Die ungeheure Welt in meinem Kopf - Hans - E-Book

Die ungeheure Welt in meinem Kopf E-Book

Hans

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Beschreibung

Eine atemberaubende Taxifahrt mit Franz Kafka... Sascha Konjovic, ein psychisch angeschlagener Taxifahrer wartet vor dem Wiener Westbahnhof auf Kundschaft, hört Jazzmusik und schmökert in Franz Kafkas gesammelten Tagebuchnotizen. Bis die Tänzerin Eduardowa mit ihrem Liebhaber zusteigt und eine zweitägige atemberaubende Fahrt beginnt, die alle Beteiligten weiter fortträgt, als sie es für möglich gehalten hätten.

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Hans Platzgumer

DIE UNGEHEURE WELT IN MEINEM KOPF

ROMAN

 

Hans PlatzgumerDIE UNGEHEURE WELT IN MEINEM KOPF

VERLAG

Elster & Salis GmbH, Wien

[email protected]

www.elstersaliswien.com

LEKTORAT

Anja Linhart

GESTALTUNG

Michael Balgavy, DWTC

SATZ

Birgit Seese, vierpunkt

 

1. Auflage 2024

© 2024, Elster & Salis Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

eISBN 978-3-9505435-3-7

INHALT

1AM ENDPUNKT

2AM AUSGANGSPUNKT

3AM KARMELITERMARKT

4AM FLEISCHMARKT

5IN MEINEM KOPF

6IN DER KELLINGGASSE

7IN MEINEM HOTEL POST

8AUF DEM KANAPEE

9HINTER DER NUSSSCHALE

10IN MEINER WIRKLICHKEIT

11IN MEINEM ZIMMER 11

12AM WESTBAHNHOF

13AUF DER HOLZPERLEN-SITZMATTE

14AUF DER STRASSE

15AUFS ENDE ZU

16IN TULLN AN DER DONAU

17IN DER GESCHLOSSENEN

18IM ZIMMER NUMMER 4

Über den Autor

1AM ENDPUNKT

„Jetzt erzählen wir deine Geschichte, Sascha.“

„Muss das sein?“

„Ja, es muss.“

Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.

„Also los ging’s am Westbahnhof. Vorgestern Abend. Montag, zweiter Feber 2015. Es regnete. Ich saß in meinem Wagen, Standplatz 1505. Ich wartete auf Kundschaft. Gegen 21 Uhr kamen die beiden dann auf mein Taxi zu.“

„Was hast du während des Wartens im Taxi getan?“

„Musik gehört. McCoy Tyner.“

„Und?“

„Und gelesen.“

„Eben.“

„Was, eben?“

„Die Details sind wichtig, Sascha. Du willst wissen, wie du jetzt hierhergekommen bist.“

umpanzert

„Du darfst nichts verschweigen. Du weißt, ich versuche immer, eine Lösung für dich zu finden.“

„Ich bin mir nicht sicher, Milo, ob deine Lösungen immer …“

„Was hast du gelesen, Sascha?“

„Kafka.“

„Was von Kafka?“

„Die gesammelten Tagebuchnotizen aus den Jahren 1910 bis 1923.“

„Typisch. Autobiografien, Tagebücher, Briefwechsel, nie hast du etwas anderes gelesen.“

„Mich interessiert das echte Leben von echten Menschen, festgehalten in ihren eigenen Worten.“

geschlafen, aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben

„Du willst dich mit Hilfe anderer Leben von deinem eigenen ablenken.“

„Ich will Echtheit, so viel Echtes wie nur möglich, Reales.“

ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt.

„Mit dieser Fülle fremden Lebens in dir verlierst du den Überblick. Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht. So ist es doch, Sascha?“

„Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.“

„Welchen Journaleintrag hast du gelesen, als die beiden aus dem Westbahnhof kamen?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

„Sascha!“

Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen.

