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Zwei Bier, und dann noch zwei – mehr braucht es nicht für etwas Nähe. Doch dass die Wärme des Alkohols nicht wirklich gegen die Kälte hilft, die draußen herrscht, wissen auch die beiden Brüder, die von Kneipe zu Kneipe ziehen. Der ältere trinkt längst ohne jeden Anlass, aus Trauer oder Wut angesichts einer Welt, die von Schmerzen und Leid, von Kriegen und Gewalt bestimmt ist. Und doch erzählt er dem jüngeren an diesem Abend nicht nur von Stalingrad und Marc Dutroux, sondern auch von seinem baldigen Vaterglück. Was beide nicht wissen: Es wird danach kein Wiedersehen geben. Nur einmal telefonieren sie noch miteinander. Der nächste Anruf, neun Monate später, ist die Nachricht vom Tod des älteren Bruders. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ihn und Fragen: Warum das Ganze? Was wollen wir auf der Welt? Und was genau soll das überhaupt sein, leben und sterben?
Virtuos verknüpft Heinz Helle in seinem neuen Roman die Suche nach den Spuren des verstorbenen Bruders mit der Suche nach den Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Wie genau er die Geschwister dabei seziert, ist schmerzhaft-schön: ein gezielter Schlag in die Magengrube, durchfunkelt von Trost und Hoffnung.
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Seitenzahl: 229
Heinz Helle
Die Überwindung der Schwerkraft
Roman
Suhrkamp
Die Überwindung der Schwerkraft
Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb. Vielleicht denke ich deshalb in letzter Zeit wieder öfter an ihn, an die Jahre, als seine Krankheit langsam unübersehbar wurde und wir uns zunächst etwas näherkamen, bis wir uns plötzlich verloren. Es ist für mich nicht ganz leicht, zu begreifen, was damals geschah zwischen uns und warum es mir trotz der Vertrautheit, die ich spürte, wenn wir zusammen waren, so schwerfiel, ihm zu widersprechen. Auch heute, nach mehr als sieben Jahren, kommt mir sein Tod seltsam irreal vor, und obwohl er in meinem Alltag so fundamental abwesend ist, dass ich manchmal beinahe zu vergessen scheine, dass es ihn gab, fühle ich dann wiederum, wenn ich sein Bild betrachte, noch immer genauso wie früher, als er am Leben war. Vielleicht ist etwas von ihm ja noch hier, in mir, in den Dingen, die wir gemeinsam gesehen und über die wir gesprochen haben und nachgedacht, feine Spuren auf Gehwegplatten oder Muster in Nervenzellen, Linien, die auf einen anderen Ort verweisen und eine andere Zeit. Vielleicht habe ich auch einfach immer noch nicht verstanden, was die Worte mein Bruder ist tot bedeuten, und das Kind in mir weigert sich, anzuerkennen, dass sich etwas verändert hat zwischen uns, in dem Moment, als ich eine Kiste im Regen in eine Grube sinken sah, vor einem Holzkreuz mit seinem Namen. An dem Abend, an dem ich meinen Bruder zum letzten Mal traf, schrieb ich ihm einen Brief. Er hatte ein paar Minuten vorher wortlos meine Wohnung verlassen, wegen irgendeiner Nichtigkeit, er war manchmal sehr empfindlich, wenn er betrunken war, und ich hatte das Gefühl, dass er übertrieb, also schrieb ich ihm. Ich weiß noch, dass ich mit Bleistift schrieb, was ungewöhnlich für mich war, und ich erinnere mich auch noch daran, dass die Buchstaben immer größer wurden mit jeder Seite, die ich umblätterte in meinem Notizbuch. Daran, dass ich in mein Notizbuch schrieb und nicht auf das schöne Briefpapier, das mir meine Großmutter früher Jahr für Jahr zu Weihnachten schenkte, merkte ich, dass ich gar nicht wirklich vorhatte, diesen Brief abzuschicken, und als mir das