etwas anderes, sagt sie«, hatte er erläutert. »Weil Nellie doch noch mit Philipp verheiratet ist.«
Walter hatte sich an die Stirn gegriffen. »Also Ehebruch ist in Ordnung, dagegen vorehelicher … äh …«
»Ach komm, du kennst Maria!«, war Nellie ihm ins Wort gefallen.
Eigentlich kannte Walter seine jüngere Schwester besser als alle anderen Menschen, außer vielleicht Nellie. »Sie hält sich an Regeln, und das ist auch gut so, sonst würde sie viel häufiger irgendwo anecken. Aber was gedenkt sie denn nun zu tun? Sollen wir doch die Kabinen tauschen?«
Nellie hatte Maria am Vortag angeboten, mit ihr eine Kabine zu teilen, obwohl sie lieber mit Walter zusammen sein wollte. Sie beide kannten sich seit Jahren und standen einander sehr nahe. Nellie akzeptierte Marias Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen.
Bernhard hatte den Kopf geschüttelt. »Sie will heiraten«, hatte er gemeint. »Möglichst heute noch. Der Kapitän soll uns trauen.«
Und hier stand Nellie nun an Deck des Schiffes, ließ sich von den Wellen wiegen und wartete darauf, den Kapitän des Frachters mit Marias Ansinnen zu konfrontieren. Sie fröstelte, obwohl sie einen Wintermantel trug. Es war bereits Mai, dennoch war es kalt auf See. Zum Glück erschien Kapitän Bladder schon wenige Minuten, nachdem sie nach ihm geschickt hatte. Er lächelte Nellie zu. Offensichtlich erfreute er sich an ihrem Anblick. Sie war groß und schlank, hatte rotblondes Haar und wache braune Augen. Nellie trug ihr Haar kurz. Sie hatte sich vor einigen Jahren für einen modischen Bob entschieden und fand diese Frisur genauso praktisch wie die langen Hosen, die in den letzten Jahren endlich auch für Frauen salonfähig geworden waren – zumindest in der Großstadt Berlin.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Dr. De Groot?«, fragte Bladder nun höflich in bemühtem Hochdeutsch. »Sind Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden? Ich weiß schon, dass die Kabinen sehr einfach sind …«
Der Kapitän bemühte sich deutlich um Verbindlichkeit. Dabei passte die förmliche Sprache gar nicht zu diesem Mann, der Nellies Vorstellung von einem alten Seebären ziemlich genau entsprach. Kapitän Bladder war untersetzt, sein wettergegerbtes Gesicht umrahmte ein Bart. Die Kapitänsmütze saß etwas schief auf seinem vollen blonden Haar.
Nellie winkte ab. »Die Kabinen sind wunderbar, vielen Dank«, erklärte sie. »Wobei es meinem Mann ohnehin in erster Linie darum geht, wie das Pferd untergebracht ist. Er hätte wohl am liebsten im Verschlag neben Erlkönig geschlafen. Aber wir haben ein anderes Problem.«
Gleich darauf konnte sie mit ansehen, wie Kapitän Bladders Kinnlade sank.
»Ik heb noch nie een getraut«, entfuhr es ihm in reinstem Platt.
Nellie musste lachen. Sie glaubte das unbesehen. Schließlich befehligte er ein Frachtschiff, das nur ausnahmsweise Passagiere mitnahm, und keinen Luxusdampfer, dessen Kapitän eher mal mit den seltsamen Wünschen kapriziöser Gäste konfrontiert wurde.
»Ich bin überzeugt, dass die Braut die Trauformel auswendig kann«, versuchte sie den Seemann zu beruhigen. »Wir können das für Sie aufschreiben. Kommen Sie! Haben Sie von so einer Möglichkeit nicht Ihr Leben lang geträumt?«
Nellie selbst war immer bereit, sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Abenteuer reizten sie.
»Nee«, erklärte der Kapitän unumwunden. »Sonst wär ik ja woll Pastor worn. Aber wenn de Deern drauf bestaht … Sallen wi bloß maken, solang de See so ruhig is’. Nich’ dat mi dat Brautpaar noch över de Reling geweht wird.«
Nellie nickte. »Heute Mittag?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Der Kapitän zog eine Taschenuhr. »Klock eens!«, erklärte er. »Ik mutt mi ja noch fien maken.«
Drei Stunden später führte Walter seine Schwester förmlich über das Deck, während ein Matrose Treulich geführt auf der Mundharmonika spielte. Nellie musste über das Bild lächeln. Marias und Walters gestrenge und sehr auf ihren Adelsstand bedachte Eltern hatten sich die Hochzeit ihrer Tochter sicher anders vorgestellt. Dennoch bot das Geschwisterpaar einen schönen Anblick. Beide waren dunkelhaarig und hatten auffallend blaue Augen. Walter war groß und bewegte sich geschmeidig, Maria war klein und zierlich und trat eher verhalten und ungelenk vor den Kapitän, der sich gemeinsam mit seinem Ersten Offizier und dem Zahlmeister an Deck platziert hatte. Ein Matrose füllte Gläser mit Kööm, einem Kümmel-Anis-Schnaps – wahrscheinlich der Flüssigkeit, die Champagner auf diesem Schiff am nächsten kam. Die Offiziere hatten sich durchweg in Galauniform geworfen, Kapitän Bladder grinste und schwenkte eine Bibel. Er warf bewundernde Blicke auf die Braut – für deren Ausstattung Nellie den ganzen Vormittag ihr Bestes gegeben hatte.
Maria trug ihr langes Haar offen. Nellie hatte es gebürstet, bis es glänzte. In Ermangelung von Blumen hatte sie den Federschmuck von zwei Hüten und Stirnbändern entfernt und daraus einen Kranz gewunden. Er hielt einen blaugrünen Seidenschal als Schleier in Marias Haar, der wunderschön mit ihren blauen Augen harmonierte. Maria trug das bessere der beiden Kleider, die sie in einem kleinen Notkoffer mit in die Kabine genommen hatte, das restliche Gepäck lagerte unter Deck. Das dunkelblaue Kleid mit tief sitzender Taille und glockig weitem Rock stand ihr hervorragend. Marias Haut war blass, doch sie schimmerte wie Alabaster. Bernhard, der mit Nellie als seiner Trauzeugin am Rande der Szenerie gewartet hatte, blickte ihr mit leuchtenden Augen entgegen.
Nellie nahm derweil die Bibel an sich. »Die brauchen wir gar nicht«, sagte sie lächelnd zum Kapitän. »So ohne Pastor …« Bewusst verzichtete sie darauf, dem Kapitän und seinen Männern zu verraten, dass Bernhard Jude war.
Der junge Mann trat nun neben seine Braut. Er trug einen einfachen braunen Anzug. Walter hätte elegantere Garderobe gehabt, aber er war größer als Bernhard, und seine Sachen passten ihm nicht.
»Wenn wir etwas mehr Zeit gehabt hätten, hätte ich dir was ändern können«, hatte Nellie bedauernd gesagt. Sie verstand sich aufs Nähen. Bevor sie sich ihren Traum, Tiermedizin zu studieren, hatte erfüllen können, hatte sie in Utrecht eine Hauswirtschaftsschule besucht.
Nun war es Maria völlig egal, was ihr Bräutigam anhatte, obwohl sie es zweifellos registrierte. Sie würde sich noch nach Jahren an jede Kleinigkeit der Zeremonie erinnern, ihr Gedächtnis war legendär. Umso weniger sicher fühlte sie sich jedoch in vielen Alltagssituationen. Unsicher blickte sie zu Bernhard auf und legte ihre Hand zögernd in die seine, als er sie ihr entgegenstreckte. Maria war wie Nellie bereits Mitte dreißig, sie wirkte hingegen wie ein ganz junges Mädchen.
»Dann woll’n wi mal!«, eröffnete der Kapitän die Zeremonie. »Ik mutt da jetzt wat to seggen, nich’?« Nellie seufzte. Sie hätte ihm vielleicht nicht nur die Trauformel aufschreiben, sondern auch noch eine passende Rede verfassen sollen. »Nu, wi heb hier also twee Lüüd, die woll’n nich’ mehr alleen durch ihr Leven segeln, sondern sück tosamendoon. Gar nich’ mal so verkehrt, mit nur eim Segel kommt man ja nich’ wied – jedenfalls nicht bis Neuseeland. Un dat Beste wär overhoopt, wenn sich tominnst een von de beiden as Dampmaschien entpuppen wüürd …«
Walter lachte, Maria sah verständnislos zu Bernhard auf. »Metaphern?«, fragte sie.
Sie neigte dazu, alles wörtlich zu nehmen, was jemand zu ihr sagte, aber sie wusste schon, wann das nicht angebracht war.
»Wi Seelüüd seggen: Hinter jedem Seemann steht ’ne starke Frau … manchmal in jedem Hafen eine … aber ihr seid beide Landratten, und die bleiben sich gefälligst treu … wie … wie so’n Hund. Ji seid doch Tierärzte, nich’? Da sallt ji euch wohl drup verstahn … Wi heb ja hier nur ’n Schiffskattje …« Kapitän Bladder stockte.
