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Der Kieler Kulturphilosoph Ralf Konersmann zeigt: In der europäischen Geschichte waren Maß und Maße, Ethik und Technik, Moral und Wissen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es galt, sich nicht bloß hier oder da, sondern generell an das Maß zu halten – an das, was sowohl sachlich als auch sittlich geboten ist. Konersmann erzählt nun die große Ideengeschichte des Maßes: wie dieses Verhältnis wechselseitiger Bestätigung von Maß und Maßen einmal gedacht und gesichert war, unter welchen Umständen es dennoch zerbrach und welche Konsequenzen das Auseinandertreiben der vormals verbundenen Begriffswelten nach sich zog. Konersmann rückt den heute allgegenwärtigen Vormarsch des Messens, Zählens und Rechnens in eine genealogische Perspektive, durch die wir ihn erst wirklich verstehen – und unsere Gegenwart besser begreifen.
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Seitenzahl: 431
Ralf Konersmann
Welt ohne Maß
FISCHER E-Books
Wer zu schnell oder zu langsam liest, versteht nichts.
PascalPascal, Blaise, Pensées (41/69)
Die Kultur des Maßes – »Genug ist nicht genug« – Ein ökologischer Hochbegriff – Vom Zauber der Zahl – Der Ruf nach Abhilfe
Alles beginnt mit dem MaßMaß. Kaum sind wir geboren, werden wir auch schon auf die Waage gelegt, werden unsere Maße genommen und von flinken Fingern in die Datenbank eingegeben.
Die ersten MaßeMaße, denen wir begegnen, sind Messwerte und Zahlen. Aber das ist nicht alles. Schon wenig später lernen wir das Maß des Handelns, des Wägens und Urteilens kennen: als Verhaltensvorgabe und OrientierungOrientierung. All dies ist in Reichweite, wenn wir vom Maß der DingeMaß der Dinge sprechen.
Zwei Anwendungsbereiche ragen heraus. Da ist zum einen die Praxis des MessensMessen und der messenden Wissenschaften, die uns die Welt in ihren ProportionenProportion und physikalischen Einheiten zeigt, als ein berechenbares, zahlenmäßig erfassbares Ganzes. Dem gegenüber stehen die Anforderungen der Alltagsmoral, wo es AbwägungenAbwägung vorzunehmen und Entscheidungen zu treffen gilt, die, wenn sie angemessen sind, Bestand haben. Eine Moral, die gelebt und von Dauer sein will, verlangt nicht Rechenkünste und Maße, sondern etwas anderes, ungleich Einfacheres: ein Maß.
So wäre also, dem ersten Eindruck nach, der Begriff des Maßes ein Homonym – dasselbe Wort, doch grundverschiedene Verwendungsweisen. Aber dieser Eindruck täuscht. Für die längste Zeit der europäischen Geschichte waren MaßMaß und MaßeMaße, EthikEthik und TechnikTechnik, Moral und WissenWissen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es galt, sich nicht bloß hier oder da, sondern überhaupt und ganz generell an das Maß zu halten – an das, was sowohl sachlich als auch sittlich geboten ist. Die Geschichte des MaßesGeschichte des Maßes erzählt davon, wie dieses Verhältnis wechselseitiger Bestätigung von Maß und Maßen einmal gedacht und gesichert war, unter welchen Umständen es dennoch zerbrach und welche Konsequenzen das Auseinandertreiben der einmal getrennten Begriffswelten nach sich zog.
Wie all diese Geschichten – die Geschichten der Gedankenfiguren, der Theorien und Ideen – erzählt auch diese vom Verhältnis des Menschen zu seiner Welt: von Absicht und Einsicht, von Aufklärung und Verblendung, vom Entgegenkommen und Entgleiten der Dinge.
Die Kultur des Maßes – Der alteuropäische Begriff des MaßesMaßbegriff bildet den Bezugspunkt eines gedanklichen Feldes, dessen Vergegenwärtigung die gesamtantike, bereits den Vorsokratikern geläufige Kultur des Maßes hervortreten lässt. Kurz gefasst besagt dieser Vorstellungszusammenhang, dass den Dingen eine ihnen eigene Entwicklung innewohnt, die ihnen im Rahmen der allumfassenden OrdnungOrdnung, in die sie eingelassen sind, die Richtung weist. Das sprichwörtliche Maß der DingeMaß der Dinge ist Ausdruck dieser Erwartung.
Im Rahmen einer Kultur des Maßes ist die Frage nach dem, was das Maß ist, immer schon beantwortet, oder genauer: Sie stellt sich gar nicht. Das Maß ist das, was die DingeDing in der Spur hält und sie in der Ausprägung ihrer inneren Form bestärkt. Der klassische Grundsatz, wonach das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist dadurch begründet, dass diese nicht allein und für sich selbst, sondern erst in Relation zu ihr, der alles Einzelne umgreifenden Totalität, ihre Bestimmung finden. Das Maß lässt ontologische und moralische Qualitäten hervortreten und führt sie in der gegebenen Situation zusammen. Es bietet, was heute OrientierungOrientierung heißt, und sichert allem und jedem seinen Platz in der Welt. Das Maß ist dazu in der Lage, weil es an die DingeDing nicht erst umständlich von außen herangetragen und ihnen, wie die ›NormenNorm‹ und ›Werte‹ unserer Tage, zugewiesen und auferlegt werden muss, sondern in ihnen angelegt und mit ihnen gegeben ist. Es ist ein Maß in den Dingen, versichert kurz vor der Zeitenwende der römische Dichter HorazHoraz: est modusmodusin rebus (I, 106).
Der Satz des HorazHoraz, der das Weltvertrauen eines ganzen Zeitalters resümiert, verdeutlicht das mit dem Begriffswort gegebene Versprechen. Das MaßMaß ist Ausdruck der SituationSituation und ebenso des Gelingens – Ausdruck zum einen der internen Bezüge, deren Zusammenwirken die Situationen entstehen und als solche hervortreten lässt, Ausdruck aber auch der begründeten Aussicht, dass die anstehenden Herausforderungen sich werden bewältigen lassen. Es versteht sich, dass das Maß sowohl seinem Status als auch seiner Idee nach niemandes Besitz oder Privileg ist. Es ist eine Daseinsbedingung, die der Mensch als gegeben vorfindet und nutzt, um herauszufinden, wer er ist, und zu tun, was in seiner Macht steht.
Im Zusammenspiel mit den Einschätzungen und Abwägungsprozessen, denen es Raum gibt, entscheidet das Maß über Gewichte und Gewichtungen, über MengenMenge und Dosierungen, über Abstände und Entfernungen, über GrößenGröße und ProportionenProportion, über RhythmusRhythmus und TaktTakt. All diese Konkretisierungen des MaßnehmensMaßnehmen und MaßhaltensMaßhalten erfasst es als Zusammenhang: als situativ gebundene Ausdrucksgestalten der einen, der zeitlos gegebenen und alles Geschehen übergreifenden Ordnung der Dinge. Der Ausgriff in metaphysischeMetaphysik Dimensionen sichert den Zusammenhang zwischen dem Maß, das – wie das MessenMessen – eine Technik und ein Instrument ist, und dem Maß, das – wie die MäßigungMäßigung – eine Tugend und eine Verhaltensvorgabe ist. Die Mal um Mal bestätigte Erfahrung, dass die Welt messbarmessbar ist, und, weil messbar, auch gestaltbar, rechtfertigt das Vertrauen in ihre Stabilität und Bejahungswürdigkeit. Das vielzitierte Messen mit zweierlei Maß gilt zu Recht als Regelverstoß, weil es dieses Vertrauen in die Ordnung der Dinge untergräbt. In der Welt des Maßes ist alles an seinem Platz.
Alles Einzelne, sagt die Lehre des MaßesLehre des Maßes, alles, was ist und wird, hat sein MaßMaß. Der erste der drei Sprüche, die einst die Eintretenden im Orakel von Delphi empfingen – »Nichts im Übermaß«, »Erkenne dich selbst«, »Du bist« –, vergegenwärtigt die Unverbrüchlichkeit dieses Zusammenhangs zwischen den Geboten der Moral und der OrdnungOrdnung der Dinge. Es ist die in solchen Weisungen zugesagte Geltung des Maßes, die sich, nachdem sie über Epochengrenzen hinweg Bestand hatte, zunächst allmählich und zögernd, dann aber plötzlich und mit einem Schlag verlor.
