Die vergangenen Tage auf Leden Hall - Susann Anders - E-Book

Die vergangenen Tage auf Leden Hall E-Book

Susann Anders

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Beschreibung

Im Oktober 1932 wird das kleine Waisenmädchen Alice als Dienstmädchen im Haus der wohlhabenden Familie Bell auf Leden Hall aufgenommen. Sie arbeitet hart, um sich ihre Bleibe zu erarbeiten und mit ihrer einnehmenden Art gewinnt sie auch die Kinder des Hauses für sich. Zwischen dem Sohn und ihr entwickelt sich über die Jahre eine verbotene Liebe, und die beiden schmieden einen Plan, der alles verändern soll.

Etwa fünfzig Jahre später kehrt Marlène in das alte Haus ihrer verstorbenen Großmutter zurück, wo sie über alte Liebesbriefe und einen mysteriösen Siegelring stolpert. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit und reist nach Leden Hall, wo sich mehr als nur ein Geheimnis verbirgt ...

Eine bewegende Geschichte um eine große Liebe und ein noch größeres Familiengeheimnis.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Alice Havering

Marlène Peron

Über die Autorin

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Impressum

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Über dieses Buch

Im Oktober 1932 wird das kleine Waisenmädchen Alice als Dienstmädchen im Haus der wohlhabenden Familie Bell auf Leden Hall aufgenommen. Sie arbeitet hart, um sich ihre Bleibe dort zu erarbeiten, aber mit ihrer einnehmenden Art gewinnt sie auch die Kinder des Hauses für sich. Zwischen dem Sohn und ihr entwickelt sich über die Jahre eine verbotene Liebe, und die beiden schmieden einen Plan, der alles verändern soll.

Etwa fünfzig Jahre später kehrt Marlène in das alte Haus ihrer verstorbenen Großmutter zurück, wo sie über alte Liebesbriefe und einen mysteriösen Siegelring stolpert. Sie macht sich auf die Suche nach der Wahrheit und reist nach Leden Hall, wo sich mehr als nur ein Geheimnis verbirgt...

Susann Anders

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

Marlène Peron

Umgeben von entfernten Motorengeräuschen, klappernden Stöckelschuhen, weinenden Kindern und schimpfenden Müttern saß Marlène mit ihrem Freund Florel an einem Tisch vor dem Le Broc Café. Eine rote Tulpe zierte die Mitte des runden Tischchens und sollte den Charme des Frühsommers in der Normandie unterstreichen. Marlène störte der Trubel um sie herum wenig. Sie liebte dieses Café, vielleicht sogar wegen der regen Betriebsamkeit, die die Atmosphäre erfrischte wie ein sanfter Frühlingswind. Die Sonne schien so strahlend vom Himmel, dass Marlène trotz der überdimensionalen Sonnenbrille die Frühstückskarte nur mit zusammengekniffenen Augen durchschmökern konnte.

Florel saß ihr gegenüber und beobachtete sie zufrieden. Marlène spürte seine Blicke, fühlte sich ertappt. Sie wusste, wie sehr er es liebte, wenn sie beim Lesen ihre Lippen lautlos bewegte. »Wie ein Schulkind bei seinen ersten Buchstabierversuchen«, hatte er sie schon mehrmals geneckt.

Mit einem Griff nahm sie die Sonnenbrille ab und wollte Florel mit gestrenger Miene strafen. Als dieser eine reumütige Schnute zog, konnte sie nicht anders, als lauthals zu lachen. »Was soll ich nur mit dir machen?«, fragte sie ihn kopfschüttelnd. »Du benimmst dich wie ein ungezogener Junge.«

»Die Frage sollte wohl lauten: Was würdest du ohne diesen ungezogenen Jungen machen?« Florel griff über den Tisch und nahm Marlènes zierliche Hand.

Er hatte recht. Seit sie einander vor einem Jahr begegnet waren, war sie förmlich aufgeblüht. Seine Liebe fühlte sich an wie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Entspannt lehnte sie sich zurück in ihren Stuhl und versteckte sich hinter der Speisekarte, um ungestört wählen zu können. Mit einer Hand nestelte sie an ihrem weißen Spaghettiträgershirt, das sie angezogen hatte, um die winterliche Blässe ihrer Schultern vom ersten zartbraunen Teint überziehen zu lassen.

»Die Sonne scheint heute nur für dich, mein Geburtstagskind«, sagte er feierlich und kramte in seiner Ledertasche.

Vermutlich nach seinem Geschenk, dachte Marlène und richtete sich in dem klapprigen Plastikstuhl auf. Sie rückte näher zu Florel und versuchte schielend, den Inhalt der Tasche auszumachen.