bewusst wurde, wurde der Ton immer heftiger, immer rücksichtsloser und ausfallender, was mich erstaunte, weil mir mein Bruder ja nichts getan hatte, außer mich zu ein paar tausend unnötigen Bieren und Schnäpsen und Zigaretten zu überreden, die ich eigentlich auch hätte ablehnen können, wenn ich gewusst hätte wie, und ich weiß nicht, ob er wusste, dass ich nicht wusste wie, aber manchmal denke ich, dass er es vielleicht hätte wissen können, ihm fiel es auch nicht leicht, Nein zu sagen, also hätte er ahnen können, dass ich auf keinen Fall Nein sagen würde, wenn er an meiner Tür klingeln würde mitten in der Nacht, und in dem Moment klingelte es zum zweiten Mal in dieser Nacht an meiner Tür, und diesmal nahm ich sofort Jacke, Mütze und Schal, zog meine Stiefel an, und statt den Summer zu betätigen, trampelte ich laut und deutlich die Treppe hinunter, zuerst vorwurfsvoll, dann erleichtert, nicht mehr an einem Brief schreiben zu müssen, den ich sowieso niemals abschicken würde, sondern stattdessen weiter Bier trinken zu können mit meinem Bruder, und die Tatsache, dass er kaum eine Viertelstunde vorher meine Wohnung wortlos verlassen hatte, kommentierten wir selbstverständlich nicht. Stattdessen überlegten wir, wo man um diese Uhrzeit noch hingehen könnte, normalerweise gingen wir in den Bachwirt, aber den hatte er erst vor einer Stunde zugesperrt, sonst wäre er ja nicht bei mir gewesen, da wollte er so schnell nicht wieder hin, nein, wir mussten etwas anderes finden, etwas, das lange aufhatte, an einem Dienstag, oder war es Mittwoch, also überquerten wir vorsichtig das mit Rollsplitt übersäte Eis unter den dunklen, hohen Buchen am Spielplatz schräg gegenüber meiner Wohnung und bogen dann ein in die Jahnstraße, die auf die Fraunhoferstraße führt, da würde es sicher was geben, und als ich nach einem Blick zu den feinen Flocken in den weißen Lichtkegeln der Straßenlaternen vorsichtig Sunshine Pub sagte, sagte mein Bruder, Theaterklause, was mich überraschte, ich dachte, er hasste die Leute da, seit er da nicht mehr arbeitete, oder arbeitete er da nicht mehr, seit er die Leute hasste, jedenfalls war klar, dass wir in die Theaterklause gehen würden, wenn er das vorschlug, um diese Uhrzeit und nach der Menge Bier, die wir beide getrunken hatten, bei mir zu Hause, und wenn ich ganz ehrlich war, war es mir auch egal, wo wir landen würden, solange es nicht der Flaschenöffner war, und dann überquerten wir die Fraunhoferstraße und passierten das dunkle, verlassene Wirtshaus Fraunhofer und gingen die Klenzestraße entlang zur Theaterklause, die ebenfalls dunkel war und verlassen, und dann rüttelten erst er und dann ich an der Tür, und dann sagte ich, schade, schon zu. Wenig später standen wir im Flaschenöffner, mein Bruder ging an die Bar, und ich hoffte, dass man ihn bald bemerken würde, er lächelte zwar noch einmal gespielt arrogant und ungläubig zu mir herüber, aber danach verfinsterte sich seine Miene langsam, und ich meinte schon, darin etwas aufblitzen zu sehen von der alten, kindlichen Verzweiflung über das Nicht-beachtet-Werden, doch in dem Moment drehte der bullige, schnauzbärtige Mann hinter der Theke seinen Kopf und sah meinen Bruder und ging langsam hin und fiel ihm um den Hals, ohne seine dicken Backen und buschigen Brauen irgendwie zu bewegen. Es hatte etwas Komisches, dieses brutale Gesicht über der Schulter meines Bruders und darunter zwei speckige Arme, die einen dünnen Rücken drückten, manche nehmen zu, wenn sie trinken, andere nehmen ab, und dann sah der Mann mich und