Alt und beinahe zeitlos ist die Befürchtung, dass die Tugenden des MaßhaltensMaßhalten gefährdet seien durch Leichtsinn und Unwissen, durch Bosheit und Schwäche, durch ÜberschwangÜberschwang und GierGier. Auf dem Boden der ModerneModerne ändert sich die Situation jedoch entscheidend. Die Sorge um das Maß überspringt die Ebene der Einzelfälle und wird allgemein. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der RevolutionRevolution, wird die Feststellung, dass die Welt ihr Maß verloren hat, tagesaktuell und bestimmt die Selbstwahrnehmung der neuen Zeit. Diffuse Einzelerfahrungen verdichten sich zu dem Gesamteindruck eines ›Zeitalters der ExtremeZeitalter der Extreme‹: zu dem Eindruck, unvermittelt in eine von Grund auf veränderte Wirklichkeit hineingeraten zu sein, die nach einer neuen SpracheSprache mit neuen Bildern und Begriffen verlangt.
»Genug ist nicht genug« – Das Ergebnis dieses Kulturbruchs sind die Szenen und Schlagworte der unbedingten ModernitätModernität. Plötzlich versteht sich nichts mehr von selbst – und am wenigsten das, von dem man eben noch glaubte, dass seine Fraglosigkeit zeitlos gesichert sei. Im Jahr 1860 bringt schließlich der Schweizer Lyriker und Romancier Conrad Ferdinand MeyerMeyer, Conrad Ferdinand die Formel zu Papier, die den mit Beginn der Moderne vollzogenen und von den Zeitgenossen mit teils bangen, teils hoffnungsfrohen Blicken verfolgten Austausch der Normalitäten besiegelt: »GenugGenügen ist nicht genug.«
Aus dem Ausruf des Dichters, der Erschrecken und Verlangen unentwirrbar vermengt, spricht der dramatische und offenbar längst schon eingetretene Ansehensverlust, den die Kultur des Maßes zu diesem Zeitpunkt bereits erlitten hatte. Die Geschichte des MaßesGeschichte des Maßes ist eine Kette solcher Verkehrungen und Reformulierungen, solcher Einbrüche und Überbietungen, und es sind, wie ich zeigen möchte, hauptsächlich zwei Tendenzen, die für den Verlauf dieser Geschichte bestimmend gewesen sind. Ich nenne zum einen die wachsende Bereitschaft, das klassische Wertungsgefälle zwischen MaßMaß und UnmaßUnmaß außer Kraft zu setzen und, zum zweiten, die gleichfalls wachsende Bereitschaft, mit dem ÜbermaßÜbermaß bestimmte, vor allem aber unbestimmte Erwartungen zu verbinden.
Beide Tendenzen haben sich als unwiderstehlich erwiesen. Binnen weniger Generationen sollten die Möglichkeiten, die ÜbermaßÜbermaß und ÜberschreitungÜberschreitung in Aussicht stellen, den hergebrachten Realismus der MaßethikMaßethik überflügeln. Das Maß und sein Tugendkatalog schrumpften auf das Format einer ›Ethik des MittelmaßesMittelmaß‹, die angesichts der immer neuen Verheißungen der Überschreitung zum Gegenstand der Herablassung und sogar des Gespötts wurde. Das MaßMaß, das einmal die Welt zusammenhielt, war bloß noch Konvention und Phrase, nur noch Spießbürgerlichkeit und Prüderie – die billige Ausrede der Lauen und Unschlüssigen, der Verklemmten und Verzagten. Das GemäßeGemäße, das geriet in den Ruf, eine Einschränkung zu sein, ein Instrument der Willkür und der Unterdrückung, die Blockade von Veränderung, FortschrittFortschritt und EmanzipationEmanzipation.
Unter dem Eindruck dieser Sinnverschiebungen trieb die Geschichte des MaßesGeschichte des Maßes auf den Punkt zu, an dem Maß und ÜbermaßÜbermaß die Plätze tauschten. Der Nimbus der MaßethikMaßethik verblasste, während die ÜberschreitungÜberschreitung sich mit dem Versprechen verband, dass die Dinge ihr Maß eben darin haben, verändert zu werden und auf jene künftigen und zweifellos besseren Zeiten zuzulaufen, die sie im Geltungsraum der Maßethik niemals erreicht hätten.
Ein ökologischerÖkologieHochbegriff – Bereits der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) spricht die Entwicklungen an: als Zeitzeuge, der die Umbauten im System der geistigen Orientierungen aus nächster Nähe miterlebt, aber auch als distanzierter Beobachter, der den um 1800 erfolgten Einsatz der ModerneModerne, ohne ihn zu leugnen, in die Kontinuität der historischen Zeiten stellt.
HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich hat gezeigt, wie das Bestreben, die Welt in Zahlen zu erfassen, und die Destabilisierung der maßethischen Balance wirkungsvoll ineinandergreifen und einander verstärken. Das großflächige, staatlich organisierte Sammeln von Daten, das zu Hegels Lebzeiten einsetzt und im Nachgang der RevolutionRevolution zur Gründung statistischer Ämter führt, isoliert das maßethische Relikt der AngemessenheitAngemessenheit als methodischen Fremdkörper, um ihn schließlich vollends abzustoßen. Einmal in den Routinen des ZählensZählen und MessensMessen aufgegangen, verliert das Maß den Kontakt zu den Sachen und Situationen, der für seine Idee bestimmend gewesen war. Verstanden als Messgröße, wird das Maß den Dingen äußerlich und begreift sich nicht mehr aus ihnen und ihrer Ordnung heraus, sondern folgt dem Regime der Zahlen. Befreit von den Hinderungsgründen, die in den SituationenSituation lagen, in den DingenDing von Belang, erliegt das auf die Operationen des MessensMessen zurückgenommene Maß, wie HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich schreibt, »gedankenlos« einem »unendlichen quantitativen Progreß«: dem im Begriff des Messens bereits angelegten Prinzip der grenzenlosen MehrungMehrung, SteigerungSteigerung und ÜberbietungÜberbietung.
Spätestens in diesem Augenblick, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, lag das Ablösungsgeschehen offen zutage. Sinn und Zweck des Maßes war es gewesen, Möglichkeiten des menschlichen Handelns zu erschließen und zugleich, ohne dass darin ein Widerspruch gelegen hätte, die GrenzenGrenze dieses Handelns bewusst zu halten. Einmal in den Operationen des Messens aufgegangen, blieb von dieser fein austarierten Balance zwischen Erschließen und BeschränkenBeschränkung allein das Verlangen übrig, die Möglichkeiten zu erkennen, und das hieß in der Praxis: GrenzenGrenze, wo immer sie auftauchen, in Herausforderungen umzudeuten und entschlossen zu überwinden. Die einmal zerteilte und, im nächsten Schritt, auf den Raum des QuantitativenQuantität zurückgenommene Logik des MaßesMaßlogik begünstigte Verfahrensweisen, die von außen auf die DingeDing zugreifen und sie unter Aspekten des technischen Zugriffs ganz neu ›verstehen‹. Beiläufig und ohne dass darüber jemals entschieden worden wäre, gleichsam als Nebenfolge des Geschehens, verlor der alte, im Kern ökologischeÖkologie Hochbegriff des Maßes seine Brisanz.
Vom Zauber der Zahl – Schon diese ersten Annäherungen an das Thema sollten ausreichen, um Zweifel zu wecken an der geläufigen Auffassung, wonach der Siegeszug quantitativer Verfahren ein Säkularisierungsvorgang gewesen sei. Die QuantifizierungQuantifizierung ist über die MaßethikMaßethik hinweggegangen, gewiss. Die metaphysische, den vorneuzeitlichen Autoren noch deutlich bewusste Einbettung des Maßes in den Gesamtentwurf der Welt ist jedoch nicht einfach verschwunden, sondern als diffuser Erwartungszusammenhang erhalten geblieben. Meine These ist, dass der Vormarsch des MessensMessen, ZählensZählen und RechnensRechnen von jeher und bis heute von Vorstellungsbildern profitiert, deren Vertrautheit auf die vorneuzeitliche Fraglosigkeit und Geltung des MaßesMaß zurückgeht.
