19,99 €
Zum zweiten Mal ist er Vater geworden. In der einen Nacht will und will die kleine Tochter nicht aufhören zu schreien, und in der nächsten fragt er sich, ob sie noch atmet. Am Tag findet er sich zwischen Windeln und Fläschchen und dem Playmobil des ersten Kindes wieder. Und während seine Frau die Hauptverdienerin ist, träumt er von einem Leben in einem großen Haus am Meer oder von Sex mit anderen. Er ist überfordert als Vater, verunsichert als Mann. Wieso fällt es ihm so schwer, sich in seine Rolle einzufügen? Und welche dunklen Seiten hat sein Mann-Sein, welches Potenzial an Wut und Gewalt schlummert in ihm? Mit seinem Kind im Arm sucht er nach Antworten und findet Momente der Liebe, der Nähe und des Glücks.
Wellen ist ein Roman über das Auf und Ab im Alltag eines jungen Vaters, eine Auseinandersetzung mit dem Wunder des Lebens und der Liebe zum eigenen Kind. Er erzählt von einem modernen, um Gleichberechtigung bemühten Mann in einer Gesellschaft, in der immer noch alte Ideale und Geschlechterverhältnisse vorherrschen. Heinz Helles persönlichstes Buch und ein hochpoetischer Text von großer Kraft und Aktualität!
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Seitenzahl: 332
Heinz Helle
Wellen
Roman
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München
Umschlagabbildung: Carsten Nicolai, chroma wellenform (scan 9) 2015, Pigmentdruck (Scanograph), 540 x 420 mm, Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin and Pace Gallery, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
eISBN 978-3-518-77394-9
www.suhrkamp.de
Wellen
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Am Abend fragst du mich
Ich erwache
Und wie lieben
Und dann besuche ich
Es war, nachdem deine Eltern
Und auf der Rückfahrt
Und dann höre ich
Es ist noch dunkel
Und dann sagen
Und am nächsten Morgen
Und am Geburtstag
Und wieso denke ich
Und dann finde ich
Und am Abend im Schrebergarten
Und am nächsten Morgen
Und dass ich
Und die Erfahrung
Und vielleicht ist der Wahnsinn
Und dann schicken mir
Ich glaube, es war
Es ist zehn Uhr morgens
Und in dem Moment
Und am Abend darauf
Und am Samstagabend
Und am nächsten Morgen
Ich stehe mit Z
Und am Morgen
Und als ich am Tag darauf
Und ich denke
Am nächsten Tag sitze ich
Und dann fahren wir
Und dann sagt meine Schwester
Und dann wache ich
Aus den Boxen im Wohnzimmer
Und auch wenn
Und dann war die Reise
Seit einigen Wochen schon
Und dann habe ich
Und zwei Tage später sitze ich
Jetzt ist mir warm
Und am Abend weint B bitterlich
Und seit zwei Wochen
Und draußen leuchtet der Schnee
Dank
Quellen
Informationen zum Buch
Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: Weil du so riechst, wie du riechst.
Und dann fragst du: Wie rieche ich denn?, und ich sage: So wie nur du.
Und du lächelst, ich sehe es, obwohl es dunkel ist, und du gibst mir einen Kuss auf die Stirn, fällst ins Kissen, schläfst ein.
Und ich denke daran, wie wir uns kennenlernten und merkten, dass wir zusammen sein wollen, und wie wir dann merkten, dass wir das auch konnten, zusammen sein und gemeinsam die Welt anschauen und versuchen, ab und zu etwas festzuhalten, in Worte zu fassen, was uns gefällt oder nicht gefällt, was uns Angst macht, staunen lässt, zum Lachen bringt oder zum Weinen.
Und dass so was wirklich möglich sein könnte, das hatte ich mir nicht vorstellen können, bevor wir uns kennenlernten, und deswegen wurde das dann für mich alles eins, du, ich, die Welt, die Sprache, und seitdem habe ich nur einen Wunsch: dass das immer so bleibt.
Ich erwache, als alle noch schlafen.
Ich gehe in die Küche, lasse Wasser ins Spülbecken laufen, nehme den Schwamm in die Hand, höre lautes Geschrei.
Also lege ich den Schwamm wieder hin und greife nach der Thermoskanne, fülle abgekochtes Wasser in eine kleine Plastikflasche, gebe Milchpulver dazu, mache langsame kreisende Bewegungen mit der Flasche und nähere mich dann unserer zweiten Tochter, die erst seit ein paar Wochen auf der Welt ist.
Und als ich endlich bei ihr bin, ist sie bereits so zornig, dass sie nicht mehr trinken kann, sie hustet, verschluckt sich, ich nehme sie hoch, ihr Schreien wird lauter, ich versuche, sie etwas näher an mich zu drücken, um sie zu beruhigen, presse sie an meine Brust, das funktioniert manchmal, auch wenn es sich brutal anfühlt, und ich staune, wie schnell meine innere Ruhe verfliegt und mein Mitgefühl abnimmt, je länger ich sie so höre: hoch, monoton, schrill.
Und irgendwann merke ich, dass es nichts bringt, sie an mich zu drücken, dass sie sich immer weiter wegbeugt von mir mit der ganzen, erstaunlichen Kraft ihres kleinen Körpers, dass ihr Schreien noch lauter wird, also springe ich vor Wut in die Höhe, sie verstummt, und ich lande auf dem Boden mit ihr in den Armen und gehe in die Knie und halte sie, höre sie nur noch leise schluchzen und spüre, wie sie am ganzen Körper zittert.
Und ich frage mich, wieso ich kein schlechtes Gewissen habe angesichts meiner Unfähigkeit, die Situation anders zu empfinden als nervenzehrend, es ist mir nicht möglich, in dem kleinen, wehrlosen Wesen in meinen Armen in diesem Moment etwas anderes zu sehen als eine möglicherweise defekte Maschine, die mit ein paar richtigen Handgriffen wieder unter Kontrolle zu bekommen wäre, ich spüre meine eigene Kälte auch beim Anblick des jetzt wieder aufgerissenen kleinen Mundes, der darin zuckenden Zunge, stelle mir vor, wie der Schall ihrer Schreie durch mein Gesicht hindurchgeht, durch meinen Schädel, mein Hirn.