„Die Beschreibung eines Traums, den er Anfang 1910 hatte.“

„Kafkas Träume haben dich am meisten interessiert.“

„Ich habe das ganze Buch von vorne bis hinten gelesen.“

„Studiert!“

„Von vorn bis hinten genau gelesen. Das war gar nicht einfach. Du weißt, wie dieses Buch aussah. Inzwischen habe ich es ja nicht mehr. Es war eine alte, abgegriffene Taschenbuchausgabe. Das Deckblatt war ramponiert, das Papier vergilbt. Die Schrift war klein und dünn und so weit hinaus bis zu den Rändern der Seiten gedruckt, dass es wirklich anstrengend war, diese Texte zu lesen.“

„Und trotzdem hast du nicht aufgehört, die Journaleinträge bis ins kleinste Detail zu studieren.“

„Sie fesselten mich. Die Art und Weise, wie da ein Weltautor vollkommen unstrukturiert seine persönlichsten Überlegungen und Erfahrungen festhielt, beeindruckte mich.“

„Vor allem seine Träume.“

„Einundzwanzig. Ich habe sie gezählt. Einundzwanzig Träume hat Kafka in diesen Tagebüchern festgehalten.“

„Und der Traum aus dem Jahre 1910, den du, nicht zum ersten Mal, zum wiederholten Male gerade gelesen hast, als die beiden aus dem Bahnhofsgebäude kamen …“

„Genau 105 Jahre später.“

„Genau 105 Jahre später, er handelte von der Tänzerin Eugenie Platonowna Eduardowa, einer russischen Ballerina, die damals über die Grenzen des russischen Kaiserreichs hinaus bekannt war.“

„Eduardowa.“

„Du nennst sie jetzt bei ihrem Nachnamen.“

„Kafka nannte sie immer bloß beim Nachnamen.“

„Und doch kennst du ihren Vornamen ganz genau.“

„Eugenie.“

„Hast du, wenn du von Kafkas Eduardowa gelesen hast, dieses Eugenie immer mitgelesen?“

„Vielleicht.“

„Sei ehrlich, Sascha. Sonst kommen wir nicht weiter.“

„Eugenie Eduardowa. Diese Wörter bilden eine Einheit. Ich hatte beide Namen bis dahin noch nie gehört. Für mich gehören sie zusammen. Sie sind eins.“

„So wie wir eins sind, Sascha, du und ich.“

„Ich wäre, so wie es inzwischen ist, lieber ohne dich, Milo.“

„Sascha, es ist nicht meine Schuld. Was zum Teufel hätte ich tun können?“

„Ich weiß. Ich weiß ja.“

„Es war eine enge, kurvige Bergstraße. Ich hatte die Nebelscheinwerfer an. Ich fuhr langsam und vorsichtig hinauf. Claudia neben mir, sie sagte gerade noch, dass es wohl ein Blödsinn war, bei diesem Wetter den Ausflug in die Rax zu machen. Der Nebel könne sich jeden Moment lichten, sagte ich. Ich war nicht abgelenkt, ich konzentrierte mich auf die Straße. Doch der andere kam viel zu schnell. Er schnitt die Kurve. Die Fahrbahn war nass. Es gab nichts, gar nichts, was ich tun hätte können.“

„Das behaupte ich auch nicht, Milo.“

„Er tauchte plötzlich vor uns auf. Von einer Sekunde auf die andere.“

„Ich weiß.“

„Doch hier nun geht es um dich, nicht um mich, Sascha. Du willst hier wieder herauskommen.“

„Ich weiß nicht, ob ich jemals hier wieder herauskommen sollte, Milo. Ehrlich.“

„Blödsinn.“

„Ich bin eine Gefahr. Ich stelle eine Gefahr für meine Mitmenschen dar.“

„Woher hattest du das Buch?“

„Ein paar Wochen vorher, bevor es am Westbahnhof losging, im Jänner muss das gewesen sein, da stöberte ich ohne bestimmte Absicht in der Bücherwand in meinem Wohnzimmer herum. Ich konnte mich gar nicht erinnern, wo ich und wann ich dieses Buch erstanden hatte. Ich hielt es plötzlich in den Händen. Wie ein Zeichen.“

„Geh noch weiter zurück, Sascha. Erzähl uns, wer du bist, wo du wohnst, was du tust.“

Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge

„Das ist doch kindisch, Milo. Du weißt doch, wer ich bin.“

oder

„Wir können uns, nach allem, was passiert ist, nicht mehr hundertprozentig sicher sein.“

wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.

