14,99 €
Über die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Einst galt die dauerhafte Ruhe als Bedingung von Glück. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das Immer-Unterwegs-Sein, die permanente Veränderung. Der bekannte Kulturphilosoph Ralf Konersmann rekonstruiert, wie die westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und von der Präferenz der Ruhe zur Präferenz der Unruhe überging. Mit genealogischem Blick nimmt er die Unruhe nicht einfach als gegeben, sondern arbeitet heraus, wie sie überhaupt ihren Status hat erlangen können. Denn die Unruhe ist weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, sie ist weder Innen noch Außen, weder Mittel noch Zweck, sondern jederzeit beides zugleich. Eine analytisch klare und stilistisch brillante Reise durch die geschichtlichen Stationen einer Vorstellung, die uns heute permanent am Laufen hält und die uns so selbstverständlich erscheint, dass niemand sie grundsätzlich hinterfragt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 574
Ralf Konersmann
Die Unruhe der Welt
FISCHER E-Books
Was ist das glückliche Leben? Sorgenlosigkeit und beständige innere Ruhe.
L. Annaeus Seneca, Briefe an Lucilius (92,3)
Die Unruhe ist ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne. Ihre Wucht und Überzeugungsstärke bezieht die Unruhe aus einer geläufigen Prosa des Begehrens, die sich in Bildern der Erneuerung und der Belebung ausspricht. Was den Ökonomen die Konkurrenz, der Aufschwung und das Wachstum, das ist den Künstlern die Steigerung des Ausdrucks und eine urwüchsig geltende Kreativität, die sich in Einzelprojekten auslebt und beweist, aber niemals verausgabt und erschöpft.
All dies versteht sich von selbst, geschieht beiläufig, jederzeit und überall. Bildungsziele kommen und gehen, Geschlechterrollen wechseln, Familienbilder wanken, und Religionen, einst auf Fels gebaut, definieren sich neu, als wäre das gar nichts. Der verbreitete Glaube an eine ursprüngliche Gefügigkeit der Dinge kennt kein größeres Ärgernis als das, was sich gleichbleibt. Verwaltungen und Behörden, eben noch der Inbegriff der Schwerfälligkeit und der lähmenden Vorschriften, sind in eine Endlosschleife aus Reform und Kontrolle eingetreten, und im Supermarkt um die Ecke veranschaulichen gewitzte Warenaufsteller von Woche zu Woche die verkaufsstrategische Variante der einst von bolschewistischen Aufrührern verbreiteten Parole der wahren, der permanenten Revolution.
Die Unruhe ist ein hoffnungsfrohes Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung zwischen Treiben und Getriebensein nicht kennt. Ein weltlicher Adventismus regiert und macht sich selbst zum Zweck, die Welt erstrahlt in freudiger Erwartung. Handlungsziele treten zurück und weichen dem Bemühen, etwas – irgendetwas – zu bewegen und in ständiger Bewegung zu halten.
Die Konsequenzen dieser Grundausrichtung reichen weit. Aus der Warte der einmal angestoßenen, der sich selbst befeuernden Unruhe erscheinen Ziele als Ärgernisse, als Endpunkte und Hemmschwellen, an denen der kollektive Schwung erlahmt. In der Denkwelt der Unruhe haben deshalb Ziele allenfalls als Orientierungspunkte Bedeutung – nicht als Ankünfte, sondern als Übergänge. Nichts illustriert eindrucksvoller den Trend als die Ungeduld, mit der die Kunstszene heute verabschieden will, worum es Malern und Dichtern seit Menschengedenken gegangen war: um die Gestalt der gültigen Aussage, um das Werk. Die Hervorbringungen der Kunst sollten einmal schroff und unversöhnlich sein, terminale Erscheinungen und, so der junge Thomas Mann, »bürgerlich indiscutabel«. In der Welt der Unruhe ist es damit vorbei. Unter dem Regime der Unruhe wird gerade dies, nämlich der Aussage eine kühne und klarumrissene Gestalt zu geben, als unerträglich empfunden. Auf die Idee des Kunstwerks, gegenüber der Vergänglichkeit der Welt ein selbständiges, ein von Nutzanwendungen freies und in sich geschlossenes Sein zu statuieren, antwortet der Genius der Unruhe mit transitorischen Gebilden, mit der Proklamation des Unvollendeten, des Brüchigen, des Interaktiven und zartlinig Hingestrichelten. Die Unruhe löst die Kunstwerke aus dem Rahmen und revolutioniert damit zugleich deren Begriff. Wo einmal das Werk war, soll nun die Aktion sein, und wo das künstlerische Sprechen dicht und welterschließend sein wollte, genügt jetzt der Effekt der Verunsicherung. Das Kunstwerk, das selbst einmal etwas sein wollte, stellt sich als Medium zur Verfügung, als kreativer, auf die Bedingungen der Unruhe abgestimmter Interaktionsanreiz. Inzwischen endet kein Song mehr mit Schlussakkorden, die Stücke fransen einfach aus, und kein Regisseur käme mehr auf die Idee, das ›Ende‹ seines Films sichtbar anzuzeigen, um es zu vollziehen.
In der Summe verleihen diese kleinen und kleinsten Signale der stillschweigenden Überzeugung Ausdruck, dass nicht dieser Augenblick zählt, das Hier und Jetzt, sondern immer nur der nächste. Die Unruhe kennt keine Resultate, sondern nur lose Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind. Sie ist der Aufbruch in Permanenz, die systemische Ziellosigkeit. Natürlich will auch sie etwas bewirken, auch sie lockt mit der Aussicht auf Erfüllung. Viel näher aber liegt der Unruhe die Sorge, die Bewegung könnte stocken und überhaupt zum Stillstand kommen. Daher die gereizten Reaktionen auf alles, was nach einer klaren Entscheidung, nach Festlegung und Endgültigkeit aussieht. Unter dem Regime der Unruhe weicht die hergebrachte Orientierung an Zielen und Zwecksetzungen, an Bleibendem und Dauerndem, einer authentischen Ethik des grenzenlosen Wandels und des fortgesetzten Aufschubs, die nur noch Vorläufigkeiten kennt. Es gehört zu den Eigenwilligkeiten dieses metamorphen Geschehens, dass selbst diejenigen es vorantreiben, die sich ihm – aus welchen Gründen auch immer – in den Weg stellen. Als naher Verwandter der Unruhe trägt der Widerstreit das Seine dazu bei, dass die Gesamtbewegung im Schwung bleibt, anders gesagt: dass von den Vorläufigkeiten kein Weg zu den Endgültigkeiten zurückführt.
Gerade da, wo er am heftigsten ist, kehrt sich der Widerstand gegen sich selbst und wird der Unruhe zur leichten Beute. Die Folge ist, dass die Aktionen sich von selbst verstehen, zumal in der Politik. In der Sprache des Politischen ist die Unruhe unmittelbar wertebildend und hat Aktionsbereitschaft und Zustimmungsfähigkeit, energischen Veränderungswillen und demokratisches Selbstverständnis miteinander verschmelzen lassen. Die klassische Unterscheidung von Links und Rechts, von überzeugten Veränderern und bekennenden Bewahrern, hat darüber jeden Sinn verloren. Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, schrieb Giuseppe Tomasi di Lampedusa in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, muss sich alles ändern. Das aktionistische Kalkül des konservativen Schriftstellers ist aufschlussreich. Es zeigt, wie konsequent die Gebote der Mobilmachung die überkommenen, auf Geltung und Bewahrung bedachten Orientierungen aus den Angeln gehoben und Zug um Zug entwertet haben.
Dabei lebt die Politik den negativen Konsens der unbedingten Vermeidung von Staus und Stillständen nur exemplarisch und im Rampenlicht der Medienbühne weithin sichtbar vor. Weniger spektakulär, aber umso durchgreifender regiert die zeitgenössische Kardinaltugend der Flexibilität. Wer flexibel sein will, muss bei der Wahl seines Arbeitsplatzes, seines Wohnortes und seines Lebenspartners beweglich und jederzeit bereit sein, die einmal getroffene Entscheidung zu überdenken. Flexibilität verlangt ironische Selbstdistanz, pragmatischen Werterelativismus, ein ausgeprägtes Faible für Neues und Anderes, die Sicherstellung sowohl der Leistungsfähigkeit als auch der Erreichbarkeit, die grundsätzliche Bereitschaft zu körperlicher und geistiger Optimierung sowie eine kritische Aufmerksamkeit für Fixierungen, Blockaden und Routinen. Der Strenge dieses Forderungskatalogs unterliegen auch die gesellschaftlich anerkannten Auszeiten. Erschöpfungspausen – Sonntage, Freizeiten, Urlaube – dienen nicht der Muße, die vorzeiten einen schmerzfreien Körper und ein sorgenfreies Gemüt versprach, sondern der Wiederherstellung der Kräfte. Die Auszeit ist ein Intervall, das wir uns zugestehen, solange nur die Verbindung mit dem Trubel nicht abreißt. Und hat man nicht die Langeweile und sogar die Faulheit und den Müßiggang gepriesen, weil sie produktiv seien, produktiver noch als die Arbeit, die Fitness und der Fleiß? Im Zeichen der creative economy haben sich Ökonomen und Kulturmanager, Betriebspsychologen und Unternehmensberater zusammengetan und das einst von Romantikern ersonnene Paradox des schöpferischen Nichtstuns ausgegraben, um es nun erneut als das Mittel der Wahl zu empfehlen. Es gilt, den Erfindungsgeist anzustacheln, neue Ressourcen zu erschließen und die Effizienz nochmals zu steigern. Die Begeisterung für kreative Impulse ist grenzenlos: Kreativ ist, wer das Unerwartete, das schlechthin Andere wagt und uns die Welt interessant zu machen weiß. Allerdings soll der kreative Input nachhaltig sein, und wenigstens auf der Steuerungsebene möchte man unterscheiden können zwischen blindem Aktionismus und durchgreifender Veränderung, zwischen »rasendem Stillstand« und echter Innovation. Sobald der Unterschied entfällt und die Veränderung eins wird mit ihrer Simulation, sind die Anhänger des Fortschritts vor das Problem der Authentizität gestellt.