Doch dann übernahm zur allseitigen Überraschung der Bräutigam das Wort. »Mit der Zeit«, sagte Bernhard sanft, »lernt man, seinen Kurs nach dem Licht der Sterne zu bestimmen, und nicht nach den Lichtern jedes vorbeifahrenden Schiffes. Das habe ich mal gelesen, und es fiel mir eben wieder ein, nun, da wir auf einem Schiff heiraten. Es passt sehr gut auf uns beide, denn du, Maria, warst immer mein Stern – du hast mir geholfen, meinen Kurs zu finden, und mich aufgefangen, wenn ich aus der Bahn geworfen wurde. Ich liebe dich, Maria, und ich werde dir immer treu sein …«
»Metaphern?«, fragte Maria wieder.
Bernhard lächelte, dann umfasste er ihre rechte Hand sanft mit seiner linken und tippte mit dem rechten Zeigefinger ein paar Morsezeichen – ein Spiel, das zur Geheimsprache der beiden geworden war. Auf Marias Gesicht erschien der Anflug eines Lächelns.
»Ich werde immer nur deine Sprache sprechen«, übersetzte Walter für Nellie. Er hatte das Morsealphabet als Kind gelernt, weil seine Schwester so fasziniert davon gewesen war.
Kapitän Bladder räusperte sich. »Sie könnten hier glatt als Funker anfangen, junger Mann«, bemerkte er plötzlich in bestem Hochdeutsch. »Soll ich jetzt …?« Er wandte sich fragend an Nellie und die Brautleute. Nellie nickte ihm zu. »Na denn: Willst du, Maria Henriette von Prednitz, den hier anwesenden Bernhard Benjamin Lemberger zum Mann nehmen, also … äh … die Ehe mit ihm eingehen, in Gesundheit und Krankheit und so, dann antworten Sie mit Ja.«
»Sie hätten Bernhard zuerst fragen müssen«, bemerkte Maria. »Und Sie müssen entweder Du sagen oder Sie.«
»Das ist wirklich egal!«, sagte Bernhard. »Nun sag schon Ja.«
»Ich glaube, es muss schon ganz richtig gemacht werden«, beharrte Maria.
Der Kapitän schnaubte, bevor er noch einmal ansetzte. Diesmal nahm er sich zusammen: »Willst du, Bernhard Benjamin Lemberger, die hier anwesende Maria Henriette von Prednitz zur Frau nehmen, sie lieben und ehren, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod euch scheidet?«
Maria nickte zufrieden.
»Ja«, sagte Bernhard mit fester Stimme.
Er atmete erkennbar auf, als auch Maria mit einem deutlichen Ja antwortete, nachdem Bladder die Frage an sie gerichtet hatte.
»Dann erkläre ich euch in meiner Eigenschaft als Kapitän dieses Schiffes … äh … Kraft meines Amtes zu Mann und Frau. Mast und Schotbruch!« Er grinste. »Allzeit gute Fahrt, und immer ’ne Handbreit Wasser unterm Kiel!«, fügte er hinzu.
»Metaphern«, sagte Bernhard, legte die Arme um Maria und küsste sie vorsichtig.
Nellie atmete auf, als sie sich vertrauensvoll an ihn schmiegte und den Kuss erwiderte.
»Die Nächsten sind dann wir!«, flüsterte Walter ihr zu, und reichte ihr eins der Schnapsgläser, die der Kapitän kurz darauf erleichtert und freigebig immer wieder nachfüllte.
Walter und Nellie waren seit vielen Jahren ein Paar. Sie hatten einander im Krieg kennengelernt – unter eher ungünstigen Umständen. Walter war als Offizier der deutschen Armee in Nellies Heimatland Belgien gekommen, er gehörte zu den Besatzungstruppen der Stadt Kortrijk. Nellie war damals schon als Tierärztin tätig gewesen und hatte sein Pferd behandelt. An eine über den Krieg hinausgehende Beziehung hatten beide nicht geglaubt. Nellie war davon ausgegangen, nach der Befreiung die Vernunftehe weiterzuführen, die sie mit ihrem Jugendfreund Philipp verband. Dann hatte er sie jedoch darum gebeten, ihn freizugeben. Vor dem Krieg hatte er auf Wunsch seiner Eltern Tiermedizin studiert, um die Praxis seines Vaters zu übernehmen. Dabei lagen seine Talente eher auf musikalischem Gebiet. Nun hatte sich ihm die Möglichkeit eröffnet, als Musiker nach Amerika zu gehen. Die Tierarztpraxis sollte Nellie allein weiterführen. Nellies Schwiegervater hatte dies allerdings nicht akzeptiert, sondern ihr umgehend einen männlichen Kollegen vor die Nase gesetzt.
Nellie war daraufhin nach Berlin geflohen, hatte Walters Schwester Maria kennengelernt, die als erste Frau in Deutschland ein Studium der Tiermedizin beendet hatte, und mit ihr in Berlin eine Praxis eröffnet. Einige Jahre später war Bernhard, Marias Studienfreund, zu ihnen gestoßen, ebenso hatte sie Walter wiedergetroffen, der nach dem Krieg einige Jahre untergetaucht war, um einer von seinen Eltern lange geplanten Ehe aus dem Weg zu gehen. Seitdem war das Verhältnis zwischen Nellie und Walter zwar mitunter stürmisch verlaufen – doch letztlich verband sie eine tiefe Liebe.
»Philipp wird die Scheidung doch einreichen?«, erkundigte sich Walter nervös, als Nellie nicht sofort antwortete.
Sie nickte. »Sicher, ich habe alle möglichen Papiere unterzeichnet. Letztlich ist es nur eine Formsache …«
Walter verzog das Gesicht. Beide wussten, dass es nicht ganz so einfach war. Philipp oder Phipps, wie Nellie ihn immer genannt hatte, war viele Jahre, nachdem er ausgewandert war, in Berlin wiederaufgetaucht. Er hatte Karriere gemacht und stand als Zaubergeiger auf der Bühne. Umgehend hatte er damit Grietje, Nellies und seine musikalisch ebenfalls außergewöhnlich begabte Tochter, für sich gewonnen, und wäre es nach Vater und Tochter gegangen, so hätten Phipps und sie ihre Ehe wieder aufgenommen und gemeinsam in Amerika gelebt.
Nellie hatte dies aber abgelehnt. Sie liebte ihren Beruf als Tierärztin, und sie liebte Walter – sie hofften beide, sich den Traum von einer Auswanderung mithilfe einer Erbschaft, die Walter kürzlich gemacht hatte, erfüllen zu können. Nicht nach Amerika, sondern nach Neuseeland – das hatte sich durch einen wunderbaren Zufall so ergeben.
»Sollen wir noch mal nach Erlkönig sehen?«, fragte Nellie, um das Thema zu wechseln.
Sie sprach nicht gern über ihren Mann. Die Wunde, ihre Tochter an ihn verloren zu haben, war noch zu frisch. Grietje war zwar mit Nellies Segen mit ihrem Vater nach Amerika gezogen, da Phipps ihr eine bessere musikalische Ausbildung ermöglichen konnte. Die endgültige Trennung war Mutter und Tochter jedoch sehr schwergefallen, zumal nun viele Tausend Kilometer zwischen ihnen liegen würden. Grietje und ihr Vater würden in Boston leben – eine halbe Weltreise von Neuseeland entfernt.
Walter nickte. »Ich hab schon ein etwas schlechtes Gewissen, ihm all das zuzumuten«, gab er zu.
Der elegante schwarze Hengst war für die Dauer der Überfahrt in einem engen Ständer angebunden. Das Rennpferd hatte letztlich den Ausschlag für die Entscheidung gegeben, nach Neuseeland auszuwandern. Walter hatte ihn an einen neuseeländischen Züchter verkauft und die Stelle als Bereiter angenommen, die Julius von Gerstorf ihm angeboten hatte, um ihm die Einwanderung zu ermöglichen. Auch Nellie, Maria und Bernhard würden in der ehemaligen britischen Kolonie willkommen sein. Das Land – das durch die Cookstraße in eine Süd- und eine Nordinsel geteilt war – litt unter einem starken Mangel an Tierärzten, und laut Julius von Gerstorf würde es den Landwirten völlig egal sein, ob eine Frau oder ein Jude ihre Schafe, Rinder und Pferde behandelte. In Deutschland dagegen war es besonders für Bernhard immer schwieriger geworden, akzeptiert zu werden, und auch die Frauen hatten ständig gegen Anfeindungen kämpfen müssen.