Ich frage mich, ob vielleicht das Wasser in der Thermoskanne nicht mehr die richtige Temperatur hat, gehe mit dem brettharten, lärmenden Wesen in meiner Linken zurück in die Küche, schalte den Wasserkocher ein, schöpfe erneut mehrere Messlöffel Milchpulver in die kleine Plastikflasche und gieße dann etwas von dem bereits vor Stunden abgekochten Wasser aus der Thermoskanne und ein wenig frisches kochendes Wasser dazu, nehme einen kleinen Schluck, um sicher zu sein, dass es nicht zu heiß ist, und sitze kurz darauf auf der Couch, stecke den Sauger der Flasche in den weit aufgerissenen Mund, aus dem mittlerweile ein wellenartig an- und abschwellendes Kreischen kommt, das so heftig ist, dass sich der kleine Körper bei seinen Versuchen, Luft zu holen, wieder verschluckt und von Hustenanfällen erfasst wird, bis Z dann die Milch vom letzten Mal, als sie es geschafft hat, etwas zu sich zu nehmen, über meine Brust erbricht, und ich beschließe, weder sie noch mich selbst abzuwischen, sondern bewege stattdessen die Flasche mechanisch vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück, und im Augenwinkel sehe ich, dass ich, je nachdem, was sie tut, abwechselnd ihr Kinn treffe, ihre Wange oder die Leere ihres zum Schreien geöffneten Mundes.
Und ich weiß, dass so was normal ist.
Ich weiß nur nicht, ob es normal ist, ab und zu hässliche Bilder vor dem inneren Auge zu sehen, in denen die eigene Faust eine Rolle spielt, und ich weiß auch nicht, ob das plötzliche Verständnis für Eltern, die es nicht schaffen, ihre Kinder großzuziehen, die sie vernachlässigen oder ihnen etwas antun, ein Zeichen von zu- oder abnehmender Empathie ist, und ich weiß auch nicht, ob es normal ist, dass man sich fragt, wie man überhaupt Empathie mit etwas empfinden kann, das einen nicht einmal anschaut, geschweige denn mit einem spricht.
Und in dem Moment, als ich mir gerade ganz sicher bin, dass wir alle verloren sind, dass wir keine Chance haben, den unumkehrbaren Zerfall der menschlichen Gemeinschaft in immer schneller erkaltende Individuen aufzuhalten, in dem Moment kommst du und nimmst das schreiende Kind aus meinen Armen und gehst zurück ins Schlafzimmer, und bald ist es still, und ich schlafe auf der Couch, wache auf, als der Wecker klingelt, wecke unsere erste Tochter B, frühstücke mit ihr, sortiere nebenbei die kleinen Leinensäcke für den Adventskalender, helfe ihr beim Anziehen, frage, was sie in den Kalender möchte, Spielsachen oder Süßigkeiten, sie sagt: Spielsachen, und dass sie einen Adventskranz will, wir verabreden, am Samstag einen zu basteln, sie putzt Zähne, ich hole die Wäsche aus der Maschine im Keller, dann klingelt es, die Nachbarstochter ist da, um mit B gemeinsam zur Schule zu laufen, und kurz darauf stehe ich auf dem Balkon und winke den beiden hinterher und winke noch immer, als sie schon lange wieder auf den Boden schauen, ins Laub, durch das ihre Füße sich vorwärtsbewegen in den Tag.
Und wie lieben möglich sein soll, ohne festzuhalten, hat einem niemand erklärt, oder wie leben, ohne loszulassen, und ich spüre das Frottee über meine Haut reiben in meinem Gesicht, und ich weiß, dass es mir besser gehen wird, wenn ich es dabei ganz fest aufdrücke, das ist ja auch logisch, die Rezeptoren auf meiner Haut, die das Handtuch stimuliert, sind verbunden mit meinem Gehirn, wieso soll es nicht möglich sein, schlechte Gedanken abzutrocknen, und dann muss ich an die Legende denken, die Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha erzählt, von dem Heiligen, der sich mit einem Kranken hinlegt und seinen fauligen Atem atmet, und daran, dass Iwan das alles für vollkommen übertrieben und sinnlos hält, für eine Lüge zur Aufrechterhaltung der weltlichen Macht der Kirche, für ihn sei diese Art Nähe nicht nur nicht möglich, sondern nicht einmal wünschenswert, und ich weiß noch, dass ich ganz genauso dachte, bis ich die Antwort las, die Aljoscha findet auf die Zweifel seines traurigen Bruders: ein Kuss auf den Mund.
Und vielleicht hat mich dieser Kuss darum damals so sehr berührt, weil er so wahr schien, so klar, nah und schnell und schnell wieder vorbei, denn vielleicht ist das die einzige Art von Wahrheit, die überhaupt möglich ist, die Wahrheit des Augenblicks, Lippen, die sich kurz berühren, und das war’s, und schon im nächsten Moment ist auch wieder die Lüge möglich und nötig, aus Liebe, Langsamkeit oder Staunen, wie bei Hanya Yanagihara, wo Willem jeden Tag absichtlich stolpert und der Länge nach hinfällt, um die gehbehinderten Kinder, die er betreut, zu unterhalten, und es gelingt, und sie lachen sich jeden Tag von neuem kaputt, wie man sagt, doch in Wahrheit lachen sie sich natürlich heil, und was wäre gewonnen, wenn ich Z sagte, sobald sie alt genug wäre, um mich zu verstehen, dass ich nicht den Mut hatte, sie zu küssen, als ich sie auf der Neonatologie liegen sah mit Kabeln in Nase und Mund für Nahrung und Luft, und ich stand daneben, und sie war so klein, und ich wusste nicht, wie ich ihr zeigen könnte, dass ich wollte, dass es ihr gut geht, und ich denke, es lag daran, dass ich, wenn ich ganz ehrlich bin, wahrscheinlich Angst hatte, es zu sehr zu wollen, weil ich dann ja, wenn es ihr nicht gut gehen sollte, irgendwie verloren hätte, in irgendetwas gegen Ich-weiß-auch-nicht-wen, als wäre das alles ein Spiel, also legte ich, auch weil zwei Krankenpflegerinnen dabei waren, nur eine Hand auf ihren Rücken, nahm sie aber bald wieder weg, weil meine Hand natürlich viel kälter war als die Wärmelampe darüber, und erst als ich vorsichtig meine Hand anhob, spürte ich die feinen Härchen auf ihrer roten Haut.