Die Stärke ihrer Attraktion ist überwältigend und trägt die Unruhe über Bedenklichkeiten mühelos hinweg. Die Erwartungen, die wir der einzelnen Aktion und dem Wandel ganz allgemein entgegenbringen, die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns für welche Veränderung auch immer bereithalten, und die Gründlichkeit, mit der wir sogar die Auszeiten einer Art Aktivismus der Ruhe unterwerfen – all dies sind Indizien für das unbedingte Kulturprimat der Unruhe. Die Kritik mindert die normative Kraft des Phänomens keineswegs. Die Unruhe ist ein Kult, dessen Rituale befolgt und nicht nur strengstens eingehalten, sondern auch fraktionsübergreifend bejaht und eingefordert werden. Eines Programms oder förmlichen Bekenntnisses bedarf es nicht. Die Unruhe ist eine Macht, die ihre Wirkung im Stillen entfaltet – eine Macht, die keine Geschichte hat und ebenso wenig ein Gesicht. Umso ungestörter beherrscht die Unruhe das Terrain der stillschweigenden Übereinkünfte, die, noch bevor wir die Argumente wägen und unsere Entscheidungen treffen, unserem Handeln vorgegriffen und uns ihren Rhythmus auferlegt haben.
Die folgenden Seiten lenken die Aufmerksamkeit auf den blinden Fleck unserer Glaubenssätze und Überzeugungen, auf die für gewöhnlich unthematischen, von der Fraglosigkeit der Normalität gedeckten Vorentschiedenheiten (vgl. Abb. 1). Damit ist klar, dass ich hier keine Kulturkritik alten Stils anbiete. Mir geht es nicht darum, vor der »blinden Wut des Machens« zu warnen und ein weiteres Mal für ›Entschleunigung‹ oder ›Langsamkeit‹ zu werben; ich möchte den Motivierungen der Unruhe nachgehen und ihre Tragweite ermessen, kurz: ich trete einen Schritt zurück, um die Unruhe und ihre Fraglosigkeit zunächst einmal zu verstehen. Aufklärung heute heißt demjenigen nachzuforschen, was oft gesagt und tausendmal wiederholt worden ist, ohne jemals begründet worden zu sein – Überzeugungen, Erwartungen und Behauptungen, die nicht deshalb Bestand haben, weil sie in einem rationalen Verständnis dieses Wortes wahr wären, sondern weil sie den Zeitgenossen unbestreitbar erscheinen. Mein Thema ist das stillschweigende, das implizite Wissen, das dem expliziten, dem ausformulierten Wissen vorgreift und es unbewusst konturiert – jenes tief eingewurzelte Immerschonverstandenhaben, das mit unseren Lebensäußerungen verschmolzen ist und über kulturelle Zugehörigkeiten entscheidet. Die primäre, die kulturelle Aufgabe heutiger Aufklärung besteht in der Verdeutlichung dieser blindlings übernommenen Grundsätze und Direktiven: in der Verdeutlichung dessen, woran selbst die Ungläubigen glauben. Sie ist also, genau gesehen, Selbstaufklärung. Der Anspruch einer solchen Vergewisserung zielt weniger auf die Richtigstellung des vermeintlich Abwegigen oder Falschen als auf die Ermittlung dessen, wer wir, indem wir diese oder jene Überzeugung ohne weiteres teilen, gemeinsam sind – wer also wir selber sind, die wir durch unsere besondere, unsere eigene Art des Sprechens, des Denkens und Verhaltens für uns selbst und für andere sichtbar werden.
Ein Wort wie Mentalitätswandel, das die Beweglichkeit unserer Vorstellungen und Ideen erklären soll, ist leicht ausgesprochen. Aber ist nicht diese Leichtigkeit des Dahingesagtseins allzu verführerisch, mit der wir stillschweigend schon akzeptiert haben, was es zu erklären gälte? Wie vollzieht sich denn ein solcher Wandel, wie entsteht Zustimmung, wie Bereitwilligkeit? Wie wird Veränderung ein Anliegen von jedermann? Wie kommen Menschen dazu, die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden aufzugeben, um das Glück in Fleiß und Arbeit zu suchen? Wie hat die westliche Kultur es angestellt, die Muße, in der sie einmal das Ziel all ihrer Unternehmungen und Einrichtungen erkannt zu haben glaubte, beiseitezuschieben und gegen das Ideal der unabsehbaren Entwicklung und des Fortschritts einzutauschen? Wie ist, in der Sprache Hegels, die Unruhe der Welt absolut geworden? Und welche Spuren hinterlassen solche Umstellungen in der Sprache, im Denken, in den Bildern – mit einem Wort: Wie vollzieht sich die Ersetzung, wie die Verkehrung von Konventionen und Selbstverständlichkeiten?
Bereits im 18. Jahrhundert ist bemerkt worden, dass Begriffe die Welt benennen, jedoch durch die Art, wie sie dies tun, ihre Gegenstände auch verändern. Begriffe sind Interventionen. Das wird, wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, bei den im Verlauf der Neuzeit aufgekommenen und rasch verbreiteten Ismus-Bildungen schlagend deutlich, gilt aber im Prinzip für alle Formen des Weltbegreifens, sofern sie Zuschreibungen vornehmen, Akzente setzen und komplexe Sachverhalte zeichenhaft verdichten. Zugleich mit dem Verständnis der Welt verleihen sie dem Selbstverständnis der Beteiligten Ausdruck, wirken auf es zurück, formen und verformen es. Begriffe bewegen, und indem sie dies tun, bewegen sie sich auch selbst.
Ähnliches gilt für die Bilder. Die Überzeugung Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768), die künstlerische Darstellung müsse Geist und Seele um der ästhetischen Vollkommenheit willen »in dem Stande der Ruhe« zeigen, ist von den Modernisierungsschüben der Folgezeit mit einer Resolutheit hinweggefegt worden, die es uns heute fast unmöglich macht, an die Intuitionen kunstreligiöser Verklärung überhaupt noch einmal heranzukommen. Viel einleuchtender erscheint uns die Lösung Marcel Duchamps (1887–1968), dessen treppab steigender Akt von 1912 sowohl von den Experimenten des frühen Films als auch von der Aktionsrhetorik der Kunstavantgarden profitiert. Duchamps Zersplitterung des Augenblicks attackiert die konventionelle Darstellungspraxis des Bildes und vor allem den klassizistischen Anspruch des Triumphes über die Zeit. Noch Hegel ist davon überzeugt gewesen, die Ansicht der Welt werde durch die bildnerische Stillstellung auf den Gipfel ihrer eigenen Idealität geführt. Im Zauberspiegel der Kunst soll die Wirklichkeit sich tadel- und reglos zeigen, eben: wie gemalt. Duchamp hingegen definiert nun diese Bildidee als willkürlichen und vor allem verfälschenden Ausschnitt aus einer als natürlich unterstellten Bewegtheit der Dinge.
Abb. 1: Marcel Duchamp: Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2, 1912.
So versteht sich, was für das uneingeweihte Auge abstrakt und vielleicht sogar grotesk wirken mag, als formal bewältigte Wirklichkeitsnähe und als der wahre, weil gründlich desillusionierte Realismus. Anstatt, wie es einst üblich war, die Welt im Stillstand zu zeigen, versinnbildlicht eine Sequenz ineinandergeschobener Momentaufnahmen die Weigerung der unruhigen Wirklichkeit, auch nur für einen Augenblick – und sei es für den Augenblick des Bildes – innezuhalten und sich im Einzelbild zu zeigen. Noch während wir sie anschauen, um ein Bild von ihr zu gewinnen, hat sich die Wirklichkeit bewegt und verwandelt. So reflektiert dieser Akt, wie er seine Gegenstände zeigt. Nicht nur Begriffe, auch Bilder sind Interventionen, und indem Duchamp diesen Vorgang auf sie selbst anwendet, macht er ihn sichtbar. Sein treppab steigender Akt bietet nichts Geringeres als eine bildförmige Theorie des Bildes.
Allerdings, und auch das verdeutlicht diese Provokation, gehen die Bilder und Begriffe aus ihrer Anverwandlung an die Unruhe nicht unverändert hervor. Eben noch verlässliche Haltepunkte im Gewimmel der Welt, werden sie nun selbst zu Akteuren und unterwerfen den ganzen Apparat des kulturellen Wissens der Regel und dem Gesetz der Inquietät. Für die theoretische Erfassung der Unruhe wirft diese Verstrickung das Problem auf, dass ein Außen, ein privilegierter Ort unabhängiger Daseins- und Unruhebetrachtung, nicht mehr verfügbar ist. Die Unruhe rundet sich zum Spiegelkabinett, in dem wir uns, wir wissen nicht wie, nach und nach eingerichtet haben. Allerweltstechniken wie die Montage haben uns daran gewöhnt, die Welt mit den Augen Duchamps zu sehen und die Bewegtheit der Bilder und Begriffe für selbstverständlich zu halten, ja für den sinnfälligen Erweis ihrer Realitätstauglichkeit.