lächelte natürlich immer noch nicht, sondern nickte nur langsam, und dann war er plötzlich am Zapfhahn und machte uns wie jedes Mal zwei Halbe Augustiner Hell, obwohl er wusste, dass mein Bruder lieber Weißbier trank, und deswegen kam ich so ungern hierher, weil ich jedes Mal unsicher war, wie mein Bruder diese Bevormundung aufnehmen würde, aber an jenem Abend schien er sich nicht besonders dafür zu interessieren, er war durstig, wir stießen an und nahmen beide einen großen Schluck, dann stellten wir die Gläser ab, und Schorsch, oder Max, oder wie der Wirt vom Flaschenöffner auch immer hieß, setzte sich zu uns und stützte sein schweres Gesicht auf seine schweren Arme und sah mit uns raus auf die Fraunhoferstraße, wo auf einmal sehr viel dickere Flocken zu fallen begannen. Als Schorsch, oder Max, seinen Kopf zu mir drehte, nickte ich zustimmend, so als wollte ich sagen, dein Augustiner schmeckt mir besonders, oder, Wahnsinn, Schnee, oder so, ein Reflex zur Herstellung von Harmonie, wie meistens, wenn größere, ältere oder sonst wie mächtigere Männer mich ansahen, und dann fragte Schorsch, oder Max, meinen Bruder, ob denn sein kleiner Bruder auch sprechen könne, und mein großer Bruder sagte, lass meinen kleinen Bruder in Ruhe. Ich war von dieser Reaktion nicht überrascht, aber so gerührt, dass ich Herzklopfen bekam, und als ich sah, wie sich der Blick meines Bruders verhärtete, dachte ich angestrengt nach, was ich sagen könnte, um die Situation etwas aufzulockern, ich wusste, dass mein Bruder, wenn er in der richtigen Stimmung war, wahrscheinlich jemanden töten würde für mich, was auch immer das genau bedeutete, jemanden für jemanden töten, oder sterben für etwas, also fragte ich den Flaschenöffner-Wirt, aus dessen Boxen gerade First time von Robin Beck ertönte, ob er auch Roxette hätte, It must have been love. Kurz darauf standen mein Bruder und ich und drei schon etwas mitgenommene Stammgäste auf der Sitzbank in der Ecke, die Arme umeinandergeschlungen, und grölten die Worte
But I lost it somehow. Ich weiß nicht, ob es um mich ging oder um die Vereinigten Staaten, die mein Bruder manchmal ähnlich heftig verteidigte, das Heimatland seiner Mutter, jedenfalls schubste er einen unserer Mitsänger plötzlich ein wenig zur Seite, woraufhin der ihn von der Bank beförderte, mein Bruder fing sich aber gut ab, stand sofort wieder, griff mich am Arm und ging mit mir nach draußen, und mit der Hand, die mich nicht hielt, zeigte er der Welt den Mittelfinger. Die kalte Luft machte uns sofort nüchterner, ebenso die Tatsache, dass die dicken weißen Flocken, die vom Inneren der Bar aus noch an Russland erinnert hatten oder an Kanada, sich hier draußen, auf einem Gehsteig in München, in nichts auflösten, und mein Bruder sagte, dass er es nicht fassen kann, dass Amerika, obwohl es die Deutschen von Hitler befreit hat, mittlerweile nicht mehr als Freund gesehen wird, sondern immer öfter nur noch als große, brutale, fremde, konsumorientierte Macht. Fucking Germans, fluchte er dann, was ich ihm nicht übelnahm, er war ja selber deutsch, aber eben auch amerikanisch, ich weiß nicht, was euer Problem ist, fügte er an, was mich dann doch etwas irritierte, dieses ewige Rumreiten auf dem Konsum und dem Kapitalismus, das nennt man Freiheit, ihr Untertanen, und es gibt, soviel ich weiß, immer noch kein Gesetz in Deutschland, das euch zwingt, bei McDonald’s zu essen, oder Nikes zu tragen, oder Roxette zu hören. Die sind aus Schweden, entgegnete ich, worauf er nicht einging, immer heißt es Heuchelei, sagte