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Neuhaus am Inn, 1940: Die junge Therese findet sich in einer unglücklichen Ehe mit dem alten Witwer Anton wieder, in die sie von ihren Eltern gedrängt wurde. Ihre einzigen Glücksmomente erlebt sie auf dem Bauernhof ihrer besten Freundin, wo sie Zuflucht sucht. Doch dann begegnet sie Maurice, einem französischen Kriegsgefangenen, und alles ändert sich. In seiner Gegenwart erwacht ihr Herz zu neuem Leben, und Therese erkennt, dass sie für ihr Schicksal und ihre wahre Liebe kämpfen muss ...
"Zärtlichkeit der Stille" basiert auf einer wahren Begebenheit und erzählt die bewegende Geschichte einer verbotenen Liebe, die sich gegen alle Widerstände durchsetzt.
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»Der gefühlvolle Schreibstil hat mich von der ersten Zeile an gefangen genommen. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen. Fazit: gefühlvoll, einfühlsam und unterhaltsam.« (Helgas Bücherparadies)
»Ganz besonderer Schreibstil und eine bewegende Geschichte. Nur zu empfehlen!« (Kristall86, Lovelybooks)
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Seitenzahl: 301
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
1. Die Hand meiner Mutter
2. Lautlose Schreie
3. Ein unerwartetes Geständnis
4. Erdrückende Stille
5. Petersilie und Beifuß
6. Das Lied zweier Herzen
7. Über den Genuss von Schnecken
8. Zwischen Herz und Verstand
9. Ein Gefühl von Heimat
10. Ohnmacht
11. Der schwerste Gang
12. Ein Paar Schuhe
13. Die Reste einer Ehe
14. Eisblumen
15. So weit wie der Ozean
16. Sturm zieht auf
17. Die Liebe zweier Väter
18. Dunkle Kälte
19. Elsies Kuscheltier
20. Ungesagte Worte
21. Rotz und Schleim
22. Neue Pläne
23. Die unaussprechliche Wahrheit
24. Aufbruch
25. Der Kreis schließt sich
26. Das Rauschen des Inns
Anmerkungen
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Neuhaus am Inn, 1940: Die junge Therese findet sich in einer unglücklichen Ehe mit dem alten Witwer Anton wieder, in die sie von ihren Eltern gedrängt wird. Ihre einzigen Glücksmomente erlebt sie auf dem Bauernhof ihrer besten Freundin, wo sie Zuflucht findet. Doch dann begegnet sie Maurice, einem französischen Kriegsgefangenen, und alles ändert sich. In seiner Gegenwart erwacht ihr Herz zu neuem Leben und Therese erkennt, dass sie für ihr Schicksal und ihre wahre Liebe kämpfen muss...
»Zärtlichkeit der Stille« basiert auf einer wahren Begebenheit und erzählt die bewegende Geschichte einer verbotenen Liebe, die sich gegen alle Widerstände durchsetzt.
Susann Anders
Zärtlichkeit der Stille
Stille.
Absolute Stille.
Kein Wind, der die Blätter flüstern lässt.
Der Fluss zu meinen Füßen strömt lautlos vor sich hin.
Und die Sterne am Himmel schweigen mit mir.
Alles ist verstummt.
Für mich.
Um mich nicht in meiner Trauer zu stören.
Leise.
So leise, wie meine Tränen.
Grenzenlose Stille, die mich umhüllt,
Die ich einatme und zu einem Teil von mir werden lasse.
Könnte ich mich nur für immer in ihr vergessen.
Dürfte ich doch nur ewig hier verweilen.
Kein Morgen. Nur dieser endlos währende Abend der Stille.
Allein.
Nur ich und diese unsagbare Lautlosigkeit.
