Eigentlich müssten wir tanzen - Heinz Helle - E-Book

Eigentlich müssten wir tanzen E-Book

Heinz Helle

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Beschreibung

Reicht das Aufrechterhalten der wichtigsten Körperfunktionen, um von sich selbst sagen zu können, man sei am Leben? Die Antwort, die der Roman gibt, wird uns womöglich nicht trösten. Aber sie macht atemlos vor Spannung.
Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende auf einer Berghütte. Als sie ins Tal zurückkehren, sind die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie sind allein. Sie sind hungrig. Sie funktionieren, so gut sie können. Tagsüber streifen sie durch das zerstörte Land, nachts durch ihre Erinnerung. Auf der Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben.

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Seitenzahl: 150

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Eine Gruppe junger Männer verbringt ein Wochenende auf einer Berghütte. Als sie ins Tal zurückkehren, sind die Ortschaften verwüstet. Die Menschen sind tot oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt. Zu Fuß versuchen sie, sich in ihre Heimatstadt durchzuschlagen. Sie funktionieren, so gut sie können. Tagsüber streifen sie durch das zerstörte Land, nachts durch ihre Erinnerung. Auf der Suche nach einem Grund, am Leben zu bleiben.

»Das ist waghalsig, mehr davon«, forderte die Frankfurter Allgemeine Zeitung nach Erscheinen von Heinz Helles Debütroman über die Liebe und den Feind im eigenen Kopf. Im neuen Roman geht es um die Fragen: Was bedeutet Freundschaft im Angesicht des Todes? Und was bedeutet Leben, wenn das Einzige, was bleibt, der Kampf gegen das Verhungern ist?

Heinz Helle, geboren 1978, Studium der Philosophie in München und New York, Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel, Arbeit als Texter in Werbeagenturen. Er lebt mit seiner Familie in Zürich. Sein Debütroman Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (2014) stand auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises und wurde mit dem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet.

HEINZ HELLE

EIGENTLICHMÜSSTENWIR TANZEN

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:

Erste Auflage 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Anzinger|Wüschner|Rasp; Stefanie Kuttig, München

Umschlagfoto: plainpicture/Millennium/Jonathan Stead

eISBN 978-3-518-74233-4

www.suhrkamp.de

Für Chris

Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung blabla, im Rücken die Ruinen von Europa.

Heiner Müller

Ich mach das alles nur, weil ich in den Himmel will.

Sido

1 Wenn es zu kalt ist zum Hinlegen, abends, bleiben wir stehen. Wir stehen eng beieinander, Rücken an Rücken an Seite an Bauch. Wir drehen uns langsam weiter im Verlauf der Nacht, jeder darf einmal in der Mitte stehen, jeder muss ab und zu an den Rand. Wenn die Sonne aufgeht, sehen wir übereinander hinweg und aneinander vorbei, und wir sehen genau, sehen es aus dem Augenwinkel, dass der andere auch woanders hinsieht, wir sehen jeder woanders hin, jeder in sein eigenes, weit entferntes Nichts oder Alles, egal, wir sehen uns nicht in die Augen, das täte weh, mehr und ganz anders als die Sonne, wenn sie aufgeht, meistens ist es bewölkt, und wir sehen weiter aneinander vorbei und freuen uns über die abnehmende Kälte und das zunehmende Licht, und wir stehen ganz dicht beieinander, beinahe wie früher, in der U-Bahn, im Feierabendverkehr.

2 Heute finden wir eine Frau. Sie liegt unter Zweigen, unter nassen, faulen Zweigen, vermutlich nicht, um sich zu wärmen. Wir sehen sie trotzdem. Wir sehen sie zufällig, einer uriniert in den Busch, neben dem sie liegt, ein schütterer Busch, es ist merkwürdig, dass dieser Busch nur im unteren Drittel Zweige und Blätter haben soll, und Haare und Hände. Der, der gerade gepisst hat, lässt die Hose offen und steht eine Weile so rum, er betrachtet sie schweigend, wir treten dazu, weil wir ihm von hinten ansehen, dass er etwas ansieht. Als wir im Halbkreis hinter ihm stehen, geht er auf die Knie und berührt ihr Haar, und sie schreit nicht, schluchzt nicht, zuckt nicht, sie schließt nicht einmal die Augen. Sie blickt still vor sich hin, ohne zu sehen, was da ist, vor ihren Augen, sie blickt mit aller Kraft an einen Ort, der für uns unerreichbar ist. Ihre Kleider oder Kleidungsreste sind löchrig und rissig, überall Öffnungen, die den Weg freigeben zu den Öffnungen ihres Körpers. Sie beginnt schneller zu atmen. Wir sehen ihre weißen, zarten Hände an den Schultern des Ersten von uns, als er über ihr ist; wir sehen die Finger, zunächst seltsam abgespreizt, nach einiger Zeit eingegraben in den Stoff, der den Mann über ihr einhüllt; wir sehen ihren zur Seite geneigten Kopf, ihre jetzt doch noch geschlossenen Augen, und dann hören wir ihre Stimme, ein einziger Ton nur, wieder und wieder und wieder, und all das macht es uns unmöglich, nicht zu denken: Du willst es doch auch.