Einigkeit dürfte darüber bestehen, dass die Überführung des Maßes in die Praxis des Messens ein enorm invasiver Kulturvorgang gewesen ist. Um so erstaunlicher ist die unbedingte Glaubwürdigkeit, die wir all dem zugestehen, was sich in Zahlen darstellen lässt. Dies und die damit einhergehende Vorstellung, dass die Situationen des Lebens möglichst vollständig zu vermessen und in ZahlenZahl zu erfassen seien, legt die Vermutung nahe, dass die Verweltlichung des Maßes halbherzig geblieben ist. Für das Vertrauen, das wir der numerischen Aufbereitung selbst unserer privatesten Idyllen entgegenbringen, gilt offenbar das Gleiche wie für die neuzeitliche Hochschätzung der Arbeit und der Pflichten des Berufs. Der GlaubeGlaube an das, was die MessbarkeitMessbarkeit der Welt zutage fördert, geht – mit der einschlägigen Formulierung Max WebersWeber, Max – als »Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte«[1] in unserem Leben um. Die übliche Einordnung des Vorgangs in das Säkularisierungsgeschehen der westlichen Kulturen fällt hinter diese, von Max WeberWeber, Max gewonnene und, wenig später, von Walter BenjaminBenjamin, Walter[2] vertiefte Einsicht in das Nachleben mythischer Bestände zurück. Indem die Moderne dem Zauber der ZahlZahl nachgab, hat sie der mythischen Urerzählung von dem, der »alles nach Maß, Zahl und Gewicht« geordnet und schon im Ursprung den Weg der innerweltlichen Erlösung gewiesen hat, über all die Stationen des Wandels hinweg die Treue gehalten.
Mit der Absolvierung der historischen Schrittfolge von der MessbarkeitMessbarkeit über die BerechenbarkeitBerechenbarkeit zur MachbarkeitMachbarkeit ist der herkömmlich unterstellte Rückhalt einer unabhängig fortbestehenden, ›wirklichen‹ Wirklichkeit fragwürdig geworden. Die ungeheure, in Europa ersonnene Machtgeste der Beugung der Wirklichkeit unter das Regime des metrischen Wissens – Statistiken, demoskopische Daten, Rechenmodelle – greift unseren Entscheidungen auf eine Weise vor, die immer weniger Spielräume lässt. Der Kreis schließt sich: Worauf es ankommt und wohin die Reise geht, das sagen uns heute die Zahlen und zahlenbasierte Programme.
Irgendwie – und dieses Wie gilt es zu klären – sind wir dahin gekommen, die Praxis des MessensMessen für die Einlösung des Versprechens zu halten, das einmal mit der Ethik des MaßesMaßethik verbunden gewesen ist. Weit mehr als ein technischer Sachverhalt, stand einmal das Maß dafür ein, dass die menschlichen Mittel der Daseinsbewältigung – der Faustkeil, die Geometrie, das Wissen um das, was recht und billig ist – legitim sind und es ermöglichen, einer Welt Gestalt zu geben, die für die maßvolle Art des Umgangs empfänglich und, unter ebendieser Bedingung, den Menschen zugänglich ist.
Die Erfahrung des Gelingens, die zu den frühesten der Zivilisationsentwicklung gehören dürfte, hat aus dem MaßMaß das Zeichen der Hoffnung gemacht. Das Maß verkörpert den Trotz und das Aber, das die Menschen ermutigt und sie in ihrer Zuversicht bestärkt, die Situationen der Not und des MangelsMangel zu überstehen. Nichts anderes als die konkrete Erfahrung der MessbarkeitMessbarkeitder Welt rechtfertigt die Zuversicht, dass der Umraum der Wirklichkeit den Menschen offensteht und sie, sofern sie ihre Chance ergreifen, den Widrigkeiten trotzen und ihr Dasein bewältigen.
Meine Vermutung ist, dass sich das unbedingte Vertrauen, das die Operationen des MessensMessen und der Datenerhebung genießen, aus diesem Unterstrom der ältesten Erfahrungen speist, die einst über die Bilderstrecken des Mythos in das kollektive Bewusstsein gefunden haben. Dass das religiöse Leben in den meisten Industrieländern zum Randphänomen geworden ist, hat sich herumgesprochen. Und doch hat angesichts der Bedeutung, die den Religionen einmal zukam, die Geschäftsmäßigkeit dieser Abwicklung etwas Erstaunliches und, wie ich vermute, Trügerisches. Vielleicht sind diese Glaubensinhalte gar nicht verloren, sondern haben, umgelabelt und in areligiöse Kontexte versetzt, überlebt. Ungeachtet der Wertschätzung, die sie ›Aufklärung‹ und ›Kritik‹ entgegenbringt, kennt auch die Moderne Formen des Überzeugtseins und der fraglosen Zustimmungsbereitschaft, die stabil genug sind, um das, was einmal der Glaube war, funktional zu ersetzen. Fragen wie die, worauf Verlass ist und was, unabhängig von den Launen des Zeitgeistes, Bestand hat, haben auch außerhalb der religiösenReligion Dogmatik Gewicht.
An dieser Stelle kommen die ZahlenZahl ins Spiel. Nachdem die Ideologien und spektakulär auftrumpfenden Ismen, die im Zeitalter der RevolutionRevolution aufkamen, nach zweihundert Jahren des realpolitischen Experimentierens katastrophal gescheitert sind, konzentriert sich die Hoffnung der vielen nun auf das, was das ›Zeitalter der ExtremeZeitalter der Extreme‹ überlebt und sich den Nimbus der Unschuld bewahrt hat. Die ModerneModerne hat sich dem ergeben, was von der Ausgangsintuition des Maßes allein noch übrig ist: dem Zauber der ZahlZahl.
Der Ruf nach Abhilfe – Die Geschicke des Maßes bilden den eminenten Fall jenes Gesamtgeschehens, das als »Prozess der Zivilisation« bestimmt worden ist. Ist dieser Prozess erst einmal erschlossen und als solcher gesehen, wirft er weiterführende Fragen auf, die ich auf den folgenden Seiten mitlaufen lasse, aus Gründen der Stringenz jedoch nur gelegentlich vertiefe.
Wie, bleibt zu fragen, vollziehen sich mentale Veränderungen? Wie entsteht, ohne nennenswerte Begründung und nicht selten mit rätselhafter Plötzlichkeit, Zustimmung zu dem eben noch Undenkbaren, wie Abneigung gegen das am Vortag noch fraglos Anerkannte? Wie manifestiert sich kultureller Wandel, was treibt ihn an, was sichert seine Akzeptanz? Wie bewusst, wie bewusstlos ist, was sich da Bahn bricht und unweigerlich geschieht? Und, um auch die Kolporteure dieser Verschiebungen, die professionellen Aufbereiter und medialen Verstärker in den Blick zu nehmen: Wie viel arglose, von Wunschdenken und Sehnsüchten getragene ›Rationalisierung‹ steckt in der vermeintlichen ›Rationalität‹ solchen Wandels?
Um den Einsatz der Fragen zu verdeutlichen, die Geschichten wie die folgende aufwerfen, kommt es auf enzyklopädische Vollständigkeit nicht an. Eine Gesamtschau der Namen, Daten und Ereignisse, wie sie von einer Kulturgeschichte der Maße zu erwarten wäre, sensibilisiert für die Vielfalt der Aspekte, und darin liegt ihre Stärke. Was allerdings ihre leitenden Begriffe angeht, pflegen sich solche Darstellungen an das Vorverständnis zu halten, das sie vorfinden und selber teilen. Die Selbstverständlichkeiten, in denen wir leben, dürfen bleiben, was sie sind. Es muss deshalb bezweifelt werden, ob einem Thema wie dem vorliegenden mit solchen Routinen beizukommen ist. Was ich auf den folgenden Seiten anbiete, ist weder ein kulturgeschichtlicher Bildersaal der Maße und des Messens, der auf der Direttissima vom Zählstein zum SI-System führt, noch ein biopolitisches MaßhalteprogrammMaßhalten, sondern, ganz einfach, eine philosophische GenealogieGenealogiedes Maßes.
Die genealogische Rekonstruktion gibt die thematische Linie vor, und diese Linie dient als Richtschnur. Die Geschicke des Maßes in ÖkonomieÖkonomie und ÖkologieÖkologie, in Politik und WissenschaftWissenschaft, in Kunst und Medien bleiben in Reichweite, soweit sie verdeutlichen helfen, was ich die Idee des MaßesIdee des Maßes nenne. Diese Idee aber tritt nur hervor, wenn Auswahl und Präsentation der Zeugnisse überschaubar bleiben. Nicht die Zahl der Belege gibt den Ausschlag, sondern ihr Gewicht. Der Aspekt der Gewichtung offenbart allerdings das volle Risiko einer methodischen Entscheidung, die nicht einer vorgreifend festgelegten Agenda folgt, sondern mit offenen Fragestellungen operiert. Es gilt, an den »geheimnißvollen und ungelesenen Text«[3] heranzukommen, der verstehen hilft, wie diese ganze Entwicklung vom MaßMaß zum MessenMessen möglich gewesen ist und welche Entscheidungen sie begünstigt haben.