Neuhaus am Inn im September 1940
Es war ein unangenehm kühler Abend, an dem die Stille in meiner Seele Einzug hielt. Am Flussufer sitzend beobachtete ich die Nebelschleier, die mit dem Wasser an mir vorbeizogen – langsam und andächtig, als hätten sie sich einem Trauermarsch angeschlossen. Meine Blicke hafteten an den weißen Schwaden und folgten ihrer trägen Prozession, bis sie von der Ferne verschluckt wurden. Mit dürren Armen krallten sich Nebelfetzen an meinen Waden fest, krochen an mir hoch, bis sie mein Herz für sich eingenommen hatten. Eisig und grausam. Die Kälte wetteiferte mit der Düsternis des Abends und breitete sich erschreckend schnell aus. Niemand sonst war zu dieser Uhrzeit draußen, alle saßen bei Kerzenschein in ihren Stuben und gingen ihren alltäglichen Arbeiten nach. Nur ich suchte die Einsamkeit, um meine Gedanken zu reinigen und das Unbegreifliche zu realisieren.
Es war der Abend vor meiner Hochzeit mit Anton. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, dass diese Verbindung nicht zustande käme, dass sich ihre Androhung auflösen würde wie die Nebelschwaden im Sonnenlicht. Vermutlich hätte ich weglaufen sollen oder gegen den Willen meines Vaters ankämpfen. Bestimmt hätte es Möglichkeiten gegeben, aber ich hatte beschlossen, voller Angst der Heirat mit dem viel zu alten Anton zu harren und mir ein Wunder herbeizusehnen.
Hoffen und beten – mehr blieb mir nicht übrig.
Ich betete also um ein Wunder, das nicht eintrat. Wunder gibt es nicht, sie sind pure Erfindung, um unseren Geist an der Hoffnung wachsen zu lassen. Und die Hoffnung selbst ist ein grausames Spiel, bei dem man nur verlieren kann.
Ich zumindest habe verloren.
Der nächste Tag kam, meine Mutter weckte mich, polterte, ohne anzuklopfen, in meine Kammer, zog mir die Decke vom Leib und tätschelte meinen Oberarm. So hatte sie mich schon als kleines Schulmädchen geweckt. Ehe ich wusste, wie mir geschah, zog sie mich an beiden Händen aus dem Bett und half mir beim Ankleiden. Es war ein liebloses Ritual, das eine lieblose Ehe einläuten sollte. Während sie murmelnd auf mich einredete, verharrte ich in einer Schockstarre, in der ich alles über mich ergehen ließ. In Feinarbeit schloss sie die unzähligen Knöpfe am Rücken und wies mich an, mich an die Kommode zu setzen. Dabei tat sie, als sähe sie meine Tränen nicht.
Bewegungslos und starr blickte ich in den ovalen Spiegel, der vor mir auf der Anrichte stand. Die Oberfläche war rissig und trüb – ebenso wie mein Lebensmut. Was ich darin sah, war ein Häuflein Elend und hatte nichts zu tun mit der lebenslustigen Frau, die ich bis vor ein paar Wochen gewesen war. Meine sonst so rosige Haut war erblasst, meine blauen Augen untermalt von dunklen Augenringen, meine Lippen wirkten schmal und kalt. Sogar mein Haar, das für gewöhnlich in sanften Wellen mein Gesicht umrahmte, hatte an diesem Morgen seinen Glanz verloren und hing kraftlos über meine Schultern.
Während Mutter sich an einer Steckfrisur versuchte, fiel es mir immer schwerer zu atmen, ohne zu schluchzen. Ich war hin- und hergerissen. Zum einen wollte ich stark sein und meinen Kummer für mich behalten. Andererseits sollte Mutter sehen, wie schlecht es mir ging und wie sehr sie sich an mir schuldig gemacht hatte. Sie hatte Verrat an mir begangen, hatte mich im Stich gelassen. Wie konnte sie nur? Was ließ sie in dem Glauben, dass Vater recht daran tat, mich mit dem Mann seiner verstorbenen Schwester Ludmilla zu verheiraten? Vater war schon seit jeher ein herrischer Mensch gewesen, der kein Widerwort duldete. Mutter hatte es gewiss nicht leicht mit ihm. So gut es ging, hatte sie in sämtlichen Meinungsverschiedenheiten für mich Partei ergriffen und seine gefühlsbeladenen Explosionen schweigsam über sich ergehen lassen. Warum also kehrte sie mir den Rücken, wenn ich ihre Stimme am dringendsten benötigte?