»Erlkönig ist nicht das erste Pferd, das die Reise überleben wird«, meinte Nellie nüchtern. »Und jetzt sind es ja nur noch sechs Wochen. Früher mussten die Pferde drei Monate in den Segelschiffen ausharren, und wenn es zwischendurch Flauten gab, noch länger. Es war richtig, ihn zu verkaufen, Walter, mach dir keine Gedanken.«
Walter nickte widerstrebend. Er liebte den Hengst, mit dem er in den letzten beiden Jahren viele Rennen gewonnen hatte. Allerdings sah er für sich keine Zukunft als Jockey. Er war zwar ein exzellenter Reiter, aber auf den Rennbahnen griff man immer häufiger auf besonders kleine und leichte Männer als Jockeys zurück.
Sie stiegen also die Leiter hinunter, die in den Frachtraum führte. Es roch dort leicht nach Lanolin – Kapitän Bladder beförderte hauptsächlich Luxusgüter, Umzugsgut oder Maschinen nach Neuseeland und Australien und brachte Schafwolle zurück. Kühlräume für Fleischtransporte hatte sein Frachter nicht, und Walprodukte beförderte er nicht, weil er nach eigenen Angaben den Gestank nicht ertragen konnte. So wurden die Pferde nicht durch unangenehme und vielleicht beängstigende Gerüche gequält, lediglich das wochenlange Stillstehen war schwer für sie.
Für Erlkönig wurde die Situation dadurch gemildert, dass im Verschlag neben ihm eine hübsche braune Stute stand. Er hatte nach dem Einladen sofort damit begonnen, sie zu umgarnen. Jetzt begrüßte er Walter und Nellie mit lautem Wiehern, und seine neue Freundin stimmte mit ein. Nellie klaubte eine Möhre aus ihrer Rocktasche und teilte sie für den Hengst und die Stute.
»Wie schade, dass er sie nicht heiraten und dann den Verschlag mit ihr teilen kann«, kommentierte sie lachend. »Wenn sie rossig wird und er nicht an sie rankommt, dürfte ihn das hart treffen.«
»Ach, da steht er drüber«, behauptete Walter. »Auf der Rennbahn gab es auch rossige Stuten. Und wenn wir erst mal da sind … In Neuseeland erwartet ihn ja wohl das Paradies auf Erden.«
Erlkönig sollte auf Epona Station, der Farm der von Gerstorfs, als Zuchthengst dienen, und er würde frei mit seinen Stuten auf der Weide laufen dürfen. In Berlin war das undenkbar für einen so wertvollen Hengst.
Nellie lehnte sich an Walters Schulter. »Und für uns?«, fragte sie. »Glaubst du, es wird auch für uns das Paradies? Es klang ja alles gut, aber es ging so schnell …«
Tatsächlich war die Entscheidung für Neuseeland binnen kürzester Zeit gefallen.
Walter küsste sie. »Zusammen waren wir immer glücklich«, erinnerte er sie. »Selbst im Krieg. Und jetzt … Wir haben Geld, wir können neu anfangen. Erst eine Zeit lang auf der Farm der von Gerstorfs, und dann mit unserem eigenen Hof. Ich werde Pferde trainieren, du wirst deine Praxis haben. Was soll noch schiefgehen?«
Nellie wusste es nicht. Doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sich ihr Leben selten so entwickelte, wie sie es geplant hatte. Jetzt wollte sie optimistisch sein. Das neue Land sollte ihre Erwartungen erfüllen!
In den nächsten Tagen wurde es stürmischer, dann erreichten sie wärmere Zonen. Nellie schwelgte in der Sonne Teneriffas, wo das Schiff Station machte, aber Walter wollte so schnell es ging weiter, um die Stehzeit für den Hengst nicht übermäßig auszudehnen. Maria und Bernhard hatten dazu keine Meinung. Sie verbrachten viel Zeit in ihrer Kabine – Maria schien das Zusammensein mit einem anderen Menschen auf engem Raum zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich zu genießen.
Nellie bemühte sich um das Studium der englischen Sprache und hielt auch Walter und Bernhard dazu an. Sie sprach Niederländisch und Französisch – Letzteres beherrschte Walter ebenso gut. In der Nachkriegszeit, im Büro eines Generals und auf der Rennbahn in Berlin, wo es viele amerikanische und britische Jockeys gab, hatte er auch Bruchstücke des Englischen aufgeschnappt, aber um in einem englischsprachigen Land zu bestehen, war das viel zu wenig. Bernhard hatte in der Schule nur Latein und Griechisch gelernt. Ihm waren neue Sprachen gänzlich fremd. Allerdings hing er an den Lippen ihrer Lehrerin – Maria hatte widerstrebend den Unterricht ihrer Freunde übernommen. Sie selbst konnte Englisch fließend lesen – als Spezialistin für die Krankheiten exotischer Tiere hatte sie viele englischsprachige Bücher studieren müssen. Gesprochen hatte sie die Sprache jedoch nie, und so mussten sie sich die Aussprache erst erarbeiten. Mithilfe des Ersten Offiziers des Schiffes ging das einigermaßen, es war nur zeitraubend. Nellie war ganz froh, dass es auf der langen Schiffsreise nicht viel anderes zu tun gab.
Als sie den Naturhafen von Auckland schließlich erreichten, waren die Frühlings- in die Sommermonate übergegangen, doch die Freunde erwarteten keine grünen Wiesen und blühenden Bäume. In Neuseeland, auf der anderen Seite der Erdkugel, herrschte im Juli tiefster Winter. In den Ebenen der Nordinsel fiel zwar kein Schnee, aber es war kalt und regnerisch. Die Insel lag hinter einem Vorhang aus Sprühregen und Nebel, als sie endlich in Sicht kam. Nellie hüllte sich fröstelnd in ihren Wintermantel.
»Das Land der langen weißen Wolke«, bemerkte der Kapitän, der einen knielangen, gefütterten Regenmantel trug.
»Aotearoa«, ergänzte Maria. »So nannten es die ersten Bewohner der Inseln, die Maori.«
Sie hatte irgendwo auf dem Schiff ein Wörterbuch der Maori-Sprache gefunden und konnte es nach dem ersten Lesen auswendig. So war es immer.
»Ja, die erste Siedlerin, Kuramarotini, die mit einem Stammesführer namens Kupe aus Hawaiki hierherkam, soll es so genannt haben«, merkte der Erste Offizier an. »Jedenfalls regnet es oft.«
Nellie seufzte. »Dann können wir uns ja schon auf Rindergeburten in nasskalten Ställen freuen«, murmelte sie. »Das habe ich in Belgien schon immer genossen … Aber egal, besser arbeiten und frieren, als gar nicht arbeiten. Werden wir wohl abgeholt, Walter?«
Walter, der so angestrengt nach dem Land aussah, als könnte er allein durch seinen Willen den Nebel zum Steigen bringen, hob die Schultern.
»Ich hoffe. Ein Funktelegramm ist jedenfalls rausgegangen. Wenn Frau von Gerstorf das bekommen hat, wird sie schon jemanden schicken. Der Hengst muss ja irgendwie weitertransportiert werden. Per Zug, nehme ich an, es gibt auf jeden Fall eine Verbindung von Auckland nach Ellerslie zur Rennbahn. Und davon soll die Farm nicht allzu weit entfernt sein. Aber vielleicht stellen sie Erlkönig auch erst ein, zwei Tage in einen Mietstall, damit er sich von der Reise erholen kann.«
Eigentlich hatten die Pferde die Überfahrt recht gut überstanden. Natürlich waren sie unruhig und unleidlich durch das lange Stehen, Gewicht verloren hatten sie hingegen nicht, und es hatte auch keine Koliken oder andere Erkrankungen gegeben.
Nellie seufzte wieder. »Das hieße für uns noch ein paar Tage im Hotel? Ich würde eigentlich sehr gern mal richtig ankommen.«
Maria schüttelte den Kopf. »Meine Möbel werden nicht da sein«, meinte sie unglücklich. »Also ist die Farm kein Zuhause für mich. Alles wird anders sein.«
In ihrer Stimme schwang Angst mit. Veränderungen waren von jeher ein Graus für Maria. In ihre Wohnung, die sie mit Nellie geteilt hatte, hatte sie beim Einzug die Möbel ihres Jungmädchenzimmers mitgebracht, und am liebsten hätte sie es jetzt noch nach Neuseeland verschifft.
»Wir schaffen uns ein neues Zuhause«, sagte Bernhard tröstlich. »Jetzt, wo wir zu zweit sind, hätten wir sowieso neue Möbel gebraucht …«
»Und meine Bücher …«, fuhr Maria mit ihrem Lamento fort.
Von medizinischen Wälzern über Romane bis zu Kinderbüchern hatte sie alles in ihrem Zimmer gehortet, was sie je an Lesematerial besessen hatte.
»Einen Teil habe ich eingepackt«, bemerkte Nellie. »Und die Kinderbücher hat Grietje mitgenommen. Zur Erinnerung. Es ist nichts verloren, Maria, du kannst ganz beruhigt sein. Versuch doch mal, dich zu freuen.«
Wirklich erfreut und voller Tatendrang wirkte an diesem verregneten Ankunftstag allerdings nur Walter. Ihm schien es gleich zu sein, ob ihn das neue Land mit Wind und Nebel oder strahlendem Sonnenschein begrüßte. Hauptsache, er hatte wieder Boden unter den Füßen – und konnte Erlkönig endlich befreien.