Was also ist das für eine Kultur, die sich, ohne dies jemals beschlossen zu haben, der Unruhe verschrieben hat? Und wie ist sie zu diesen Vorentschiedenheiten, die in keinem Katechismus, keinem Verfassungstext oder sonstigem Verhaltenskodex festgeschrieben sind, gekommen? Indem ich diese Fragen stelle, sollte klar sein, dass das vorliegende Buch keine Anklage erhebt und weder Gegenwelten entwerfen noch Ratschläge erteilen will. Es will die Aufmerksamkeit schärfen und herausarbeiten, wie kulturelle Konventionen aufkommen und wie sie durchgesetzt werden. Was mich interessiert, ist die Unwiderstehlichkeit der Unruhe, ist der kulturelle Laderaum dieses Prinzips und die Robustheit der von ihm getragenen Vorstellungswelt.
Die Unruhe ist kein stofflich fassbares Ding, und es besteht wenig Aussicht, sie auf frischer Tat zu ertappen. Ihre Domäne sind jene Übergänge zwischen Welt und Welterleben, wie sie in der Sprache zahlreich hervortreten. Offenkundig ist die Schicht der betreffenden Wörter und Zeichen jahrhundertealt, und doch haben es nur wenige in die Nachschlagewerke der Ideengeschichte gebracht. Lexikalische Beiträge über die Unruhe, über das, was der Wandel ist oder die Veränderung, über die Mobilität, die Deregulation oder selbst die Fitness, sind ausgesprochene Raritäten. Dieser Sachverhalt allein ist schon bemerkenswert. Offenbar haben wir es mit Wörtern und Begriffsnamen zu tun, die eine überwältigende Normalität allgegenwärtig gemacht und der theoretischen Aufmerksamkeit entzogen hat. Die Unruhe scheint eine jener Selbstverständlichkeiten zu sein, die mit ihrer Umgebung verschmolzen sind und das Suchschema der theoretischen Weltwahrnehmung unterlaufen. In dieser Lage ist die Zusammenstellung des Wortfeldes, das den vorliegenden Band beschließt, ein erster Schritt. Auf der Ebene der Einzelwörter führt sie vor Augen, was man die Logosphäre der Unruhe nennen könnte: ihre Kultur und deren Grenzen. Die Liste der Begriffsnamen lässt die Vielfalt der Phänomene hervortreten und erfasst sie, ohne diese Vielfalt auf eine einzige Formel herunterzubrechen, als funktionale, durch die Nüchternheit der alphabetischen Ordnung gebundene Einheit. Dass es sich dabei häufig um vortheoretische und sogar bewusst im Vortheoretischen belassene Wendungen handelt, mindert den Aufschlusswert der Sammlung keineswegs. Anders als die wissenschaftlichen Begriffe, die an ihre Stelle treten, sind all diese Wörter Namen. Sie geben der menschlichen, von Menschen sowohl erfahrenen als auch bedachten, sowohl hervorgebrachten als auch erlittenen Wirklichkeit Gestalt und offenbaren eine erstaunliche Unterscheidungsgenauigkeit. An ihnen lässt sich erfahren, was der französische Historiker Marc Bloch den »Tastsinn der Wörter« genannt hat. Jedes dieser Namenwörter bezeichnet eine kulturelle Tatsache, jedes erzählt eine Geschichte, und gemeinsam umreißen sie die Welt der Unruhe – ihre Geläufigkeit und Präsenz.
Die in diesem Buch zusammengetragenen Wörter und Geschichten sprechen von der Gegenwärtigkeit der Unruhe und davon, wie sie es anstellt, die Menschen zur unablässigen Veränderung ihrer selbst und der Welt anzuhalten. Am Ende scheint es, als sei es gerade das, was die westliche Kultur mehr als alles andere auszeichnet und wodurch sie sich sowohl von ihrer eigenen, vorneuzeitlichen Vergangenheit als auch von anderen Kulturen unterscheidet: durch die kategorische, allen weiteren Überlegungen vorgreifende Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.
Umreißt die Tragweite des Themas und erläutert die Grundsätze und besonderen Herausforderungen, die bei seiner Bearbeitung zu beachten sind
Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns fänden?
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (Vorrede)
Es ist erstaunlich zu sehen, wie bereitwillig wir uns mitreißen lassen. Diese Bereitschaft, die Bedingungen der Unruhe anzunehmen, ist umso bemerkenswerter, als die Wertvorzeichen in der Vergangenheit gänzlich andere gewesen sind. Ursprünglich, hat Émile Durkheim mit Blick auf ethnographische Zeugnisse bemerkt, ist »nichts in uns« gewesen, »das uns zu ständiger und schmerzhafter Anstrengung angestachelt hätte«.[1] Offenkundig ist die Unruhe keineswegs einfach da. Irgendwie haben wir zu ihr gefunden und sie zu uns. Umso brisanter ist die Frage: Wie hat, um das suggestive Bild des französischen Soziologen aufzugreifen, die Normalität der Unruhe in die Kulturwirklichkeit hineingelangen, wie hat sie dort Fuß fassen und unabweislich werden können?
Auf den vorliegenden Seiten dreht sich alles um diese eine und einfache Frage: Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben? Warum können, warum wollen wir die Welt nicht einfach lassen, wie sie ist? Woher die verbreitete Sorge, nicht voranzukommen und auf der Stelle zu treten? Was ist so unerträglich, was so unheimlich an diesem längst zum Gemeinplatz gewordenen Gespenst der Stagnation? Was ist das für eine Gedankenordnung, in der Stillstand als Rückschritt gilt und Abwarten als Lähmung? Welcher Logik entstammt die Überzeugung, dass wir uns nie zufriedengeben, nie zurücklehnen und die Lage um keinen Preis einfach hinnehmen dürfen? Woher diese ganz normale Unersättlichkeit des Vorwärtsdrängens, des Änderns, des Umstellens und Neumachens? Und, um die Sache auf den philosophischen Punkt zu bringen: Wie sind wir dazu gekommen, die wirkliche Welt, die wir haben, geringer zu schätzen als die möglichen Welten, die wir nicht haben und vielleicht auch niemals haben werden? Wann und warum ist das Genügen am Weltzustand umgeschlagen in die Normalität des Ungenügens? Wie kommt es, dass Behagen und Zufriedenheit uns als spießbürgerlich verdächtig sind? Wann und warum haben die Klugheitslehren der Mäßigung und der Beständigkeit ihren Einfluss verloren? Wie konnte es geschehen, dass wir die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, die einmal die Namen des Glücks gewesen sind, gegen das Versprechen der Unruhe eingetauscht haben? Und wer ist, von all diesen Überzeugungsroutinen einmal abgesehen, dieses Wir? Wer sind die Propagandisten der Unruhe?
Meine These ist, dass wir die Unruhe nicht begreifen, solange wir sie auf natürliche Gegebenheiten zurückführen, auf die psychische und physiologische Ausstattung des Menschen. Ohnehin sind die Auskünfte sowohl der Biologen als auch der Anthropologen widersprüchlich. Der einschlägigen Bestimmung des Homo sapiens als »Unruhstifter«, deren Befürworter sich im 18. Jahrhundert erstmals zu Wort melden,[2] hat Sigmund Freud (1856–1939) – auch darin ein Erbe der romantischen Naturphilosophie – das »Nirwanaprinzip« als die nicht weniger starke Sehnsucht nach Ruhe, nach »Konstanterhaltung« und »Aufhebung der inneren Reizspannung« gegenübergestellt.[3] Die Sehnsucht, die Freud meint, gilt dem Glück des Genügens und Genugseinlassens, das, bevor der Jargon der Unruhe den Sinn dieses Wortes vernebelt hat, Resignation hieß. Solche Abweichungen vom Konsens der Nicht- und der Un-Ruhe sind kostbar. Sie erinnern daran, dass die Exemplare der Gattung Homo sapiens nicht wie Haie sind, deren Atmungssystem ihren Körper zu ständiger Bewegung anhält, weil sie sonst ersticken würden. Die Anhänger der Natürlichkeitsthese lokalisieren die Unruhe außerhalb von Geschichte und Kultur. Sie wollen sie eingrenzen und fassbar machen; sie wollen sie auf eine einzige, bestimmbare Ursache zurückführen, um sie da, wo sie dies für nötig halten, gezielt anzugehen. Ihr Blick ist pragmatisch und an der Weitläufigkeit des Sachverhalts überhaupt nur insoweit interessiert, wie deren Wahrnehmung dem Primärziel der Beherrschung nicht hinderlich im Weg steht.
Um an dieser Stelle weiterzukommen, schlage ich vor, die Unruhe als historische Tatsache zu verstehen, als Kulturphänomen. Schon ihre Präsenz ist abhängig von der Art, wie wir die Wirklichkeit und wie wir uns selbst als Teil dieser Wirklichkeit verstehen wollen. Wer die Unruhe begreifen will, muss sich deshalb auf diese Welt der wechselseitigen Abhängigkeiten einlassen: auf die Kultur. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass wir uns die Unruhe nicht als etwas vorstellen dürfen, das einst von außen an eine genügsame, in sich ruhende und intakte Lebensform herangetragen wurde. Die Unruhe ist im Gegenteil genau das, was zumindest den westlichen Typ kultureller Normalität im wesentlichen ausmacht. Sie ist gemeint und direkt angesprochen, wenn diese Kultur sich selbst als »die Welt des Beweglichen«[4] bestimmt, als eine unumkehrbare Dynamik, die immer neue Lebensformen und Ideen hervortreibt – nicht zuletzt die Idee und den Begriff der Unruhe selbst. Diese Kultur ist im umfassenden Verständnis dieses Wortes eine Kultur der Unruhe.