Tante Ludmilla war vor etwa einem Jahr gestorben, und ich hatte mich auf Vaters Bitten Onkel Antons angenommen und neben meiner Arbeit als Schneiderin in der Hemdenfabrik mehrmals wöchentlich ein paar Stunden für den Witwer geopfert. Dabei hatte ich für ihn und seinen Sohn Peter den Haushalt geführt und manchmal sogar für die beiden gekocht. Es war mir ein Leichtes gewesen, mich in das geordnete Hauswesen meiner Tante Ludmilla einzufügen. In den Räumen hing auch Monate nach ihrem Tod noch der Duft ihrer zarten Ringelblumenseife und ihrer sanftmütigen Liebe. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Anton am Verlust seiner Frau litt. Abends, wenn er mit seinem Kummer allein war, hielt ich ihm tröstend seine Hand und ließ sie erst wieder los, wenn seine letzten Tränen getrocknet waren.
War es am Ende meine eigene Schuld? Hatte ich den alten Mann dazu ermutigt, mehr in mir zu sehen als eine Haushaltshilfe? Dachte er, er würde in meinem Sinne handeln, wenn er meinen Vater um meine Hand bat? Für die beiden war es schnell beschlossene Sache gewesen, dass eine Heirat zum Wohle aller Beteiligten wäre. Anton hätte wieder eine Frau, die sich um den Haushalt und sein Gefühlsleben kümmerte, Vater hätte einem guten Freund einen Gefallen getan, und ich hätte eine gesicherte Zukunft. Nur meine Gefühle hatte man dabei nicht berücksichtigt.
Es traf mich wie ein Schlag, als die zwei mir von ihrer Entscheidung berichteten. Ihre Gesichter strahlten vor Freude, und beide waren wohl der Meinung, dass ich nach Unterbreitung ihres Beschlusses mit ihnen gemeinsam strahlen würde. Die Strenge meiner Erziehung erlaubte mir kein Wort des Widerspruches, und so kredenzte ich ihnen den Wein, mit dem sie auf mein Verderben anstießen.
Als ich mich Stunden später in den Schlaf weinte, hörte ich Vater und Anton noch immer ausgelassen in der Kammer lachen und plaudern. Anton war vielleicht kein schlechter Mann, aber ich war ihm nicht im Mindesten zugetan und würde es auch nie sein.
Ich hatte Mutter angefleht, mit Vater zu reden, ihn zu überzeugen, dass diese Ehe mein Unglück bedeutete. Doch Mutter schwieg, beschwichtigte mich und schalt mich ein undankbares Kind. Insgeheim wusste ich, dass sie mit mir trauerte und sich für mich ein glücklicheres Leben gewünscht hätte.
»Die Zeiten sind nun mal so«, hatte sie gesagt, »wir müssen froh sein, dich so gut versorgt zu wissen. Deine Arbeit in der Näherei wirft weiß Gott nicht genug Lohn ab, um dich durch den Alltag zu bringen.«
Damit war sie also gefallen, die Entscheidung, die mein Leben in neue Bahnen lenken sollte.
Es war nicht zu übersehen, wie sehr Anton die Aussicht auf unsere Ehe aufblühen ließ. Es schien, als würde er sich meiner Energie bemächtigen. Während die Erwartung der Vermählung meine Leidenschaft schmälerte, zierte sein sonst so verhärmtes Gesicht immer öfter ein glückseliges Lächeln.