»Na, na, wer wird denn da?« Florel wehrte sie ab und gab ihr einen scherzhaft gemeinten Klaps auf den Handrücken.

»Was hast du da?«, fragte Marlène und schmiegte sich dabei an seine Schulter. Eigentlich war es ihr egal, was er hervorkramen würde, das Schönste war, dass sie diesen Tag gemeinsam verbrachten.

Liebevoll richtete Florel die leicht zerknautschte Schleife auf dem Päckchen und hielt es ihr dann freudestrahlend entgegen. »Das ist für dich«, sagte er aufgeregt.

Ihre Neugierde war so groß, dass sie ihm das Geschenk am liebsten aus der Hand gerissen, das Band achtlos abgenommen und das Papier eiligst in Fetzen zu Boden geworfen hätte. Doch Marlène wusste, wie viel Liebe in dem Präsent steckte. Sie durfte diesen Augenblick nicht zerstören, es war nicht nur ihrer, sondern auch Florels.

Während sie mit ihren frisch lackierten dunkelroten Fingernägeln den Tixostreifen vom fliederfarbenen Papier löste, ruhte der Blick seiner grünen Augen nervös auf jedem ihrer Handgriffe. »Ich hoffe, es gefällt dir, mein Lenchen«, sagte er beinahe im Flüsterton, um sie nicht zu stören.

Marlène lächelte, wie immer, wenn er ihr diesen Kosenamen gab. Das Geschenkpapier geöffnet, hielt sie ein Schmucketui in den Händen. Kurz zögerte sie. Dann öffnete sie es behutsam, als könnte es jeden Moment explodieren.

»Keine Bange, mach es ruhig auf, es ist kein Verlobungsring«, versicherte Florel.

»Puh, da habe ich aber Glück gehabt«, log sie und war froh über ihre Sonnengläser, die ihren enttäuschten Blick verbargen. Teils traurig, teils erleichtert hob Marlène den Deckel ab und nahm den Inhalt vorsichtig zwischen die Finger. Eine gewundene Acht – das Zeichen der Unendlichkeit – schlang sich zart um den massiven silbernen Ring. Dort, wo sich das Symbol schloss, rankten sich ihrer beider Initialen ineinander.

»Marlène und Florel ... für immer«, sagte er und strich mit einer Hand zärtlich über ihren Unterarm.

»Er ist ...« Ihr stockte der Atem. »Er ist mehr, als ich mir je erträumt hatte. Florel!« Sie fiel ihm um den Hals.

»Komm, ich helfe dir.« Er schob den Ring zaghaft auf ihren schlanken Finger. Fast fühlte es sich für Marlène an, als hätte sie eben doch einen Heiratsantrag bekommen und ihr Verlobter würde den Bund mit dem Schmuckstück besiegeln.

»Hier haben wir uns kennengelernt, weißt du noch? Genau an diesem Tisch hast du gesessen«, erinnerte sich Florel.

»Du hast hier gekellnert und mir den schaumigsten Kaffee Latte aller Zeiten serviert«, ergänzte Marlène.

»Mit Schokostreuseln obendrauf.«

»Ja, die machten ihn erst perfekt.« Marlène schmunzelte und küsste Florel auf die Wange. Sie mochte den Duft seiner Haut und das raue Gefühl seines Zweitagebartes. Wie von selbst schloss sie die Augen und verweilte einen Moment. Die Sonne schien warm auf ihren Körper, ihr Freund liebte sie und sie hatte Geburtstag – ja, alles war vollkommen.

Sie rückte wieder zurück auf ihren Platz und behielt Florel im Blickfeld. Der schlürfte an seinem Mokka, sein fülliges, braunes Haar glänzte im Sonnenlicht, die Kleidung war wie gewohnt chaotisch zusammengewürfelt, passte aber zu ihm. Er war eben ein Künstler. Der Ring war das erste Schmuckstück, das er für sie mit eigenen Händen gefertigt hatte, und gerade deshalb würde sie ihn stets tragen – damit sie nicht vergaß, wie glücklich sie an diesem Tag gewesen war.

Wenn es nur für immer so bliebe, dachte sie beinahe wehmütig und blickte über die belebte Rue Ecuyere, wissend, dass es nicht so bleiben konnte.

»Komm, machen wir uns auf den Weg.« Seine raue Stimme rüttelte sie aus ihren Gedanken.

»Weg? Wohin?«

Florel schüttelte den Kopf und verdrehte dabei die Augen. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie aus ihrem Sessel hoch. »Du hast heute Geburtstag. Willst du den ganzen Tag hier in diesem heruntergekommenen Café sitzen?«, fragte er und ignorierte die verärgerten Bemerkungen des Kellners hinter sich.