Der Unwiderstehlichkeit der Unruhe liegt also nicht ein Plan zugrunde, weder ein förmlicher Beschluss noch eine natürliche Konstitution. Sie folgt einer vorgefundenen, allein durch das Empfinden der Normalität ins Recht gesetzten Übereinkunft, deren Spur die Geschichte der kulturellen Wirklichkeiten wie ein roter Faden durchzieht. Ein ganzes Vokabular der Erwartung und des Versprechens hat uns die Konventionen der Unruhe nahegerückt, hat schließlich die vertraute Welt ganz und gar mit ihr infiziert, so dass es uns nun, anders als dem stoischen Weisen oder dem Zivilisationsflüchtling Rousseau, ungeheuer schwerfällt, uns diesem Regime zu entziehen. Die Unruhe ist mehr als ein individuelles Gefühl, eine Emotion; sie ist ein überpersönliches, ein kulturspezifisches und gemeinsam geteiltes »Gesamtgefühl«, mit einem Wort: Die Unruhe ist eine Passion.[5]
Die Welt der Passionen folgt ihren eigenen Regeln. Dazu gehört zunächst, dass die Unterscheidung zwischen Bewegung und Bewegtsein, zwischen Treiben und Getriebensein aufgehoben ist. Ihre Verbreitung erfolgt außerdem weder über den Austausch von Argumenten noch auf dem förmlichen Weg der Initiation, sondern, wie schon Michel de Montaigne (1533–1592) wusste, auf dem Weg der Ansteckung.[6] In dem Maße, wie sie sich ungehemmt ausbreiten und allgemein geteilt werden, wirken Passionen wie Naturgewalten, die als bare Selbstverständlichkeiten das Handeln bestimmen. Die Implikation der Übermächtigung erklärt die Willenlosigkeit, die für die von der Passion Befallenen bezeichnend ist. Gewiss werden Passionen, wie schon das Wort sagt, erlitten. Gleichzeitig aber ist die Lust, sich ihnen hinzugeben, unwiderstehlich. Passionen sind, mit dem Wort Lessings, angenehm selbst da, wo sie am unangenehmsten sind.[7] Unentwirrbar vermengen sie die Gefühlsordnungen des Zwangs und der Sehnsucht, der Freude und der Qual. Passioniert sein heißt, zu wollen, was man erleidet, und zu erleiden, was man will. In dem Maß, wie die Unruhe den Unterschied zwischen Drang und Gedrängtsein verwischt, wird sie zur Passion. Wir lassen uns auf sie ein und vertrauen ihr unser Leben an, ohne sie jemals gewählt zu haben. Und wie auch: Wie jede Leidenschaft erlebt auch diese am intensivsten, wer ohne Bewusstsein ganz von ihr erfüllt ist. Im Einflussbereich der westlichen Kultur ist die Unruhe gesetzt und präsentiert sich als eine fraglos beglaubigte Vergessen- und Versunkenheit, der die Menschen sich willig ergeben und der sie das Recht eingeräumt haben, fortgesetzt verbindliche Ansprüche zu stellen.
Bereits Diogenes (um 412–323 v. Chr.), der Fassbewohner und bildmächtige Kritiker der Kultur, hat den obsessiven Charakter der Unruhe, ihre Unabweislichkeit, mit den Mitteln der szenischen Parodie enthüllt. Als die Einwohner der von fremden Truppen belagerten Stadt Korinth in heller Aufregung durch die Straßen eilten, soll, wie es heißt,[8] der Philosoph seine Kleidung geordnet und begonnen haben, seine Tonne hin- und herzurollen. Auf sein sinnlos scheinendes Tun angesprochen, gab er an: »Ich wälze mein Faß, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich sei unter so viel Tätigen der einzige Nichtstuer.« Die Übertreibung ist das Mittel, nicht nur die Situationsangemessenheit der Unruhe, sondern darüber hinaus auch sie selbst grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Performance des Straßenphilosophen nimmt es mit der Unruhe auf, indem sie zeigt, dass sie einerseits etwas ist und andererseits etwas bedeutet. Was zunächst als Grund des Handelns erscheint – die Bedrohung der Stadt –, steht nach seiner Karikierung nur noch als Vorwand da, dem Drängen der ohnehin sprungbereiten Unruhe endlich nachzugeben. Wie das Verhalten der Stadtbewohner zeigt, ist die Unruhe ansteckend und eine Passion, deren Vergemeinsamungseffekte so stark sind, dass sich nur ausgemachte Narren dem Konformismus der Unruhe entziehen. Und genau diese, von Diogenes sichtbar gemachte Art der leisen, aber unerbittlichen Nachdrücklichkeit, die aus der Unruhe eine Norm gemacht hat, ist das Thema der folgenden Seiten: die Kultur der Unruhe und wie es ihr gelang, sich der Fragwürdigkeit zu entziehen.
Kultur der Unruhe – die Formel ist offenkundig mehrdeutig. Die eine Lesart, die das Wort Unruhe betont, stellt heraus, dass manche kulturellen Gemeinschaften auf die Unruhe gesetzt haben, während anderen dergleichen niemals eingefallen wäre. Eben diesen kulturmorphologischen Sachverhalt hat der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009) vor Augen, wenn er zwischen warmen und kalten Gesellschaften unterscheidet.[9] Die Grobheit dieser Klassifizierung ist offensichtlich, und Lévi-Strauss selbst rät zur differenzierten Betrachtung. Gegensätzliche Attribute wie kalt und warm sind – wie auch Ruhe und Unruhe – Zurechnungsurteile. Sie deuten zurück auf den, der sie ausspricht – sie sind, mit dem Wort Kants, »immer respective«[10]. Als Ethnologe und Reiseschriftsteller hat Alexander von Humboldt (1769–1859) den Verweisungszusammenhang präzise erfasst und in einer Tagebuchnotiz, die zwischen Erfahren und Beobachten, zwischen dem erlebenden und dem reflektierenden Ich konsequent unterscheidet, kulturhermeneutisch umgesetzt: »Der hastige, alles erzwingende, durch hunderterlei Combinationen bestimmte Wille des Europäers ist der ruhigen, alles vom Zufall erwartenden, Gleichmuth des Tropenbewohners sch[n]urstraks entgegengesezt. Der Contrast zwischen der Hastigkeit, dem Mühlradwesen der Europäer und der Gleichmuth des Indianers war mir am auffallendsten in Llano de Barcellona bei Caris. Wir hatten nach einer langen Tagereise, von Sonne und Staub gequält, den Weg verloren. Der Indianer, der als Wegweiser diente, kündigte uns dies selbst an. Er sezte hinzu, wir würden ein 6 Meilen vergeblich gemacht haben und müßten unter freiem Himmel übernachten. Ich ward sehr ungeduldig, that dem Indianer (ein Caribe, der gut spanisch sprach) tausend Fragen über den verlorenen Weg, er antwortete kein Wort, sah starr auf einen Baum hin, und als ich ausgewüthet, zeigte er mir (eben als sei gar nichts vorgefallen) eine fette Iguana, die von Zweig zu Zweig hüpfte. Was liegt dem Indianer daran, ob er hier in der Savanna oder 40 Meilen davon, heute oder in 3 Monathen in seiner Hütte schlafe. Er lebt außer Zeit und Raum, und wir Europäer scheinen ihm unerträglich, unruhige, von Dämonen geplagte Wesen.«[11]
Die Wahrnehmung durch den Fremden erleichtert an dieser Stelle die Erkenntnis des Eigenen, und dieses Eigene ist die »Hastigkeit« und das Ungenügen der ja überhaupt nur seiner bis dahin unbedachten Disposition wegen in die Fremde gelangten Europäer. Vom Verstehen dieser Fremdheit ist Humboldts Szene weit entfernt, das Verstehen ist hier gar nicht das Thema. Der Bericht beschränkt sich auf die Schilderung der Differenzerfahrung und auf das, was daraus folgt. Ihren Sinn haben das Fremde und das Eigene einzig und allein in ihrem wechselseitigen Verwiesensein – auch sie sind Zurechnungsurteile. Durch die reflexiven Qualitäten der Aufzeichnung verwandelt sich nun die historische Begegnung der Kulturen in ein Lehrstück. Das Selbstverständnis der europäischen Kultur wird der Unscheinbarkeit entrissen, in die es von der heimatlichen Normalität gehüllt gewesen war, und tritt im Augenblick der Begegnung mit dem Fremden als »Mühlradwesen« bildkräftig hervor. Die Logik kultureller Identität bringt es mit sich, dass wir überhaupt erst durch die Art und Weise auf sie aufmerksam werden, mit der diejenigen auf uns reagieren, die fremd genug sind, um sich auf die Regeln des heimatlich vertrauten Spiels nicht automatisch eingelassen zu haben. Darin steckt eine kulturhermeneutische Erfahrungsregel, die sich verallgemeinern lässt: Dem Fremden zu begegnen heißt, die Normalerwartung der Identitätsbestätigung enttäuscht zu sehen. Eine ganz ähnliche Erfahrung lässt sich da machen, wo Kulturen auf sich selbst und ihre Geschichte zurückblicken und zwischen warmen und kalten, ereignisreichen und ereignisarmen Perioden unterscheiden, und es ist durchaus im Sinn der Sache, dem Vorschlag von Lévi-Strauss folgend auf die Nüchternheit physikalischer Adjektivmetaphern zu setzen. Neutralität und Unbefangenheit sind keineswegs selbstverständlich, ja sie müssen bei einem Thema wie der Unruhe durch wohlbedachte Wortwahl überhaupt erst hergestellt werden. In einer Kultur, die sich, wie schon Humboldt feststellen musste, vorzeiten festgelegt und ihre Präferenzen klargestellt hat, ist die Gegenüberstellung von Ruhe und Unruhe, von Stillstand und Bewegung rhetorisch und bestätigt nur den ganz normalen Automatismus der Vorentschiedenheiten. Als Kulturwesen sind wir die willigen Vollstrecker unseres eigenen kategorialen Bezugssystems.