Und ein paar Tage später lese ich in A Little Life: There were times when the pressure to achieve happiness felt almost oppressive, as if happiness were something that everyone should and could attain, and that any sort of compromise in its pursuit was somehow your fault, und ich schreibe das ab, weil ich glaube, dass es wichtig sein könnte für uns, und ein paar Minuten später schaffe ich es dennoch nicht, meine Wut zu unterdrücken, als ich dich weinen sehe, beim Blick aus dem Fenster, vom Sofa aus, mit dem Morgenkaffee in den Händen, die Kleine schläft noch, und die Große ist schon in der Schule, also stehe ich auf und gehe abspülen oder Wäsche aufhängen und denke dabei an den Untergang der 6. Armee.
Und als du mich neulich fragtest, wie es sich anfühlt, Teil eines potenziell gewalttätigen Geschlechts zu sein, dachte ich lange nach, einerseits weil es mir richtig vorkam, eine solche Frage nicht impulsiv zu beantworten, andererseits weil mir bewusst wurde, dass ich mir diese Frage selbst so noch nie gestellt hatte, was erstaunlich ist, da ich ja auch in der Gegenwart lebe, eine Mutter habe und eine Schwester, zwei Töchter, Solnit gelesen habe und auf dem Zürcher Frauenstreik mitmarschiert war und dabei mit einem gewissen Stolz gedacht hatte, dass dank so guter Männer wie mir die Gleichberechtigung unmittelbar bevorstehen müsse, aber den wichtigsten, seltsamsten, interessantesten Aspekt der geschlechtlichen Ungleichheit, nämlich den, dass es die Männer sind, die Gewalt ausüben, hatte ich als Teil meiner Selbstkonstitution bisher komplett ignoriert, dabei weiß ich nicht erst, seit ich im Streit mit dir einen Tisch umgeworfen habe, dass auch in mir Kräfte ruhen, die ich weder benennen noch kontrollieren kann, wenn sie in Bewegung geraten, ich kann nur versuchen, die sie auslösenden Denk- und Fühlmechanismen zu kontrollieren, was mir mithilfe einer Therapeutin seit damals auch einigermaßen gelingt, aber dann fiel mir ein, dass mich meine Fähigkeit zur Vernichtung eigentlich schon viel früher beschäftigt hat, morgens, in der Münchner U-Bahn, unterwegs in die Schule, den Blick auf den Boden gerichtet, wenn andere Kinder einstiegen, die größer waren als ich und stärker und mehr und sich laut unterhielten in fremden Sprachen, und ich mich fragte, ob ich sie, wenn sie mich angriffen, wohl besiegen könnte und wie genau, mit dem Nothammer neben dem Fenster oder dem Feuerlöscher unter dem Sitz, oder nachts, wenn ich von Bergen abgemagerter Leichen träumte, von zerrissenen Soldaten, an Straßenlaternen aufgehängten Volkssturmmännern, vergewaltigten BDM-Mädels oder prügelnden KZ-Aufsehern, Kindern mit Panzerfäusten vor herannahenden T-34 und Gruben, Gruben, Gruben, gefüllt mit immer langsamer zuckenden Nackten, am Rand reguläre Verbände, Militär, Polizei, Militärpolizei, und ich merke, dass ich mich bei der Frage, wozu ich fähig bin, immer vor allem als Deutschen betrachtet habe und nicht so sehr als Mann.
Und dann ist es Abend, und ich sitze auf einer Bank vor dem Schulgebäude unserer älteren Tochter, gebe der jüngeren die Flasche, ärgere mich stumm über die spanisch sprechenden Frauen genau vor mir, die noch lauter sind als die ohnehin viel zu laute Playback-Musik, die den Chor überdeckt, der vor dem alten, hell angestrahlten Gebäude steht und in dem angeblich auch unser Kind singt, heute Morgen beim Frühstück hat sie noch geübt, ein spanisches Weihnachtslied an einer Zürcher Grundschule, vielleicht sprechen die Frauen vor mir auch deshalb so laut, weil sie das Lied schon kennen, und an das Schulhaus wird groß projiziert: We stand up for women, eine Initiative gegen häusliche Gewalt und für Gleichberechtigung, und ich fühle mich noch stärker als sonst auf der richtigen Seite der Geschichte, und plötzlich scheint es mir zum ersten Mal, als würde unser zweites Kind, dem ich die Flasche gebe und das eingewickelt ist in meine französische Armeejacke, mich ansehen, die braunen Augen wirken plötzlich ruhig und klar, fokussiert und ernst, und es scheint jemand hinter ihnen zu sein, nicht wie bei denen der ausgestopften Möwe, die uns eine Freundin aus Hamburg zur Geburt geschenkt hat und die seitdem im Wohnzimmer auf dem Esstisch steht und mich manchmal anstarrt, frühmorgens, wenn ich um halb vier mit Rückenschmerzen aus dem Bett taumle, mich zu ihr setze mit Stift und Papier und darauf warte, dass meine verschlafenen Augen wieder klar sehen.