Eng umschlungen spazierten sie durch die Rue Bertauld. Vorbei an der Bäckerei Admont Jérôme, aus der es wie immer herrlich nach frischem Gebäck duftete. Vorbei an der Schusterwerkstatt, aus der man das leise Hämmern des Meisters hörte. Und vorbei an dem Salon Alain, aus dem man neben den aufdringlichen Föhngeräuschen lebhaftes Stimmengewirr und Gelächter vernahm.

Florel öffnete die Tür seines Wagens und lud Marlène mit einer Handbewegung ein, einzusteigen.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte sie und hob ihren knöchellangen Rock an, um in dem türkisfarbenen Renault Platz zu nehmen.

Florel beantwortete ihre Frage mit einem lockeren Schulterzucken und schloss vorsichtig die Tür seines geliebten Oldtimers.

Während der Fahrt schwiegen sie, genossen die Sonne, die durch die Fenster wärmte, horchten Radio und hingen ihren Gedanken nach. Immer wieder fiel Marlènes Blick auf ihren Ring, und sie wünschte sich dabei von Herzen, dass dieser Tag nie endete. Sie wünschte sich, dass die Realität, in der Paare streiten, einander betrügen und verlassen, noch lange ausgesperrt bliebe aus ihrer Seifenblase, in der es nur sie und Florel gab.

Je länger sie fuhren, desto seltsamer wurde ihr zumute. Die Gegend kam ihr zunehmend bekannt vor. Auch wenn sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war, löste der salzige Geruch des Ozeans ein Gefühl von Heimat in ihr aus. »Wo fahren wir hin?«, fragte sie verunsichert.

Als sie das letzte Dörfchen vor der Küste hinter sich gelassen hatten, und Marlène Gewissheit hatte, wo die Fahrt enden würde, fühlte sie sich in einen Zustand angenehmer Aufregung versetzt. Seit dem Tod ihrer Großmutter vor siebzehn Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Doch hatte sie die Sehnsucht nach dem kleinen Haus, dem alten Rosengarten, den Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit nie völlig losgelassen.

Marlène schloss die Augen. Sie konnte kaum glauben, welches Wiedersehen ihr unmittelbar bevorstand. Sie hatte das Zuhause ihrer Großmutter geliebt. In fast jedem Zimmer gab es einen geheimen Winkel, eine Kommode mit unzähligen Schätzen, verstaubte Bilder, knarrende Sessel, unheimliche Schatten, den Duft nach Lavendelwasser und frisch gebleichten Leintüchern. Marlène erinnerte sich an das herzhafte Lachen ihrer Mamie, die weichen Falten um den Mund, den ordentliche Haarknoten, die sauber gebügelten Blusen, die warmen Hände, die sie stets voller Freude empfangen hatten.

Mit einem Seufzer öffnete Marlène die Augen und sah das Häuschen am Horizont. Verlassen. Einsam. Baufällig. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte ihren Brustkorb. Das war also der Rest ihrer Erinnerungen? Ein trauriger Rest, wie sie sich eingestehen musste.

»Komm, steig aus!« Florel öffnete ihr die Autotür.

Sie wollte ihm nicht zeigen, wie betrübt sie der Anblick des alten Hauses stimmte. Er hatte sich so bemüht, wollte ihr eine Freude machen und sie an ihrem Geburtstag in ihre Kindheit entführen. Marlène holte tief Luft, setzte ein gespieltes Lächeln auf, stieg aus und ging auf das Haus zu. Fast war ihr, als müsste ihre Großmutter jeden Moment die Tür öffnen und sie zu sich winken. »Warum wohnt hier niemand?«, fragte sie verwundert. »Ich dachte, das Haus wäre wieder vermietet worden.«

»Wurde es nicht. Die Besitzer hielten es wohl nicht für nötig, das Gebäude in Schuss zu halten und weiterhin zu vermieten«, antwortete Florel gegen den Wind, der vom Meer heraufstrich und ihnen kräftig durch Haar und Kleidung wirbelte.

»Warum sollte jemand sein Haus derart verkommen lassen wollen? Das ist doch bescheuert. Woher weißt du das überhaupt?«, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie blickte hoch zu den zerbrochenen Fenstern, den fehlenden Schindeln, den Fensterläden, die im Wind auf- und zuschlugen. An der Haustür angekommen, hielt sie inne. »Hier ist noch immer das Namensschild meiner Großmutter«, stellte sie fest und berührte mit den Fingerkuppen sanft die in Kupfer geprägte Schrift. »Alice Havering«, flüsterte sie und fühlte salzige Tränen auf ihren Wangen.