Nichts illustriert die Wirksamkeit solcher Vorgaben eindrucksvoller als die schon in der Antike gesehene Unerlässlichkeit der Anstrengung, ihnen entgegenzutreten. Besonders zur Unruhe gilt es demnach auf Abstand zu gehen und die gewonnene Distanz gegen innere und äußere Widerstände langfristig zu sichern. Weisheit und Tugend, so die Erwartung, haben nur dann eine Entfaltungschance, wenn sie Vorgehensweisen bevorzugen, mit deren Hilfe sie sich äußeren Einflüssen und namentlich den Verheißungen der Unruhe erfolgreich entziehen.
Im Fall der Erkenntnis fungiert als Inbegriff solcher Distanzierung die Theorie: der Anspruch nämlich, die Dinge dieser Welt in Ruhe zu betrachten. Der Aktionismus, der die Eigenständigkeit der Theorie mit Weltferne und Müßiggang verwechselt, begegnet dem Kunstgriff der Distanz mit Argwohn und spricht von der Flucht in den Elfenbeinturm. Aber es geht der theoretischen Einstellung gar nicht darum, sich den Anforderungen der Relevanz zu entziehen. Das Innehalten der Theorie, die epoché, ist vielmehr Ausdruck der Entschlossenheit, sich der fordernden Bewegtheit der Welt, und das heißt an dieser Stelle: der Vergänglichkeit und dem raschen Wandel der Interessen zu entziehen und die Unabhängigkeit des Urteils zu gewährleisten. Das Selbstverständnis der Theorie beruht auf einem ethischen Fundament der Abgeklärtheit, die sich, wie Nietzsche unter Anspielung auf die wortgeschichtlichen Wurzeln der theoría sagt, als Tugend des »langsamen Auges« verwirklicht.[12] Das Denken – diese Position ist ganz klassisch – reklamiert eine eigene Zeitlichkeit, mit der es sich vom Treiben der Unruhe lossagt und unterscheidet. Es geht zu den Dingen auf Distanz – aber nicht, um ihnen auszuweichen, sondern um schärfer zu sehen. Alles theoretische Erkennen beginnt mit dieser Unterbrechung, mit dem Nein zum Konformismus der Unruhe: Stop and think. Diese Selbstpositionierung ist übertragbar. In der Kultur der Unruhe basieren alle Formen der Selbstvergewisserung auf einer entschiedenen, freilich stets durch ihre eigene Paradoxie gefährdeten Unterbrechung – auf einer gegen das Diktat des Aktionismus gerichteten Aktion.
Weil sie nicht einfach gegeben ist, sondern den Gegebenheiten immer erst abgetrotzt und durchgesetzt sein will, ist die Neutralität der theoretischen Haltung stets gefährdet und nur durch den institutionellen Schutz, wie ihn Akademien und Universitäten, gelehrte Gesellschaften und Kultureinrichtungen bieten, langfristig durchzuhalten. Aber auch diese Schutzvorrichtungen sind nur provisorisch: Die Kontemplation ist ein Ideal, das sich, sobald ihm entsprochen wird, selbst untergräbt. Der Gewährsmann dieser Erfahrung ist Sokrates, der bereits darauf hinwies, dass die Erkenntnis nicht nur gewonnen, sondern ihr auch die Bahn gebrochen werden und sie deshalb mit der Zerstörung beginnen müsse. Ungeachtet seines tragischen Todes hat diese Bestimmung der theoretischen Neugierde als Unruhestiftung den Intellektuellen der kommenden Jahrhunderte das Beispiel gegeben – und das umso mehr, als auch diese, die sokratische Unruhe, ansteckend ist. »Du scheinst gar nicht zu wissen«, lässt Platon seinen Ohrenzeugen Nikias berichten, »daß, wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt und sich mit ihm einläßt ins Gespräch, unvermeidlich […] von diesem so lange ohne Ruhe herumgeführt wird, bis er ihn da hat, daß er Rede stehen muß über sich selbst.«[13] Denken, so die sokratisch-platonische Einsicht, ist Handeln, ist ein Vorstoß, der das allgemein Geglaubte rücksichtslos in Frage stellt und ihm allein dadurch, und vor der Entscheidung über Recht und Unrecht, die Grundlage entzieht.
Die situativen Umstände dieses Widerstandes drängen das Ideal der Kontemplation über sich selbst hinaus. Die Eigenlogik des theoretischen Weltbezugs bewirkt, dass die etymologisch auf das Schauen verpflichtete Theorie nun selbst zum Herd der Unruhe wird. Indem sie den Erkenntnistugenden zunächst des Staunens, dann der Neugierde und schließlich der Kritik nachgab, verstrickte sie sich immer weiter in die Phänomenwelt der Unruhe und fand sie zuletzt an sich selbst bestätigt. Ein Hof nur allzu geläufiger Metaphern unterstreicht die ganz normale Unruhe der wissenschaftlichen Tätigkeit: das Suchen, das Hungern, das Dürsten, das Streben, das Jagen … nach Erkenntnis (vgl. Abb. 2). Je selbstverständlicher diese Geistesbilder uns vorkommen und je mehr sie sich etabliert haben, desto eindeutiger bestimmen sie den Impuls der Neugierde und der wissenschaftlichen Praxis. Schon das leise Nachfragen, erst recht der Zweifel sowie die Weigerung, sich mit den üblichen Erklärungen zufriedenzugeben, führen, wie bereits Francis Bacon (1561–1626) schreibt, geradewegs in die Unruhe. In der Vorrede des Novum Organum, das mit seiner »Erneuerung der Wissenschaft« im Jahr 1620 das Tor zur Neuzeit aufstößt, findet Bacon deutliche Worte: »Man ruht nicht (non acquiescit), sondern stellt fest, daß man weiter suchen muß (sed invenit quod ulterius quærat).«[14]
An der Wende zum 16. Jahrhundert resümiert der 62-jährige Nikolaus von Kues sein philosophisch-theologisches Lebenswerk als eine einzige Jagd nach Weisheit (De venatione sapientiae, Straßburg 1488). Die Wahl der Titelmetapher war keineswegs selbstverständlich, denn alles Jagen, sei es nun im Feld oder im Geist, hatte bei den Kirchenvätern als verachtenswert gegolten. Die Vorbehalte klingen noch in der Margarita Philosophica des gelehrten Kartäusermönches Gregor Reisch (1470–1525) nach, die von 1503 an in mehreren Auflagen vertrieben wurde. Speziell die Illustration zur Logik nimmt das Jagen nach Erkenntnis von der satirischen Seite. Unter den misstrauischen Blicken des Seinsphilosophen Parmenides tritt die Logik als weibliche, der Artemis nachempfundene Jägerin auf und geht mit dem Jagdhorn (sonus vox) auf die Pirsch. Bewaffnet mit Pfeil und Bogen (argumenta und quaestio), treibt sie die hasenhaften problema vor sich her, während sich rechts hinten im lichtlosen Gedankengestrüpp (insolubilia) die Parteien der Scholastik ihren Streitigkeiten hingeben.
Das alte Erkennen war ein Umschauen, das neue ist ein Jagen. Reischs Holzschnitt markiert den Übergang, indem er neben den überkommenen Zweifeln schon die Erfolgsgeschichte der Jagdmetapher andeutet, die gerade jetzt, mit Beginn des 16. Jahrhunderts, ihren Anfang nimmt. Ausbreitung und Entproblematisierung der Metapher gehen Hand in Hand, so dass die Verdeutlichung des Erkenntnisvorgangs als Jagd – und damit die schon bei Reisch thematische Unruhe des Wissenwollens und der Neugierde – binnen weniger Generationen bestätigt ist. Die Logik des Neuen untergräbt die Vorstellung des zeitlosen Wissens, des ein für alle Mal Gewussten, und fordert die unermüdliche Jagd nach dem Nächsten, Anderen und Besseren. Es liegt in diesem Begriff selbst, dass das, was in der Moderne Forschung heißen wird, nichts anderes sein kann als ein beständiges Unterwegs. Gewiss könne jemand lange Zeit vergebens auf die Jagd gehen, notiert bereits Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) in seinen Sudelbüchern, »aber so viel ist gewiß, zu Hause würde er auch nichts geschossen haben und zwar gewiß nichts, da er doch nur auf dem Felde die Wahrscheinlichkeit für sich hat, so gering sie auch sein mag« (J 938).
Abb. 2: Gregor Reisch: Margarita Philosophica, Basel (Furter) 1517: »Typus Logice«.
Man muss sich schon auf den Weg machen, wenn man zum Schuss kommen will. Am Ende genügt diese ausgesuchte Banalität, um als Unterpfand der Erkenntnis im Gespräch zu halten, was einmal als iocus und als läppischer Zeitvertreib verpönt gewesen war: eine Passion, die sich die Passioniertheit des Menschen zunutze macht, indem sie ihn mit der Aussicht auf immer neue Beute lockt und am Ende heillos zerstreut.