Und dann besuche ich einen Freund, der an einem Film über den Klimawandel arbeitet und meine Meinung zum Rohschnitt hören will, und der erste Satz des Off-Sprechers ist: Ich habe kein Bild für zwei Grad, während der über die Sommermonate mit weißem Tuch verhüllte Rhonegletscher, braungraue Moränenlandschaften und ein wolkenloser Himmel zu sehen sind, die sich kurz danach vollständig auflösen in Helligkeit, als das Bild so gezeigt wird, wie es aussähe, wenn die Entwicklungsflüssigkeit im Labor um zwei Grad erwärmt wäre, und mit den Worten die dreimalige Verdoppelung der Menge von Licht endet der Beginn dieses Films über das Nicht-fassen-Können des schleichenden Untergangs an den Folgen unseres Tuns und der Folgenlosigkeit unseres Wissens, und ich muss an das unangenehmste Wetterphänomen denken, das ich je miterlebt habe, im Sommer, auf einer Autobahnraststätte irgendwo zwischen Hamburg und Bochum, als ein plötzlich aufkommender Wind viel zu früh verdorrte und abgefallene, bereits zu Krümeln zerbröselte rote Blätter aufwirbelt, so dass alles dunkel wird und man Augen, Nase und Mund mit den Händen schützen muss, und in dem Moment, in dem man sich fragt, ob das jetzt das Ende der Welt ist, ebbt der Wind plötzlich ab, und der Staub legt sich, und das Auto ist rot, und man schüttelt den Kopf und steigt ein und startet den Verbrennungsmotor, und das Außenthermometer zeigt 37 Grad Celsius, also legt man sich ein trockenes Tuch hinter den nass geschwitzten Rücken.
Und dann fällt mir plötzlich die Papiertragetasche ein, die ich, nachdem ich das Altglas im Altglascontainer entsorgt hatte, in den für Papier vorgesehenen Container daneben stopfte, und der Container war schon sehr voll, so voll, dass ich mich mit einem Mal fragte, ob das wirklich alles so weitergehen kann, und ich denke, diese Frage hing auch damit zusammen, dass sowohl auf der Tasche als auch auf dem Container ein Satz stand, der das Wort Zukunft enthielt, allerdings ging es auf der Tasche um eine Zukunft für alle, während der Container der städtischen Entsorgungsfirma lediglich von einer Zukunft für Zürich sprach.
Und als ich am nächsten Morgen B vom Balkon hinterherwinke, sind alle Fragen nach Ereignissen, die weiter entfernt sind als das Mittagessen, plötzlich wieder restlos verschwunden aus meinem Bewusstsein; in der Dunkelheit des Wintermorgens zwischen sieben und acht bezieht sich das Wort Zukunft nur auf die verbleibenden Minuten, bis die Nachbarstochter klingelt und B zur Schule abholt, und auf die Wiederholungen, die ich machen werde bis dahin mit Sätzen wie: Komm doch zum Frühstück, magst du Honig in deine Haferflocken, nein, der gepunktete Fleece-Pulli ist zu dick für unter die dicke Jacke, du musst etwas anderes anziehen, bitte zieh einfach irgendeinen ganz normalen Pullover an zwischen T-Shirt und Daunenjacke wie ein ganz normales Kind, und komm vor allem da raus, ich finde es toll, wie du dein Bett umbaust zu einem komplett abgeriegelten, vergitterten und gesicherten Raubtiergehege mit Wassergraben und Außenbereich, aber ich kann so nicht zu dir kommen, und wenn du willst, dass ich dir beim Anziehen helfe, dann komm jetzt sofort da raus, und nein, ich bin gar nicht streng, jetzt sofort ist kein böses Wort, und ja, vielleicht müsste ich es nicht ganz so laut sagen, aber das würde ich auch nicht, wenn du beim ersten Mal kommen würdest oder zumindest beim zweiten Mal; und ich überlege kurz, ob ich mit meinem Fuß gegen den Playmobil-Traktor treten soll, über den ich gerade gestolpert bin, entscheide mich aber dagegen, und dann kommt sie und zieht einen Pullover an und die Jacke und Mütze und Handschuhe und geht zu dir ins Schlafzimmer, Tschüss sagen, und weckt dabei Z nicht auf, und dann klingelt es, und sie geht und sagt: Winkst du mir noch vom Balkon?, und ich winke vom Balkon, und sie lacht, und es ist vollbracht, sie ist mit Freude, Zuversicht und Mut in den Tag gestartet, und ich denke, es ist meine Aufgabe auf dieser Welt, dafür zu sorgen, dass sie das Haus verlässt mit einem Lächeln.
Und als wir in der Nacht darauf mit Z auf dem Sofa sitzen und ihr Salzwasser in die Nase träufeln, ehe wir ihr mit abgekochtem Wasser angerührtes Milchpulver verabreichen, wird mir bewusst, dass es natürlich keine bessere Entschuldigung gibt für das Aufgeben der eigenen Träume, Sehnsüchte und Überzeugungen als die Verantwortung für ein Kind und dass die Stunden, Tage, Wochen, die vorbeijagen, während man ein Neugeborenes wickelt, füttert, sein Erbrochenes aufwischt, wartet, bis es rülpst, oder es zum Schlafen bringt, auch als ein sehr aufwendiges Ablenkungsmanöver verstanden werden können von der Tatsache, dass man sowieso nichts Besseres zu tun hätte in Wahrheit, und vielleicht ist dieser Mensch, den man sich da schafft nach seinem Bilde, das Einzige, wozu man fähig ist, und der Glaube, dass das etwas Wertvolles und Wichtiges sei, ist natürlich der geniale Kern des Christentums mit seiner Anbetung eines Kindes.