„Oder findest du, dass ich übertreibe?“

„Nein, das stimmt schon.“

„Also: Wer bist du? Wie alt bist du?“

„Sascha K. 38 Jahre alt.“

„Sag nicht K zu uns, Sascha. Sprich den Namen ganz aus.“

„Konjovic. Sascha Konjovic.“

„Wo wohnst du, Sascha Konjovic?“

„Ich weiß nicht, ob ich weiterhin dort wohne. Weiterhin dort wohnen kann, alleine.“

„Du wohnst in der Kellinggasse 5 in Wien-Sechshaus.“

„Im ersten Stock. Die Fassade dieses Hauses ist braun und grau, schmutzig, abgebröckelt, bei den oberen Stockwerken aber ist ein buntes Wandbild aus den 60er-Jahren noch gut erkennbar. Es zeigt zwei tänzelnde Lämmer unter Sonnenstrahlen. Manchmal betrachte ich es von der Straße aus und denke mir, dass ich nur ein paar Meter darunter wohne, und dass sich dorthin, wo ich bin, die Sonnenstrahlen niemals verlieren, weder die gemalten noch die echten.“

„Du hast keine Familie.“

„Keine alte mehr. Und keine neue.“

„Du bist ledig.“

„Ich gehe seit Langem davon aus, mein ganzes Leben lang unverheiratet zu bleiben.“

Als Junggeselle aber kann ich ein solches Leben nicht zu Ende führen.

„Warum?“

„Ein Familienleben ist bei meinem Lebenswandel nicht vorstellbar. Ich bin Nachtfahrer. Meine Taxischicht endet, wenn die normalen Leute zu arbeiten beginnen. Ich komme nach Hause in die Kellinggasse, wenn sie aus dem Haus gehen. Hoch über uns tänzeln die Lämmer. Ich schließe mich unten in meiner Wohnung ein. Am Alltag draußen nehme ich nicht teil. Ich kenne nur die Dunkelheit der Nacht und das Dämmerlicht, das tagsüber durch die zugezogenen Vorhänge und Gardinen in meine Wohnung vordringt.“

„In der Früh isst du dein Abendessen.“

„Zwei Spiegeleier mit Holzfäller-Schinken. Dazu eine Semmel.“

„Mit dick Butter, Salz und Pfeffer.“

„Und Paprika Edelsüß. Immer das Gleiche.“

„Danach nimmst du drei Vitamin-D-Tabletten zu dir.“

„Ich dusche mich, putze mir die Zähne. Und dann lege ich mich hin, selten richtig ins Bett, meistens auf das Kanapee. Dort finde ich es gemütlicher.“

„Und dann?“

Im Dunkel in meinem Zimmer auf dem Kanapee.

„Dann versuche ich zu schlafen.“

Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, halte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, so dass ich daliege wie ein bepackter Soldat.

„Obwohl ich nach der langen Nacht vollkommen übermüdet bin, fällt es mir oft schwer, im Kopf zur Ruhe zu kommen.“

„In solchen Fällen nimmst du Baldrian-Dragees. Manchmal auch Passedan-Tropfen. Oder Hova-Tabletten.“

„Oder Sunny Soul. Das hat der Jörg Haider auch genommen, hat die Apothekerin gesagt.“

„Du nimmst auch Zaffranax und Lasea-Kapseln zu dir.“

Ich kann nicht schlafen. Nur Träume, kein Schlaf.

„Schon als Kind hast du die lebhaftesten Träume gehabt, Sascha. Manchmal musste ich dich wecken, weil du im Schlaf um dich geschlagen und unverständliches Zeug vor dich hin gebrabbelt hast. Dein Pyjama war vom Schweiß durchnässt.“

„In den Träumen ist alles anders, weißt du. Leichter. Aufregender. Dort geben sich sogar Königinnen mit mir ab.“

Die Kraft meiner Träume, die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen.