er, Oberflächlichkeit, Verlogenheit, dabei sind es diese fettwanstigen Säufer da drinnen nicht wert, den Namen des Landes, das meine Mutter hervorgebracht hat, auch nur zu denken, niemand war aufrichtiger als sie, liebevoller, zuverlässiger, und dass euch ohne uns die anderen Europäer 45 aus Rache alle abgeschlachtet hätten, davon fange ich gar nicht erst an, sagte er, und ich dachte, gut, dann fange ich auch nicht an mit dem Beitrag der Russen zum Sieg über Hitler. Es ist nur Neid, sagte ich stattdessen, und er verlangsamte sofort das Tempo, mit dem er bis dahin vor mir gelaufen war, so dass er über die linke Schulter zu mir hatte sprechen müssen, und bei dem Antiquitätenladen an der Ecke Müllerstraße blieb er dann plötzlich stehen und sah in das Schaufenster, auf den Nachdruck eines alten Kupferstichs der Insel Helgoland, im siebzehnten Jahrhundert, kurz bevor sie von einer Sturmflut durchschnitten worden war, genau in der Mitte. Ich glaube, viele Menschen in Deutschland sind insgeheim bitter enttäuscht, weil das Bild, das sie sich von Amerika gemacht haben, nicht mehr der Wahrheit entspricht, sagte ich, und ich fasste es als Zustimmung auf, dass mein Bruder trotz der späten Stunde und dem vielen Bier nicht widersprach, sondern still weiter zuhörte, während er auf das ausgeblichene Rot des Sandsteinfelsens starrte, auf die raue Nordsee, die kleinen Häuser im Windschatten der Klippen. Wir können den Amerikanern nicht verzeihen, dass sie die richtigen Ideale verraten haben, während wir den falschen treu geblieben sind bis zum Schluss, sagte ich seltsam feierlich und mit einem Ernst, der mich überraschte, als wäre das, was da aus mir herauskam, ein schon lange erkannter, geprüfter und für zutreffend erklärter Glaubensgrundsatz von mir, nicht der spontane Versuch eines Betrunkenen, einen anderen Betrunkenen zu besänftigen. Es kam keine Antwort, und mein Blick fiel auf eine Traunsteiner Tracht im Schaufenster schräg über dem Helgoländer Kupferstich, und ich stellte mir kurz vor, wie ich in ihr wohl aussehen würde beim Trinken, auf dem Oktoberfest, und ich fragte mich, wie oft ich die Frage, ob ich aus Traunstein stamme, dann wohl verneinen müsste, in dem schlechten Bairisch, das ich manchmal sprach, wenn ich betrunken war, und dann sagte mein Bruder, immer noch auf die komische kleine Nordseeinsel fixiert, dass er damals bei seiner schließlich abgebrochenen Dissertation über den Zusammenhang zwischen den Namen militärischer Operationen und ihrem Gelingen zwischenzeitlich auch das Projekt Hummerschere untersucht hätte, es dann aber wieder fallenlassen musste, da es sich bei dem irrwitzigen Plan Hitlers, mitten in der Nordsee den größten Marinehafen aller Zeiten zu bauen, mit vier Kilometer langen Kaimauern an einer zwei Kilometer langen Insel, ja nicht direkt um eine kriegerische Operation gehandelt habe, wie er mit einer plötzlichen Sachlichkeit ausführte, die mich beruhigte, sondern vielmehr um ein erstaunliches Beispiel selbstzerstörerischer Inkompetenz, weil man erst, nachdem man Hunderte Tonnen Sand ins Meer geschüttet hatte, damit begann, darüber nachzudenken, ob es im Zeitalter der Flächenbombardements wirklich so schlau wäre, die gesamte Flotte an einem einzigen Punkt mitten im Meer zu konzentrieren, ohne vorgeschobene Luftverteidigung. Wir gingen weiter, jetzt wieder nebeneinander, und wenn wir hier rechts gegangen wären, hätten wir nach wenigen Metern vorm Sunshine Pub gestanden, man hörte schon die Musik, aber mein Bruder ging geradeaus weiter, quer