Und ehe ich wieder bei der Frage lande, ob und warum ich das wissen wollen sollte, was meine Mutter nach Jahrzehnten der erfolgreichen Verdrängung nun plötzlich von allen Seiten betrachten will, nehme ich Z aus deinem Arm und lege sie in ihr Bett, sie ist eingeschlafen, ganz friedlich, zum ersten Mal beim Trinken an der Flasche, und ich setze mich wieder zu dir aufs Sofa, nehme mein Telefon in die Hand und sehe mir Bilder von Küstenschutzmaßnahmen in Holland an, der große Abschlussdeich, über 30 Kilometer Seedeich mit einer vierspurigen Autobahn darauf, schnurgerade quer durch die Nordsee und Zuiderzee, eine Barriere, die auch Amsterdam schützt und deren Name wahrscheinlich ebenso viel Zuversicht verbreitet wie ihre technischen Daten, vielleicht sogar mehr, weil die Erinnerung an die Existenz eines Bauwerks mit dem Namen Abschlussdeich unbewusst sicher auch in den Wintersturmnächten wirkt, in denen der Pegel dann doch etwas steigt, und ich sehe lange auf ein Bild von dem Aussichtsturm im westlichen Drittel des Damms, und ich frage mich, ob das Nichts, das man von da oben aus erkennen kann, endloser wirkt im dichten Nebel oder im Sonnenschein und ob vielleicht alle Menschen, die dort aufs Meer hinaussehen, ähnliche Gedanken haben und, falls ja, wie sich ihr Gefühl dabei unterscheidet, je nachdem ob sie auf Holländisch denken oder auf Deutsch.
Es war, nachdem deine Eltern gesagt hatten, wir sollten uns an der Suche nach einem Haus beteiligen, in dem alle Platz hätten, hauptsächlich für die Ferien, aber im Notfall auch als Altersruhesitz oder wenigstens, um das Geld in Sicherheit zu bringen vor der nächsten Finanzkrise und Minuszinsen oder so, dass mich eine seltsame Sehnsucht weit im Norden suchen ließ in der Nähe von Küsten und Meer und ich bei dem Versuch, diesen Träumen einen Anschein von Realisierbarkeit zu geben, von Norwegen über Südschweden und Dänemark schließlich in der Deutschen Bucht landete, auf der Insel Pellworm, dem größten nordfriesischen Trümmer der ehemaligen Insel Strand, die von der Burchardiflut im 17. Jahrhundert zerteilt worden war, auf der ein großer, auf einer Warft gelegener Resthof zum Verkauf stand, mit zwei Ferienwohnungen, biologischen Baumaterialien für gesundes Raumklima und einem Esszimmer mit bodentiefen Fenstern und Blick über endlose Wiesen.
Doch bevor ich deinen Eltern ernsthaft vorschlagen konnte, ihr gesamtes Erspartes in ein Haus in über tausend Kilometern Entfernung zu investieren, wollte ich ein wenig mehr erfahren über die Gefährdungslage durch Überflutung an der nordfriesischen Küste, und als ich über den mittlerweile bis zu neun Meter tiefen Heverstrom las, der dem Sockel der Insel gefährlich nahe kam, und über die mit acht Meter mittlerweile nicht mehr zeitgemäße Deichhöhe auf Pellworm, fiel mir wieder ein, wie meine Mutter früher einmal in einem Wirtshaus auf Norderney auf einen alten Stich gestarrt hatte, auf dem Bauern mit primitiven Mitteln Erde, Steine und Sand anhäuften zum Schutz vor der Gewalt von Wasser, Wind und Gravitation und über dem das norddeutsche Sprichwort stand: Wer nicht will deichen, der muss weichen.
Ich erinnere mich gut daran, wie meine Mutter sich während Turbulenzen bei Transatlantikflügen mit dem ausgestreckten Arm am Sitz vor ihr abstützte, wie sie mich fragte, während wir in der krachenden, von Entladungsblitzen erleuchteten Londoner U-Bahn fuhren, ob die Stangen, an denen wir uns festhielten, den Strom wohl in uns leiten würden, sollte der Zug entgleisen und der neben den Schienen angebrachte Stromabnehmer den Stahl der Wagenaußenhülle berühren, und ich weiß noch, wie sie in der Nähe der Rettungsboote bleiben wollte auf der kurzen Überfahrt von Norddeich nach Norderney.
Aber keine ihrer Ängste hat bei mir so einen bleibenden Eindruck hinterlassen wie ihre Faszination für das Phänomen der Springflut, das Zusammenspiel von Gezeitenstrom, Stand der Himmelskörper und Wind zu einer perfekten Flut, die alle Anstrengungen der Menschen, durch Deiche und Überflutungsgebiete dem Meer seine Unberechenbarkeit und Gewalt zu nehmen, einfach überspült.
Und vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang zwischen dieser Faszination, dem Interesse an der überlebenswichtigen Arbeit der Abgrenzung, die Menschen an der See seit Jahrhunderten verrichten, und der seltsamen Lust meiner Mutter am Einreißen alter Grenzwälle zwischen erinnerter und vergessener Vergangenheit.
Und dann fällt mir wieder das Tischgespräch vom Vorabend ein, als wir das Jahr im kleinen Kreis bei einem Essen ausklingen ließen, und wie es dabei einmal seltsam besinnlich und andächtig wurde, ausgerechnet als es um Hitler ging, die Deutschen und die Schweizer waren exakt gleich betroffen, die einen von ihrer Schuld und die anderen von ihrer Unschuld, und ich fragte mich nur ganz kurz, ob wir auch 2020 in jeder politischen Diskussion früher oder später bei Hitler landen würden, und dann fragte ich es mich schon nicht mehr, als mir klar wurde, dass es sonst nichts gibt, worunter alle das Gleiche verstehen, nicht Gott, nicht Kinder, nicht Leben, Kunst, Glück, Zufriedenheit, Zukunft, Umwelt, das Klima vielleicht, aber eigentlich auch nicht, und schon bei der Frage, ob besser eingeschweißte Bio-Gurken oder nicht eingeschweißte Nicht-Bio-Gurken zu kaufen sind, wird es kompliziert, und in den Nachrichten kam schon lange nichts mehr, was mich berührte, dachte ich, bis am nächsten Morgen der Bericht vom Brand im Affenhaus des Krefelder Zoos mir plötzlich Tränen in die Augen trieb, vielleicht weil ich gerade B fütterte, die als Tiger verkleidet in einem aus Bett, Tisch und Tüchern gebauten Gehege saß, du bist der Tierpfleger, okay?, hatte sie gesagt, und ich reichte gerade einzelne Socken aus einem Kübel durch das imaginierte Gitter, von denen nur zwei rot waren, also aussahen wie das rohe Fleisch, das sie darstellten, als der Sprecher aus dem Radio in der Küche die Arten aufzählte, die wegen einer verirrten Himmelslaterne in den Flammen gestorben waren, Gorillas, Orang-Utans, Löwenkopfäffchen, Zwergseidenäffchen, Silberäffchen, dazu Vögel und Flughunde, kurzum alles bis auf zwei Schimpansen, und dann sah mein Kind meine Tränen und sagte: Zum Glück gibt es noch viele andere Zoos.