„Seite an Seite flaniert eine Königin mit mir durch die gepflegten und verwinkelten Parkanlagen ihrer Sommerresidenz. Auf einer der Parkbänke setzt sie sich so eng neben mich, dass ich die Wärme ihres Körpers spüren kann. Ich fühle, dass sich die Königin an mich lehnen, an mich drücken will. Sie tut es nicht. Sie kann es nicht tun, weil sie ist eben die Königin und ich bin bloß der Chauffeur. Doch nur zu wissen, dass sie im Stillen dieses Verlangen spürt, mich zu berühren, gleich wie ich das Verlangen verspüre, sie zu berühren, allein dieses Wissen reicht mir. Ich weiß, es ist nur ein Traum. Aber ich nehme aus ihm ein bisschen etwas mit in die Wirklichkeit.“

„Im wirklichen Leben bist du Taxler, Sascha, kein königlicher Chauffeur.“

„Der VW Passat Comfortline, den ich fahre, gehört inzwischen mir.“

„Du verbringst jede Nacht auf der abgewetzten Holzperlen-Sitzmatte dieses Autos. Du spürst die kleinen Kügelchen in deinem Rücken und unter deinem Hintern.“

„Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten transportiere ich Menschen durch die nachtleere Stadt. Es gibt keinen Schleichweg in Wien, den ich nicht kenne. Und bislang habe ich keinen einzigen Unfall gehabt.“

„Und vorgestern, am 2. Feber 2015 sitzt du in deinem Taxi am Standplatz Nummer 1505 vor dem Westbahnhof und wartest auf Kundschaft. Wie immer steckt eine CD aus deiner ausufernden Jazz-Sammlung in der Stereoanlage, diesmal The Real McCoy. Zu Tyners Klavierimprovisationen schmökerst du in Kafkas Tagebuchnotizen. Du liest von der Tänzerin Eugenie Platonowna Eduardowa, die in einem von Kafkas Träumen erscheint.“

„Von mir aus hätte es ruhig eine Stunde oder länger dauern können, bis der nächste Fahrgast zusteigen würde. Aber darauf hatte ich keinen Einfluss. Es war Montag, gegen 21 Uhr. Zu dieser Uhrzeit läuft das Geschäft erfahrungsgemäß am besten, gerade bei schlechtem Wetter. Erst später in der Nacht würde es irgendwann ruhiger werden. Erst dann würde ich mich ohne dauernde Störungen in die Musik und in die Sätze, die Kafka hinterließ, hineinfallen lassen können.“

2AM AUSGANGSPUNKT

Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen.

„Kalte, schwere Tropfen fielen vom Himmel. Schlugen auf meiner Windschutzscheibe auf.“

Sie hatte einen breiten Streifen Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art, wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. »Ich bin ein böses schlechtes Weib, nicht wahr?« sagte sie. »O nein«, sagte ich, »das nicht«, und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehn. Vorher fragte ich sie über die vielen Blumen aus, die in ihrem Gürtel steckten.

»Die sind von allen Fürsten Europas«, sagte sie. Ich dachte nach, was das für einen Sinn habe, daß diese Blumen, die frisch in dem Gürtel steckten, der Tänzerin Eduardowa von allen Fürsten Europas geschenkt worden waren.

„Ich bemerkte den Regen aber fast gar nicht, der eingesetzt hatte, zu laut hatte ich die Musik aufgedreht.“

„Zu gebannt von der Lektüre.“

Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik, fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet, das heißt, wenn nachher nicht eingesammelt wird.

„Aus dem Bahnhofsgebäude eilt ein miteinander unvertraut wirkendes Paar. Der Mann geht voraus, er trägt einen dunkelgrauen Wollmantel und hat einen ledernen Aktenkoffer bei sich. Die Frau, knapp hinter ihm, hält eine einzelne lachsfarbene Rose in der Hand, wie sie die Rosenverkäufer in der Bahnhofshalle anzubieten pflegen, wenn sie einen Mann in Begleitung einer Dame erspähen.“

„So frisch erstanden die Rose dieser Frau gewesen sein mochte, sie wirkte ramponiert.“

„Mit derselben Hand, in der die Frau die Rose trägt, zieht sie einen Rollkoffer hinter sich her und versucht Schritt mit dem Mann vor ihr zu halten. Er ist viel größer als sie und hat offensichtlich keine Lust darauf, nass zu werden. In großen Schritten eilt er über den Bahnhofsvorplatz in Richtung des Taxistands.“

‚Komm!‘

„Ruft er.“

‚Ich komme ja schon!‘

„In Wahrheit kommt sie kaum hinterher. Der Mann läuft geradewegs auf dein Taxi zu, Sascha. Er fuchtelt mit der Hand herum, um auf sich aufmerksam zu machen.“

„Ich habe ihn erst wahrgenommen, als er meinen Wagen erreicht hatte und hastig die hintere Seitentür aufriss.“

Einmal hatte ich die Türe versperrt, weil ich lesen wollte, aber mein Nachbar schlug die Tür mit der Hacke entzwei.