»Der Anton wird dir ein guter Mann sein, Rese«, flüsterte Mutter, als sie zufrieden meine Frisur begutachtete und mir dabei zärtlich über die Wange strich. »Es mag für dich den Anschein haben, dass diese Verbindung falsch ist, aber glaub mir, in ein paar Wochen wirst du anders darüber denken.«
»Nein, das werde ich nicht!«, erwiderte ich mit belegter Stimme und wandte mich ab. Ich stand auf und ging zum Fenster. Es war Ende September, die Sonne schien mit letzter Kraft vom Himmel und wärmte mühevoll die Dächer der Nachbarhäuser. Es würde ein schöner Tag werden, zumindest für alle anderen. Kinder tobten durch die Gärten, Frauen hängten die Wäsche auf die Leinen oder harkten die Gemüsebeete um. Keiner von ihnen ahnte, wie sehr ich in diesen Minuten mit meinem Schicksal haderte. In wenigen Stunden wäre ich Ehefrau, und meine Freiheit und Träume wären für immer verloren.
Meine Freundin Magdalena und ich hatten oft Pläne geschmiedet, welche Städte wir eines Tages bereisen würden. Manchmal sprachen wir heimlich darüber, einfach durchzubrennen, um in Wien oder München berühmte Theaterschauspielerinnen zu werden. Das waren die Fantasien junger Frauen gewesen, und bei der Erinnerung daran musste ich lächeln. Vermutlich hätten Magdalena und ich es nicht einmal bis Wien geschafft und wären nach ein paar Tagen reumütig nach Hause zurückgekehrt. Aber das war egal. Wichtig war, dass wir damals der Meinung waren, jede Möglichkeit zu haben.
Und nun stand ich am Fenster und sah alle meine Träume in weite Ferne entrücken. Für mich würde es keine Reise mehr geben, nur noch die schmutzigen Hemden eines alten Mannes.
»Rese, komm runter, wir sind spät dran! Der Anton wird gleich kommen.« Das Geschrei meines Vaters riss mich aus den Gedanken. Vater war ein strenger Mensch, nicht nur zu allen anderen, sondern auch mit sich selbst. Er arbeitete stets hart, um seine Familie zu ernähren. Wir waren an unsere armen Verhältnisse gewöhnt, ich war damit aufgewachsen und störte mich nicht daran, zerschlissene Kleider zu tragen. Kaum einer aus unserem Ort kannte Reichtum, jeder musste sehen, dass er über die Runden kam. Die meisten führten ein karges, aber zufriedenes Leben.
Mir hätte dieses Leben genügt, ich hätte keine Heirat gebraucht, um abgesichert zu sein. Lieber mittellos und allein als an der Seite eines Mannes, für den ich keine Gefühle hegte. Mutter meinte, ich wüsste nicht, wovon ich redete, ich hätte noch nie Hunger leiden müssen. Ich brauchte nicht erst zu hungern, um zu wissen, wo ich hingehörte.
Als ich langsam die knarrende Treppe hinabstieg, schwoll der Kloß in meinem Hals ins Unermessliche an, denn ab morgen begänne ich meine Tage in einem anderen Haus. Ohne meine Eltern.
Vater saß noch am Frühstückstisch und schlürfte seinen frisch aufgebrühten Kräutertee. Als er mich kommen hörte, hob er seinen Kopf und betrachtete mich. Kurz sah ich einen Anflug von Zärtlichkeit über die harten Züge seines Gesichtes huschen, doch der war schnell wieder seinem verdrossenen Ausdruck gewichen.
»Du bist spät, wir müssen los!«, brummte er und trank seine Tasse leer.
Ich stand regungslos vor ihm und fragte mich, ob er schon immer so alt ausgesehen hatte. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn und seine Wangen. Das Haar war schütter und sein Rücken krumm. Wie konnte er nur seelenruhig sein Frühstück zu sich nehmen, während ich innerlich vor Angst zitterte? Angst vor den nächsten Stunden, vor meiner Hochzeitsnacht, vor den ersten Tagen im neuen Heim, Angst vor dem Rest meines Lebens.