Und als wir am frühen Abend Halt machen auf der Rückfahrt von einem Ferienhaus am Comer See, in das uns meine Schwester eingeladen hatte, empfängt uns am Rastplatz Bellinzona Sud die 14 Grad warme Luftwand des Föhnsturms, und zu den modischen und sprachlichen Verschiedenheiten des einzigartigen Autobahnraststätten-Menschengemischs kommen für Anfang Januar, überraschend einheitlich, unerwartet viele kurze Hosen und Hemden und mit ihnen, wie mir scheint, Ausgelassenheit, Übermut, Wut, Gereiztheit, ich kann nicht genau sagen, ob sich die Jugendlichen neben dem Reisebus schlagen oder ob sie nur tanzen, und in der Schlange an der offenen Grilltheke sehen B und ich den Tessiner Würsten beim Braunwerden zu, während von hinten ein dicker Mann mit Cowboyhut seinen riesigen Bauch bedrohlich nah an Bs Hinterkopf schiebt, so dass ich sie vor mich stelle und den Mann abblocke mit meinem Gesäß.
Und dann höre ich Z schreien vom anderen Ende des grell erleuchteten, riesigen Raums, und ich erkenne an der Art des Schreiens, dass sie die frisch von dir angerührte Milch ablehnt, und dann wird sie immer lauter vor Hunger und Lärm und Föhn und Geblendetsein und Überhaupt-nicht-mehr-Verstehen, was diese Plastikbrustimitation mit der Muttermilchimitation in dieser riesigen Restaurantimitation eigentlich soll, und dann gehen B und ich zurück zu dir und Z, und in einer dunklen Ecke geht es dann doch, sie trinkt, und als sie satt ist, kaufe ich Motoröl und Wattepads, damit uns unser alter Motor hoffentlich heil über den San Bernardino bringt und wir Z ab und zu den Eiter aus den Augen wischen können, ihre Tränenkanäle sind verengt, deshalb verkleben die Augen, wenn sie sie längere Zeit schließt oder viel weint.
Und so sehr sie mir leidtut, so sehr ist der Lärm eine Last, das Brüllen auf dem Rücksitz, das mich daran hindert, auf das Klopfen der Maschine vor mir zu horchen, vielleicht ist das aber auch besser so, wir erklettern Höhenmeter um Höhenmeter ohne Angst vor dem Liegenbleiben in einer Serpentine in völliger Dunkelheit, dafür ist es zu laut, und plötzlich ist alles weiß, und das Thermometer zeigt minus zwei, und B sagt, sie hoffe ganz fest, der Schnee halte sich noch bis Zürich, tausend Höhenmeter tiefer und knapp zweihundert Kilometer weiter nordwestlich, und als wir heil ankommen und kein Schnee zu sehen ist, aber ein Parkplatz genau vor dem Eingang zu unserer Wohnsiedlung und in ihrem Bett all ihre Stofftiere, ist sie trotzdem zufrieden, und du und ich sind es auch.
Und bald darauf ist meine Stirn zehn Zentimeter über der von Z, mein Rücken gebeugt über dem Stubenwagen, der Ellenbogen auf dem Bast-Rand, der Unterarm neben ihrem Gesicht, die linke Hand auf dem Bauch, die rechte über ihren Händen auf ihrer Brust, der Daumen auf dem Schnuller, und die metallische Melodie der Spieluhr schraubt sich immer weiter hinein in Köpfe und Raum, und Zs Schreien wird leiser, ab und zu heftige Schluchzer, Seufzer, Atmen, zum Schluss hebt sie eine Faust, hält sie genau vor meine Augen und lässt sie dann langsam sinken, nach unten, in den gerade gefundenen Schlaf, und ich kann noch immer nicht glauben, wie klein ihre Hände sind.
Und auf der Rückfahrt von Bremen wenige Tage später wird der Zug schneller und schneller, jagt mit erstaunlichem Lärm und Gerüttel über Bodenwellen und durch Kurven, beschleunigt so stark, dass ich auf meinem Weg vom Bordbistro zurück an meinen Platz erst wanke und dann zu stolpern beginne, ich taumle, ich tanze vorbei an den Sitzen und Toiletten und Koffern und Fahrrädern und verschiedenen Mülleimern für Glas und Verpackungen, an den anderen Fahrgästen, ihren Frisuren, Tätowierungen, Schmuck, vorbei an absichtlich oder unabsichtlich eng über Körperformen gespannten Stoffen oder lose herabhängenden, egal, all das interessiert mich nicht mehr so sehr wie früher, auch die Ausmaße der auf Gepäcknetzen oder zwischen den Sitzen verstauten Taschen sind mir egal, ich frage mich nicht mehr, ob sie möglicherweise Sturmgewehre enthalten könnten, mich verunsichert nicht einmal die angeblich marode Infrastruktur der Bundesrepublik, nein, ich wanke einfach durch einen schwankenden Zug zurück zu meinem Platz, und als wir kurz danach auf freier Strecke halten und eine Weile stehen, freue ich mich immer noch ebenso sehr auf das Heimkommen wie zuvor, und dann steht der Zug noch immer, und ich freue mich fast noch mehr, weil ich durch eine Verspätung auch mehr Gelegenheit haben werde, mich aufs Heimkommen zu freuen, und alle schon schlafen werden und ich mich ganz alleine in der Küche dann freuen kann, wieder bei ihnen zu sein, während sie schlafen, und ich nicht mit irgendwem reden muss, und der Zug steht weiter, und ich freue mich, und dann sagen sie durch, dass sich wegen eines Personenunfalls die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verzögert, und der Junge neben mir, der gerade noch über den Film auf seinem Rechner gelacht hat, in dem ein Mann seine Bulldogge, kurz bevor sie eingeschläfert wird, aus einem Tierkrankenhaus entführt und ihr dann einen Hamburger serviert, ruft: Kannst du endlich mal aufhören zu nerven, verdammter Scheißzug?