über die Müllerstraße, und erst dann, auf der anderen Straßenseite, nach rechts, so als wollte er sichergehen, beim Passieren der offenen Tür des Sunshine Pubs nicht aus Versehen hineinzufallen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, dass so viele Autos fuhren, mitten in der Nacht und unter der Woche, und als wir kurz stehen blieben, weil mein Bruder seine Zigaretten suchte, erst mir eine gab, dann sich selbst, dann uns beiden Feuer, dachte ich an die Büsten der vier Elemente über dem Tor der nahe gelegenen Hauptfeuerwache, und dann machte er plötzlich kehrt, und wir gingen geradewegs auf die Papa-Schmid-Straße zu, und ich fragte mich, wie es möglich war, dass allein die Vorstellung einer in den Vierzigerjahren vorübergehend angebrachten fünften Büste, die die nächtlichen Bombardierungen symbolisieren sollte, so grotesk klang wie das Wort Krieg vertraut. Als wir an der nächsten Kreuzung wieder nach rechts gingen, die Blumenstraße entlang und dann in die Corneliusstraße, um schließlich wieder die Müllerstraße in Richtung Gärtnerplatz zu überqueren, dämmerte mir, dass mein Bruder wahrscheinlich ins Holy Home wollte, worüber ich mich freute, auch dort gab es Augustiner, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es mir heute gelingen könnte, im richtigen Moment mit dem Trinken aufzuhören. Wofür machst du das eigentlich, Philosophie, fragte mein Bruder auf einmal, als er sich schnellen Schrittes vor mir über das Kopfsteinpflaster bewegte, die Hände in den Jackentaschen, sein Kinn im Kragen vergraben, interessiert dich das wirklich, oder tust du es für unseren Vater, reich wirst du damit ja wohl nicht, und dann begann er zu lachen, und ich lachte auch, herzlich, zunächst, und echt, befreit, und dann hatte ich eigentlich schon so langsam genug gelacht über mich für meinen Geschmack, aber er war noch mittendrin, er lachte immer heftiger, es gab kein Halten mehr, wir waren sogar stehen geblieben, und ich zwang mich zu einem Lächeln, sonst hätte er denken können, dass ich beleidigt sei, und sein Kopf und der ganze Oberkörper hoben und senkten sich in Wellenbewegungen, die ich innerlich mit dem Wort spastisch bezeichnete, und meine Mundwinkel taten mir weh vom Lächeln, und dann sagte er, ’tschuldigung, war nicht so gemeint, und ich sagte, kein Problem, und er sagte, es täte ihm wirklich total leid, echt jetzt, und dann prustete er wieder los, insgesamt drei Mal mussten wir stehen bleiben, weil er nicht mehr gehen konnte vor Lachen, immerhin hatte ich mit dem Lächeln aufgehört, was es mir etwas erleichterte, seine Anfälle passieren zu lassen, beim vorletzten hatte ich mir eine Zigarette angezündet, die immer noch brannte, als er endgültig mit dem Lachen aufhörte, und dann sahen wir, dass das Holy Home schon geschlossen war. Ich unterdrückte die Frage, ob er als ehemaliger Fachmann für die Strahlkraft von Namen auf die Projekte, die sie bezeichnen, es nicht hätte ahnen können, dass zwei der drei Kneipen, zu denen er uns geführt hatte an jenem Abend, nicht mehr geöffnet waren, und murmelte stattdessen vorsichtig Sunshine Pub, aber er schüttelte den Kopf und sagte, da sind nur Alkis und Arschlöcher, ich dachte, gut, Arschlöcher sind wir sicher nicht, und dann sagte er, komm, wir gehen in die Kapuzinerklause, und ich sagte nichts, sondern ging zügig neben ihm die Klenzestraße hinunter, wieder zurück zur Fraunhofer, durch die kalte, klare Luft. Es hatte aufgehört zu schneien. Eigentlich wollte ich nicht in die Kapuzinerklause, ich ging da nur ungern hin, seit