GenealogieGenealogie, philosophische Genealogie zumal, lehrt das Zögern. Sie will den Glaubenssätzen auf die Spur kommen, den Sinnsprüchen und Weisungen, denen wir anhängen und arglos hinterherleben. Keineswegs jedoch ist sie damit auch schon die Verpflichtung eingegangen, in der üblichen Art und Weise die falschen Götter zu verdammen, um dann mit triumphaler Geste die fertige Lösung an die Wand zu werfen. Der ›Ruf nach Abhilfe‹ ist kein philosophischer. Er gehört zu den charakteristischen Sprachgesten einer Welt, die darauf eingestellt ist, sich ihre Probleme, gleich welcher Art, als technische Herausforderung zurechtzulegen. Die philosophische GenealogieGenealogie unterläuft solche Routinen, indem sie nach deren Voraussetzung fragt: nach dem, was Reaktionsmuster wie diese zwingend macht. Die GenealogieGenealogie legt Denkwege frei, erschließt Bindungen und Besetzungen, Modellierungen und Tendenzen, von denen wir uns, ohne dass dies jemals ›ausgehandelt‹ und förmlich beschlossen worden wäre, haben einnehmen lassen.
Das muss, zumal in einem Buch über das Maß der DingeMaß der Dinge, fürs erste genügen. Meinung zu machen fällt nicht ins philosophische Ressort.
Wozu überhaupt Geschichte? – Aufklärung heute – Diesseits der Extreme – Vom Umgang mit den Dingen – Unscheinbarkeit und Begriff – Ethik des Maßes – Lebendiges Maß – Kleines Karo – Maß und NormNorm
Vielleicht ist es die erstaunlichste Entdeckung der Moderne, dass die Vergangenheit so riesig ist.
John BergerBerger, John, Die vertikale Linie
Wer sich auf das Thema des Maßes einlässt, wird eines rasch bestätigt finden: dass dies, wie HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich feststellt, »eine der schwierigsten Materien« der PhilosophiePhilosophie[4] überhaupt ist.
Wozu überhaupt Geschichte? – Das mag zunächst überraschen, ist doch das Wortfeld des Maßes mit seinen zahlreichen Varianten und Variationen, um das mindeste zu sagen, allgemein geläufig und vertraut. Der zweite Blick weckt dennoch Zweifel. Worauf die Geltung des Maßes beruht, sein Ansehen, ist weder durch die Erfahrung seiner Allgegenwart noch durch das Wissen um seine Praktikabilität bereits erklärt. Worauf seine Anerkennung beruht, ist eine offene Frage – und das auch da, wo sich das Maß als Zahlenwerk präsentiert und ihm, wo es in Gestalt von Statistiken, tabellarischen Aufstellungen und farbenfrohen Diagrammen auftritt, eine ganz eigene und, wie sich gezeigt hat, übermächtige Evidenz zugestanden ist.
Die Frage ist also, worauf die Vorbehaltlosigkeit dieses Zuspruchs beruht. Im Folgenden vertrete ich die These, dass dieses unbedingte Vertrauen auf die Zusicherungen einer Weltordnung zurückgeht, die mit dem Maß ebenjene Seite der Welt hervorkehrt, die den Menschen und ihren Bedürfnissen zugewandt ist. Was aber dieses MaßMaß selbst sein mag, unabhängig von der Zugewandtheit der Dinge und dem Umgang mit ihnen, entzieht sich der Definition. Gewiss, objektivierende Verfahren messen, und offenkundig messen sie, was die ermittelten Werte angeht, immer genauer und immer noch mehr. Auf welchen Voraussetzungen das Verfahren beruht und was es ist, das die MessbarkeitMessbarkeit der Welt sicherstellt, bleibt jedoch im Vollzug einer Praxis unterbestimmt, die sich mit der Mal um Mal bestätigten Erfahrung des Funktionierens begnügt. Die gemessene, als Zahlenwerk erschlossene Welt ist, was sie ist, und das auf solcher Basis gewonnene Wissen gilt, wie schon DescartesDescartes, René versichert, als ›voraussetzungslosVoraussetzungslosigkeit‹.
Offenbar ist diese Unterbestimmtheit dem Begriff des Maßes unveräußerlich. Wir müssen wir ihn uns als einen subtilen, ja beinahe zart zu nennenden Gegenstand denken – so zart, dass schon die Bezeichnung als ›Gegenstand‹ mit Vorsicht zu behandeln ist. Ein falscher Zug, und das Gebilde des MaßesMaß zerfällt zu Staub.
Wenn, wie in diesem Fall, die Gegenstände der Untersuchung nicht ohne weiteres zu greifen sind, ist die Versuchung groß, den Mühen der Aufarbeitung auszuweichen und sich mit der Offensichtlichkeit des FunktionierensFunktion zufriedenzugeben. Bestärkt und untermalt wird diese Einstellung durch das populäre Gebot der Relevanz, das die oftmals fremd anmutenden Tatsachen des Herkommens und der GeschichteGeschichte schon mit der Art des Zugriffs dem Selbstverständnis einer Gegenwart angleicht, die ihre eigene Normalität für das Maß der DingeMaß der Dinge hält.[5] Das Kriterium der RelevanzRelevanz fragt nicht nach den Sachen, nicht nach dem, was sie sind oder bedeuten, sondern nach dem, was sich hier und heute mit ihnen anstellen lässt.
Das Verfahren der GenealogieGenealogie, das ich bevorzuge, kehrt die Prämissen dieser Vergangenheitspolitik um. Wo das populäre Geschichtsbild dem Selbstverständnis einer sich selbst gegenüber distanzlosen Gegenwart folgt, interessiert sich die Genealogie für die Abweichungen und Unterschiede. Sie greift auf und stellt vor, was anders gewesen ist und in den Schlagworten der Gegenwart nicht aufgeht. Allerdings ist die Umwegigkeit dieses Verfahrens kein Selbstzweck. Die Erwartung ist, dass erst die Verdeutlichung der Kontraste – und nicht ihre methodische Einebnung – die SelbstverständlichkeitenSelbstverständlichkeit hervortreten lässt, in die wir uns im stillen eingelebt haben: das geräuschlose Ineinandergreifen jener Routinen, jener Überzeugungen und Vorlieben, die uns als Zeitgenossen verbinden. Der potenzielle Ertrag des genealogischen Verfahrens besteht in solcher Offenlegung. Es schärft den Blick für jene Ausdrucksgestalten des Einvernehmens und der Anerkennung, die sich, wie das MaßMaß, eingestellt haben und gelten, ohne geprüft und jemals beschlossen worden zu sein.
Damit sollte klar sein, dass der Aufwand der genealogischenGenealogie Rekonstruktion nicht in der Absicht erfolgt, das Gewesene zu verklären oder gar wiederherzustellen. Vielmehr versucht die GenealogieGenealogie auf dem Umweg über die GeschichteGeschichte eine hypothetische Außenposition zu gewinnen, um jene Blase in den Blick zu nehmen, in der die Gegenwart, unsereGegenwartGegenwart, ganz arglos und noch vor der Mobilisierung reflexiver Instanzen bei sich selbst ist.
Aufklärung heute – Wir werden nie erfahren, was das Maß ist – was es einmal gewesen ist und was seither daraus geworden ist –, wenn wir die zeitgenössische, durch die Allgegenwart der Daten geprägte Standarderwartung des MessensMessen in die Vergangenheit zurückprojizieren, um dann dort das Erwartete, durch Infographiken untermalt und gradlinig geplottet, als das zeitlos Allgemeine bestätigt zu finden. Indem solche Verfahrensweisen das, was geschehen ist, im Namen der Aktualität schon vorgreifend mit zeitgenössischen RelevanzenRelevanz abstimmen, gehen sie an der ursprünglichen Einsicht des Konzepts ›Geschichte‹ vorbei: an der Einsicht, dass die Erwartungen, die wir der GeschichteGeschichte entgegenbringen, auch selbst in der Geschichte stehen und gleichfalls der Veränderung unterliegen.
Mit dieser Einsicht kommen unweigerlich wir selbst ins Spiel. Wir Heutigen sind nicht die objektiv-distanzierten, außerhalb der geschichtlichen Zeiten stehenden Beobachter dessen, was einmal gewesen und geschehen ist. Wir sind mitbetroffen, sofern wir mit dem, wovon wir überzeugt sind, und dem, woran wir glaubenGlaube, in der Konsequenz von Entscheidungen leben, die vor unserer Zeit gefallen sind und uns, wie exemplarisch das Vertrauen in kontingenzbegrenzende ObjektivitätObjektivität und in die ExaktheitExaktheit der Zahlen, inzwischen so geläufig sind, dass sie für gewöhnlich unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle bleiben und vorbewusst mitlaufen. In derlei Strömungen des Fragloswerdens und der erfolgreich statuierten NormalitätNormalität findet die genealogische KritikKritik ihre Stoffe. Aufklärung heute heißt, an diejenigen Glaubenssätze, an diejenigen Faustregeln und Direktiven heranzukommen, die unseren Entscheidungen immer schon vorgegriffen haben und an die selbst diejenigen glauben, die davon überzeugt sind, mit der Sache des GlaubensGlaube abgeschlossen zu haben.