Alice Havering

Dunkle Wolken hingen bedrohlich vom Himmel und schickten schwere Regentropfen auf ihre Reise bis hinab ins offene Grab von Alice’ Mutter. Jeder einzelne trommelte auf den Holzsarg, als wollte er wecken, was nicht mehr zu wecken war.

Nicht so laut, sonst stört ihr Mamas Schlaf, dachte Alice. Ihr graues Kleidchen war vom Regen durchnässt, und ihre Schultern zitterten vor Kälte und Verzweiflung. Sie starrte auf den Sargdeckel, der das ruhende Gesicht der blutleeren Mutter verdeckte, und fragte sich, ob sie die verhängnisvolle Tat hätte verhindern können. Hätte sie mit ihren neun Jahren fühlen müssen, was langsam, aber stetig in den Gedanken ihrer Mutter herangereift war und sich genährt hatte an ihrer tristen Schwermütigkeit? Alice hatte keine Antwort, nur diese schrecklichen Bilder in ihrem Kopf, die in einer Endlosschleife das mit Blut vollgesogene Laken, die aufgeschlitzten Unterarme und den leeren Blick der Mutter zeigten. Und als sie nachdachte über den Tod, das Blut, die Tränen und den schweren Druck auf ihrem Brustkorb, sah sie es vor sich, das Gesicht der Mutter. Da war er wieder, dieser trübe Blick, der sein kaltes Grau aus jeder ihrer Poren auszustrahlen schien. Klar und deutlich sah Alice die Miene vor sich, in der sich die Qualen von Mutters gesamtem Leben spiegelten. Die alleinige Sorge um Geld und Kinder, die heruntergekommene Wohnung, der Hunger, der zur Gewohnheit geworden war, die Hoffnungslosigkeit, weil sich nie etwas ändern würde. Ja, es war die Hoffnungslosigkeit, die sich an Mutter gekrallt, ihr jedes Fünkchen Mut ausgesaugt hatte. Alice wimmerte laut auf, glaubte für einen Moment, die Schwere, die stets auf den Schultern ihrer Mutter gelastet hatte, auf ihren eigenen zu fühlen. Die Last zwang sie beinahe in die Knie. Nur mühsam konnte Alice gegen das bleierne Gefühl ankämpfen. »Nein!«, schluchzte sie energisch und zog die Blicke der wenigen Trauergäste auf sich. Voller Scham senkte sie den Kopf und spann ihre Gedanken leise weiter: Nein, mein Leben wird nicht so enden wie deines, Mama. Mein Leben wird erfüllt sein von Glück, Liebe und Lachen. Für mich werden Vögel zwitschern und Rosen duften. Weder Einsamkeit noch Verzweiflung noch Sorge sollen mich auf meinem Lebensweg streifen.

Der Regen tropfte auf den zu großen schwarzen Hut mit Spitzenaufputz, den ihr die Nachbarin geliehen hatte. Die Wolken zogen schwerfällig über den Himmel. Der Totengräber schaufelte mit lustlosem Blick den Erdhaufen ins offene Grab. Der ältere Bruder Ben neben ihr weinte bitterlich und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.

Alice blickte ungläubig auf den Sarg der Mutter. Gleich wäre er für immer verschwunden von dieser Welt. Alles, was ihr bliebe, wären Erinnerungen an ihre geschundenen Finger, den ausgemergelten Körper und den verhärmten Gesichtsausdruck.

Es war ein kalter Vormittag im Oktober 1932, an dem sich Alice hoch und heilig schwor, glücklich zu werden und nicht so zu enden wie ihre Mutter.

Eine Krähe thronte laut krächzend über ihr auf der alten Eiche, und Alice nahm die Schreie des Vogels als Mahnung, ihren Schwur ernst zu nehmen.

»Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte Ben und riss sie damit aus ihren Gedanken.

Wortlos nickend schloss sie sich ihrem Bruder an und wandte sich nach einem letzten Blick vom Grab der Mutter ab.

Schweigsam verließen sie das unscheinbare Waldstück hinter dem Friedhof auf dem Cowgate Hill, auf dem der Priester die Bestattung ihrer Mutter gestattet hatte. Gesenkten Hauptes stapften sie zurück in ihre Wohnung in der Folkstone Road. Sie waren erleichtert, dass sie aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse kaum jemanden auf den Straßen antrafen und von mitleidigen Blicken weitestgehend verschont blieben. Schließlich hatte sich der Tratsch um den Selbstmord rasch verselbstständigt und war bereits in aller Munde. Nur eines war dabei völlig in Vergessenheit geraten: Alice und Ben, die ab sofort sich selbst überlassen waren.