Die Geschichte der Unruhe ist zu großen Teilen eine Diffamierungsgeschichte: die Geschichte der Versuche, die Unhaltbarkeit, ja Unerträglichkeit einer Lebensform zu beglaubigen, die der Trägheit, der Faulheit und dem Müßiggang Vorschub leistet. Ist nicht jedes Paradies eine Zone der Eintönigkeit und der tödlichen Langeweile? Mit der Verneinung ihres Gegenteils war die Unruhe dermaßen erfolgreich, dass sie auf Rechenschaftslegung und die Bestätigung durch eine Metaphysik der »wahren Dauer«[15] ohne weiteres hätte verzichten können. Der Triumph der Unruhe war, soweit es die Kultur des Westens betrifft, vollkommen. Die Unruhe ist konsolidiert und lässt sich für Augenblicke vergessen, nicht aber außer Kraft setzen. Die populären Metaphern des ›Abschaltens‹, des ›Herunterfahrens‹ oder des ›Loslassens‹ tragen dem Rechnung, indem sie die Ruhe als ›Entspannung‹ kommunizieren. Man darf diese ironischen Anleihen bei der Sprache der Technik als stillschweigendes Eingeständnis deuten: An die Tiefen der Unruhe, die in unsere Welt- und Selbstwahrnehmung eingesenkt ist, reichen diese Sprachbilder nicht heran, sie stellen sie weder praktisch noch theoretisch in Frage. Dementsprechend wird eine philosophische Annäherung an die Unruhe darauf verzichten, sich am Ausmalen von Ausstiegsszenarien, Fluchtphantasien und Therapieangeboten zu beteiligen; ihr muss es darum gehen zu klären, welchen Regeln die Norm der Unruhe folgt, wie weit ihre Geltungsansprüche reichen und welche Erwartungen sie beflügeln. Wir können uns klarmachen, wie die Unruhe die Grundlagen des Denkens und Handelns zu durchdringen begann und wie es ihr gelang, den Status der Normalität zu erlangen und einer ganzen Kultur, der Kultur der Unruhe, den Takt vorzugeben.
Wir sind damit bei der zweiten Lesart dieser Formel, die hervortritt, sobald wir das Wort Kultur betonen. Um die Vorgänge zu rekonstruieren, die uns die Unruhe als Normal- und sogar als Idealzustand nahegelegt haben, werde ich die begriffliche Unterscheidung aufgreifen, die Lévi-Strauss angeregt hat, und sie umadressieren. Im Sinne einer Ethnologie der eigenen Kultur möchte ich verfolgen, wie ein und dieselbe Kultur – die Kultur des Westens – in einem weit ausholenden historischen Bogen ihr Meinungssystem revolutionierte, wie sie ihre Normalitäten austauschte und von der Präferenz der Ruhe, die einmal zu ihren höchsten Werten zählte, zur Präferenz der Unruhe überwechselte. Ich möchte beschreiben, wie entstanden ist, was man die kulturspezifische Kultivierung der Unruhe nennen könnte.
Es gilt also, die Präsenz der Unruhe ins Auge zu fassen und herauszufinden, wie die Unruhe wurde, was sie für uns ist: eine Normalität, die vom globalen Soundtrack der Populärkultur Tag für Tag vieltausendfach verstärkt und im mitlaufenden Bewusstsein gespeichert wird. Wir lassen uns anstecken und von der Unruhe gefangennehmen. You Gotta Move, Born to Run, Get Ready to Jump. In Zeiten der globalisierten Lebensstile ist nicht nur Hank Williams, sondern jeder von uns, gleich welchen Alters oder Geschlechts, potentiell ein Rolling Stone: If you start me up / I’ll never stop. In der Welt der Unruhe sind es unsere Träume, die uns sagen, wie wir zu leben haben. Die Refrains aus den Charts, die Filmtitel und Werbejingles sind wie Zurufe, die funktional ersetzen und in Echtzeit kommunizieren, was einmal Sprichwörter und Kalenderweisheiten gewesen sind.
Die Erscheinungsbilder der Unruhe sind oft schon gezeigt und mit Blick auf die Alltagswirklichkeit (›Mobilität‹), auf die entsprechenden Epochendiagnosen (›Beschleunigung‹) und die einschlägigen Symptomatiken (›Restless-legs-Syndrom‹), kulturgeschichtlich aufgearbeitet und breit ausgemalt worden. Der Boulevard hat das Thema entdeckt, und so weiß über Stress und Burnout heute jedermann so gut Bescheid wie die Menschen vor hundert Jahren über Neurasthenie und Nervosität. Vor diesem Hintergrund wächst eine Generation heran, die dem Drängen weiter nachgibt und wenig dabei findet, ihre Einsatzfähigkeit durch Fleißdrogen individuell zu steigern: Methylphenidat, Modafinil, Ritalin. Das Lebensgefühl der happy workaholics bestimmt den Trend. Und hat nicht selbst Freud, neben der Ablenkungsfunktion der Arbeit, den Gebrauch der »Rauschmittel« als folgerichtig bezeichnet, weil sie die Anforderungen bewältigen helfen, die uns die Kulturwirklichkeit Tag für Tag auferlegt?[16] Die kurz vor der Gesellschaftsfähigkeit stehenden smart drugs und die wachsende Bereitschaft, der Einsatzfreude und selbst dem Glück neurobiologisch nachzuhelfen, lassen uns nicht nur länger und härter arbeiten, sie sorgen auch dafür, dass wir uns gut dabei fühlen. Werbung und Forschung gehen Hand in Hand, wenn sie den Eindruck erwecken, wir könnten uns selbst, unsere Ermüdung und Zerstreutheit, überlisten und hätten am Ende unseren Vorteil davon. So triumphiert die Unruhe noch in der Art, wie wir mit ihr umgehen.
Aber ist nicht gerade diese Einwilligung, diese fraglose Bereitschaft zur Befreundung mit der Unruhe, in höchstem Maße erstaunlich? Mit seiner Korinther Performance hat bereits Diogenes vor über 2000 Jahren die Unruhe der Lächerlichkeit preisgegeben. Seine Sorge war, dass die Unruhe die Menschen am Tun des Richtigen hindere und sie aus ihrer eigenen Mitte reiße. Goethe ist dem mit seiner Anklage des »veloziferischen« Zeitalters[17] ebenso gefolgt wie Nietzsche, als er im »Mangel an Ruhe« das Kennzeichen einer Zivilisation erkannt zu haben glaubte, die »in eine neue Barbarei« geraten sei.[18] Die Begleitmusik der modernen Entgrenzungspraxis ist gewiss aufschlussreich; ebenso aufschlussreich aber ist die Erfahrung, dass dem Drängen der Unruhe mit den Mitteln der Kritik auf Dauer nicht beizukommen war. Die Frage ist doch: Wenn uns die Auswüchse und Strapazen der Unruhe bekannt sind, wenn uns die Kehrseite der Unruhe nun bereits unzählige Male vor Augen gestellt worden ist und wir längst verstanden und in der Regel ja persönlich erfahren haben, wie zumutungsreich sie ist – warum halten wir dennoch an ihr fest? Warum geben wir uns mit Lösungen zufrieden, die allenfalls vorübergehend Entlastung schaffen, die Dominanz des Prinzips jedoch nur bestätigen? Wie erklärt sich der verbreitete Eindruck, trotz allem keine Alternative zu haben?
Um in diesen Fragen weiterzukommen, erweitere ich den Aspekt der Präsenz und der Verbreitung um den Aspekt der Genese, und das heißt: um die Glaubenssätze und Bedeutungszuschreibungen, die sich im Einflussbereich der okzidentalen Kultur zur Passion der Unruhe verdichtet haben.
Das Aufkommen solcher Selbstbilder nachzuvollziehen, die vom Alltagswissen als normal bestätigt werden, ist die Aufgabe genealogischer Verfahren. Die älteren, familiengeschichtlichen und die neueren, wissensgeschichtlichen Varianten genealogischer Forschung kommen in der Absicht überein, auf dem Umweg über die Geschichte das Eigene zu erfassen – allerdings nicht in der Annahme, dass uns dieses Eigene ja ohnehin bestens bekannt sei, sondern dass es uns fremd geworden und im Lauf der Jahre in Vergessenheit geraten ist. Das Eigene und allzu Nahe, so die Ausgangsintuition einer jeden Genealogie, ist unser blinder Fleck: das, was sich unserer Wahrnehmung im Normalfall entzieht – und sei es bloß deshalb, weil wir es für trivial und keines zweiten Blickes für wert halten. Die Genealogie rückt diese Wahrnehmungslücke gleichsam zweiter Stufe ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie ist die systematisch betriebene Suche nach uns selbst.
Methodisch gehen Genealogien so vor, dass sie unsere tiefsten Überzeugungen künstlich in die Phase ihrer Entstehung zurückversetzen. Es gilt, an jene Augenblicke der Vorläufigkeit heranzukommen, in denen unsere Gewissheiten noch nicht waren, was sie heute sind. Jene figurative Sorgfalt, mit der man einst den Willen zum Wissen als ein Jagen zu verstehen begann (vgl. Abb. 2), ist der Musterfall einer solchen Konventionsbildung. Die Vorstellung, dass das Erkennen als ein Fährtenlesen, Überlisten, Nachsetzen und Beutemachen modelliert werden müsse, ist heute so weit abgesunken und trivialisiert, dass sie als Ablösung der Konkurrenzvorstellung, ja selbst als Gedanke nicht mehr erkennbar ist. Verbreitet ist der Eindruck der Naturwüchsigkeit und, infolgedessen, der Normalität, der nicht nur die stillschweigenden Voraussetzungen des Gedankenmotivs verdeckt, sondern auch die Tatsache, dass solche Abhängigkeiten überhaupt bestehen könnten. Die Genealogie unterläuft solche Deutlichkeitsverluste. Die methodische Rückversetzung in der Zeit schärft den Blick dafür, dass das, was heute fraglos gilt, weder naturgegeben noch vom Himmel gefallen ist. Die Aktualitäten treten als Resultate eines weitläufigen Durchsetzungsgeschehens hervor, in dessen Verlauf konkurrierende Auffassungen auf der Strecke geblieben sind. Die Normalität der Unruhe erweist sich als Realisierung einstiger Chancen und Möglichkeiten, sie bekommt eine Geschichte.