Wer bereits an dieser Stelle dazwischengehen und die legitimen Ansprüche der heutigen Zeit gegen den weltfernen Geschichtsschreiber ins Feld führen möchte, der in seinem Elfenbeinturm noch immer zwischen Büchern hockt und seine »Pyramiden des Geistes« hochzieht, verkennt die Pointe des genealogischen Verfahrens. Der Anspruch der Gegenwart, sich selbst auf die Spur zu kommen, ist mit der genealogischen Praxis keineswegs aufgegeben – im Gegenteil. Erst der Umweg über die Vergangenheit lässt jene längst schon erfolgten Prozeduren der Umgestaltung hervortreten, jene Umbauarbeiten am System der Welterklärung, in deren Konsequenzen wir unbewusst leben und die, um zum Thema zurückzukommen, vorzeiten aus der Ethik des MaßesMaßethik in die Praxis des MessensMessen geführt haben: in die aktuelle, weder von Göttern noch von Menschen, sondern vom Glauben an die ZahlZahl getragene Ordnung der Dinge.
Die GenealogieGenealogie greift auf, was einst die Philosophie als ihre eigene Urszene beschrieben hat: das Staunen und, damit verbunden, die Frage, wie das, was sich um uns herum zu fragloser Normalität verdichtet hat, einmal zustande gekommen und überhaupt möglich gewesen ist.
Allerdings ist auch eine Frage wie diese von den Konsequenzen jener Bewegung mitbetroffen, die einst die Paradigmatik des WissensWissen entscheidend verschoben und vom Maß zum Messen geführt hat. Die genealogischeGenealogie Vorgehensweise zwingt zur Entscheidung: Sie kann sich der herrschenden, aus der Reihe der historischen Weichenstellungen hervorgegangenen Auffassung anschließen, wonach zahlenbasierte Forschung neutral ist, zu allen Themen passt und sich, wie generell, so auch im gegebenen Fall als das Mittel der Wahl empfiehlt. Sie kann die Verschiebungen, die zu Überzeugungen wie diesen geführt haben, aber auch zum Thema machen, kann sie in Frage stellen und die stillschweigenden VoraussetzungenVoraussetzung dessen herausarbeiten, was sich als State of the Art in Wissenschaft und Gesellschaft durchgesetzt hat. Genau so gehe ich im Folgenden vor.
Diesseits der Extreme – Es braucht Abstand, um Wörter wie MaßMaß und MitteMitte gelassen zur Kenntnis zu nehmen. Sie entstammen anderen, längst vergangenen Zeiten. Nun haben sie Patina angesetzt.
Das aber droht ihnen heute zum Verhängnis zu werden. Wie von selbst kollidieren sie mit den Ansprüchen einer ModerneModerne, die von Beginn an mit dem Versprechen für sich geworben hat, sie befreie die Menschen von den Lasten einer unverständlich gewordenen Vergangenheit, von ihren Geltungsansprüchen und sprachlichen Schlacken. Über das vielzitierte Abwerfen von Ballast und das Aussortieren des Unverständlichen findet seither noch jede Gegenwart zu ihrem Sound. Die öffentliche Rede bildet ein Über-Ich aus, das über das Sagbare wacht und wie in der Welt der Dinge, so auch in der Welt der SpracheSprache den Innovationsfluss sicherstellt.[6] Jeder Austausch, jedes frisch aufgelegte Vokabular ein Stück Arbeit am Weltbild.
Die Verschlagwortung der Begriffe hält die Maschinerie der öffentlichen Auseinandersetzung in Gang und gibt neben den Themen auch die Muster vor, in denen sie, wie es in Anlehnung an die Sprache des Marktes heißt, ›auszuverhandeln‹ sind. Das Ergebnis dieser Praxis sind die Sichtblenden des PräsentismusPräsentismus. Die Schlagworte der Saison, ihre Sensationen und Hypes, entscheiden darüber, was relevant ist, und legen fest, was heute und bis auf weiteres ›zählt‹.
Wer trotzdem wissen will, worum es sich handelt, und vor der Herausforderung des sachlichen SagensSagen, sachliches[7] nicht schon im Vorfeld kapituliert, muss Umwege gehen und das offene Gelände der Begriffe und Gegenbegriffe suchen, denen das Thema seine Prägnanz verdankt – Formulierungen also, die an das Mitdenken appellieren. Es gibt Sachverhalte und Zusammenhänge, die nicht in Gestalt von Informationen jederzeit abrufbar sind, sondern danach verlangen, mitvollzogen und verstanden zu werden. Es besteht Grund zu der Vermutung, dass gerade sie die letztlich entscheidenden sind.
Wir Menschen der ModerneModerne, so lautet ganz in diesem Sinn die Diagnose des britischen, alles andere als traditionalistischen Gegenwartshistorikers Eric HobsbawmHobsbawm, Eric, leben im »Zeitalter der ExtremeZeitalter der Extreme«.[8] Die ExtremeExtrem, die HobsbawmHobsbawm, Eric zufolge das Bild der ModerneModerne prägen, locken mit dem Spektakulären, mit dem Erregenden, Aufwühlenden und Faszinierenden. Am Ende aber, sobald das Strohfeuer erloschen ist und die Aufregung sich gelegt hat, sind die Extreme enttäuschend und offenbaren das Ausmaß eines deutlich fühlbaren Mangels. Sie charakterisieren einen Zustand, in dem die Menschen trotz allem den Eindruck nicht loswerden, dass ihnen etwas Entscheidendes, wenngleich nicht ohne weiteres Benennbares fehlt, das kein Extrem ihnen geben kann. Das Formulierungsangebot HobsbawmsHobsbawm, Eric aufgreifend, können wir sagen: Das Unnennbare, das da vermisst wird und sich hartnäckig entzieht, siedelt im Diesseits der ExtremeExtrem, siedelt im Umraum einer NormalitätNormalität, die ebenso erträglich wie verlässlich wäre und des Einvernehmens der vielen gewiss.
Das klingt, zugegeben, ein bisschen vage und unbestimmt, vermittelt aber doch eine Vorstellung davon, was gemeint ist. Tatsächlich hat HobsbawmsHobsbawm, Eric sprachpolitische Ausweichbewegung den Vorteil, ohne melodramatische Nebentöne die Stelle zu umreißen, an der seit alters das MaßMaß seinen Einfluss geltend macht. Das gute Leben, diese Formulierung erfasst auf pragmatischer Ebene die Intuition des Maßes, setzt die Vermeidung der ExtremeExtrem voraus, denen vernünftigerweise niemand zustimmen kann: die Vermeidung sowohl des enttäuschenden Zuwenig,Zuwenig der Not und EntbehrungEntbehrung, als auch des empörenden Zuviel,Zuviel der Prasserei und VerschwendungVerschwendung.
Die Frage stellt sich allerdings nur umso dringender: Was hat es mit diesem Diesseits der Extreme auf sich. Was ist das Maß – und was das Maß der DingeMaß der Dinge? Wie und woran ist es zu erkennen, wer oder was steht dafür ein? Liegt es einfach dazwischen, so dass wir nur die MitteMitte bilden, sie ›errechnen‹ müssen, um mit diesem einfachen Kunstgriff das Maß auch schon gefunden zu haben? Andererseits: Erzwingt nicht gerade die Logik eines auf diese Weise gewonnenen Begriffs die Einsicht, dass die Mitte den Gegensatz der Extreme geradezu verlangt, um sich als dieses Dazwischen, das sie ist, finden und behaupten zu können? Wäre dann also die MitteMitte, wie das Wort sagt, ein MediumMedium, das die Extreme in einem System wechselseitiger Abstoßung aufeinander bezieht, sich aber in dieser Funktion der formalen Ausbalancierung auch schon erschöpft?
Vom Umgang mit den Dingen – Für das theoretische Begreifen ist der Status des Maßes, ist seine Nichtstofflichkeit und, damit zusammenhängend, die Verdecktheit seiner Präsenz eine Herausforderung eigener Art. Die Zumutung des Begriffs besteht darin, dass er sich dem Ansinnen einer klaren und zeitlos gültigen Definition entzieht. Wir können nicht sagen, was das MaßMaß, isoliert und für sich genommen, eigentlich ist; die Erfahrung, dass es ist, muss genügen. Unmittelbar mit der Welt der Dinge gegeben, verbürgt das Maß deren Zugänglichkeit für den Menschen. Das Maß ist deshalb immer auch als modusmodus bezeichnet und verstanden worden: als die Art und Weise, in der die Dinge der menschlichen Wahrnehmung gegeben sind.