»Wir schaffen das schon«, ermutigte Ben sie und legte fürsorglich den Arm um ihre Schulter, als sie mutlos vor ihrer Tür standen und es kaum wagten, einen Schritt in die verwaisten Zimmer zu setzen.

»Da seid ihr ja«, meinte der Vermieter mit harscher Stimme.

»Was macht er in unserer Wohnung?«, flüsterte Alice Ben zu und wischte sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Was er hier macht, willst du wissen?« Der große, grauhaarige Mann kam auf sie zu und beugte sich bedrohlich zu ihnen herab. »Er ist auf der Suche nach dem Geld, das ihm eure Mutter noch schuldet.« Der Gestank aus dem Mund des Alten war ebenso widerlich wie die vergammelten Reste seiner Zähne.

Alice sah sich gezwungen, eine Hand schützend vor ihre Nase zu halten, wenn sie sich nicht mitten im Flur übergeben wollte. Ben stellte sich mit breiten Schultern vor sie und versuchte, sich zu behaupten.

»Ihr verlasst noch heute mein Eigentum, hört ihr? Ihr habt meine Wohnung schon viel zu lange mit eurer erbärmlichen Anwesenheit versifft.«

Die Worte des Vermieters trafen Alice hart – da half selbst die schützende Gebärde Bens nichts, der sich vor ihr zu seiner vollen Größe aufgebäumt hatte.

»Was willst du halbe Portion?«, fauchte der Alte hämisch und gab Ben einen groben Klaps auf den Hinterkopf. »Geht einfach, bevor ich mich vergess.« Er wies ihnen den Weg zum Ausgang.

»Aber unsere Sachen«, wimmerte Alice und fühlte Tränen über ihre Wangen perlen.

»Es gibt hier nichts, das euch gehört«, zischte er und ballte die Fäuste zu einer drohenden Geste.

Alice kämpfte gegen das Gefühl ihrer Wut an und zeigte sich gespielt freundlich. »Wenigstens unsere Kleider müssen Sie uns lassen!«, flehte sie.

Der Vermieter schien einen Augenblick zu überlegen, dann strich er über sein unrasiertes Kinn und verneinte. »Geht jetzt! Sofort!« Mit diesen Worten schob er sie mühelos zur Tür hinaus.

»Bitte, haben Sie Erbarmen mit uns!«, wimmerte Ben und kämpfte gegen die klobigen Hände an.

»Erbarmen? Dass ich nicht lache.«

Ben bebte am ganzen Körper und sein Gesicht strahlte eine Zorneskälte aus, wie Alice sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er ballte seine Fäuste und öffnete den Mund. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, war die Tür hinter ihm krachend ins Schloss gefallen und überließ ihn und Alice im finsteren Flur ihrem Schicksal.

»Wir finden schon eine Bleibe für heut Nacht«, tröstete Ben sie, nahm sie an der Hand und verließ mit hängenden Schultern das Haus. Alice schluchzte und schniefte verzweifelt vor sich hin.

»Mein Teddy«, wimmerte sie und schloss ihre Augen fest vor der Wahrheit.

Unvermittelt blieb Ben stehen und kniete sich vor Alice, nahm sie an beiden Händen und schluckte. »Wir werden einen anderen Teddy für dich finden, das verspreche ich dir.« Bens Stimme zitterte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Alice wusste, dass er es nur gut mit ihr meinte, dennoch konnte sie sich nicht beruhigen. Der heutige Tag hatte ein hartes Urteil über ihre gesamte Zukunft gefällt. Nicht nur, dass sie ihre Mutter zu Grabe getragen hatten, mit ihrer Wohnung hatten sie ihre gesamte Habe verloren.

»Ich will nur meinen Teddy«, schluchzte Alice. Und während sie mit dem Ärmel ihrer zerschlissenen Jacke die Wangen trocken wischte, dachte sie daran, dass ihr Leben nun genauso grau und bedrohlich war wie die Wolken, die unheilvoll über ihrem Kopf dahinzogen. Es war ein kalter Abend, der Alice frösteln ließ. Und insgeheim wusste sie, dass es noch kälter werden würde.

»Dein Teddy? Es tut mir leid, aber ...« Ben brach den Satz ab und blickte sie mit seinen großen haselnussbraunen Augen an. Dann senkte er sein Haupt und legte seine Stirn in tiefe Falten. »Warte hier!«, befahl er Alice und bedachte sie mit einem strengen Blick, bevor er zurück ins Haus eilte.