Genealogien unterlaufen das Zwangsregime der Aktualität, aber sie leisten noch mehr. Dem Umweg über die Vergangenheit folgend, zeigen sie das gegenwärtig Gültige in einer Position, in der es sich noch artikulieren und gegenüber abweichenden Positionen behaupten musste. Sie stellen das Geläufige, damit es überhaupt hervortreten kann, in den Horizont seiner Möglichkeit zurück. Erst die Geduld des langen Blicks lässt noch einmal das im Verlauf ihrer Anerkennungsgeschichte diffus gewordene Profil hervortreten, das die Unruhe als das auszeichnet, was sie ist. So zerstört die Genealogie den falschen Schein der Selbstgegebenheit, indem sie bis zu der von ihrem eigenen Durchsetzungserfolg überstrahlten Schärfe jener Proklamationen zurückgeht, mit denen die Unruhe einmal angetreten ist und sich offen erklärt hat. Die Normalität der Unruhe erweist sich als die Realisierung einstiger Absichten und Erwartungen, sie bekommt, zusammen mit ihrer Geschichte, ein Gesicht.
Die Unruhe, wie wir sie heute erleben, ist das Ergebnis einer langen Geschichte und ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge unverständlich. Schon die ältesten Zeugnisse der abendländischen Überlieferung operieren mit der Leitdifferenz von Ruhe und Unruhe, indem sie die Vorwelt des Paradieses als Ort der Ruhe und die Jetztwelt des nachparadiesischen, in die Sünde gefallenen Menschen als Ort der Unruhe ansprechen. Das mythogene Deutungsmuster hat aus der Unruhe ein hochbedeutsames Zeichen gemacht, das über die Situation der Menschen Auskunft gibt. Eine zweite, relativ selbständige genealogische Linie bildet die Ethik, die sich seit der Antike als die Praxis versteht, zum wahren Glück der Ruhe zu finden. Im Denken der Stoa und namentlich Senecas, der all die Wegzeichen des heilsamen Auszugs aus dem Stadium der Unruhe gesammelt und geordnet hat, fungiert die Philosophie als Diätetik der Beruhigung und des Zurruhefindens. An diesen beiden Linien des Glaubens und der Moral sowie ihren zahlreichen, gelegentlich recht freien Fortführungen orientiert sich die folgende Rekonstruktion: an der Präparierung der Unruhe durch den Mythos (Kapitel 2–5) und an der Wiederaufnahme dieser Vorgaben in postmythischer Zeit (Kapitel 6–10).
Eine solche Aufbereitung verlangt nun allerdings nach einem allgemeinen Begriffsnamen, der den Unterschieden der historischen Zeit einen Rahmen gibt und sie gesprächsfähig macht. Mag auch die Eleganz des romanischen Vorbildes in der deutschen Lautung verlorengehen, so ist doch der Neologismus, den ich vorschlage, morphologisch folgerichtig und, wie ich meine, ideengeschichtlich überfällig. Ich nenne die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, Inquietät.
Die Erschließung der Implikationen und Prioritäten, der Herkünfte und Hintergründe der Inquietät scheint mir umso sinnvoller, als die wissenschaftlichen Diagnosen der Unruhe, die seit geraumer Zeit kursieren, längst in der Alltagswelt angekommen sind und den Erlebnisvorgängen ihr Muster aufgeprägt haben. Der Automatismus solcher Wahrnehmungsgewohnheiten sieht vor, die Unruhe als ›Stress‹ oder ›Hyperaktivität‹ auszusprechen oder, auf der anderen Seite, ihr durch ›Entschleunigung‹ und mit ›Gelassenheit‹ entgegenzutreten.
Solche Schemabildungen sind in aller Munde und werfen doch mehr Fragen auf, als sie beantworten. Schon die Sortierung der Begriffe, die schlichte Aufteilung in ein Dafür und Dagegen, beruht auf fragwürdigen Vorentscheidungen, zu schweigen von der Austauschbarkeit der Schlagworte und Begriffsnamen. Der populäre Gebrauch der Fachbegriffe, der in die Wissenschaften zurückstrahlt und als Bestätigung dankbar angenommen wird, rührt medizinische und kulturkritische, religiöse und politische, psychologische und soziologische Kategorien unbesehen durcheinander und zementiert die Klischees und fertigen Urteile. Der Diskurs ist doppelt verzerrt: Sein Alarmismus will Aufmerksamkeit erregen, während er gleichzeitig beschwichtigt, um Sicherheit und Kompetenz zu signalisieren. Der historisch gut erforschte Befund des Stress, der sich, nachdem er bis Ende des 19. Jahrhunderts praktisch unbekannt war, Mitte des letzten Jahrhunderts explosionsartig ausbreitete und dem Lebensgefühl ganzer Generationen das Stichwort gab, ist für die öffentliche Wahrnehmung der Unruhe beispielgebend gewesen. Seit der Popularisierung des Stress rollen die schnellfertigen, schon im Blick auf ihre Medientauglichkeit gestellten Diagnosen in Wellen über das Publikum hin, und mit bezeichnender Regelmäßigkeit finden sich Zeitbeobachter, die das tagesaktuelle Syndrom verallgemeinern und auf die Titelseite setzen: das ›Zeitalter der Nervosität‹, des ›Burnout‹, des ›Stress‹.[19] Formate wie Stress oder Burnout sind funktional. Sie machen die Unruhe, unter Anwendung ihres Prinzips auf sie selbst, zum medialen Dauerbrenner und werden so zum Teil des Spiels. Selten in der langen Zeit ihrer Geschichte hat die Unruhe so mühelos triumphiert wie in den Sprachspielen dieser heißlaufenden Diagnostik und den öffentlichen Kampagnen gegen die ›Stressfalle‹.
Ihr Engagement, werden die Ratgeber und Vertreter der angewandten Wissenschaften sagen, gelte nicht den Nachdenklichen, sondern den Hilfesuchenden, und dieses Argument hat Gewicht. Dennoch machen wir es uns zu leicht mit der Unruhe. Durch Übertreibung oder – was am Ende dasselbe ist – durch Verharmlosung laufen wir Gefahr, uns die Zugänge methodisch zu verstellen. Wir verfahren kosmetisch, nicht analytisch, und wo wir uns über Phänomene verständigen müssten, propagieren wir schon Befunde. Bedenklich ist weniger die Betriebsamkeit der Beteiligten als der Unwille, die schon von Kant angemahnte »Respectivität« des Handlungsraums in Betracht zu ziehen und der Selbstbetroffenheit Rechnung zu tragen.
Hinzu kommt, dass die auf rasches Handeln eingestellte Diagnostik das klassische Moderierungsangebot außer Acht lässt, das die westlichen Kulturen sich erarbeitet haben. Gern reden wir uns ein, die Probleme – und zumal die Probleme der Unruhe – seien typisch modern. In Wirklichkeit gehört das Phänomen der Unruhe, wie das Leiden an ihr, zu den ältesten Erfahrungen der westlichen Kultur. Die Spuren der Unruhe und der Bereitschaft, auf unbestimmte Erwartungen hin »rastlos von Veränderung zu Veränderung fortzueilen«[20], reicht zurück bis in die Quellgebiete der westlichen Zivilisation. Gewiss hat sich seither unendlich viel verändert; verändert hat sich aber weniger die Unruhe als die Einstellung dazu. Was einmal eine Bürde war und als Zeichen der vollendeten Sündhaftigkeit galt, hat sich auf dem Boden der Neuzeit in ein Versprechen verwandelt, in die Vision des permanenten Aufbruchs und der Eröffnung immer neuer Möglichkeiten. Woher aber stammt die Sogkraft dieser Bilder, wie haben sie dominant und sogar exklusiv werden können? Das Vertrauen, das wir heute in Veränderung und Innovation, in Aufbruch und Umgestaltung setzen, ist alles andere als selbstverständlich. Noch die Encyclopédie, das lexikalische Schatzhaus der Aufklärungsideen, behandelt die Aggregatzustände kultureller Kinetik, Erhaltung und Veränderung, als gleichwertig und auf ein und derselben systematischen Ebene. Die Unruhe, dieser Gedanke ist für den Herausgeber und Seneca-Bewunderer Denis Diderot (1713–1784) offenkundig, wird aufgefangen durch ein umfassendes, durch ein prästabiliertes Weltsystem des universalen Ausgleichs. Im Laufe der Jahrhunderte sind zahlreiche Kulturtechniken entstanden und ganze Begriffswelten geschaffen worden, um die Unruhe in genau diesem Sinn sowohl zu beschreiben als auch zu mäßigen: die Formgebungen der Sprache, der Schrift, des Takts, des Rhythmus, der Regel, des Rechts, der Serie, der Zeit oder des Raums.