Als ich an die Reihe komme, hebt sie nicht einmal mehr die Arme, und ich schaffe es nur, die Sache zu Ende zu bringen, weil ich mich an ihre Hände erinnere, ihre Hände auf den Schultern der drei Männer vor mir, und ich bewege mich schneller, ich schließe die Augen und stelle mir ihre Finger vor, die sich in einen Fetzen Stoff graben, weil sie genau das wollen, diese Finger, festhalten, diesen Stoff, und dann bringe ich die Sache zu Ende.

Anschließend versucht es Drygalski, aber er bricht unzufrieden ab. Sie bewegt sich nun gar nicht mehr. Ehe wir weitergehen, beugt sich Fürst noch einmal zu ihr hinunter und fragt sie mit sanfter Stimme, ob sie nicht mitkommen will. Sie reagiert nicht. Ratlos steht er neben dem reglosen Körper im Laub, dann wühlt er in seiner Jackentasche, findet ein Stück Brot, bricht eine Ecke ab und legt es ihr auf den Bauch. Auf dem Weg von dem Brotstück zurück in seine Hosentasche zuckt seine Hand kurz in Richtung ihres Kopfes. Vielleicht wollte er ihr noch einmal über die Wange streicheln. Oder über das Haar.

3 Am nächsten Tag ist es dunkler, und ein Nieselregen beginnt, der unmerklich dichter und dichter wird, es scheint, dass keine Tropfen auf uns und den schwarzen Teer und den unter unseren Füßen knirschenden Rollsplit fallen, sondern feine, durchgängige Linien, wie aus Tausenden nicht richtig zugedrehten Wasserhähnen. Es ist die Art von Regen, dessen Intensität man erst spürt, wenn man bereits völlig durchnässt ist, und auf einmal bleibt man stehen, sieht an sich herunter und dann in den Himmel und schüttelt ungläubig den Kopf.

Wir verlassen die Straße. Wir gehen durch Brachland, überqueren einige leicht ansteigende Hügelketten, Felder und andere freie Flächen, deren Nutzung nicht auszumachen ist. Vor uns ein flacher, riesiger Block. Wir gehen näher heran. Es dauert länger, als wir dachten, er ist weiter weg, als wir dachten, er ist viel, viel größer, als wir dachten. Die Außenwände sind über zehn Meter hoch und durchbrochen von rostigen Stahlschiebetüren und eingeschlagenem Glas. Es gibt Schornsteine. Vielleicht war das früher mal eine Fabrik. Als wir entlang des schmucklosen, kantigen Quaders einen Weg in ihn hinein suchen, wird der Regen noch stärker, und das Prasseln der Tropfen auf dem Dach des Gebäudes klingt blechern und hell, es wird lauter und weniger brüchig, und irgendwann singt die ganze Halle einen einzigen hohen Ton.

Wir finden einen Türrahmen, die Tür fehlt. Wir gehen hinein, einer nach dem anderen, und seltsamerweise ist der Ton des Regens auf dem Dach im Inneren kaum mehr zu hören. Wir befinden uns in einer großen, leeren Halle, Scherben liegen herum, kleine verlassene Feuerstellen, der Geruch von altem Öl und Flecken von tief in den Beton gesickerten Substanzen, die Montagegräben erzählen davon, dass hier einmal an Autos oder Landmaschinen gearbeitet wurde. Von den Flecken abgesehen, von Boden, Seitenwänden und Decke, auf die Regen fällt, gibt es hier nichts. Wir verlassen die Halle und gehen weiter, durch den dichten Regen zurück in den Wald.

