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Murakamis unheimliche Bibliothek: ein Ort zwischen den Orten! Eigentlich will der Junge nur zwei Bücher zurückgeben und noch ein wenig stöbern. Aber statt in den Lesesaal führt ihn der merkwürdig cholerische alte Bibliothekar in ein Labyrinth unter der Bücherei, wo er ihn einkerkert. Statt Wasser und Brot gibt es in diesem Verlies Tee und köstliche Donuts, serviert von einem mysteriösen Schafsmann und einem stummen Mädchen, das sprechen kann und wunderschön ist. Doch das ändert nichts daran, dass der Junge als Gefangener der Bibliothek um sein Leben fürchten muss, während die Grenzen zwischen Dingen, Menschen und Orten immer weiter verschwimmen. ›Die unheimliche Bibliothek‹ ist ein kafkaesker Albtraum und zugleich eine einfühlsame Geschichte von Verlust und Einsamkeit. Murakami schachtelt die Ebenen dieser kunstvollen Erzählung ineinander wie die Welten, die sich in der Bibliothek zu berühren scheinen, und Kat Menschiks schwindelerregend schöne Illustrationen ergänzen sie um weitere Abgründe. Ein Juwel. Mit Illustrationen von Kat Menschik.
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Seitenzahl: 37
1
Wie immer war es sehr still in der Bibliothek. Meine nagelneuen Lederschuhe riefen ein seltsames Klacken hervor, als ich über das graue Linoleum ging. Als wäre es gar nicht ich, der dort ging. Bei neuen Lederschuhen dauert es immer ziemlich lange, bis ich mich an das Geräusch meiner Schritte gewöhnt habe.
An der Ausleihe saß eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, und las in einem dicken Buch. Weil es ein sehr breites Buch war, wirkte es, als würde sie mit dem rechten Auge die rechte Seite lesen und mit dem linken die linke.
»Entschuldigen Sie«, sprach ich sie an.
Sie legte ihr Buch ziemlich geräuschvoll auf der Theke ab, hob den Kopf und sah mich an.
»Die möchte ich zurückgeben«, sagte ich und legte die beiden Bücher, die ich im Arm hielt, auf die Theke. Der Bau von U-Booten und Erinnerungen eines Schäfers.
Sie schlug die Buchdeckel auf, um das Rückgabedatum zu überprüfen. Natürlich war die Leihfrist nicht überschritten. Ich hielt sie immer auf den Tag und die Stunde genau ein. Schon weil meine Mutter mich ständig darauf hinwies. Es war wie bei einem Schäfer. Passte er nicht ordentlich auf seine Schafe auf, gingen sie verloren. Ich hütete die Bücher wie ein Schäfer die Schafe.
Energisch stempelte die Frau die beiden Bände auf der Leihkarte zurück und nahm anschließend ihre Lektüre wieder auf.
»Also, ich suche da ein Buch«, sagte ich.
»Die Treppe runter und rechts«, sagte die Frau, ohne aufzuschauen. »Dann geradeaus, Zimmer 107.«
2
Ich ging die lange Treppe hinunter, bog nach rechts ab, folgte einem dämmrigen Korridor und gelangte tatsächlich an eine Tür mit dem Schild 107. Ich war schon häufig in dieser Bücherei gewesen, aber erst jetzt erfuhr ich, dass sie einen Keller hatte.
Obwohl ich ganz normal an die Tür klopfte, klang es so unheilvoll, als hätte ich mit einer Keule an die Pforte der Hölle geschlagen. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und die Flucht ergriffen. Aber ich tat es nicht. Denn so hatte man es mir beigebracht. Hast du einmal irgendwo angeklopft, musst du auf Antwort warten.
»Herein!«, tönte es von drinnen. Die Stimme war leise, aber tragend.
Ich öffnete die Tür.
Im Zimmer stand ein kleiner alter Schreibtisch, hinter dem ein zierlicher alter Mann saß. Er hatte lauter schwarze Flecken im Gesicht, anscheinend Fliegen. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und hatte eine Glatze, war aber nicht völlig kahl. Weißes, krauses Haar sträubte sich um seinen Kopf, als wäre ein Buschbrand darüber hinweggefegt.
»Nur herein, junger Herr«, sagte der Alte. »Wie kann ich dir behilflich sein?«
»Ich suche ein Buch«, sagte ich schüchtern. »Aber wenn Sie beschäftigt sind, kann ich auch später …«
»O nein, durchaus nicht, schließlich ist es meine Aufgabe, Bücher herauszusuchen.«
Der hat aber eine sonderbare Art zu reden, dachte ich. Noch sonderbarer fand ich allerdings sein Aussehen. Aus seinen Ohren sprossen lange Haare, und von seinem Kinn hing die Haut herunter wie ein schlaffes Segel.
»Nach welchem Buch belieben der junge Herr auf der Suche zu sein?«, fragte der Alte.
»Ich möchte etwas über die Methoden der Steuereintreibung im Osmanischen Reich erfahren«, sagte ich.
Die Augen des Alten blitzten. »Ich verstehe, Steuereintreibung im Osmanischen Reich. Ja, das ist freilich hochinteressant.«
3
Mir wurde unbehaglich zumute. Um ehrlich zu sein, war ich keineswegs sonderlich erpicht darauf, etwas über die Steuern im Osmanischen Reich zu erfahren. Doch hatte sich mir auf dem Heimweg von der Schule unvermittelt die Frage gestellt: Wie haben die eigentlich damals im Osmanischen Reich die Steuern eingetrieben? Und wenn ich etwas nicht wusste, ging ich immer sofort in die Stadtbücherei, um es herauszufinden. Schon von klein auf.
»So wichtig ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich. »Nichts, was unbedingt sein müsste. Das ist ja ein sehr fachspezifisches Thema …«
Ich wollte so schnell wie möglich aus diesem unheimlichen Zimmer verschwinden.