Alles Künftige ist ungewiss, das Leben kurz und jedes Bemühen vergebens, es festzuhalten. Gleichwohl können wir es, das ist der Rat der antiken Klugheitslehren, führen und aus dem Leben, das wir den Göttern verdanken, das gute Leben machen, das uns die Vernunft eröffnet. Der Weise wird das Leben nicht beschleunigen und umherirren, um möglichst viel zu erleben, er wird es verlangsamen, und für die Dinge des Lebens aufmerksam sein. Es ist diese Aufforderung zur Moderation, die irgendwann auf der Strecke geblieben ist. An ihre Stelle ist die Sorge getreten, auf das Drängen der Unruhe nicht glaubwürdig reagieren zu können und die eigene Lebensführung darauf einstellen zu müssen. Der vielfach geäußerte Eindruck, in einer Zeit zunehmender Beschleunigung zu leben, summiert eine epochale Entgrenzungserfahrung, und diese – nicht die Beschleunigung – ist das tonangebende Element der Modernität. Die Unruhe hat sich mit dem Gefühl verbunden, ihr nicht entgehen zu können, ja ihr, selbst wenn es möglich wäre, auch nicht entgehen zu dürfen. Eine allgegenwärtige, affektiv hochaufgeladene Entfesselungsrhetorik kommuniziert jede Regel als Reglementierung, jede Bindung als Behinderung, jede Festlegung als Fesselung, jede Schranke als Einschränkung, jede Begrenzung als Beeinträchtigung und lehrt uns den Schrecken des Stillstandes. Die geläufige Erwartung, dass mit dem Einreißen der Barrieren der freie Mensch hervortreten werde, stellt alles unter Verdacht, was am Beginn der Moderne Friedrich Schlegel (1772–1829) als Formen der »fixierten Unruhe« bestimmt hat: die institutionelle Sicherung des postrevolutionären Erbes.[21] Der automatisierte Einspruch gegen jederlei Haltgebung und Festlegung ist aufschlussreich. Nicht um den Bestand der Unruhe müssen wir uns sorgen, um den Erfolg der allseits proklamierten Flexibilisierungen und Deregulierungen, sondern um jene Kulturtechniken der Gestaltfindung und der Relevanzerzeugung, die auf Sicht verbindlich machen, was ohne sie dem Recht des Stärkeren schutzlos preisgegeben wäre: den sinnleeren Welten des Schicksals und der Natur.
In dieser Situation der Entgrenzung sehe ich zwei Auswege. Der eine sieht vor, den Zirkel zu durchbrechen und die Rückkopplungseffekte, die der Banalisierung Vorschub leisten, am einschlägigen Fallbeispiel offenzulegen. Vor allem mit Blick auf den Stress ist dies auf mustergültige Weise bereits geleistet worden. Der andere Weg sieht vor, angesichts ihrer stillschweigenden Blickführungen auf die vorbelasteten Sprachmittel wo immer möglich zu verzichten. Das ist der Weg, den das genealogische Verfahren eröffnet und den ich auf diesen Seiten einschlagen werde. Der historische Tiefenblick birgt die Chance, die geläufigen, vom Bedürfnis nach Beherrschbarkeit und raschen Lösungen diktierten Diagnosen des Tages in den Zusammenhang einer kulturellen Selbstbefragung zu stellen. Das Verfahren weist die normalwissenschaftliche Behandlung des Themas, das Bemühen der Sozialpädagogen, Ratgeber und Ärzte, nicht pauschal zurück; es stellt aber die Komplexität wieder her, die zu reduzieren die Einzelwissenschaften aus methodischen Gründen gehalten sind. Es zeigt sich dann, dass die Unruhe sich nicht einlinig entfaltet und etabliert hat, sondern, um das gleißnerische Wort an dieser Stelle zu gebrauchen, dialektisch. Mit der genealogischen Erweiterung des Blickfeldes treten neben den Symptomen der Unruhe auch deren Entfaltungsbedingungen in den Blick. Statt die Unruhe einfach als gegeben vorauszusetzen, arbeitet die Genealogie heraus, wie die Unruhe überhaupt den Status einer Voraussetzung hat erlangen können. Der Umweg über die Orte der Entstehung unterläuft das gängige Subjekt-Objekt-Schema und damit die Vorstellung, wir könnten der Unruhe gegenübertreten wie einem kompakten, sinnlich fassbaren Ding und die Verhältnisse nach Belieben regulieren. Die Unruhe ist aber weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, sie ist weder Innen noch Außen, weder Mittel noch Zweck, sondern jederzeit beides zugleich. Sie existiert in ihren Vollzügen.
Zeigt am Beispiel moderner Poetik, wie es kam, dass sich die Künstler der Unruhe ergaben
Ihr Formen, göttliche und ewige Formen!
André Gide, Traktat vom Narziss
Zwei französische Schriftsteller, die soeben Freundschaft geschlossen hatten, schufen Ende des 19. Jahrhunderts emphatische Dichtungen über die mythische Figur des Narziss. Narcisse parle von Paul Valéry (1871–1945) erschien 1890, ein Jahr später folgte André Gide (1869–1951) mit seinem Traité de Narcisse, der dem Dichterfreund und langjährigen Gesprächspartner gewidmet ist. Für Gide stand der Rang seiner Schrift außer Zweifel. Der Traité, teilte er Valéry im Augenblick der Fertigstellung mit, »hat mir meine ganze Ästhetik, meine Moral und meine Philosophie entwirrt«.[22] In einem einzigen kühnen Wurf führt der junge Gide die abendländische Kultur der Unruhe auf ihre mythischen Wurzeln zurück und behauptet zugleich ihre unbedingte Modernität. Dennoch und ungeachtet seines Titels ist der Traité ein poetisches Werk. Auf die der Poesie eigene, sanfte und allein ihrer Form zu dankende Autorität vertrauend, stellt er dem Leser in archaisch anmutenden Bildern vor Augen, was es heißt, sich auf die Unruhe einzulassen.
Auf das Nachleben der ältesten Erzählstoffe vertrauend, wagt Gide eine Aktualisierung. Was wäre, fragt sein Traité, wenn Narziss, dessen tragisches Schicksal die klassischen Erzählungen in ein Idyll mit stehendem Gewässer und lieblicher Uferlandschaft hineingestellt haben, stattdessen in einer Welt unablässiger Veränderung lebte, in einer Welt des Wandels und der rasenden Uhren? Was wäre, wenn er nicht scheiterte, sondern auf eine Welt stieße, die ihm gemäß wäre?
Der Reiz der Frage ergibt sich daraus, dass Gide seine Hauptfigur gegen das Klischee besetzt und sie als Zeugen nicht der wirklichkeitsfernen Selbstbezogenheit, sondern einer tiefen Harmonie von Ich und Welt aufruft. So beginnt der Traité ganz ursprungsergeben mit einer Preisung der Ruhe, in der Ich und Welt zu störungsfreier Passung gefunden haben. Die träumerische Liebe dieses Narziss zu seinem sichtbaren Selbst erwächst aus der Liebe zur sichtbaren Wirklichkeit. Die ganze Welt hänge an seinem Blick, heißt es im Traktat, und nicht weniger offenkundig gilt für diesen Narziss auch das Gegenteil: sein Schauen bindet ihn an sie. Beide, die Hingezogenheit sowohl zum Anderen als auch zu seiner eigenen Erscheinung, gehören für ihn zusammen und beleben einander. Im Spiegel der Dinge begegnet Gides Narziss seiner eigenen, unwiderstehlichen Schönheit – nicht, weil er die Dinge mit seinen Händen oder mit der Kraft seiner Phantasie geschaffen hätte, sondern weil er, wie ihm die Schauseite der ihm zugewandten Wirklichkeit vor Augen stellt, ihnen mit Leib und Seele zugehört.[23]
Es liegt in der Konsequenz dieser literarischen, kaum zehn Textseiten füllenden Versuchsanordnung, dass dieser Bummelant des Glücks, indem er sich in die Ursprungswelt hineinträumt, sie zugleich vollendet. Die Welt enthüllt sich in der Klarheit des Anblicks, den sie ihm gewährt. Aus der Hingabe seines Sehens wiederum spricht uneingeschränkte Teilhabe, die der Bestätigung durch Zeichen und Sprache nicht bedarf. Dieses literarische Paradies ist ein Ort des wortlosen Einvernehmens. Die Vergewisserungen über die stumme Sprache des Blicks erlaubt es Gide, das paradiesische Glück, seine Konstanz, in seinem wahren Wesen als ästhetisches zu begreifen. Von allem, was sich diesem in den Anblick der Schönheit Versunkenen in erhabener Unbeweglichkeit darbietet, darf und soll er sich angesprochen fühlen und sich sagen: Dies alles hier ist für dich. Die problematische Einseitigkeit des Zurückgeworfenseins auf sich selbst – die dann von Freud und anderen beschriebene Pathologie des Narzissmus – liegt hier fern. Die Welt zeigt sich ihm um seinetwillen, damit er sich behaglich fühle und sein Dasein als Teil des ruhenden, ganz und gar sich selbst genügenden Seins genieße. So macht die poetische Beschreibung das Glück der Ruhe konkret: Als das durch die Situation bestätigte Empfinden des Auf- und Angenommenseins, der Sorglosigkeit, der Fraglosigkeit, des Behagens.
Die glückhafte Verschmelzung von Haben und Sehen, von Sein und Zeichen, hat einen an dieser Stelle überraschenden Vorläufer in Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), dessen Winckelmann-Aufsatz bereits im Jahr 1805 den Weg der Ästhetik wählt, um die Idealität des menschlichen Weltverhältnisses über exakt dieselbe Urszene zu verdeutlichen: über das Spiegelspiel von Bild und Gegenbild. »Denn wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?«[24]
Der Unterschied zwischen dieser Frage, die an die Tonlage der Prometheus-Ode von 1789 erinnert, und der Ideencollage Gides erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Während Goethe in seinem Winckelmann-Aufsatz die Erscheinung der Welt als die Leistung des menschlichen, mit Geist und Empfinden begabten Gegenübers feiert, zeigt der Traité