Ich krallte mich am dünnen Stoff des geborgten Brautkleides fest und atmete tief ein. In meinem Brustkorb brannte und wütete ein ungeahnter Zorn, von dem ich wusste, dass ich ihn für mich zu behalten hatte. Ich musste ihn runterschlucken wie ein Stück hartes Brot.
Mutter kam zu mir, nahm mich an der Hand und zog mich zur Haustüre. Als die Dielen unter meinen Füßen knarrten, überkam mich ein weiterer Anflug von Wehmut. Wie oft war ich wohl durch diese Zimmer gehuscht? Die Räume waren klein, dunkel, und an den Wänden klebte der Geruch von Pfeifenrauch. Hilfe suchend blickte ich zu Mutter, in deren Augen sich meine Verzweiflung spiegelte. Als sie mich die letzten Schritte zur Haustür geleitete, fühlte ich in ihrem Händedruck all den Schmerz, den sie mit mir teilte. Sanft drückte ich ihre Hand zurück, um sie wissen zu lassen, dass ich sie verstand und ihr nicht böse war. Wir gingen schweigend. In diesem kurzen Moment überlegte ich, wann ich das letzte Mal Mutters Hand gehalten hatte. Wahrscheinlich im Kindesalter. Hatten sich ihre Hände damals auch schon so rau und rissig angefühlt, oder waren sie in früheren Zeiten weich und warm gewesen? Der Gedanke, dass ich an dieser Hand meine ersten Gehversuche getan hatte, löste Wehmut in mir aus. Wenn ich von nun an in Antons Haus lebte, wie oft würde ich Mutter dann noch sehen? Musste ich künftig meinen Gatten um Erlaubnis bitten, wenn ich das Haus verlassen und meine Eltern besuchen wollte?
Es pochte an der Tür. Vater stand vom Frühstückstisch auf und ging an uns vorbei, ohne uns Beachtung zu schenken. Er öffnete die Tür und nahm Anton in Empfang. Der trug einen alten, aber sauberen Anzug und hielt ein paar selbst gepflückte Blumen in seiner Linken. Die andere Hand reichte er mir entgegen und strahlte mich voller Freude und Wärme an. Was, wenn meine Eltern recht behielten und die Ehe mit Anton zu meinem Besten wäre? Schließlich kannte ich ihn, seit ich ein Kind war. Stets war er nett gewesen, freundlich und auf gewisse Weise humorvoll. Sollte ich meine Ängste und Bedenken ablegen und mich für eine Zukunft an seiner Seite öffnen?
Nein, das war mir unmöglich. Ich hatte immer von einer großen Liebe geträumt, von einem Mann, der meinen Gedanken das Fliegen beibrachte und all meine Träume in meinen Augen sah und sie zu erfüllen suchte. Vielleicht gab es diesen Mann, vielleicht auch nicht.
Ich sah zu Mutter und fragte mich zum ersten Mal, ob ihre Ehe auch auf diese Weise zustande gekommen war. Vielleicht fänden wir beide irgendwann die Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten. Nur sie und ich.
Mutter lockerte ihren Griff um meine Hand. Jetzt war es so weit, ich musste sie loslassen, den letzten Schritt allein machen. Ich fasste all meine Kraft zusammen und setzte einen Fuß vor den anderen.
Dann hatte ich mein Elternhaus verlassen.
Anton fasste sorgsam meinen Arm und geleitete mich über die drei Stufen von der Haustüre in den Garten hinunter. Er überreichte mir die Blumen und sah mir dabei eindringlich in die Augen. Vermutlich erkannte er meine Angst, dennoch strahlte er mich mit einer herzlichen Freundlichkeit an, die mich ein wenig beruhigte. Er nickte meinen Eltern zum Gruß zu, nahm meine Hand und ging gemeinsam mit mir zum Gartentor. Vater und Mutter folgten uns, keiner sprach ein Wort. Niemand sonst würde der Heirat beiwohnen. Keine Verwandten oder Freunde, nicht einmal Peter, Antons Sohn, der bei ihm im Haus lebte.