Die Feststellung allein genügt, um sich klarzumachen, dass die Bedeutung des Maßes für das menschliche Weltverhältnis sich in der Anbahnung technischer Zugriffe nicht erschöpft. Dass wir die Dinge zählen, sie messen und berechnen, ist ungeachtet der Normalität dieser Praxis nur eine der möglichen Arten, mit ihnen umzugehen. Die Ausgangsintuition des Maßes weiß von dieser Reduktion auf das bloß Quantitative nichts. MaßMaß ist das, was das Was und Wie der WeltdingeDing aufeinander bezogen sein lässt. Es zeigt sich in der Sicherheit, mit der etwas getan wird, und in der Fertigkeit, die in solchem Tun zum Tragen kommt. Das Maß ist jener Teil der Handlung, von dem Gilbert RyleRyle, Gilbert gesagt hat, dass er »für sich allein nicht von einer Kamera aufgenommen werden kann«[9] – und zwar deshalb, weil er in den Gesamtzusammenhang des Vorgangs einbezogen und dieses Einbezogensein gerade das ist, was ihn zu dem macht, was er ist.
In der Konkretheit seiner Anwendungsbezüge ist dieses Einbezogensein des Maßes kein Problem. Was am Maßband das Maß ist, genauer: was es, um als Messgerät zu taugen, als gegeben voraussetzen muss, bleibt verborgen in den Operationen des MaßnehmensMaßnehmen. So ist das Maß der Begriffsname für die Erfahrung, dass die Beschaffenheit der Dinge, einschließlich der Art ihres Gegebenseins, und der Umgang mit ihnen ineinandergreifen. Nachdem die ErfahrungErfahrung dieses Verhältnis gegenseitiger Entsprechung als gesichert bestätigt hat, darf sich der konkrete Messvorgang auf die Offensichtlichkeit seines FunktionierensFunktion beschränken. Die Frage nach dem MaßMaß aber bleibt. Bereits die antiken Autoren und namentlich CiceroCicero, Marcus Tullius[10] haben die eigenartig präsumtive Stellung des Maßes gesehen und es als nescio quid erläutert: als ein »Ich-weiß-nicht-was« oder, wie NietzscheNietzsche, Friedrich in vergleichbarem Zusammenhang sagt, als eine »Nothwendigkeit, ohne irgend eine formale ethische ästhetische Rücksicht«.
Die metaphysische Ladung des Maßes erklärt sich aus dieser Disposition. Lange Zeit ist die Erfahrung der MessbarkeitMessbarkeit als Zeichen dafür genommen worden, dass die Welt für den Menschen zugänglich und ihm nicht vollkommen fremd und entzogen ist. Das Maß steht dafür ein, dass der Mensch in einer Welt, in der alles fließt und sich fortwährend verändert, angenommen ist und sie ihm offensteht. Diese Zusage ist fester Bestandteil des Begriffs und ihm unveräußerlich: Maß der DingeMaß der Dinge und Maß des MenschenMaß des Menschen sind keineswegs dasselbe, bilden aber einen stabilen Zusammenhang. Die Gefahr, diese Relation einseitig aufzulösen und sie – sei es objektivistisch, sei es subjektivistisch – zu verkürzen, ist im Geltungsraum des klassischen MaßbegriffsMaßbegriff vorgreifend gebannt. Allein die ErfahrungErfahrung, dass ›es‹ das Maß ›gibt‹, deutet auf die Beschaffenheit einer Welt, in der die Ordnung der Dinge und das Handeln der Menschen zwanglos harmonieren.
Angesichts dieser doppelten Verwurzelung, wonach das Maß einmal als Technik (des Messens), zum anderen als Verhaltensregel (der Mäßigung) zu nehmen ist, darf man sich das Maß nicht als einen handgreiflich fassbaren Gegenstand denken, nicht als Objekt. Das Maß ist der Ebene des Objektiven vorgelagert. Es ist das, was der Gegenständlichkeit und, in der Folge, dem methodischen Anspruch der ObjektivitätObjektivität zu seiner heutigen Geltung verholfen hat: die Betrachtung der Dinge unter dem Aspekt ihrer Dienstbarkeit für den Menschen. Im Maß zeigt sich die von den antiken Autoren als kósmosKosmos bezeichnete, sich dem Menschen als Ordnung offenbarende Zugewandtheit der Dinge. Es ist das Maß, das ihm die Welt als seine Welt vor Augen stellt. Ebendiesen Gedanken wird die NeuzeitNeuzeit aufgreifen und gegen die Überzeugung eintauschen, dass erst durch ihn, den messenden und rechnenden Menschen, die Welt mit sich selbst bekannt wird und er es ist, der das Maß – seinMaßMaß – an die DingeDing heranträgt. Es wird dies der Schritt sein, mit dem, wie durch Zauberhand, der Mensch zum Subjekt wird und sich die Dinge in Objekte verwandeln.
So schwer es aus seinen Zusammenhängen und Vorannahmen herauszulösen und auf eine Formel zu bringen ist, so leicht finden sich für das MaßMaß Evidenzen. Ein einziger Fußbreit, eine Spannweite oder Armeslänge genügt, um das Maß zu haben und es in den Verrichtungen des Alltags bestätigt zu finden. Was aber das Verbindende all dieser Konkretisierungen ist – eben: das Maß –, bleibt im Rahmen solcher Anwendungsbezüge offen. Auskunft über das Maß und speziell über die Frage, was es mit dem Maß auf sich hat, gibt nicht diese oder jene MaßeinheitMaßeinheit oder Konvention; entscheidend ist die mit solchen Festsetzungen ausgesprochene Gewissheit, dass die Dinge ein Maß überhaupt haben – ist, mit einem Wort, die Mal um Mal bestätigte Erfahrung der MessbarkeitMessbarkeitder Welt.
Unscheinbarkeit und Begriff – Offensichtlich ist uns das Maß auf spezielle Art und Weise gegeben – auf eine Weise, wie Immanuel KantKant, Immanuel (1724–1804) sie im Begriff der Normalidee verwirklicht sah.
Die NormalideeNormalidee, heißt es in § 17 der Kritik der Urteilskraft, ist eine Vorgabe, die »allen zum gemeinschaftlichen Maße dient«; sie ist, so KantKant, Immanuel weiter, »nicht aus von der ErfahrungErfahrung her genommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet; sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich«. Von einer Normalidee ist demnach dann zu sprechen, wenn etwas ohne viel Aufhebens mit dem übereinstimmt, was zu vermuten oder, in der ernüchterten Perspektive der Wissenschaft, zu erwarten war. Für KantKant, Immanuel siedelt das Maß auf dieser Ebene des fraglos Vorauszusetzenden, und es ist gerade diese, der Befragbarkeit vorausliegende Latenz, die das Funktionieren des Maßes sicherstellt.
Es gibt BegriffeBegriff – und diese Feststellung ist nicht im mindesten despektierlich gemeint –, die ihren Zweck erfüllen, solange ihnen zugestanden ist, sich im Halbschatten einstweiliger Unbestimmtheit zu halten. Ihre Unscheinbarkeit und die Erfahrung, dass sie ihre Kraft im stillen entfalten, ist das Zeichen ihrer Verlässlichkeit. Jahrhundertelang und über Epochengrenzen hinweg hat der Maßbegriff von diesem Status profitiert: von der Unaufdringlichkeit und Verlässlichkeit, mit der er dem Handeln der Menschen die Richtung weist. Das MaßMaß verstand sich aus dem heraus, was sich bewährt hat, was das RichtigeRichtige, das und die richtige Weise ist, zu tun, was getan werden muss. Mit diesem Wissen um das, was sich empfiehlt und in den SituationenSituation des Lebens bewährt hat, hatte es auch schon sein Bewenden. Das komplexe, aber auch gefestigte und zum Maß geronnene Wissen um das, was ratsam ist, was nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als das, was in der gegebenen Situation verlangt ist, war – ein Musterfall von Performativität – genugGenügen.
Die forschungsstrategischen Konsequenzen dieser Zurückgenommenheit, dieser Unscheinbarkeit des BegriffsBegriff, sind beachtlich. Das Maß scheint zu denjenigen Begriffen zu gehören, die überhaupt nur über ihre Geschichte zu erschließen sind, konkret: über die Geschichte ihrer Verwendungsweisen.