Und als ich zwei Nächte später nicht schlafen kann, auch weil Z nach dem Füttern nur unruhig schläft, ständig den Schnuller verliert und ungehaltene Geräusche macht, stehe ich auf, hänge eine Decke über den Stuhl neben dem Babybett, zwischen sie und den Vollmond, gehe in die Küche, fülle ein Glas mit Wasser, trinke, kratze mich lange und ausgiebig mit dem Stoff meiner Unterhose am Darmausgang und gehe nach einer Weile ins Bad, um etwas Sulgan aufzutragen.
Ich mag es, die fettige Creme einzumassieren, manchmal läuft mir dabei sogar der Speichel im Mund zusammen, was mich früher nachdenklich gemacht hat, ich fragte mich, ob ich vielleicht in Wahrheit schwul wäre und mir eigentlich wünschte, anal penetriert zu werden, zum Beispiel von Lexington Steele, aber weil ich nie eine Erektion bekam bei diesem Gedanken, verwarf ich ihn wieder, aber dann kam er zurück, während der Schwangerschaft und den gut drei Monaten, die seit der Geburt unserer zweiten Tochter vergangen sind, und als ich die Salbe zurücklege in den Korb mit den Toilettenartikeln, fällt mein Blick auf die immer noch ungeöffnete Kondompackung, die ich kürzlich gekauft habe, Performa, Latex, mit einer dünnen Schicht Betäubungsmittel, nur innen, natürlich, damit es nicht ganz so schnell wieder vorbeigeht, wenn wir wieder beginnen, hatte ich dir gesagt, woraufhin du erwidert hattest, du hättest eigentlich nichts dagegen, wenn sich die Sache nicht allzu lang hinziehen würde, und im Übrigen hättest du neulich geträumt, du hättest Sex gehabt mit einer kleinen, sanften, zärtlichen Frau.
Und dann kommt B aus ihrem Zimmer und will Tigerbaby spielen, und Z ruft und will Milch, und ich setze mich dennoch kurz an den Küchentisch und versuche, ein paar Sätze festzuhalten, weil ich merke, dass mich eine nervöse Unruhe überkommt in dem Moment, in dem ich B ja sage auf ihre Frage, ob ich Lust habe, mit ihr zu spielen, und ich weiß, dass ich eigentlich keine Lust habe gerade, aber ich will Lust haben, verdammt, und wieso soll mein Ja zu ihrem Spiel dann eine Lüge sein, und plötzlich habe ich Angst, dass ich, wenn ich nicht sofort einen Satz auf das Blatt schreibe, vollkommen verschwinde, ein leerer, langer, ungelenkiger Körper, der auf dem Boden neben einem jungen Tiger kniet und Bewegungen, Geräusche und ein Gesicht macht, die Zuneigung, Vertrauen und Geborgenheit wecken sollen, und der dabei nichts empfindet, nur die Härte des hellen Holzbodens.
Und dann tappt das Tigerbaby mit der Pfote in den Napf und ist nass, und ich stehe auf und gehe ins Bad und hole ein Handtuch, ich werde es abtrocknen, das kann ich gut, ich weiß es, und dann werde ich Z füttern und Kaffee kochen für dich und für mich, und wir vier werden einen weiteren gemeinsamen Tag erleben, warm, satt und in Sicherheit, und wahrscheinlich wird niemand merken, was in mir passiert, außer dir vielleicht, aber in dir passiert ja das Gleiche, und ich denke, oh Gott, was können wir nur tun, wie kann es gelingen, dass in unseren Kindern so etwas nicht passiert?
Und als B gestern im Auto plötzlich zu husten begann und nicht mehr aufhörte, wünschte ich mir eine objektive Instanz, die einem sagt, wo die Grenze ist zwischen Gleichgültigkeit und Großzügigkeit und dann, als sie einfach nicht aufhörte, zwischen Genervtheit und Ablehnung, und ich war mir schon ganz oft sicher, dass sich meine Entspannung sofort auf sie überträgt und also auch meine Anspannung, aber was kann ich dagegen tun, dass es Tage gibt, an denen ich nicht denke, das wächst sich aus, das ist nichts, nur eine harmlose Reaktion auf alte Blütenstaubablagerungen und Gummiabrieb und Asphalt und Erde im Lüftungssystem unseres 97er Volvo V70 mit 301526 Kilometern, beinahe so weit wie von hier bis zum Mond?