Unser Weg führte zum Rathaus, in dem wir standesamtlich getraut werden sollten. Der nächste Gang wäre der in die Kirche. Auch dort waren keine Gäste angedacht. Nur meine Eltern, Anton und ich. Getuschel um unsere Eheschließung und deren Hintergründe gab es genug, und gerade deshalb war den beiden Männern sehr daran gelegen, die Zahl der Anwesenden gering zu halten. Anschließend hatte Vater geplant, mit uns in die Stadt zu fahren, um dort in einem Gasthaus zu speisen und auf den Tag anzustoßen. Hätten wir all das hinter uns gebracht, wäre ich nicht mehr länger Therese Hauzinger, sondern Therese Pfaller, würde in einem anderen Bett nächtigen und mein Leben neu ordnen müssen.
Langsam gingen wir durch den Ort. Es war ruhig, kaum jemand tummelte sich auf den Straßen oder in den Gärten. Gut so, dachte ich, dann sähen mich weniger in meinem schäbigen Brautkleid, das viel zu groß an mir hing und in dem ich mich ebenso verloren fühlte wie beim restlichen Ablauf der Zeremonie. Dabei war heute meine Hochzeit, ein Tag, an dem man sich hübsch machen sollte für den künftigen Ehegatten. Doch ich wollte mich nur verkriechen und nicht gesehen werden.
Ich blickte zur Seite und betrachtete Anton. Sein stark ergrautes Haar ließ nur erahnen, dass es einmal braun gewesen war. Seine Figur war stattlich, sein Bauch ebenfalls. Sein Jackett trug er offen, was seine Rundung noch mehr betonte. Zielstrebig marschierte er mit mir auf das Rathaus zu und hielt dabei den Blick auf das Eingangstor gerichtet.
Gleich war es so weit. In den letzten Wochen hatten sich all meine Ängste um diesen Augenblick gedreht, und nun war er wirklich da. Unaufhaltsam und in großen Schritten kam sie auf mich zu, die Realität.
Vater öffnete die Tür und ließ uns den Vortritt.
Als ich an ihm vorbeiging, schaute ich ihn prüfend an. Ich war sein eigen Fleisch und Blut, wie konnte es sein, dass ihm das Flehen in meinem Blick nichts ausmachte? Offensichtlich war es ihm egal, er ignorierte mich, lächelte Anton zu, der mich sanft und dennoch bestimmt die Treppen zum Standesamt hochzog.
»Lass nicht zu, dass man das mit dir macht! Wehr dich! Du willst diesen alten Mann nicht den Rest seines Lebens bedienen! Tu was!«, schrie eine Stimme in mir. Ich wusste, dass sie recht hatte, aber was hatte ich für eine Wahl?
»Uns Frauen ist es bestimmt, den Männern zu gehorchen!«, hatte Mutter gesagt, während sie das Hochzeitskleid an mir zurechtgezogen hatte. »Wir müssen dankbar sein für ein Dach über dem Kopf und warmes Essen. Je eher du das akzeptierst, liebe Rese, desto leichter wirst du es im Leben haben!«
Ich hatte große Schwierigkeiten damit, diesen Umstand zu akzeptieren. Und je näher wir dem Trauungszimmer kamen, desto lauter schrie meine innere Stimme. »Mach kehrt! Du wirst eine Lösung finden!«
Mag sein, dass es tatsächlich eine Lösung gegeben hätte. Ich werde es nie erfahren, denn an diesem Samstag im September 1940 wurde ich die Frau von Anton Pfaller.