Die Weitläufigkeit ebendieser Voraussetzungen erklärt, weshalb es abwegig wäre, das Maß zu propagieren, es einzufordern oder gar zu verordnen. Der Maßbegriff entzieht sich der Sprache der Programme, Proklamationen und Manifeste. Das Maß zu finden, es zu sehen und zu achten, ist eine Sache der ErfahrungErfahrung, die bestimmte Erwartungen begründet – und weiter nichts. Ebendiese Eigenart der Präsenz bestätigt die Verwandtschaft des Themas mit den bereits angeführten religiösen Glaubensinhalten: Maß ist ein Begriff, der etwas vorgibt, aber ebenso und darüber hinaus etwas offenbart.
Ethik des MaßesMaßethik – Das Maß führt natürliches Gesetz und menschlichen Zweck, TechnikTechnik und EthikEthik zusammen, und auf der Tragfähigkeit ebendieser Verbindung beruht das Vertrauen, das die Menschen ihm entgegenbringen. Die Balancierungsleistung des Begriffs bestätigt sich in der Praxis. Pragmatisch, wie es seiner Idee nach ist, bleibt das Maß an Raum und Zeit gebunden und begünstigt eine den Bedingungen der Endlichkeit angepasste morale par provision.[11]
In der Praxis überzeugt das Maß durch den überwältigenden Eindruck seiner, wie KantKant, Immanuel sagt, RichtigkeitRichtigkeit, und mehr als diesen erwünschten und wohl auch erfahrbaren, nicht aber beweisbaren Zusammenhang zwischen den formal korrekten, den sachlich angemessenen und den moralisch tragbaren Weisen des Vorgehens bedarf es nicht. Folgerichtig erweckt das Maß leicht den Eindruck der Unanfechtbarkeit, die ihm, soweit sein Einfluss reicht, in der Regel auch fraglos zugestanden ist. Ebendieses Als-ob, das die überlieferte Ethik des MaßesMaßethik hält und trägt, ist das Ergebnis einer umsichtigen Rhetorik, die der alten Regel folgt, wonach die Kunst darin besteht, die Kunst nicht sehen zu lassen. Diese Regel hat neben ihrer ästhetischen und rhetorischen auch eine pragmatische Dimension. Im Maß ist gebündelt, was an den je besonderen Erfahrungen des Augenblicks verallgemeinerbar und für entsprechende Situationen gespeichert ist, was standhält und bleibt: das gebündelte ErfahrungswissenErfahrung des Umgangs, des Auftretens, der Handhabung, der Haltung, der Ausführung, des Ablaufs, der Dauer und, allgemein gesagt, des Sichhinein- und Sichzurechtfindens.
Das, was an dieser Stelle EthikEthik heißt, ist keineswegs auf Belange der Moral und des moralisch GebotenenGebotene, das beschränkt. Das griechische ethos umfasst das funktionale Ineinandergreifen der Sitten und Gebräuche, der Gewohnheiten und des Verhaltens, der Lebens- und Seinsweise. Die Sprüche der Sieben Weisen bestätigen dieses Begriffsverständnis: »Nichts zu sehr«; »Halte Maß«; »Im Glück sei mäßig, im Unglück besonnen«.[12] Die Gedrängtheit solcher Empfehlungen ist bezeichnend. Die Sätze und Weisungen der antiken Lebenskunstlehren tragen nicht, wie die modernen Ethiken, Forderungen vor, die umständlich zu erwägen und durch Zusatzannahmen vorzugsweise anthropologischer, naturrechtlicher oder politischer Natur zu untermauern sind.[13] Mit der gebotenen ZurückhaltungZurückhaltung heben sie Fraglosigkeiten ins Bewusstsein, die sich von selbst nahelegen und von den Lehrern der Weisheit, die keine Autoren im modernen Verständnis des Wortes sind, in einfachen Worten memoriert werden.
Neuere Versuche, dem Maß im Rahmen einer EthikEthik verantwortlichen Handelns einen zeitgemäßen Ort zuzuweisen, stoßen an genau dieser Stelle an ihre Grenze. 1983 hat der Freiburger Philosoph Werner MarxMarx, Werner eine Studie vorgelegt, die im Anschluss an HeideggerHeidegger, Martin den Versuch macht, über die Geltendmachung einschlägiger Erfahrungen »Maße einer nichtmetaphysischen Nächstenethik« zu benennen. MarxMarx, Werner entfaltet seine Überlegungen unter einem Titel, der einer späten Prosadichtung Friedrich HölderlinsHölderlin, Friedrich (1770–1843) entnommen ist: »Giebt es auf Erden ein Maaß?« HölderlinHölderlin, Friedrich, den überlieferten Widerstreit zwischen himmlischer VollkommenheitVollkommenheit und irdischer Unzulänglichkeit aufgreifend, beantwortet die Frage entschieden: »Es giebt keines«.[14]
MarxMarx, Werner nimmt den Zweifel HölderlinsHölderlin, Friedrich als eine Art Zwischenbescheid auf, als Aufruf, das Entschwundene, ungreifbar und unverständlich Gewordene, mit Neuzeitmitteln zurückzuholen und wiedereinzusetzen. Um eine Zukunft zu haben, muss demnach das Maß aus seinen traditionellen Bezügen herausgelöst und das, was MarxMarx, Werner als das ›Wesen‹ des MaßesWesen des Maßes anspricht, auf zeitgemäße Weise ausbuchstabiert werden. Die Möglichkeit dazu ergibt sich, so die These, über die philosophische Explikation der Verantwortung, die Menschen füreinander nicht nur haben, sondern offenkundig auch empfinden: Liebe, Anteilnahme, Anerkennung. Das Maß, so MarxMarx, Werner, gewinnt im Umkreis ebenjenes Erlebnisraums erneut Evidenz, wie sie ein am Leitbild der Mitmenschlichkeit orientiertes Zusammenleben zu vermitteln vermag.
Und doch bewältigt der Aktualisierungsvorschlag die selbstgestellte Aufgabe nicht – und dieses Scheitern ist aufschlussreich. Der Bruch in der Geltungstradition des Maßes folgt ja nicht aus der Art der Begründung, sondern ist bereits mit dem Anspruch der Begründung vollzogen. Als Ethiker versucht MarxMarx, Werner zu begründen, was seiner Idee nach selbst ein Gründendes, der moralphilosophischen Verdeutlichung Vorausliegendes ist und ebendarum, wie Hans-Georg GadamerGadamer, Hans-Georg in seiner Besprechung des Buches zu bedenken gab, gerade »nicht begründbar ist« und »auch keiner solchen BegründungBegründung« bedarf.[15] Die Sätze der MaßethikMaßethik geben vor, das, was das Richtige ist, ebendarum auch zu tun; die modernen Ethiken verfahren anders: Sie wollen das RichtigeRichtige, das durch Herleitung oder Aushandlung rechtfertigen und auf der Basis greifbarer Daten und Fakten als zwingend ableiten.
Das Schicksal der MaßethikMaßethik entscheidet sich mit der Frage, ob ein solches Verfahren in der Kontinuität des herkömmlichen Verständnisses bleibt oder aber etwas gänzlich Neues einführt: ein Maß, das der Mensch sich selbst gibt und das er, nachdem er nun den Ausfall der metaphysischen Obdachgewährungen hat hinnehmen müssen, ersatzweise moralphilosophisch fundiert. Aus GadamersGadamer, Hans-Georg Sicht ist die Frage rhetorisch: HeideggerHeidegger, Martin – auf den MarxMarx, Werner sich durchweg bezieht – habe seine Gründe gehabt, als er das Verlangen nach der BegründungBegründung der Ethik zurückwies. Was demnach HeideggerHeidegger, Martin, wie zuvor bereits HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und NietzscheNietzsche, Friedrich, gesehen hat, ist dies: Die Erwartung, die Maßethik auf der Basis moralphilosophischer Plausibilisierungen erneuern zu können, ist nur eine weitere und geradezu fatale, weil den Kern der Sache bereits mit der Wahl des Zugriffs verstellende Art und Weise, das Maß zu verfehlen. Anders gesagt: Die Geltung des Maßes beruht nicht auf den Prozeduren förmlicher Deduktion, sondern verdankt sich dem Vertrauen auf eine Welt, deren Geordnetheit dem Menschen im Gegebensein des Maßes entgegentritt.
Alles regelt das MaßMaß – die Überzeugungskraft dieses Versprechens hat es ihm erlaubt, an den Rändern der sozialen Welt bis heute zu überleben: im Gespür für SituationenSituation und den rechten Augenblick, in Fragen des Auftretens und des TaktesTakt, in der Wahrnehmung selbst der leisesten Stimmungsschwankungen und der Sicherheit, mit der wir die Spielräume des Verhaltens mit einem Blick erfassen. Für gewöhnlich und ohne förmliche Unterweisung wissen wir sehr genau, wo ›der Spaß aufhört‹, wann ›das Maß voll‹ und ›der Bogen überspannt‹ ist. Schon als Kinder erlernen wir, zusammen mit der Sprache, die Grenzen des Sagbaren – das, was für gewöhnlich genügt und worüber nicht hinausgegangen werden muss. Es sind solche Beiläufigkeiten, solche ErfahrungenErfahrung und Bewährungen der fast mühelosen Bewältigung selbst kompliziertester SituationenSituation, die dem französischen Soziologen Émile DurkheimDurkheim, Émile, wohl nicht zufällig in einem erziehungswissenschaftlichen Gedankenzusammenhang, das für heutige Ohren erstaunliche Wort von der »Lust am MaßLust am Maß«[16] eingegeben haben.