„Du schreckst hoch.“

‚Hallo! Sind Sie frei?‘

„Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich plump und schwer auf den Rücksitz fallen. Ein Schwall Regen folgte ihm nach.

‚Ja, natürlich‘, sagte ich.

Der Mann rutschte weiter ins Innere des Wagens und machte Platz für die mädchenhafte Frau, die nun ebenfalls angekommen war und ins Auto drängte. Sie war nass geworden und außer Atem, offensichtlich aber gut gelaunt. Hastig zog sie ihren Rollkoffer auf die Rückbank zu sich und schlug die Tür hinter sich zu.“

‚Wollen Sie das Gepäck im Kofferraum verstauen?‘

‚Nicht nötig.‘

„Der Mann weist deinen Vorschlag mit einer lässigen Handbewegung ab und wendet sich seiner Begleiterin zu.“

‚Geschafft!‘

„Sagte er.“

‚Ja!‘

„Sagte sie. Sie nickte dabei kurz und schloss einen Moment lang die Augen.

‚Dein Wien empfängt uns feucht und fröhlich‘, sagte sie.“

‚Das passt dann ja perfekt.‘

„Er lachte ein wenig. Er ließ seine Hand auf ihre hautenge Lederhose gleiten. Er rieb an der Innenseite ihres Oberschenkels.“

‚Bist ja kaum nass geworden.‘

‚Nein.‘

‚Noch nicht.‘

„Er war deutlich älter als sie und auch von deutlich größerer Körperfülle.“

„Du drehst die Musik leiser und legst Kafkas Tagebuch auf den Beifahrersitz. Du schaust in den Rückspiegel.“

„Ich fragte, wo es hingehen solle.“

‚Zum Karmelitermarkt.‘

„Sagt er.“

‚Im zweiten Gemeindebezirk.‘

„Sagte sie. Sie sprach es eher zu dem Mann als zu mir hin.

Ihr Deutsch war ausgezeichnet, nichtsdestotrotz hatte ihre Sprache einen eigenartigen Akzent. Ich vermutete, dass sie aus irgendeinem osteuropäischen Land kam.“

‚Das musst du dem Taxifahrer nicht sagen, Eugenie. Er weiß selber, wo der Karmelitermarkt liegt.‘

„Eugenie.“

Die Tänzerin Eduardowa

„Du erstarrst. Kurz setzt dein Atem aus.“

„Eugenie.“

„Du meinst, dass du dich verhört haben musst.“

‚Zum Karmelitermarkt. Hören Sie schlecht?‘

‚Zum Karmelitermarkt? Gut. Sehr gerne.‘

„Du versuchst, dir nichts anmerken zu lassen. Schaltest das Taxameter an. Tust, als wäre nichts geschehen. Betätigst den Blinker, blickst in den Außenspiegel, um vom Standplatz auszufahren. Kannst es dir nicht verkneifen, einen weiteren Blick nach hinten zu werfen, um die zwei Leute zu betrachten, die in deinem Wagen Platz genommen haben.“

„Das Gesicht des Mannes.“

Vor Fülle (nicht eigentlicher Dicke) fast schnaufend, unartig.