4 Im letzten Licht erreichen wir ein Dorf. Auch hier sind alle Fenster verrammelt, die Türen verschlossen, wir treffen keinen Menschen und finden keinen Hinweis auf den Verbleib der Bewohner. Durch eine bereits eingeschlagene Glastür betreten wir einen Supermarkt, wir wandeln zwischen leeren und halbleeren Regalen, der Boden ist übersät mit aufgerissenen Verpackungen, zerbrochenem Glas, zerbeultem Aluminium und zertretenen Kartons, und über allem liegt der entsprechende, schwer zu ertragende Geruch: der Geruch von allem, was ein Supermarkt je enthalten hat. Tütensuppen, Chips, Schokolade, Katzenfutter, Abflussfrei, Tiefkühllasagne, Deodorant, Bier, verfaulendes Fleisch. Wir finden eine Palette Wasserflaschen und ein paar in Plastikfolie eingeschweißte Knoblauchbaguettes. Mit unserem Essen ziehen wir uns in den wärmsten und sichersten Raum des verwüsteten Komplexes zurück: die abgetaute Kühlkammer. Wir essen, wir trinken, wir schweigen. Es ist ein gutes Schweigen, ein Na also, es geht doch, wir kommen schon klar, irgendwie finden wir schon eine Lösung, und wir genießen das kalte Knoblauchbaguette, die Butter schmeckt richtig gut, wenn sie so hart ist, man muss zubeißen, ehe man den intensiven Geschmack spürt, nach den Strapazen der letzten Tage wirkt das Fett wie eine Offenbarung. Nachdem wir uns vergewissert haben, dass man uns nicht von außen einschließen kann, bauen wir ein Lager aus mehreren Schichten Karton mit zerknüllter Plastikfolie dazwischen, wir legen uns einer neben den anderen, dann decken wir noch mehr Kartonbahnen über uns, unsere Köpfe auf dem zerknüllten Plastik, die Flaschen mit dem Mineralwasser in Reichweite. Das Atmen klingt nicht nur erschöpft. Es klingt friedlich.

5 Vor ein paar Wochen saßen wir im Auto. Die Autobahn war frei, draußen lag das graugrüne Voralpenland unter einer dünnen Schicht Raureif, am Fahrbahnrand Rollsplit und Dreck vergangener Wochen, ein anderes Zeitalter, und im Radio lief ein Lied, das angeblich keiner kannte und niemand zuvor gehört hatte, aber jetzt brüllten wir den Refrain:

Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht

Wir flogen den Irschenberg rauf, eigentlich fuhren wir, natürlich, aber den Irschenberg fliegt man immer hinauf, nie hinunter, der Unterschied zwischen Hin- und Rückweg ist kategorial. Wir waren schnell, die hohe Drehzahl am Hang klang nach Mut und Entschlossenheit, rechts von uns heulende Lkw, sie krochen, sie quälten sich hoch, bedauernswerte, mit ihren Fahrern verschmolzene Tiere, eine fügsame Herde im täglichen Auf- und Abtrieb der Arbeitswoche, die uns, seit wir im Auto saßen, so fern, kontrollierbar und harmlos erschien wie der Tod.

Wir waren fünf. Drygalski, Gruber, Fürst, Golde und ich, und wir hatten Eier eingepackt und Milch, Bier, Hack, Nudeln, Nutella, nur Brot nicht, das wollten wir beim Bäcker im Tal kaufen, unten, im Dorf. Wir hatten die Stadt hinter uns gelassen, die Vorstadt, in der wir zusammen aufgewachsen waren, die Autobahnkreuze, die Teppich-, Möbel- und Baumärkte, die Industriegebiete, in denen Firmen saßen, die Sicherheitsschleusen hatten und einen Werkschutz und englische, umständliche Namen, und sie machten irgendwas mit Computern. Zwei vorne, drei hinten. Wir saßen auf engem Raum. Die, die hinten saßen, hätten, wenn sie gewollt hätten, ihre Hände ineinander legen können, aber das wäre schwul gewesen, und außerdem spürten wir trotz der Euphorie über die gemeinsame, fortschreitende Bewegung auch eine gewisse Distanz zwischen uns, so lustig wie früher würde es ja eh nicht werden, nur jedes Jahr teurer, und eigentlich war man für das alles allmählich zu alt, und außerdem dauerte es mittlerweile ja auch gut drei Tage, bis ein anständiger Rausch wieder abgebaut war.