Und dann sitze ich an einem unwahrscheinlich warmen Januartag auf dem Bullingerplatz vorm Café, die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich merke, dass mich das schlagartige Verschwinden der Winterkälte gleichzeitig beruhigt und beunruhigt, weil es mich daran erinnert, was dieser Himmelskörper im Sommer hier anrichten wird; genau hier, wo ich mich jetzt befinde, wird es dann zu heiß sein, um ohne Sonnenschutz länger als eine Minute zu bleiben, die Helligkeit wird kaum auszuhalten sein, auch mit geschlossenen Augen und abgewendetem Gesicht nicht, und die Hitze wird mich daran hindern, eine angemessene Reaktion auf die Signale zu finden, die meine Haut sendet und die von der Lebensfeindlichkeit der Umgebung berichten auf eine ebenso nüchterne wie hilflose Art und Weise, weil das Einzige, was mein Körper könnte, weglaufen, bei Lufttemperaturen um die 40 Grad nicht wirklich möglich sein wird, nicht in die nächste Klimazone oder auch nur den nächsten Schatten, außer ich beginne die Flucht schon vorher, im Winter, und entscheide, in eine imaginierte Heimat zurückzukehren, von der ich nur weiß, dass sie im Norden liegt, dass es dort kühler ist und hoffentlich weniger hell.
Und dann denke ich, dass es vielleicht auch eine andere Art Dunkelheit ist, die mich in den Norden zieht und deren Schatten sich erstaunlich schnell über mich zu legen beginnt am Nachmittag zwischen zwei und drei, in Zürich, Schweiz, wenn Z wieder schreit und ich mich gerade noch bremsen kann, nach drei Kniebeugen und zwei Luftsprüngen, und mich laut zu ihr sagen höre: Also wenn du auf meinem Arm genauso schreist wie in deinem Bett, gibt es keinen Grund, dich im Arm zu halten, und dann lege ich den sich aufbäumenden kleinen Körper vorsichtig ab und beginne, sie an der Stirn zu streicheln, lustlos und mechanisch, bis ich irgendwann merke, dass ich eigentlich vor allem ihre Augen abschirme, damit sie denkt, es sei Nacht, als ob sie denken könnte oder eine Vorstellung von Nacht hätte, und mit der anderen Hand fixiere ich den Schnuller über dem zum Schreien geöffneten Mund.
Und dann nehme ich sie irgendwann wieder auf den Arm, als ich mich zu fragen beginne, ob ich hier vielleicht doch nicht richtig bin, im falschen Leben, im falschen Beruf, mit den falschen Menschen im falschen Land, und dann sehne ich mich so sehr nach einem südschwedischen Sandstrand, als ob ein südschwedischer Sandstrand irgendeines meiner Probleme lösen würde oder ein großes Haus in der ersten Reihe oder ein kleines, eines, das mir gehört, und dann gehe ich mit Z zum Wickeltisch, und ich denke, dass eine größere Wohnung ja schon reichen würde, eine Wohnung, in der ich ein Zimmer hätte für mich alleine, einen eigenen Tisch und vor meinem Zimmer einen breiteren Gang und eine größere Küche, und die Wäscheleinen in der Waschküche würden so hoch hängen, dass ich nicht immer an sie stoße, wenn ich mich aufrichte mit einem nassen Stück Stoff, überhaupt stoße ich hier überall an, meine Schulter eckt immer wieder an den Rahmen der Küchentür, und wenn ich den Staubsauger aus dem Putzschrank nehme, klemme ich mir die Finger ein, und wenn du an deine Kleider willst, kann ich nicht an meine, und während ich das denke, wickle ich die schreiende, um sich schlagende Z fest in eine Decke, ich packe sie ein, damit sie zur Ruhe kommt, wie ich es auf swissmom.ch gelesen habe, das Gesicht bleibt natürlich frei, und ich drücke das Bündel aus unterdrückter Wut, Angst und Überforderung vorsichtig an meine Brust, und sofort hört sie auf zu schreien, atmet ruhiger und tiefer, gleichmäßiger, und ich spüre, wie ich langsam wieder zu lieben beginne, die Welt, das Leben, meine Eltern, die Kinder, dich, Gott.
Und mit Gott meine ich das Gefühl unendlicher Demut gegenüber der Zufälligkeit der Zusammenhänge und Dinge und Klänge und ihrer Reihenfolge und Kraft und wie sie mich treiben, bremsen und stoßen oder ganz plötzlich loslassen, und ich sitze auf dem Sofa an einem Nachmittag in vertrauter Umgebung, aber weiß nicht mehr ein noch aus, es gibt alles zu tun oder nichts, keine einzige Sache scheint ihr Getanwerden einzufordern mit der nötigen Wucht, und mein Sitzen ähnelt in Wahrheit einem Fallen oder vielmehr einem Gleiten durch einen genau meinem Gesichtsfeld entsprechenden Spalt in der Welt, weil alles, was ich sehe, berühren kann oder bewegen, von mir kontaminiert und mit mir und meinem Schauen und Denken verklebt zu sein scheint und verklumpt und sich dann abkoppelt von der sogenannten Außenwelt und dann schnell und lautlos in mir versinkt wie die leckgeschlagene Rettungskapsel einer explodierten Bohrinsel in der Nordsee, nur ohne Nordsee und ohne Bohrinsel und ohne Explosion, bis schließlich nur das Wort Rettungskapsel bleibt oder die Rettungskapsel Wort, je nachdem, Wörter, ein Satz, Sätze, Regeln, nach denen sie stehen dürfen nebeneinander und den Anspruch erheben, die Welt abzubilden oder irgendeiner in irgendeinem Gehirn nachempfunden worden zu sein, um von einem anderen Gehirn dekodiert und vielleicht nachempfunden zu werden, und vielleicht sind es diese Regeln, die eigentlich das Wesen der Liebe ausmachen, Grammatik, so sprechen, denken, schauen und fühlen, dass andere Menschen die Chance haben, zu verstehen, worum es geht, das eine, einzige, immer von allen Mitgemeinte, der große, ewige Traum von einer gemeinsamen Wirklichkeit.
Und die kahlen Bäume draußen in der Januarsonne sehen aus, als wären sie einverstanden mit diesem ewigen Kreislauf aus Wachstum, Wärme, Hoffnung, Licht, Kälte, Wind, Trockenheit, absterbenden Trieben, fallendem Laub.