Schließlich kam die Hafenmole in Sicht, und auch sie wirkte nicht sehr einladend. Auf das Frachtschiff warteten nur ein paar Lastwagen, mit denen die Waren abtransportiert werden sollten. Zwischen ihnen stand ein großes Auto, ein geländegängiges Fahrzeug mit offener Ladefläche – ein Pick-up. Als das Schiff anlegte, stieg ein Mädchen aus. Im Gegensatz zu den Fahrern der anderen Wagen, die gern so lange wie möglich im trockenen Inneren blieben, konnte es die Ankunft der Adelinde anscheinend kaum erwarten. Nellie registrierte, dass unter dem Südwester, mit dem es sich gegen den Regen schützte, leuchtend rotes Haar hervorlugte. Das Mädchen war zierlich und versank fast in seinem voluminösen Wachsmantel. Nellie schätzte es auf dreizehn oder vierzehn Jahre. Sie lächelte ihm zu, und das Lächeln wurde erwidert. Das Gesicht des Mädchens hatte etwas Elfenhaftes – sehr feine Züge, eine schmale Nase und große runde Augen. Sein Lächeln wirkte allerdings eher verschmitzt wie das eines freundlichen Kobolds.
Sobald die Matrosen eine Art Gangway aus Brettern erstellt hatten, um ihre Passagiere aussteigen zu lassen, trat das Mädchen heran – und nun entstieg dem Pick-up auch eine Frau, die Fahrerin. Sie trug ihr braunes Haar konservativ zum Knoten gewunden, allerdings steckte sie wie das Mädchen in langen Reithosen, Stiefeln und Wachsmantel – und sie sah der Kleinen auffallend ähnlich.
»Offenbar Mutter und Tochter«, meinte Nellie und bewegte sich zielstrebig, aber etwas skeptisch, auf die improvisierte Gangway zu.
Sie selbst war schwindelfrei, befürchtete nur, dass Maria es nicht war. Walter reichte ihr die Hand, um ihr galant hinüberzuhelfen. Sie lächelte ihm zu.
»Da kann das Pferd aber nicht drüber«, bemerkte eben die Frau. »Wir haben es schließlich nicht meilenweit transportiert, damit es hier ins Wasser fällt.«
Das Mädchen wandte sich gleich an Walter und Nellie. »Sind Sie die Tierärzte?«, fragte es eifrig auf Deutsch. »Bringen Sie unser Pferd?«
»April, vielleicht sagst du erst mal gesittet Guten Tag und Herzlich willkommen«, rügte die Frau und sprach Walter nun ihrerseits an. »Verzeihen Sie meiner Tochter. Sie freut sich schon sehr auf den neuen Zuchthengst – und darauf, künftig drei Tierärzten über die Schulter schauen zu können. Wir verarzten unsere Pferde zwangsläufig oft selbst, und April möchte unbedingt dazulernen. Ach ja, ich bin übrigens Mia von Gerstorf – und Sie sind Walter und Maria von Prednitz? Oder Bernhard Lemberger und Cornelia De Groot?«
Walter gab ihr die Hand. »Walter von Prednitz, gnädige Frau, gnädiges Fräulein … Und dies ist meine Verlobte Dr. Nellie De Groot.«
»Einfach Dr. Nellie«, verbesserte Nellie. »Wir müssen es nicht so förmlich angehen …«
Mia von Gerstorf reichte auch ihr die Hand und lächelte ihr zu. »Ganz meine Meinung«, sagte sie fröhlich. »Hier in Neuseeland ist man schnell per Du. Zumal es das Sie im Englischen auch gar nicht gibt …«
»Außer im Altenglischen.« Das war Maria. Wenn sie Wissen vermitteln konnte, fiel stets alle Schüchternheit von ihr ab. »Da entspricht das You in etwa dem altdeutschen ›Ihr‹, während ›Du‹ mit Thou übersetzt wird. Du sollst nicht töten – Thou shalt not kill …«
Nellie seufzte und hoffte, dass ihre Freundin nicht besserwisserisch rüberkam.
»Das ist meine Freundin Maria«, stellte sie vor. »Unser wandelndes Lexikon und eine ganz hervorragende Tierärztin. Die erste, die je in Europa promoviert hat.«
Mia von Gerstorf schenkte auch Maria ihr warmes Lächeln. Sie schien ihr den Vortrag nicht übel zu nehmen.
»Frau Dr. von Prednitz …«
»Lemberger!«, sagte Maria stolz. »Maria Lemberger. Ich habe geheiratet.«
»Wir haben geheiratet«, erklärte Bernhard und nahm Mia mit seinem Grübchenlächeln und seinen warmen Augen sofort für sich ein. »Auf dem Schiff. Es war sehr … ungewöhnlich.«
Mia lachte. »Sie müssen mir davon unbedingt ausführlich erzählen!«, forderte sie ihn auf. »Aber jetzt sollten wir uns um das Pferd kümmern. Haben Sie schon eine Vorstellung, wie wir es ausladen?«
Walter nickte. »Also eingeladen haben wir es über eine Rampe, die direkt ins Unterdeck führte. Darüber werden auch die Koffer entladen. Ich kümmere mich gleich darum. Nur wie geht es dann weiter? Sie haben keinen Transporter mitgebracht …«
Mit dem schweren Wagen der von Gerstorfs hätte man einen der modernen Pferdeanhänger ziehen können, in denen man Pferde leicht über ganz normale Straßen transportieren konnte.
Mia von Gerstorf schüttelte den Kopf. »Nein. Da müsste der arme Kerl ja gleich in den nächsten Kasten. Das würde ihm sicher nicht gefallen. Wir haben uns überlegt, dass er lieber etwas laufen würde. April wird ihn erst mal zum Haus meines Vaters reiten. Da gibt es einen Stall, in dem er schlafen kann. Und morgen bringt sie ihn nach Hause.«
Walter fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. Völlig verblüfft sah er Mia an.
»Reiten? Jetzt? Nach der langen Stehzeit … Und dann ein so junges Mädchen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Frau von Gerstorf, das … das kann ich nicht zulassen …«
»Sicher ist das möglich«, erwiderte Mia gelassen. »Er wird natürlich etwas wacklig auf den Beinen sein, aber April ist sehr sattelfest. Und sie ist vernünftig, sie wird ihn sicher nicht überfordern. Es sind auch nur drei Meilen – genau die richtige Bewegung nach der langen Zeit auf dem Schiff.«
»Vielleicht«, meinte Walter, »könnte ich ihn führen? Er ist … er ist das alles nicht gewöhnt …«
Mia runzelte die Stirn. »Er ist doch Rennen gelaufen. In halb Europa, sagt mein Mann, da ist er viel transportiert worden. Er wird nicht vor jeder Kleinigkeit scheuen.«
»Eben!«, sagte Walter verzweifelt. »Er ist ein Rennpferd. Kein … kein Damenpferd. Und er ist empfindlich …«
»Na, das muss er sich dann bei uns mal abgewöhnen. Unsere Pferde werden nicht behandelt, als wären sie aus Porzellan«, beharrte Mia energisch. »Es sind in erster Linie Pferde, und die laufen gern. Und April würde ich auch nicht als Dame bezeichnen …«
»Mami!«, bemerkte April empört. Es hatte ihr eben erkennbar geschmeichelt, dass Walter sie mit »gnädiges Fräulein« angesprochen hatte.
»Jedenfalls nicht im Sinne von Damensattel und Damensitz«, schwächte ihre Mutter ab. »Das hat sich überlebt, Herr von Prednitz, jedenfalls hier in Neuseeland. Vielleicht laden Sie Erlkönig erst mal aus, dann sehen wir ja, wie er die Reise überstanden hat.«
Walter wollte weitere Einwände vorbringen, aber Nellie legte ihm die Hand auf den Arm. »Er gehört ihnen, streite dich nicht«, sagte sie leise. »Es wäre vielleicht wirklich besser, ihn nicht gleich mit Reitergewicht zu belasten«, wandte sie sich darauf an die von Gerstorfs, während Walter in den Frachtraum ging, um nach dem Pferd zu sehen. »Walter wird ihn gern führen …«
Mia runzelte die Stirn. »Bei dem Wetter? Und morgen dann elf Meilen bis nach Epona Station? April hat das schon im Griff, und sie wiegt ja praktisch nichts. Zudem übernachtet sie gern bei ihrem Großvater – während ich davon ausgehe, dass Sie am liebsten gleich mit auf die Farm fahren würden. Nach so einer langen Reise möchte man doch mal ankommen.«
Nellie konnte Mia von Gerstorf da nur zustimmen. Sie sah sich nach Bernhard und Maria um, die nicht zu sehen waren. Wahrscheinlich kümmerten sie sich um das Gepäck. Maria war schließlich sehr besorgt um ihre Sachen gewesen.