Am Scheitel des Irschenbergs, als das gelbe M in Sicht kam, schrie einer McFlurry, ein anderer lachte, doch der Fahrer lächelte nur müde und bretterte weiter, vorbei an dem amerikanischen Schnellrestaurant, dessen Karte wir auswendig konnten, ehe wir Schafkopfen lernten, wenn wir es überhaupt lernten, und dann fuhren wir steil bergab, vor der Frontscheibe breitete sich das Inntal aus, dunkelgrün, leer und stumm, bis zu den im Nebel verborgenen Alpenhängen, schnurgerade durchschnitten von sechs Spuren weiß und rot schimmernder Zivilisation. Der Scheibenwischer quietschte.

6 Am nächsten Morgen verlassen wir das Dorf und folgen der Schnellstraße das Tal entlang. Sie führt uns um den nächsten Berg herum, durch das nächste Tal hindurch, am nächsten Berg vorbei. Wir folgen ihr. Wir sehen Schilder mit den Namen von Orten, in denen wahrscheinlich niemand mehr ist, und als wir vorbei sind, haben wir sie schon wieder vergessen. Wir sehen Strommasten, zwischen denen keine Kabel mehr hängen, verlassene Tankstellen, Supermärkte, Ferienwohnungen, Zimmer frei, hier und da ein ausgebranntes Auto.

Wir kommen an einen See. Das andere Ufer ist nicht zu erkennen, das diesseitige voller verkohlter Segelboote, zertrümmerter Möbel und Flaschen, leerer Verpackungen und Kleidungsstücke. Aufgedunsene Leichen. Als ob etwas verschwände, wenn man es ins Wasser wirft. Die einzige Auflösung, die wir sehen, ist die der sanften Wellen in den tiefhängenden grauen Wolken. Wir verlieren bald die Lust, hinzusehen, und wenden uns ab, dem Dorf zu, das am Ufer des Sees liegt, wahrscheinlich wegen des fantastischen Blicks, wenn es nicht neblig ist. Wir gehen in Richtung Kurpromenade, wir laufen durch den Kies am Unrat vorbei auf die Straße und gehen die Stufen zu einem Hotel hinauf, wir überqueren eine Terrasse mit entwurzelten Sonnenschirmen, Tischen und Stühlen. Durch die offenen gläsernen Flügeltüren betreten wir den vollständig entleerten Speisesaal. Wir finden eine volle Flasche Kondensmilch unter einem Berg Geschirr in der verdreckten Küche, die ölige Flüssigkeit hinterlässt einen Film in unseren Kehlen, der Geschmack ist egal, wir bilden uns ein, dass sie satt macht.

Hinter dem Dorf, in einer Ansammlung von Flachbauten, die sich selbst laut Beschilderung einmal als Industriegebiet verstanden hat, finden wir eine verlassene Bowlingbahn. Wir gehen die Treppe hinab, wir haben keine Ahnung, warum, wir gehen einfach. Durch die Lichtschächte fällt etwas Grau auf die Bahnen, Strom gibt es nicht, die Kegel sind weg, hängen oben, vielleicht, wir sehen sie nicht. Nach ein paar Minuten der Unschlüssigkeit fällt unser Blick auf die großen Kugeln mit den drei Löchern, die neben der Bahn liegen, staubig und unbeteiligt und irgendwie ganz normal. Also nehmen wir sie und donnern eine nach der anderen über die leere Bahn in die Dunkelheit, wir hören sie rollen, bis sie irgendwann dumpf einschlagen, in dem unzugänglichen, gepolsterten Raum hinter einem nicht mehr vorhandenen Ziel.