Wie versteinert verharrte Alice vor dem Treppenportal und beobachtete ihren Bruder, der stürmenden Schrittes durch die Haustür schlüpfte. Sie wagte es kaum zu atmen, starrte gebannt auf die Tür und hoffte, dass sie Ben erneut zum Vorschein bringen möge. Nun war sie ganz allein. »Ben?«, hauchte sie und rieb sich fröstelnd beide Oberarme. »Ben!«, rief Alice ein weiteres Mal und blickte verstohlen hinter sich in die menschenleere Straße. Langsam erwachte sie aus ihrer Starre und tappte zur Eingangstreppe. Vorsichtig öffnete sie die Tür und lauschte. Etwas entfernt hörte sie eine grölende Männerstimme und gedämpftes Poltern.

»Ben?«, fragte Alice ängstlich in das vereinsamte Treppenhaus, das ihr noch nie größer erschienen war als in diesem Augenblick.

»Schnell, raus hier!« Ben rannte die Treppen herunter und übersprang in seiner Hast jeweils eine Stufe. »Komm schon!« Er packte sie am Handgelenk und zerrte sie hinter sich her.

»Wenn ich dich erwisch!«, brüllte der Vermieter vom ersten Stockwerk herab.

Alice drehte sich um und blickte in sein zornentbranntes Gesicht. Seine Hände hielt er zu Fäusten geballt in die Luft und drohte den beiden. »Diebe seid ihr! Ins Gefängnis gehört ihr! Verbrecher!«

Ben reagierte nicht auf die Vorwürfe, die mit jedem gelaufenen Schritt an Kraft verloren. Beide keuchten sie vor Anstrengung und Aufregung, dennoch behielten sie ihr Tempo bei. Rannten vorbei an den Nachbarhäusern, deren Dächer bedrohlich auf sie herablugten, und vorbei am Bäckerladen an der Ecke, aus dem es wie immer nach frischem Brot roch. Sie drosselten ihr Tempo nicht, rannten davon vor dem Elend und jeder Sorge um die nahende Zukunft. Ben hielt erst inne, als Alice über einen hervorstehenden Pflasterstein stolperte und schreiend zu Boden stürzte.

»Alice, hast du dich verletzt?«, fragte er nach Luft ringend. Sein Gesicht war erhitzt und auf der Stirn standen kleine Schweißperlen.

»Ja. Nein. Es ist alles in Ordnung.«

»Lass mich sehen.« Mit zitternden Fingern schob er ihren Rock hoch und untersuchte ihre Knie nach Schürfwunden. Dann drehte er ihre Handflächen nach oben und begutachtete beide sorgfältig. Zum Schluss hob er mit einem Finger ihr Kinn an und besah mit sorgenvoller Miene ihr Gesicht.

»Ben, warum bist du vor dem Vermieter davongelaufen?«, fragte sie und wischte sich mit ihren kleinen Händen die blonden Strähnen aus der Stirn.

»Weil ...« Ben schluckte und hielt Alice ihren Teddy unter die Nase. Ihr Herz überschlug sich vor Freude, als sie nach dem geliebten Kuscheltier griff und es achtsam hin- und herwiegte.

»Das war eine gute Idee, oder?«, fragte Ben und zwinkerte Alice ermutigend zu.

»Die beste!«, versicherte sie und seufzte erleichtert auf.

In diesem kostbaren Augenblick hatten sie nicht nur den Vermieter vergessen, sondern auch die Tatsache, dass es dämmerte und es ungewiss war, wo sie die Nacht zubringen sollten.

Marlène Peron

»Woher weißt du, dass hier nie wieder jemand gewohnt hat?«, wiederholte Marlène ihre Frage, löste ihren Griff vom Namensschild an der Haustür und ging um das Gebäude herum. Ihre Hände strichen dabei so sanft über den rissigen Anstrich, als könnte allein die Berührung Erinnerungen aus der Kindheit wachrufen. Marlène hatte das Gefühl, nach einer Ewigkeit endlich zu Hause anzukommen und dass das alte Haus mit den blauen Fensterläden sie freudig in Empfang nähme. »Marlène«, schien es zu flüstern, »wo bist du so lange gewesen?«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Marlène und lehnte sich sehnsüchtig an das von der Sonne leicht gewärmte Gemäuer. »Jetzt bin ich ja hier«, flüsterte sie mit geschlossenen Augen.

»Mit wem sprichst du?« Florel stand neben ihr und starrte fragend auf ihr blondes Haar, das in der Nachmittagssonne golden glänzte.

»Mit niemandem«, versicherte sie und drehte sich zu ihm. »Ich hatte keine Ahnung, wie sehr ich dieses Haus vermisst habe.« Marlène bedeckte Florels Wangen mit zärtlichen Küssen und schmiegte sich eng an ihn.