»Ihre Koffer passen sicher alle auf den Pick-up«, meinte Mia, als sich jetzt tatsächlich der Bauch des Schiffes öffnete und eine Rampe ausgefahren wurde. Matrosen trugen die ersten Kisten und Fässer der Ladung heraus und wurden schnell von den Fahrern der Lastwagen unterstützt, die sich aus ihren Kabinen in den Regen wagten. Mia begrüßte einen Mann im Trenchcoat, der anscheinend gekommen war, um die Stute abzuholen. »Mr. Abercrombee! Sind Sie gespannt auf Ihr neues Reitpferd? Mein Mann hat sich wirklich Mühe gegeben, das richtige für Sie zu finden.«
Der Mann lächelte und versicherte sie seines vollsten Vertrauens in die Urteilskraft ihres Gatten.
Nellie erklärte, wie gut ihr die Stute gefalle, und Mia stellte sie gleich als eine der neuen Tierärztinnen vor. Der frischgebackene Pferdebesitzer, ein großer, dunkelhaariger Mann, nahm das gelassen auf.
»Freut mich«, sagte er. »Bisher hatten wir in ganz Auckland nur einen Veterinär, und der macht kaum noch Pferde, seitdem jetzt alle Welt Automobil fährt. Ich schick dann nach Ihnen, falls der Melisande mal was fehlt. Aber jetzt geh ich schnell, um sie da rauszuholen …«
Mia übersetzte für Nellie, die stolz war, immerhin sinngemäß verstanden zu haben, was der Mann ausdrücken wollte. Kurze Zeit später wurden beide Pferde aus dem Schiffsbauch herausgeführt, begleitet von Maria und Bernhard, die genau hinsahen, ob keins der Tiere lahmte.
»Gehen beide sauber, und die Sehnen sind klar«, urteilte Bernhard. »Es spricht eigentlich nichts dagegen, sie ein bisschen zu reiten. Zumal das Mädchen ja kaum was wiegt.«
Walter blitzte ihn ärgerlich an. Er hielt es nach wie vor für Wahnsinn, April den lebhaften Hengst anzuvertrauen. Dabei war Erlkönig ganz friedlich. Nach der langen Stehzeit war er steif und musste sich erst einlaufen, bevor sein Temperament wiedererwachen würde. Melisande, der braunen Warmblutstute, ging es ähnlich. Erlkönig wieherte ihr unglücklich hinterher, als ihr Besitzer sich gleich mit ihr auf den Weg machte. Anscheinend wohnte er in Auckland.
»Mach dir nichts draus, du siehst sie sicher wieder!« Mia von Gerstorf legte dem Hengst sanft die Hand an den Hals, streichelte ihn und förderte dann einen Apfel aus ihrer Manteltasche zutage. »Hier, zur Begrüßung. Morgen gibt es noch mehr davon. Was bist du für ein schönes Pferd!«
Sie nahm Walter den Strick aus der Hand und hielt den Hengst nun selbst, während sie damit fortfuhr, ihn zu streicheln und zu liebkosen. Erlkönig schien das zu gefallen – Nellies und Marias Sympathien flogen der Gestütsbesitzerin zu. Sie waren in den letzten Jahren oft als Rennbahntierärztinnen tätig gewesen und wussten, dass die meisten Besitzer und Züchter der hochwertigen Tiere nur eine Investition in ihnen sahen. Freundlichkeiten erfuhren sie höchstens von ihren Pflegern, Reitern und Trainern, doch auch die gingen es meist geschäftsmäßig an. Mia dagegen strahlte vor Glück, das neue Pferd begrüßen zu dürfen, und ihre Tochter drückte Erlkönig sogar einen Kuss auf die Nase.
»Wie wollen wir ihn denn rufen, Mami? Das ist ein komischer Name, den er da hat …«
Mia lachte. »Lass dir heute Abend von deinem Großvater die Ballade vom Erlkönig heraussuchen. Würde mich nicht wundern, wenn er sie auswendig könnte …«
»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …«, begann Maria zu rezitieren, reagierte dann aber auf Nellies Zeichen, es lieber zu lassen.
»Habt ihr die Koffer gesehen, Maria?«, fragte sie und bemerkte gleichzeitig, dass einer der Träger sie bereits nach draußen brachte.
April räumte inzwischen die Ladefläche des Geländewagens frei, indem sie einen voluminösen Sattel und ein Kopfstück auslud.
»Was ist das denn?«, fragte Walter, erneut entsetzt, als sie Anstalten machte, den Sattel auf Erlkönigs Rücken zu wuchten.
»Gnädiges Fräulein, bitte … Das Pferd ist leichte Rennsättel gewöhnt, allenfalls Vielseitigkeitssättel …«
»Das ist ein Stocksattel«, informierte ihn Mia. »Kommt ursprünglich aus Australien und ist sehr bequem. Für Pferd und Reiter. Schauen Sie mal auf die große Auflagefläche …«
»Aber … aber er ist ein Vollblut …« Walter schaute hilflos zu, wie April angurtete, während sie sanft und schmeichelnd auf Erlkönig einsprach. Der Hengst ließ es ohne Widerstand geschehen.
»Der Sattel passt eigentlich all unseren Vollblütern«, bemerkte Mia. »Und keine Angst, wir haben auch Dressursättel. Mein Mann und ich ziehen sie vor, wenn wir mit den Pferden arbeiten. Zum Überlandreiten sind die Stocksättel dagegen angenehmer. Man fällt zudem nicht so leicht runter.« Sie lächelte ihrer Tochter zu, die den Hengst eben auftrenste und dann Anstalten machte aufzusteigen.
»Lassen Sie sich wenigstens helfen, gnädiges Fräulein …« Walter trat neben das Pferd.
April kicherte und hob geziert das Bein, um sich aufs Pferd werfen zu lassen wie ein Jockey. Sie glitt geschmeidig in den Sattel, aber Erlkönig erschrak ein wenig und machte einen Seitensprung.
»Hups!« April lachte. Sie fand sich schnell im Sattel zurecht, nahm sanft die Zügel auf und schnalzte dem Pferd leise zu. »Los geht’s, Hübscher. Wir sehen uns morgen, Mami!«
Zu Walters Verwunderung schritt der Hengst ruhig unter ihr aus und ließ sich auf die Straße in Richtung Stadt lenken.
»Wir folgen ihr nicht?«, fragte Walter, als Mia ihr kurz nachwinkte, und dann die Träger anwies, die Koffer auf der Ladefläche des Wagens zu stapeln.
»Nein, warum?«, fragte Mia.
Nellie lächelte und legte Walter erneut die Hand auf den Arm. »Nun mach dir nicht solche Sorgen«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Dies ist ein anderes Land. Hier gehen sie lockerer mit den Dingen um. Das haben wir uns doch sogar gewünscht.«
»Aber der Verkehr …«, wandte Walter ein.
»Dies ist nicht Berlin«, begütigte auch Bernhard. »Nun stell dich nicht so an, die Kleine wird dein Baby schon sicher ins Bett bringen. Und ich käme jetzt sehr gern raus aus dem Regen.«
Mia lächelte ihm verständnisvoll zu. »Sie müssen sich hier Trenchcoats anschaffen«, erklärte sie. »Und Hüte, die den Regen abhalten. Aus Deutschland sind Sie es wahrscheinlich gewöhnt, dass die Leute ihre Tiere in den Stall holen, bevor der Tierarzt kommt, hier wird man Sie oft mit auf die Weiden nehmen. Es ist alles noch ein bisschen primitiv auf den meisten Farmen. Aber jetzt bringe ich Sie erst mal nach Epona Station. Bei uns ist alles sehr modern …«
Walter, Bernhard und Nellie ließen Maria, die nicht gern eingequetscht zwischen anderen saß, den Vordersitz neben Mia und nahmen auf der Rückbank Platz. Der Wagen war unerwartet geräumig, roch allerdings nach nassem Hund und nach Lederzeug. Mit den Taxen in Berlin oder gar dem großen Automobil seiner Gönnerin, der Gräfin von Albrechts, in dem Walter oft herumkutschiert worden war, hatte er nichts gemeinsam.
»Können Sie Autofahren?«, fragte Mia, während sie das riesige Gefährt souverän aus dem Hafenbereich hinauslenkte.
Die vier mussten das sämtlich verneinen. Lediglich Walter hatte ein- oder zweimal am Steuer gesessen, um es auszuprobieren, doch in den Berliner Verkehr hatte er sich nie gewagt.
»Sie werden es lernen müssen«, meinte Mia. »Die Entfernungen hier sind groß, Sie brauchen einen Wagen. Aber es ist nicht schwierig«, fügte sie hinzu. »Nicht so wie Reiten.«
Nellie und Walter lachten. Maria verstand den Scherz mal wieder nicht.