mein Bruder mich einmal vormittags von dort angerufen hatte, betrunken, und mich gebeten, ich möge ihm einen Koffer bringen, den seine damalige Freundin, von der er wieder einmal hinausgeworfen worden war, im Bachwirt abgegeben hatte, wo er damals schon einmal für kurze Zeit arbeitete und der ja ganz in der Nähe meiner Wohnung lag, aber ich war gerade in Bangkok gelandet, wo ich mit meiner Freundin Urlaub machen wollte, und ich weiß noch, wie erleichtert ich war über den guten Grund und die glaubwürdige Entschuldigung, nicht zu ihm in die Kapuzinerklause zu kommen, und gleichzeitig erschrak ich, weil ich kein bisschen Mitleid hatte mit ihm in diesem Moment, ich glaube heute sogar, dass ich damals das Telefon nur abnahm, weil ich wusste, ich war weit weg. Auf der Fraunhoferstraße bogen wir dann links ab, Richtung Isar, und das einsame Licht des Brückenkiosks erfüllte mich sofort mit Wärme, ich glaube, meinen Bruder auch, hier gab es Bier, also gingen wir hin, ohne uns erst zu beraten. Wahrscheinlich war es die Macht der Gewohnheit, die uns mit den Flaschen ein Stück auf die Reichenbachbrücke gehen ließ, ehe wir sie öffneten, hier trank er auch Helles, klar, es gab ja kein Glas, und nach dem Anstoßen lehnten wir uns auf die eiskalte Brüstung, das machte man normalerweise im Sommer, genau wie Bier kaufen am Kiosk und draußen trinken und herumlaufen stundenlang ohne Plan, und eigentlich hätte ich ahnen können, dass wir nicht lange so stehen bleiben würden, mit Blick auf den schwarz unter uns liegenden Fluss und das damals, vor der Renaturierung, noch mit Beton begradigte Ufer und die Überschwemmungswiesen, wo man im Sommer den ganzen Tag zusehen konnte, wie Nackte herumlagen und Hunde kackten, jetzt sah man nichts, nur die schwach beleuchteten Türme der neoromanischen Kirche gleich rechts, deren Namen ich immer vergesse, und weiter hinten die blinkenden Flugzeugwarnleuchten am Schornstein des Heizkraftwerks. Es war schon damals nicht mehr möglich, einen Satz zu bilden, der die Worte Turm und Flugzeug enthielt, ohne an jene Allgemeingut gewordene Stadt zu denken, an das Land, für das sie steht, die Wunde, die beiden zugefügt worden war, und wie man sie, beim Versuch die Verletzung auszumerzen, weiter und weiter aufriss, und tiefer, und sofort fielen mir wieder die verratenen Ideale von vorhin ein, und die Enttäuschung, und dann, da ich nun schon recht betrunken war und wusste, dass das da vorne nach der Flussbiegung hinter der schwarzen Baumreihe ein Kraftwerk war, dachte ich erst das Wort Öl, dann an Feuer, und ich weiß nicht mehr, ob mein Bruder sich, kurz vorher oder kurz nachdem ich das Wort in meinem Kopf geformt hatte, eine Zigarette anzündete, aber es war in diesem Moment, dass ich ihn fragte, und was interessiert dich an Geschichte, und er antwortete, komm, es ist kalt. Als wir unter den Bäumen am Ufer entlang Richtung Wittelsbacherbrücke liefen, musste ich die eiskalte Flasche, um sie überhaupt halten zu können, ständig hin- und herreichen zwischen meinen Händen, mit dem Ergebnis, dass meine Finger schnell kälter wurden und das Bier langsam wärmer. Man hört ja nie auf zu hoffen, sagte mein Bruder dann, morgen ein wenig mehr zu verstehen von dem, was passiert, wenn man sich ansieht, was gestern war, und obwohl das natürlich die allererwartbarste Begründung ist für ein Studium der Geschichte, berührte mich diese Aussage sehr, weil er zum ersten Mal über eine seiner lange zurückliegenden Tätigkeiten sprach ohne Bitterkeit oder Zynismus. Und natürlich ging es mir auch