Meine Hochzeitsnacht erschien mir dunkler als jede andere Nacht zuvor. Anton schlief bereits, als ich in den Garten hinausschlich. Ich blickte auf die Bäume, die schwarz und bedrohlich vor mir standen. Das waren nun auch meine Bäume, dachte ich und setzte mich in die nebelkalte Wiese. Vom Grundstück aus hatte man freie Sicht zum Inn. Ich liebte es, dem ungebändigten Wasser dabei zuzusehen, wie es sich tosend seinen Weg bahnte. Der Inn war nicht nur ein Fluss, er war viel mehr ein treuer Begleiter, der einen eigenen Charakter zu haben schien. An manchen Tagen floss er ruhig und beinahe geräuschlos an uns vorbei. Mehrmals im Jahr ließ er seiner Wut freien Lauf, überschwemmte Gärten und Straßen und suchte dabei sogar den Weg in das ein oder andere Haus. Wir hassten und liebten den Inn gleichermaßen.
So gut es ging, zog ich meinen Mantel enger um meinen Körper. Es war eisig, und doch fühlte es sich draußen nicht so kalt an wie im Bett neben Anton. Bei dem Gedanken an ihn wurde mir das Herz schwer.
Er und Vater hatten nach der Hochzeitszeremonie den Tag trinkend verbracht. Je mehr Alkohol sie konsumiert hatten, desto unangebrachter wurden ihre Scherze. Mit einem Mal war Anton unhöflich und ausfallend geworden. Im Gasthaus hatte er mir mehrmals auf die Oberschenkel gegriffen, was mir nicht nur wegen der Anwesenheit meiner Eltern sehr unangenehm gewesen war.
Ich schloss die Augen und rief mir die Geschehnisse des Tages noch einmal in Erinnerung. Die lieblose Zeremonie im Standesamt, der Gang zur Kirche. Das Schweigen während des Essens. Anton, der sich an mich drängte, mir gleich nach unserer Ankunft in seinem Haus die Kleider vom Leibe riss. Anton, der sich einfach nahm, was ihm seiner Meinung nach zustand.
Ich presste meine Lippen aufeinander und seufzte. Wie sehr hätte ich jetzt die Umarmung eines geliebten Menschen benötigt, doch es war niemand hier. Ich umarmte mich selbst, um mich nicht ganz zu verlieren in meiner Einsamkeit.
Heute Nacht war es nicht still, es war laut. Mit einem Mal tobte alles um mich herum unerträglich schrill. Jeder Flügelschlag der Fledermäuse hoch über mir, jeder Grashalm, der sich im sanften Wind bewegte, alles verursachte mir Kopfschmerzen. Die Welt schien erfüllt zu sein von den Schreien, gegen die ich schon den ganzen Tag gekämpft hatte und denen ich auch jetzt Einhalt gebot. Ich würde meinen Kummer für mich behalten und der Welt morgen wieder mein gewohntes Lächeln zeigen.
Genauso machen es auch die anderen Ehefrauen, dachte ich, tupfte meine Tränen mit dem Ärmel weg. Dann stand ich auf und ging zurück zum Haus, das im Licht des Mondes groß und bedrohlich wirkte. Die Fenster schienen wie finstere Augen auf mich herabzustarren und mich in meinem Unglück zu verhöhnen.
Leise, um niemanden zu wecken, öffnete ich die Tür und schloss sie ebenso behutsam hinter mir. In der Dunkelheit der Nacht war mir das Haus fremd, und ich tastete mich mühsam durch die Zimmer. Ich erinnerte mich an die Tage, an denen ich Tante Ludmilla besucht und gemeinsam mit ihr Kirschen eingelegt oder ihr geholfen hatte, im Garten Ordnung zu halten. Mit aller Kraft wünschte ich mich zurück an Ludmillas Seite, um gemeinsam mit ihr Brombeeren zu pflücken und Kräuter zu sammeln.
Vorsichtig tappte ich hoch in Antons Zimmer und legte mich neben ihn. Ich lag noch lange wach und lauschte den ungewohnten Geräuschen in meinem neuen Zuhause. Das Ticken einer Uhr und das Knarren des Holzbodens begleiteten mich in einen wenig erholsamen Schlaf.