»Reiten ist sehr schwierig«, stimmte sie zu. »Und Pferde sind sehr sensible Tiere, sehr anfällig. Haben Sie noch andere Tiere auf dem Hof?«
»Maria ist Spezialistin für Exoten«, bemerkte Nellie. »Falls Sie hier also Kängurus haben oder Koalabären …«
Mia von Gerstorf lachte. »Sie wissen aber noch nicht viel über Ihre neue Heimat«, bemerkte sie dann. »Kängurus und Koalas jedenfalls gehören nach Australien. In Neuseeland gab es ursprünglich gar keine Säuge- oder gar Beuteltiere …« Nellie bewunderte ihr feines Gespür für ihr Gegenüber. Wäre Maria nicht gewesen, die sie zweifellos korrigiert hätte, hätte sie die Beuteltiere wohl nicht extra erwähnt. »Lediglich zwei Fledermausarten. Ansonsten gibt es hier vor allem Vögel – ganz lustige zum Teil. Der Kiwi, unser Wappenvogel, ist fast blind, aber dafür kann er riechen. Er ist nachtaktiv und gräbt sich tagsüber ein. Die Keas …«
»… sind Papageien«, wusste Maria. »Die bis in Schneefallgebieten leben, was ungewöhnlich ist. Sie gehören aber in die Südalpen, richtig?«
Mia nickte. »Sie sind sehr intelligent und witzig. Man muss ständig aufpassen, dass sie einen nicht berauben. Sie können sogar Taschenverschlüsse öffnen. Meine Lieblingsvögel. Aber wir haben keine. Nur ein paar Hühner. Ich mag keine Käfige.«
»Wer mag die schon?«, fragte Bernhard. »Wie sieht es mit Hunden und Katzen aus?«
Mia lachte. »Die haben wir. Und alle sind schrecklich verwöhnt. Ich mag es, wenn die Tiere glücklich sind. Auch die Pferde. Am liebsten würde ich sie alle glücklich machen. Und ich weine jedes Mal, wenn wir eins verkaufen müssen. Aber das geht natürlich nicht anders, davon leben wir ja. Wir bilden sie jedoch alle gut aus, und wir verkaufen nicht an jeden X-beliebigen. Die Leute sollen mit unseren Pferden zufrieden sein. Dann behandeln sie sie auch gut.«
Nellie empfand das als eine sehr freundliche Philosophie. Sie wusste jetzt schon, dass sie sich mit Mia gut verstehen würde.
Mia lenkte den Pick-up jetzt aus dem Stadtbereich von Auckland hinaus und auf einer relativ geraden Straße zwischen Acker- und Weideland hindurch.
»Gleich wird’s kurviger«, kündigte sie allerdings an. »Epona Station liegt in den Ausläufern der Waitakere Ranges – fantastisches Ausreitgelände. Regenwald. Wenn man das zum ersten Mal sieht, ist man wie verzaubert. All die Flechten und Moose, die zum Teil uralten Bäume … dazwischen Bäche und Wasserfälle … Man kommt sich vor wie im Märchen. Ich muss es Ihnen zeigen. Reiten Sie alle?«
Tatsächlich ritten nur Walter und Nellie. Maria war als Kind als zu ungeschickt empfunden worden, um reiten zu lernen, und Bernhards Familie hatte es sich nicht leisten können.
»Dann lernen Sie das Autofahren umso schneller«, tröstete Mia. »Weil es Ihre einzige Gelegenheit ist, irgendwo hinzukommen. Da, schauen Sie, das ist Onehunga.« Sie durchfuhr eine kleine Stadt, die auf den ersten Blick nur aus der Mainstreet zu bestehen schien, aber Mia erklärte ihnen, dass es auch Fabriken gab und die zugehörigen Arbeitersiedlungen sowie ein hauptsächlich von Maori bewohntes Viertel. »Und es gibt etliche Kirchen«, bemerkte sie. »Wenn Sie gläubig sind, finden Sie da sicher etwas. Es gibt nur keine Synagoge. Obwohl ich die ehrlich gesagt nie vermisst habe.«
Bernhard merkte auf. »Sie … Sie sind Juden?«, fragte er verblüfft.
»Mein Vater und ich«, sagte Mia. »Und natürlich April und Jonathan, unser Sohn. Denn …«
»… der ist Jude, der von einer Jüdin geboren wurde …«, vervollständigte Bernhard. »Das … das hätte ich nicht gedacht …« Er hatte offenbar das Gefühl, als würden Gebirge von ihm abfallen.
»Sie sind auch Jude, oder?«, fragte Mia wie nebenbei. »Mein Mann sagte mir so was. Und dass die Deutschen es uns immer schwerer machen. Mein Vater unkt da ja seit Jahren. Er befürchtet, dass dieser Hitler irgendwann an die Macht kommt. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Hier, schauen Sie mal. Ab hier gehört das Gelände offiziell zu Epona Station. Im Wald haben wir Holz für die Ställe geschlagen. Das Eingangsschild kommt gleich …«
Sie ging über Bernhards und ihr eigenes Judentum hinweg, als ob das überhaupt nichts zählte.
Nellie sah, dass Bernhard unendlich erleichtert war. In diesem Land musste er sich nicht mehr fürchten.
Mia durchfuhr ein schönes schmiedeeisernes Tor, das Besucher auf Epona Station willkommen hieß.
»Ist der Name Maori?«, fragte Nellie.
Mia und Maria schüttelten gleichermaßen den Kopf. Auch Bernhard und Walter schienen Bescheid zu wissen.
»Eine Göttin«, erinnerte sich Walter an sein Gymnasialwissen. »Eine römische Pferdegöttin.«
»Eigentlich eher eine keltische«, erklärte Mia. »Die Kelten nannten sie Rhiannon, aber die Römer befanden sie wohl als nützlich, und so haben sie ihr den Olymp geöffnet. Vielleicht auch schon die Griechen. Jedenfalls ist sie für das Glück der Pferde zuständig, und das schien mir ein guter Name zu sein.«
Rechts und links der gepflegten Zufahrtsstraße lagen jetzt Pferdeweiden, alle ordentlich mit weißen Zäunen versehen, aber um diese Jahreszeit, mitten im Winter, natürlich verwaist.
»Schade, dass Sie nicht im Frühling ankommen konnten«, bedauerte Mia. »Dann ist es sehr schön hier. Vor allem, wenn die Fohlen kommen …« Sie lächelte in glücklicher Erinnerung. »Und hier sieht man auch schon das Haus.«
Es regnete immer noch, aber das diesige Wetter ließ das Wohnhaus von Epona Station noch märchenhafter wirken, als strahlender Sonnenschein es getan hätte. Es war kein Farmhaus im üblichen Sinne, sondern glich einem Schlösschen mit Erkern, Balkonen und Türmchen. Das helle Gelb und Blau, in dem es gestrichen war, verstärkte den Eindruck.
»Wie schön«, sagte Maria fast andächtig.
Mia strahlte. »Ja, nicht wahr? Ich war auch auf den ersten Blick begeistert. Allerdings ist es sehr pflegeintensiv. Es ist ein Holzbau, man muss es alle paar Jahre streichen, damit es so gut erhalten bleibt. Aber das ist es wert, finden Sie nicht?«
Nellie wusste nicht recht. Sie mochte zweckmäßige Bauten eigentlich lieber. Natürlich war Epona Station etwas Besonderes – genau wie seine Besitzerin, die Königin in diesem Schlösschen. Nellie fühlte sich tatsächlich wie in ein Märchenland versetzt. Sie war froh, dass die Wirklichkeit wieder triumphierte, als sie auf den Hof fuhren. Hunde bellten und überschlugen sich fast, um Mia zu begrüßen. Auf Ausläufen vor den Ställen standen Pferde, die sicher alle sehr schön waren, was sie in ihrem augenblicklichen Zustand mit struppigem, nassem, schlammigem Winterfell lediglich erahnen ließen. Ein schlaksiger Junge mit exotisch anmutenden Gesichtszügen führte eben ein gesatteltes Pferd aus dem Stall.
»Willst du bei dem Wetter reiten, Cedric?«, fragte Mia ihn freundlich. »Das ist pflichteifrig.«
Nellie beglückwünschte sich dazu, die Frage zu verstehen. Die Antwort des Jungen musste Maria allerdings übersetzen.
»April reitet doch auch bei Wind und Wetter«, meinte Cedric. »Und Winterstar muss mal raus. Ich dachte, ich reite April etwas entgegen. Sie bringt den Hengst her, oder?«
Der Junge wirkte enttäuscht, als Mia ihm verriet, dass ihre Tochter erst am nächsten Tag erwartet wurde.