Lebendiges Maß – Das Maß zeigt sich indirekt: als Ausdruck des Verweisungsgefüges, das es zusammenhält und in das es auch selbst mit eingebunden ist. Wer es finden will, muss es in seinen Anwendungsbezügen suchen – da, wo es zum Tragen kommt. Eine gültige Definition des MaßbegriffsMaßbegriff, die zeitlos standhält, ist von einer solchen Vergewisserungsarbeit nicht zu erwarten. Was sie anbieten kann, ist die Rekonstruktion dessen, worum es geht: die Idee des MaßesIdee des Maßes.
Wirksamkeit und Attraktivität des Maßes beruhen darauf, dass es sich improvisationsfreudig den unterschiedlichsten Umgebungen einfügt. Die Maßsysteme der Regionen und Kulturen sind, wie die zahlreichen Namen der Flächen- und Streckenmaße, der Währungen und Gewichte noch heute erkennen lassen, ungemein vielfältig.[17] An der Schwelle zur Renaissance hat deshalb der Theologe und Philosoph Nikolaus von KuesNikolaus von Kues (1401–1464) das Maß – für heutige Ohren geradezu befremdlich – »lebendig« nennen können. Der Geist, heißt es im neunten Kapitel des Liber de mente, ist »lebendiges MaßMaß, lebendiges« – mens est viva mensura. Darin, dass die Wörter mensmens und mensuramensura klanglich harmonieren, sieht CusanusNikolaus von Kues die tiefe Verbundenheit bestätigt zwischen dem Geist (mens) des Menschen und dem Maß (mensura) der Dinge. Demnach ist die menschliche VernunftVernunft den Anforderungen der Welterkenntnis gewachsen, weil sie das, worauf sie das Augenmerk richtet, bereits in sich trägt und sich auf den Wegen der Welterschließung darauf besinnt, es verdeutlicht, sich gegenüberstellt und erschließt.
Mit dem MaßMaß, so CusanusNikolaus von Kues, ist dem Menschen der Schlüssel zur Welt in die Hand gegeben. In der Folgezeit hat sich diese Vorstellung aus den dogmatischen Gedankenzusammenhängen, denen sie entstammt, herausgelöst und sie überlebt. »Mensch«, mit diesen Worten wird NietzscheNietzsche, Friedrich das klangliche Zusammenspiel der Wörter mensmens und mensuramensura erneut aufgreifen, heißen wir deshalb, weil wir »MessendeMessenden, die« sind.[18] Mit der Assonanz der Wörter glaubte CusanusNikolaus von Kues einen Hinweis für das An- und Aufgenommensein des Menschen in der Welt gefunden zu haben; im Unterschied dazu und ein halbes Jahrtausend später lässt NietzscheNietzsche, Friedrich die Frage dahingestellt sein, ob der messende Mensch in seiner Welt als Souverän agiert, als das Maß aller DingeMaß aller Dinge, oder aber als derjenige, der nun nicht mehr anders kann, als der einmal entfesselten Dynamik der QuantifizierungQuantifizierung nachzugeben und, wie die Dinge, so auch sich selbst als eines ihrer Objekte erkennen zu müssen. Das ist ein eminent zeitgemäßer Befund: Der alles messende und seinem Gutdünken unterwerfendeUnterwerfung Mensch und der total vermessene und unterworfene Mensch sind einander zum Verwechseln ähnlich geworden.
Das vorneuzeitliche Attribut der LebendigkeitLebendigkeit vermittelt eine Vorstellung davon, wie weit der Weg zum heutigen, vom Hyperonym des MessensMessen beherrschten Begriffsverständnis gewesen ist. Offenkundig ist das für die Moderne so entscheidende Kriterium der förmlichen, dem Leistungsvermögen des menschlichen Wahrnehmungsapparates hohnsprechenden ExaktheitExaktheit zunächst nur eines unter vielen gewesen. In der herkömmlichen Ethik des MaßesMaßethik haben beide, die ExaktheitExaktheit der Zahl und die PräzisionPräzision des gesprochenen Wortes, ihren Ort.[19] Das vorgelagerte Kriterium der AngemessenheitAngemessenheit weist beiden ihre Plätze zu und sorgt dafür, dass da, wo das Maß gilt, ZahlZahl und WortWort, QuantitätQuantität und QualitätQualität gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Belohnt wird das Vertrauen in seine Vorgaben durch die Sicherheit der anstehenden Entscheidungen und die auf Erfahrung beruhende Zuversicht, mit dem Anlegen des Maßes wie stets, so auch diesmal auf dem richtigen Weg zu sein.
In manchen Alltagswendungen ist dieser Zusammenhang erhalten geblieben, etwa wenn es gilt, ›gemessenen Schrittes‹ zu gehen. Die Wortverbindung bezieht sich – in Zeiten der Quantified-Self-BewegungQuantified-Self-Bewegung muss das gesagt werden – weder auf die Anzahl noch auf den Energieverbrauch der getanen Schritte. Das Attribut der GemessenheitGemessenheit würdigt die Art, wie jemand geht. Es betont eine gewisse Verhaltenheit des Bewegungsablaufs, eine Gesetztheit, womöglich auch Feierlichkeit des aufrechten Gangs, der von der Formlosigkeit verträumten Umherschlenderns ebenso weit entfernt ist wie von der brutalen Geometrie des Stechschritts. ›Gemessen‹ heißt weder ›langsam‹ noch ›steif‹, weshalb Thomas MannMann, Thomas – in der Erzählung »Die Betrogene« – von »gemessener Eile« sprechen kann: von einer Eile, deren Gemessenheit sie mit dem, was die betreffende Situation erfordert, in Übereinstimmung hält und dafür sorgt, dass sie, wie Mann noch im gleichen Absatz schreibt, ihrem sprichwörtlichen Drang widersteht und »unüberstürztunüberstürzt« bleibt.
Ein Gehen, das gemessen ist, wird zur Ausdrucksgebärde. Das in der charakteristischen Körperbewegung der GemessenheitGemessenheit sichtbare, genauer noch: das sichtbar gemachte MaßMaß, sichtbares ist Teil der SituationSituation, die es annimmt, mitgestaltet und bestätigt. Gemessenen Schrittes zu gehen heißt nicht lediglich, den eigenen Körper durch eine klar umrissene Topographie zu bewegen. Es heißt, in einen lebendigenLebendigkeit Austausch einzutreten und das Maß im Vollzug dieses Austauschgeschehens spontan zu gewinnen. Aus der bloßen Querung des Raums – der ›MobilitätMobilität‹ – wird eine lebendige, mit der Umgebung interagierende Choreographie, die ein situatives und, über den Nahbereich hinausgreifend, ein kulturelles Zeichen ist. Auf dieser untermalenden und verstärkenden Funktion beruht die Sicherheit, die die gemessene Art der Bewegung den Gehenden gibt.
Angesichts der, wie Honoré de BalzacBalzac, Honoré de in seiner Theorie des Gehens sagt, »ungeheuren Beredsamkeit« der Art und Weise, wie wir einen Fuß vor den anderen setzen, wird die Gehbewegung lesbar als Ausdruck des inkorporierten Maßes. Die Bewegung selbst, ihre UngezwungenheitUngezwungenheit, die ihren körperästhetischen Grenzwert in der Ausdrucksgebärde der GrazieGrazie findet, setzt in ihrem Umfeld das Maß.
Ohne ein Wort verdeutlicht die GemessenheitGemessenheit der Bewegung die kulturellen, moralischen und ästhetischen Gehalte des Augenblicks und, ebendamit, die Performativität des Maßes: dass es die Situation, der es sich einfügt, doch zugleich auch hervorbringt, sie festigt und fügt. Wer in gewissen Augenblicken gemessenen Schrittes geht, hält nicht lediglich abstrakte VorschriftenVorschrift und Regeln ein, die ihm sagen, was sich gehört und in diesem Augenblick zu tun ist; eine solche Person fädelt sich zwanglos ein, zeigt sich als Teil des Geschehens und gestaltet es allein durch die Art, wie sie geht, an ihrer Stelle mit.
Kleines Karo –