„Schütteres, dunkles Haar. Seitenscheitel.“

„Die Frau …“

„Eugenie“

Eduardowa

„Sie sitzt direkt hinter dir, ist kaum zu sehen, auch weil der Mann halb über sie gebeugt ist. Du reihst das Taxi in den Verkehr auf dem Neubaugürtel ein.“

‚Bitte drehen Sie dieses Gedudel ab. Das macht einen ja wahnsinnig.‘

„Sagt der Mann.“

‚Sehr gern. Kein Problem.‘

„Später hörte ich mir das Stück dann noch einmal ganz von vorne an. Contemplation muss von Anfang bis Ende durchgehört werden, davon war ich überzeugt.“

‚Was machst du denn da?‘

„Hörte ich den Mann ein wenig später fragen. Seine Frage galt nicht mir. Die Frau hatte ihre lachsfarbene Rose nun wie einen Schmuck an den silbrig glänzenden, mit Nieten verzierten Gürtel gesteckt, den sie um die Hüfte trug.“

‚Da wird sie doch kaputt!‘

‚Nur wenn du mich zu fest an dich drückst.‘

‚Wie meinst du das?‘

‚Du hast diese Rose für mich gekauft. Jetzt trage ich sie als Schutzschild. Ich trage sie so lange, bis ich dir erlaube, den Gürtel von mir abzunehmen.“

‚Du hast Ideen.‘

„Es fiel mir in diesem Moment schwer, mich auf die regennassen Straßen und den Verkehr zu konzentrieren.“

„Während der Fahrt betrachtet das Paar in deinem Rücken die an den Fensterscheiben vorbeiziehende Stadt. Immer wieder deutet der Mann hinaus und erklärt die eine oder andere Sehenswürdigkeit, an der ihr vorüberfahrt.“

„Bei diesem Wetter und in der Dunkelheit war draußen, obwohl der Regen allmählich nachließ, kaum etwas zu erkennen.

‚Schön‘, sagte Eugenie trotz allem.“

„Hin und wieder bist du versucht, den Mann zu korrigieren, wenn er falsche Behauptungen aufstellt. Doch du lässt es bleiben.“

„Als wir in die Haidgasse einbogen, musste ich an einen Kontrabassisten denken, einen in die Jahre gekommenen, schmächtigen, wortkargen Kerl, der dort wohnte. Ein Nachtarbeiter wie ich. Ich hatte ihn des Öfteren von Auftritten im Porgy & Bess nach Hause gebracht. Manchmal war er so angetrunken gewesen, dass ich mich wunderte, wie er es schaffte, dieses schwere Instrument die Treppen hochzuschleppen.

‚Wenn i eines Tages mein Bass nimmer die paar Stiegn hochdertrag, dann kann i ma die Kugl geben‘, hatte er gesagt.“

„Kurz vor dem Karmelitermarkt.“

‚Genau hier. Stehen bleiben!‘

‚Gerne.‘

„Ich fuhr zum Straßenrand hin, um das Auto abzustellen.“

‚Hier wohnst du also?‘

„Fragte Eugenie.“

‚Ja, dort drüben.‘

‚Ich bin ganz aufgeregt.‘

‚Genau im Eckhaus, siehst du?‘

„Er zog Eugenie zu sich her und deutete mit dem Finger auf die gegenüberliegende Straßenseite.“

‚Dort oben im vierten Stock.‘

„Sagte er.“

‚Mit Blick über den ganzen Karmelitermarkt.‘

„Auch ich blickte schräg zu dem Eckhaus hinüber. Noch drehte ich das Taxameter nicht ab, noch hatte mich der Fahrgast nicht ausdrücklich auf das Fahrtende hingewiesen.“

‚Dort oben brennt aber Licht?‘

„Sagte Eugenie.“

‚Das kann nicht sein.‘

‚Im vierten Stock, sagst du?‘

‚Ja, im vierten Stock.‘

„Der Mann war zu groß und ungelenkig, es war ihm zu mühsam, sich so weit zu ducken, dass er selber hinaufsehen hätte können.“

‚Es brennt in allen Stockwerken Licht.‘

„Sagte Eugenie.“

‚Vielleicht hast du vergessen, das Licht in eurer Wohnung abzudrehen, bevor du weggefahren bist?‘

‚Unsinn. Wenn, dann hätte Birgit vergessen, es abzudrehen. Ich bin ja vor ihr aus dem Haus gegangen. Aber so etwas sieht ihr nicht ähnlich. Die Birgit ist übertrieben gewissenhaft mit so Zeug.‘

‚Oh Gott. Dann muss ich ja wohl ganz besonders aufpassen, in der Wohnung keine Spuren zu hinterlassen …‘

‚Mach dir darüber keine Sorgen, Eugenie. Die Putzfrau kommt donnerstagnachmittags. Danach sind sämtliche Spuren beseitigt.‘

‚Wenn du das sagst, klingt es, als hättest du so etwas schon öfter gemacht, Herbert.‘

‚Nein, habe ich nicht.‘

„Irgendwann hatte sich Herbert mit eigenen Augen davon überzeugt, dass in seiner Wohnung Licht brannte.