»Nach der langen Reise wäre es zu viel für den Hengst. Und dann dieses Wetter …«
»April macht das nichts«, versicherte der Junge, wobei Bewunderung in seiner Stimme mitschwang. »April ist zäh!«
Mia lächelte. »Das ist sie zweifellos. Wo ist Jonathan? Hat er sein Pony gearbeitet?«
Cedric verzog das Gesicht. »Höchstens zehn Minuten«, erklärte er. »Dann wurde es ihm zu nass. Und Hurricane ebenso. Der hat den Kopf hochgeschmissen und ist zum Stall gerannt. Jonathan hat ihn daraufhin abgesattelt …«
Mia seufzte. Auch wer kein Englisch konnte, erspürte den vorwurfsvollen Ton in Cedrics Stimme. Wenn das Pony tatsächlich mit dem Jungen durchgegangen war, hätte er es auf keinen Fall einfach im Stall lassen, sondern zurück auf den Reitplatz führen und noch mindestens eine Viertelstunde mit ihm arbeiten müssen. Pferde merkten sich sehr gut, wenn man sie mit Dummheiten durchkommen ließ.
»Ich nehme mir die beiden morgen vor«, versprach Mia. »Und du steigst besser auf, sonst ist dein Sattel gleich ganz nass, und du kriegst einen feuchten Hintern.«
Der Junge lachte, als er sich in den Sattel schwang und die hochblütige Fuchsstute antreten ließ.
»Cedric, der Sohn unseres ersten Stallburschen Leo«, stellte Mia ihn den Neuankömmlingen noch vor. »Ein begnadeter Reiter, Sie werden ihn gemeinsam mit meiner Tochter unterrichten, Herr von Prednitz. Er hofft, dass er im nächsten Jahr erste Rennen reiten darf – aber ich weiß noch nicht, ob wir Pferde nach Ellerslie schicken. Jedenfalls braucht er ein bisschen Schliff, genau wie April …«
Walter räusperte sich. »Kann man … irgendwie herausbekommen, ob Ihre Tochter und Erlkönig gut angekommen sind?«, fragte er.
Mia lachte. »Ich rufe meinen Vater nachher an«, versprach sie. »Machen Sie sich eigentlich mehr Sorgen um meine Tochter oder um Ihr Pferd?«
Walter errötete. »Natürlich um … äh …«
Mia winkte augenzwinkernd ab. »Vergessen Sie’s, ich will auch immer zuerst wissen, ob den Pferden nichts passiert ist … Jetzt etwas anderes: Möchten Sie zuerst eine Stallführung oder lieber in Ihre Unterkunft, um sich ein bisschen frisch zu machen? In einer guten Stunde erwarte ich Sie zum Abendessen, dann lernen Sie auch meinen Sohn kennen. Vielleicht möchten Sie sich vorher etwas ausruhen.«
Nellie ergriff das Wort, bevor Walter etwas sagen konnte. »Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir uns die Pferde lieber morgen ansehen. Ich kann eine kleine Ruhezeit gebrauchen – ein Bad wäre ein Traum.« Sie lächelte entschuldigend.
Mia nickte. »Ein Badezimmer ist vorhanden, auch warmes Wasser. Sie müssen es sich nur teilen mit Ihren Freunden. Es liegt zwischen unseren beiden Gästewohnungen. Warten Sie, ich zeige Ihnen gleich alles.«
Sie führte die Freunde zu einem flachen Nebengebäude, in dem früher die Angestellten des Gestüts untergebracht gewesen waren. Mittlerweile fuhren diese am Abend nach Hause. Nur Hans Willermann, der Stallmeister, lebte auf Epona Station, aber er hatte sich ein eigenes Blockhaus nahe am Wald gebaut.
»Wir haben die Wohnungen nett eingerichtet und verwenden sie als Gästeunterbringung«, erläuterte Mia. »Wenn Leute hier Pferde kaufen, bieten wir ihnen an, ein paar Tage zu bleiben und die Tiere in Ruhe kennenzulernen. Denen müssen wir dann schon ein bisschen Luxus bieten.«
Tatsächlich bestanden die Wohneinheiten aus je drei Zimmern, in einem davon gab es eine Kochgelegenheit. Dazwischen lag ein modern eingerichtetes Bad mit Gasheizung. Neben der Wanne stand eine große Flasche Schaumbad – Nellie strahlte bei ihrem Anblick.
»Der Himmel!«, entfuhr es ihr seufzend.
»Gefällt’s Ihnen?«, fragte Mia freundlich, als Nellie und Maria sich sofort darüber verständigt hatten, dass Maria und Bernhard die Wohnung links, Nellie und Walter die rechts beziehen wollten. Auch in Berlin hatte Nellie rechts und Maria links des Badezimmers gewohnt. Den Männern schien es egal zu sein. Sie unterwarfen sich der Wahl ihrer Frauen und begannen, das Gepäck in die jeweiligen Wohnungen zu bringen. »Dann lasse ich Sie jetzt erst mal allein. Kommen Sie einfach um sieben zum Haupthaus. Ich freue mich, dass Sie da sind!«
Nellie und Maria blieben im Korridor vor dem Bad zurück und atmeten beide auf. Sie waren angelangt, und sie waren allein. Maria genoss die Stille. Auch Nellie schwieg eine Weile, bevor sie sie brach.
»Frau von Gerstorf ist nett, nicht?«, fragte sie ihre Freundin.
Maria nickte. »Alles hier ist … schön«, fügte sie hinzu, was Nellie einigermaßen verwunderte. Es kam selten vor, dass Maria sich irgendwo auf Anhieb wohl fühlte. »Sehr … friedlich …«
»Zumindest auf den ersten Blick«, schränkte Nellie ein. »Das junge Mädchen hat mir auch gefallen. Es sieht seiner Mutter ähnlich, obwohl … Irgendwas kommt mir da komisch vor. Ich weiß bloß nicht, was …«
»Das rote Haar«, sagte Maria, der so schnell nichts entging. »Mia von Gerstorf hat braunes Haar, und Julius von Gerstorf ist blond. Bei dieser Verbindung setzt sich meistens das dunklere Haar durch. Rothaarige Nachkommen sind dagegen selten. Natürlich könnte es sein, dass beide reinerbig rothaarige Eltern haben und zu dem geringen Prozentsatz an Kindern gehören, die selbst eine andere Haarfarbe entwickelten. Aber wahrscheinlich ist das nicht.«
»Du meinst, April ist nicht Julius’ Tochter?«, schloss Nellie.
»Die statistische Wahrscheinlichkeit für seine Vaterschaft ist sehr gering«, bestätigte Maria.
»Ob er das weiß?«, überlegte Nellie. »Ich bin gespannt auf den Sohn und ob der auch ein Rotschopf ist. Aber jetzt ist mir das erst mal egal. Willst du noch mal ins Bad, bevor ich diese Wanne fülle und mich im Rosenduft verliere?«
Eine Stunde später hatten sich alle zumindest gewaschen und umgezogen und erschienen ordentlich gekleidet im Eingangsbereich des Schlösschens. Epona Station wirkte wie eine Miniaturausgabe eines hochherrschaftlichen Hauses. Unten gab es einen Salon, ein Esszimmer sowie Küchen- und Vorratsräume. Die Tür zur Küche stand offen, anscheinend trennte Mia von Gerstorf nicht streng zwischen Herrschafts- und Dienstbotenbereichen.
Eine rundliche, gemütlich wirkende Frau werkelte in der Küche herum.
»Miss Mia kommt gleich!«, rief sie den Gästen nach einem kurzen Gruß zu. »Sie sollen einfach schon mal in den Salon gehen.«
Etwas befangen öffnete Nellie die Tür zum Wohnzimmer. Als Erstes fielen ihr die vielen Bücherregale auf. Es gab Hunderte von Werken zu den verschiedensten Themen. Die meisten waren in deutscher Sprache verfasst.
»Donnerwetter«, bemerkte Bernhard. »Wer hat denn so viele Bücher?«
»Mein Großvater«, meldete sich zu ihrer aller Überraschung eine helle Stimme aus einem großen Ohrensessel, der am Kamin stand. Der zugehörige Knabe – er trug Stoffhosen und einen Wollpullover – stand nun auf und streckte den Gästen wohlerzogen die Hand entgegen. »Mein Großvater ist der klügste Mann auf der ganzen Welt. Er hat die Bücher gesammelt – und uns geschenkt.«
Nellie lächelte dem Jungen zu. »Dann bist du Jonathan.«
Der Junge nickte ernst. Er mochte acht oder neun Jahre alt sein, hatte braunes Haar und hellbraune Augen. Eine Locke fiel ihm eigenwillig in seine hohe Stirn. Er konnte die Verwandtschaft mit Julius von Gerstorf nicht verleugnen. Natürlich waren seine Züge noch kindlich, aber ihnen fehlte das Koboldhafte, das Mia und April zu eigen war, und er schien auch nicht so oft zu lächeln.
»Jonathan von Gerstorf«, stellte er sich artig vor.
Maria drückte sich um den Handschlag, wie sie das immer tat, wenn es eben möglich war, und nahm stattdessen das Buch an sich, in dem der Junge gelesen hatte: Geschichte der Alchemie.
»Willst du Gold machen?«, fragte Bernhard lächelnd.
Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ein Irrglaube, dass sich die mittelalterlichen Alchemisten schwerpunktmäßig darum bemühten, unedle Metalle in Gold umzuwandeln. Mindestens genauso oft ging es um ein Universalheilmittel, das gegen alle Krankheiten helfen sollte …«
»Und damit legte die Alchemie die Grundlagen für die moderne Wissenschaft. Medizin, Pharmazie und Metallurgie«, ergänzte Maria. »Paracelsus …«
Mia von Gerstorfs Eintreten unterbrach ihren Vortrag.
»Verzeihen Sie, dass ich mich verspäte«, entschuldigte sie sich.
Auch sie hatte sich umgezogen und trug nun ein modisches Kleid aus goldfarbenem Samt, dessen Farbe ihre leuchtenden Augen betonte. Es zeugte von exzellentem Geschmack, gleichzeitig erlesen und schlicht – passend zu einem informellen Dinner.
»Ich hoffe, mein Sohn hat Sie an meiner statt ein wenig unterhalten«, meinte Mia und legte den Arm um den Jungen. Er schmiegte sich fast unmerklich an sie. »Jonathan ist sehr klug für sein Alter.«
Jonathan lächelte verlegen. »Aber das Pony ist heute mit mir durchgegangen«, gestand er seiner Mutter.
Mia hob die Schultern. »Hurricane ist halt ein Frechdachs«, meinte sie nachlässig. »Nun kriegst du ja bald Hilfe im Umgang mit ihm. Herr von Prednitz wird euch allen Reitunterricht geben. Dann kommst du bald besser mit ihm zurecht. Mögen Sie einen Sherry vor dem Essen?«, wandte sie sich gleich darauf an ihre Gäste – und zog deren Aufmerksamkeit damit geschickt davon ab, dass Jonathan bei der Ankündigung von Reitstunden alles andere als begeistert wirkte.
Mia erwies sich auch weiterhin als hervorragende Gastgeberin. Sie fragte die Tierärztinnen nach ihrem Studium und brachte sogar Maria dazu, ohne große Scheu von ihren Erfahrungen als Zootierärztin und später mit den diversen Tieren der Berliner Varietéstars zu erzählen. Sie akzeptierte gelassen, dass weder Maria noch Nellie Fleisch aßen und äußerte ihre Hochachtung für Nellie, die mehrere Jahre auf einem Schlachthof gearbeitet hatte, um die Aufbauzeit ihrer Berliner Praxis zu überbrücken.
»Ich könnte das nicht«, sagte sie ehrlich. »Wir beziehen unser Fleisch durchweg von Bauern aus der Gegend, die selbst schlachten, aber wenn ich dabei zusehen müsste, würde ich auch kein Fleisch mehr essen. Ganz am Anfang hat Hans mal einem unserer Hühner den Kopf abgeschlagen … Ich konnte nichts von dem Braten anrühren.«
»Das ginge wahrscheinlich vielen Menschen so«, meinte Nellie und wechselte dann das Thema. Lebhaft erzählte sie vom Berlin der Zwanzigerjahre.
»Schade, dass April das nicht hört«, bemerkte Mia. »Die Mädchen in der Schule reden die ganze Zeit von Charleston, nur kann ihn keiner hier richtig tanzen. Sie hopsen lediglich wild herum.«
»Ich kann ihr zeigen, wie man Charleston tanzt«, bot Walter an.
»Mein Mann hat nach dem Krieg eine Zeit lang als Eintänzer gearbeitet«, verriet Nellie mit unergründlicher Miene. Sie war von dieser Arbeit nicht begeistert gewesen.
Gleich darauf musste Walter von diesem seltsamen Beruf erzählen, Mia bat ihn, eine weitere Flasche Wein zu öffnen, und am Ende des Abends waren alle übereingekommen, sich in Zukunft beim Vornamen zu nennen, wie es in englischsprachigen Ländern üblich war.
»Ein schöner Abend«, fasste Nellie zusammen, als sie schließlich zurück in ihre Unterkunft gingen, alle todmüde, aber sehr zufrieden. »Ich bin gespannt, wie es weitergeht.«
Am nächsten Morgen erwachte Nellie gut gelaunt und voller Tatendrang. Es regnete an diesem Tag nicht. Der Nebel hatte sich verzogen, und alles sah freundlicher aus. Walter war noch früher aufgestanden und bereits im Bad. Er brannte darauf, die Pferde der von Gerstorfs kennenzulernen und konnte nicht schnell genug in den Stall kommen. Als Nellie später zu ihm stieß, befand er sich bereits im eifrigen Fachgespräch mit Hans Willermann. Der Stallmeister, ein kleiner, schmächtiger Mann mit wasserblauen Augen, war Julius von Gerstorfs Bursche gewesen, als der noch in der Kavallerieschule Hannover gedient hatte. Er sprach gleich auch Walter mit »Herr Leutnant« an, nachdem der von seiner Vergangenheit beim Militär erzählt hatte.
»Sag ihm ja nicht, dass du eigentlich Oberleutnant warst«, wisperte Nellie Walter zu, als Hans in die Ställe vorausging. »Sonst kriegen wir hier noch ein Dienstrangproblem.« Julius von Gerstorf hatte die Armee als Leutnant verlassen.
Walter zwinkerte ihr zu. »Ich werde nicht drauf bestehen«, versprach er.
Die Ställe auf Epona Station waren weitläufig und gut gepflegt. Stuten und Fohlen hatten Laufställe, in denen sie in Gruppen lebten. Hans erklärte, dass es sich um Scherschuppen für Schafe handelte, die man umgebaut hatte. Nur die Reitpferde und die Zuchthengste standen in großen Boxen – ein Schimmelpony konnte die Wand seiner Box kaum überblicken. Hingerissen blickte Nellie auf seine dicke Mähne, den bildhübschen Kopf und das erstklassige Reitpferdegebäude.
»Hurricane«, stellte Hans vor. »Welsh-Mountain-Pony. Seine Eltern kamen aus Großbritannien. Die Mutter hatte der Herr Leutnant für April gekauft, als sie noch klein war. Und dann kam Miss Mia auf die Idee, man könnte sie hier züchten. Wir haben zwei Zuchtstuten und jedes Jahr Fohlen. Bislang hat April die mit drei Jahren zugeritten, sie wurden später als Kinderreitpferde verkauft. Jetzt soll das Jonathan machen. Der will nur nicht so recht. Dabei verdient man daran gut. Sichere, gut gerittene Kinderponys sind selten.«
Walter nickte. »Mal sehen, ob der kleine Jonathan nicht mehr Lust bekommt, wenn er erst richtigen Unterricht hat«, meinte er hoffnungsvoll.
Hans blickte ihn skeptisch an. Schlechten Reitunterricht konnte der Junge bisher auch nicht bekommen haben, von Gerstorf war schließlich Kavallerist. Aber viele Kinder taten sich ja schwer, wenn ihre Eltern sie unterrichteten. Mit etwas Glück würde Walter also recht behalten.
Für Erlkönig war bereits eine Box vorbereitet, was Walter wieder daran erinnerte, dass April womöglich schon mit dem Hengst unterwegs war. Am Abend zuvor war sie gut im Haus ihres Großvaters angekommen, jetzt stand eine weit längere Strecke mit dem besser ausgeruhten Pferd an. Walter begann gleich wieder, sich zu sorgen.
Während Hans zu jeder Stute und jedem Fohlen etwas erzählte, traf Leo Takona ein, der erste Pfleger. Er war ein groß gewachsener, etwas untersetzter Mann, dem seine Maori-Abstammung im Gesicht geschrieben stand, er sprach allerdings genauso fließend Englisch wie sein Sohn und sogar ein bisschen Deutsch. Hans wirkte stolz, als er die Neuankömmlinge in ihrer Sprache begrüßte.
»Hab ich ihm beigebracht«, erklärte er. »Ich hab’s nicht so mit dem Englischen.«
Cedric erschien ebenfalls im Stalleingang.
»Arbeitest du auch hier?«, fragte ihn Nellie in langsamem Englisch.
Cedric schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am. Ich gehe zur Schule in Auckland. Wie April. Aber heute ist ja Samstag, und wir haben frei.«
Nellie war der Wochentag gar nicht bewusst gewesen. Sie sah zu, wie Vater und Sohn sich sofort Mistgabeln nahmen und mit der Stallreinigung begannen.
»Ach ja, Miss Mia sagt, Sie sollen zum Frühstück ins Haus kommen«, erinnerte sich der Junge plötzlich und wandte sich an Nellie und Walter. »Die anderen Tierärzte sind schon da.«
Hans grinste. »Dann gehen Sie mal. Miss Mia wird gleich sowieso noch eine Stallführung machen. Mit viel Liebe – sie dauert dreimal so lange. Sie ist ein Prachtstück, unsere Miss Mia. Mehr Pferdeverstand im kleinen Finger als die Baronin in der ganzen Hand, wenn Sie mich fragen!«