»Komm mit, ich zeig dir etwas.« Hastig griff sie nach seiner Hand und rannte los. Mit einem Mal fühlte sie wieder die Leichtigkeit eines Kindes in sich aufflammen. Zielstrebig eilte sie an der Hauswand entlang, dann weiter, über die saftig grüne Wiese, die im Wind wogte. Sie lachte laut auf, als das Gras sie an den Waden kitzelte. Ihre Hand umschloss mit festem Druck die von Florel, der Mühe hatte, ihr zu folgen. Erst nach einer Weile blieb sie atemlos am nahe gelegenen Felsenriff stehen, das in einer geformten Spitze das Festland ins Meer enden ließ. Sehnsüchtig glitt ihr Blick über die sanften Wellen, die tiefblau ans Riff spülten.

»Hier«, rief sie nach Luft ringend. »Hier haben meine Mamie und ich oft stundenlang gesessen und das Spiel des Wassers bewundert. Wir brauchten nur das zum Glücklichsein: uns beide und die Unendlichkeit des Meeres.« Marlène ließ Florels Hand los und strich sich das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht.

»Großmutter hat gesagt: ›Wenn man genau hinsieht, dann findet man am anderen Ufer des Ärmelkanals sein Glück.‹«

»Was hat sie damit gemeint?«, fragte Florel, schärfte seinen Blick und folgte ihrem Fingerzeig.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie enttäuscht. »Ich habe sie nie danach gefragt. Leider.« Mit einem tiefen Seufzer verfolgte sie das Spiel der sanften Wellen. »Bei klarem Wetter kann man die Kreidefelsen von Dover erkennen. Die Aussicht ist spektakulär«, fuhr sie fort und machte eine ausschweifende Handbewegung mit ihrer Rechten. »Na ja, bei leicht trübem Wetter wie heute braucht man dazu die Augen eines Luchses – oder ein Fernglas.« Marlène zwinkerte Florel zu und ließ sich von ihm umarmen. »Das ist der schönste Geburtstag überhaupt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wie bist du nur auf die Idee gekommen, hierherzufahren?«

»Wir sind hier, weil du diesen Ort liebst. Und weil du hierhergehörst.« Florel schlang seine Arme fest um Marlènes schmale Taille.

»Was meinst du damit?«, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.

»Dass wir das Haus kaufen können, wenn du es willst. Das meine ich damit.«

Marlènes Augen weiteten sich und ihr Herz drohte, sich zu überschlagen. Florels Mund umspielte ein spitzbübisches Lächeln. »Dass wir hier leben sollten, meine ich. Und dass wir hier eine Familie gründen könnten, meine ich.« Er strich mit beiden Händen sanft über ihre Oberarme und schmunzelte sie zärtlich an. »Mein liebstes Lenchen, das ist die Erfüllung unserer Träume.«

Mit einem Mal fühlte sich Marlène unsicher. »Von so einem Traum haben wir nie gesprochen.«

»Aber Lenchen, über Träume spricht man nicht, die lebt man.« Er strich ihr zärtlich durch das kinnlange Haar.

»Wie stellst du dir das vor? Wir können doch nicht von heute auf morgen Caen verlassen. Dort haben wir Freunde, Arbeit, Wohnung und überhaupt alles.«

»Und dennoch schlägt dein Herz nur hier an diesem besonderen Ort höher. Du hättest dich sehen müssen, als du vorhin am Haus der Großmutter standest – deine Sehnsucht nach diesem Ort, die endlich gestillt wurde. Caen ist nicht aus der Welt.« Liebevoll strich er über ihre erhitzten Wangen, legte den Kopf schief, während er versuchte, ihren Blick zu lesen. In Marlènes Kopf überschlugen sich die Gedanken und Bilder. Und während das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, immer mächtiger wurde, löste sich Florels Berührung, und sie wich einen Schritt zurück.

»Das ist das Wunderbarste, das je ein Mann für mich gemacht hat. Wirklich!« Marlène rang nach den richtigen Worten. Auf keinen Fall wollte sie ihn verletzen.

»Aber? Geht es dir zu schnell? Du musst dich nicht heute entscheiden, das würde ich nie von dir verlangen.« Florels Stimme war ruhig und bestimmt. Weder in seinem Gesicht noch in seiner Haltung lag Gram, dennoch wich auch er einen Schritt zurück. »Komm, lass uns wieder fahren«, schlug er vor und reichte ihr die Hand.