‚Das gibt’s doch nicht!‘, sagte er.“

‚Bist du ganz sicher, dass sie nicht zuhause sind?‘

‚Glaubst du, ich hätte dich sonst mitgenommen? Birgit wollte spätestens am Sonntag mit dem Buben zu ihren Eltern in die Steiermark. Sie verbringen die Semesterferien dort. Jedes Jahr dasselbe. Wegen meiner Dienstreise könnte ich heuer aber erst zum Ende der Woche dazukommen, habe ich gesagt. So war die Abmachung.‘

‚Vielleicht hat Birgit ihre Pläne geändert?‘

‚Warum sollte sie?‘

‚Was weiß ich? Es kann alles Mögliche passieren.‘

‚Es kann immer alles Mögliche passieren. Aber das jetzt!‘

„Herbert überlegte eine Weile lang, was er am besten tun sollte.

‚Was auch immer das zu bedeuten hat. Ich muss jetzt vorsichtig sein‘, sagte er.

Er wandte sich nach vorne zu mir.

‚Lassen Sie die Uhr noch laufen, Herr Taxifahrer‘, sagte er. ‚Ich muss hier schnell etwas erledigen. Die Frau wird im Auto bleiben. Das ist doch kein Problem, oder?‘

‚Keineswegs‘, antwortete ich.“

‚Ich bleibe hier stehen, entweder bis Sie wiederkommen oder bis Ihre Frau den Fahrauftrag beendet und bezahlt.‘

‚Ich gehe zur Sicherheit erst mal alleine hinauf, nur um zu sehen, was los ist. Wenn die Luft rein ist, schick ich dir eine Nachricht und du kannst nachkommen.‘

„Er zog einen Fünfzig-Euro-Schein aus seiner Geldtasche und gab ihn Eugenie.“

‚Damit kannst du dann den Taxifahrer bezahlen.‘

‚Was ist, wenn die Luft nicht rein ist?‘

‚Mach dir keine Sorgen, Liebes. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.‘

„Plump tritt dann der Mann mit seinem Aktenkoffer unter den Arm gepresst auf den Gehsteig hinaus.‚Scheißwetter, verfluchtes‘, murmelt er.Ihr zwei im Auto Verbliebenen blickt ihm nach, wie er selbstvergessen die nasse Straße überquert und dabei beinahe einen Radfahrer übersieht, der aus der Dunkelheit auftaucht.‚Pass doch auf, du Trottel!‘, schnauzt er ihn an.“

„Eugenie kicherte leise, das hörte ich. Ich, für meinen Teil, überlegte, ob ich nun, da der Despot mein Fahrzeug verlassen hatte, wieder die Musik leise aufdrehen und in Kafkas Tagebüchern weiterlesen könnte? Ich fühlte mich unwohl dabei, mit dieser fremden Frau im geparkten Wagen zu sitzen. Ich wusste nicht, ob ich und was ich mit ihr reden sollte. Es fühlte sich an, als würde mir mein Taxi nicht mehr gehören.“

„Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sperrt Herbert die schwere Haustür des Gebäudes auf, in dem er wohnt, und verschwindet im Treppenhaus.“

„Mit einem lauten Knall fiel hinter ihm die Tür ins Schloss.“

„Und du bist dir sicher, Sascha, dass sich das alles bis hierhin genau so zugetragen hat?“

„Ich hörte ja, was sie da in meinem Rücken redeten. Vielleicht wäre es vornehmer gewesen wegzuhören. Aber das tat ich nicht. Es interessierte mich zu sehr.“

„Also sitzt da diese Frau …“

„Eugenie.“

„Eugenie … Sitzt da mit dir allein im Auto am Straßenrand?“

„Und der Mann war im Haus verschwunden. Und draußen war es unangenehm kalt und windig. Und dunkel.“

„Und menschenleer, bei diesem Scheißwetter.“

3AM KARMELITERMARKT