darum, herauszufinden, wer ich selber eigentlich war, fügte er dann noch an, und mir fiel sofort auf, dass er die Zeit gewechselt hatte, aus der immer noch andauernden Hoffnung im Satz vorher war ein Rückblick geworden auf ein abgeschlossenes Experiment, auch wenn er erst einmal nicht sagte, was es ergeben hatte. Es war unter der im Vergleich zum Uferweg unangenehm hellen Beleuchtung der Kapuzinerstraße am Baldeplatz, als er plötzlich sagte, dass er es für ein merkwürdiges Missverständnis halte, Geschichte als etwas Vergangenes zu betrachten, für ihn sei sie immer viel mehr gewesen als eine Rückschau aus sicherer Entfernung, im Gegenteil, Geschichte, sagte er, sei der jeden Tag in jedem Gehirn von Neuem stattfindende Prozess, eine Ordnung herzustellen zwischen den bereits irgendwo abgelegten und verschieden schnell verblassenden Eindrücken sowie dem neuen, immerzu einströmenden Jetzt, und es sei eigentlich nicht möglich, keine Ordnung zu bilden, auch der Versuch, jeden neuen Tag den davor vollkommen auslöschen zu lassen, sei in gewisser Weise ein geschichtswissenschaftliches Konzept, und er glaube, dass, wenn man ganz ehrlich ist, das Wort Geschichte eigentlich irreführend sei, da es genau diese Abgeschlossenheit vortäusche, einen Anfang und ein Ende, die es bekanntermaßen nicht gibt, der treffendere Ausdruck, sagte er jetzt, wäre vermutlich Erzählung, auch wenn das natürlich immer noch etwas zu hoch gestochen klinge, zu poetisch, romantisch beinahe, für die Beschreibung des Umstands, dass manche Wörter und Bilder in uns länger und heller scheinen als andere. Als wir die blau leuchtende Tankstelle passierten, wurde mir wieder bewusst, dass wir uns zielsicher auf die Kapuzinerklause zubewegten, obwohl ich da eigentlich immer weniger hinwollte, weil ich mir immer deutlicher vorstellte, dass dort die Leute wären, mit denen mein Bruder sich langsam kaputt trank, die paar Bier mit mir konnten es ja nicht sein, und dann fiel mir auf, dass ich außer dem zaghaften Sunshine Pub vorher noch keinen einzigen Gegenvorschlag gemacht hatte, um den Show-down abzuwenden mit den bösen Verführern meines lieben Bruders, und die Hoffnung, dass die Klause geschlossen sein könnte, war vollkommen sinnlos, ich wusste, dass man dort immer trank, es gab eigentlich keine Uhrzeit, die ich nicht irgendwann einmal gehört hatte auf der Ansage meiner Mailbox, früher, als mein Bruder mich noch von dort anzurufen pflegte wegen kurzer praktischer Fragen oder fundamentaler Zweifel und ich diese Nachrichten noch abhörte, und während ich zunehmend unglücklicher wurde über meine scheinbare Unfähigkeit, auf den weiteren Verlauf des Abends Einfluss zu nehmen, sagte mein Bruder, dass er früher noch daran geglaubt habe, dass wir es selbst in der Hand hätten, zu entscheiden, was wir uns zu Herzen nehmen und was nicht, dass es unser Wille sei, der die Ordnung mache in unserem Kopf, nicht der Zufall, die Herkunft oder das Fernsehprogramm, nein, er sei jahrelang davon überzeugt gewesen, dass es in unserem Leben keinen anderen Erzähler gebe außer uns selbst. Und er sei sich natürlich darüber im Klaren, fügte er hinzu, dass das auch eine Reaktion sei auf Erlebnisse in seiner Kindheit, eine Art postpubertäre Selbstermächtigung zum Ausgleich des Unrechts, das seine Mutter erfahren hatte von unserem Vater, als er sie für meine Mutter verließ. Mittlerweile liefen wir neben der Mauer des Alten Südfriedhofs entlang, und es fiel mir nicht leicht, die Gedanken
weil er sie verlassen hat, gibt es mich und jetzt ist sie tot