Marlène zögerte. Sie fühlte sich zerrissen, und das nicht nur wegen des überraschenden Vorschlages, den ihr Florel unterbreitet hatte. Sie dachte an die Worte ihrer Mama, die sie genau vor so einer überstürzten Entscheidung gewarnt hatte. »Er bedrängt dich. Er raubt dir jeden Freiraum«, so das Gezeter der Mutter. »Ständig umgarnt er dich mit seiner Nähe und nimmt dir die Luft zum Atmen. Er saugt dich aus, und wenn er sein Ziel erreicht hat, dann lässt er dich fallen und verschwindet für immer. So war schon dein Vater, und so erging es auch deiner Großmutter. Die Männer bringen uns nur Unglück. Selbst deine Urgroßmutter nahm sich das Leben, weil ihr Gatte eine einzige Enttäuschung war. Wir Havering-Frauen sind nicht für die große Liebe geboren, damit solltest du dich abfinden.«

Bislang hatte Marlène versucht, die harschen Worte ihrer Mutter zu verdrängen, aber heute befürchtete sie zum ersten Mal, dass sie recht haben könnte. Was, wenn sie ihre gesamte Existenz für ihn aufgab und er sie dann im Stich ließ? Warum nur kam er auf die Idee, sie in eine solche Zwickmühle zu bringen? Noch nie in den zwei Jahren ihrer Beziehung hatten sie davon gesprochen, hier an die Küste zu ziehen. Freilich war der Gedanke an ein Leben am Meer ergreifend, dennoch wollte sie in derart wichtige Entscheidungen eingebunden werden.

Und nun stand er vor ihr und wagte es kaum, sie anzublicken. Er kaute verlegen an seinen Lippen, während seine Augen von einem bedrückten Ausdruck umspielt wurden. Gerne hätte sie ihn umarmt, ihm gesagt, dass sie ihn liebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Leben an seiner Seite. Es brach ihr das Herz, ihn enttäuscht zu sehen, dennoch konnte sie sich zu diesem Schritt nicht überwinden. Eine Nacht darüber schlafen, dachte sie bei sich und versuchte, den dicken Kloß in ihrem Hals zu ignorieren.

»Ja, lass uns fahren«, sagte Marlène und ergriff nach kurzem Zögern Florels Hand. Sie fühlte sich warm an und gab ihr wie immer ein Gefühl von Geborgenheit. Mit ihrem Daumen strich sie sanft über seinen Handrücken und lächelte ihm verhalten zu. Bei jedem Schritt, der sie dem Haus näher brachte, fühlte sie einen ungeahnten Frieden aufsteigen. Sie schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers. Der ewige Wind fuhr ihr durch das Haar, als wollte er sie festhalten und ihr sagen, dass hier ihr Platz war.

Zurück beim Haus hielt Marlène inne. Wieder betastete sie die weiß getünchte Mauer und spürte dabei die Energie dieses Ortes durch ihren Körper pulsieren.

»Es war eine dumme Idee, hierherzukommen!«, hauchte ihr Florel ins Ohr und drückte zärtlich ihre Hand.

»Woher willst du eigentlich wissen, dass es zum Verkauf steht?« Marlène drehte sich um und blickte Florel an.

Der lächelte geheimnisvoll, griff in die ausgebeulte Jackentasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. »Keine Bange, den haben wir nur leihweise, um uns einen Überblick zu verschaffen.«

»Wir können hinein? Jetzt?« Marlène fühlte eine kindliche Neugierde in sich aufsteigen.

»Ja«, antwortete Florel langgezogen und ließ den Schlüssel vor ihrer Nase klimpern.

»Na, dann los!« Marlène wollte nach dem Türschlüssel greifen, doch Florel zog seine Hand hoch. So sehr sie sich auch streckte, sie konnte ihn nicht zu fassen kriegen und ärgerte sich über den Größenunterschied zwischen ihnen beiden. »Du bist einfach ein tölpelhafter Riese«, fauchte sie und klopfte ihm gespielt erbost auf den Brustkorb.

»Der Besitzer hat den Schlüssel mir anvertraut – und bestimmt nicht einer schusseligen Tagträumerin, die alles verlegt und nicht mehr findet.« Florel lachte über ihren aufgesetzt finsteren Blick und den Schmollmund.

»Na komm, gehen wir«, meinte er und legte den Arm um ihre Schulter.

Es war ein seltsamer Moment für Marlène, als sie Florel dabei zusah, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte. Das Schlüsselloch war von Rost zerfressen. Marlène bangte, ob sich die Tür überhaupt noch öffnen ließ. Ein knackendes Geräusch gab ihnen Gewissheit, dass das Haus ihnen Eintritt gewährte.