7 Im grauen Licht zwischen den kahlen Stämmen wird der Asphalt bald brüchig, angehoben von Wurzeln, von schweren Waldmaschinen niedergedrückt. Nach ein paar Minuten löst sich der Straßenbelag völlig auf, wird zu Schotter, der Schotter wird spärlicher, die Straße wird zu einem Weg, und der Weg wird zum Pfad, und der Pfad wird Boden. Ich frage mich, ob nur die Straße am Verschwinden ist oder einfach alles, und ob man es nicht auch als Befreiung auffassen könnte, keinerlei Richtungsbeschränkungen mehr zu sehen, außer einigen Baumstämmen, feucht und schwarz, die mit gewisser Regelmäßigkeit aus dem Nebel auftauchen und dann wieder hinter uns verschwinden. Wir weichen ihnen aus. Das ist einfach und ratsam, ansonsten gibt es nichts zu entscheiden oder zu besprechen, in welche Richtung wir unsere Reise fortsetzen. Nach ein paar Stunden taucht rechts vor uns etwas auf, das hier nicht hingehört. Es ist nicht dunkel, und es steckt nicht senkrecht im Boden oder liegt längs darauf oder lehnt an einem anderen senkrechten, dunklen, hölzernen Pfeiler dieser Weltordnung Wald. Es liegt verkrümmt und spastisch, wie hingeworfen, die Stämme in seiner näheren Umgebung seltsam zersplittert, seltsam darum, weil die Zacken, die beim Abbrechen zum Vorschein kommen, normalerweise nicht ebenso schwarz und stumpf sind wie die feuchte, weiche Rinde. Das Ding hat einen runden, stark eingedrückten Körper und einen langen, dünnen Schwanz, an dessen Ende ein Flügel oder eine Fahne, und das Ding ist gelb, gelber als alles, was wir seit Wochen gesehen haben. Wir sehen die verbogenen Rotorblätter, krumm und geknickt abstehend, wie gebrochene Arme und Beine. Wir sehen das getrocknete Blut der halb aus der Kabine hängenden Pilotenkörper. Wir sehen das zersplitterte Kabinenglas, den Kreis aus Sternen auf dem blauen Rechteck am Leitwerk. Und dann sehen wir die vier großen, schwarzen Buchstaben, hinten, an der Seite des Rumpfes. Und wir finden es unglaublich, dass es diese Menschen wirklich gegeben hat, vor nicht allzu langer Zeit, die durch die Luft flogen, um die Verkehrslage auf den Autobahnen in Bayern und Tirol im Blick zu behalten.

Wir durchsuchen das Wrack nach Brauchbarem, dann die Toten, wir finden einen Verbandskasten, einen Werkzeugkoffer und ein Handbuch mit internationalen Funkcodes, aber das Funkgerät ist fest installiert und defekt und keiner von uns Techniker genug, um es auszubauen und zu reparieren, also lassen wir das Buch da und gehen. Nach einer Stunde will niemand mehr den schweren Werkzeugkoffer tragen, also lassen wir ihn im Wald zurück, und zwei Stunden später dann auch den Verbandskasten, und wir trotten weiter durch unseren dampfenden Atem und den Nieselregen und denken an die gefütterten Fliegermonturen der beiden Toten und ihre Stiefel und Westen und daran, dass das alles nass ist, von Blut und von Regen, und das Einzige, was wir von der Unglücksstelle noch bei uns tragen, ist der Hammer aus dem Werkzeugkoffer, und diesen Hammer trage ich.

8 Vor ein paar Wochen war ich noch in der Luft. Ich machte den siebenundfünfzigsten Schritt eines achtundfünfzig Schritte umfassenden, klar definierten Arbeitsablaufs zum insgesamt achthundertsechsundneunzigsten Mal, wobei fünfhundert dieser Durchgänge während meiner Ausbildung stattgefunden hatten, davon vierhundertfünfzig am Simulator, fünfzig in echt, sozusagen, irgendwo in der Wüste von Arizona, wo ich zusammen mit zwei Ausbildern einer großen deutschen Fluglinie eine leere Boeing 737 fünf Tage am Stück gestartet habe, zehn Mal pro Tag, und im Kreis geflogen bin und gelandet, durchgestartet, im Kreis geflogen, gelandet, durchgestartet und so weiter.

Ich befand mich auf direktem Kurs von Mauritius nach Frankfurt am Main, und ich hatte etwas mehr als elf Stunden Zeit, um mich daran zu erinnern, dass dies der Beruf war, den ich ergreifen wollte, seit ich wusste, was das ist, ein Beruf. Ich war Pilot. Die Maschine war ausgebucht. Es befanden sich zweihundertneunundzwanzig Personen an Bord. Ich hatte über sie nur zwei Informationen: Sie waren mit mir in Mauritius gestartet; sie wollten mit mir in Frankfurt landen. Entgegen meiner Gewohnheit versuchte ich, mir den Blick aus der offenen Cockpittür bildlich vorzustellen, den Blick nach hinten, vor dem Start, wenn die Vorhänge der ersten Klasse noch nicht zugezogen waren. Ich sah Köpfe. Sie verdeckten unterschiedlich viel von der weißen Auflage der Sitze. Ich sah Haare. Die Haare