Es war bereits hell, als ich orientierungslos durch das Zimmer blickte und eine Weile brauchte, um mich zurechtzufinden. Antons Haus. Sofort drehte ich mich um, aber mein Ehemann war nicht da. Mich streckend und reckend ging ich hinunter in die Stube und sah mir die Einrichtung zum ersten Mal nicht mit den Augen der Nichte, sondern mit denen der Hausbesitzerin an. Meine Güte, das war das Haus von alten Leuten, daran würde ich dringend etwas ändern müssen.
Der Duft von frischem Tee lockte mich in die Küche. Geschirr schepperte, und jemand summte ein leises Lied. Mein erster Gedanke war, dass Anton schon aufgestanden war, um mir eine Freude zu bereiten. Vielleicht würde er sich für sein Verhalten vom Vortag entschuldigen, vielleicht war er doch nicht der rüpelhafte Ehemann, den der Alkohol aus ihm gemacht hatte.
Vorsichtig öffnete ich die Türe und setzte zum Morgengruß an, als ich erkannte, dass sich nicht Anton, sondern sein Sohn Peter in der Küche zu schaffen machte. Ich wollte umkehren, raus aus der Küche und die Türe wieder hinter mir schließen. Aber es war zu spät.
Peter hatte mich bereits bemerkt und begrüßte mich lächelnd. »Komm, das Frühstück ist fertig!«, meinte er und wies mir mit einer Handbewegung einen Platz am Esstisch zu. War das der Platz seiner Mutter gewesen?
Gerade, als ich mich setzen wollte, wurde mir bewusst, dass ich nur mit meinem Nachtgewand bekleidet war. Wie von selbst kreuzte ich meine Arme vor meinem Brustkorb, um meine Oberweite vor seinen Blicken zu schützen.
Peter bemerkte meine aufkommende Scham und meinte: »Du kannst raufgehen und dich anziehen, aber bis du zurückkommst, ist Vater von seiner Morgenrunde zurück und leistet uns Gesellschaft. Oder du bleibst, wie du bist, hier bei mir, und wir beide können in Ruhe gemeinsam frühstücken.«
Peters freundliches Augenzwinkern überzeugte mich. Ich setzte mich an den Tisch und ließ mich vom Sohn meines Gatten bedienen.
»Wie hast du geschlafen?«, wollte er wissen. »Sag nichts, deinem Anblick nach zu urteilen wohl eher bescheiden, was? Wie verliefen die Feierlichkeiten gestern?«, fragte er weiter, während er mir behutsam Tee in die Tasse goss. »Du verzeihst, dass ich euch meine Anwesenheit vorenthalten habe? Die Heirat meines Vaters mit dir erschien mir doch etwas ... unpassend, wenn ich das so frei heraus sagen darf.«
»Wenn diese Ehe jemand unpassend findet, dann ich«, entgegnete ich vorschnell und legte erschrocken die Hand auf meinen Mund. »Entschuldige, das wollte ich nicht.«
»Es bleibt unter uns«, meinte Peter und warf mir einen verschwörerischen Blick zu.
»Was bleibt unter euch?«
Peter und ich erschraken gleichermaßen, als Anton plötzlich in der Küche stand. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine Lippen und zeugte davon, dass er den herzlichen Umgang seines Sohnes mit mir nicht guthieß.
»Nichts, Vater. Wir haben nur gealbert.« Peter mied den Augenkontakt mit Anton und starrte auf die Tasse Tee, die er mit beiden Händen fest umklammert hielt.
Ich wusste schon lange um das schlechte Verhältnis zwischen den beiden. Tante Ludmillas Tod hatte sie wohl noch weiter voneinander entfernt.
»Rese hat gewiss Wichtigeres zu erledigen, als mit dir zu albern«, brummte Anton und bedachte mich mit einem schneidend kalten Ausdruck. »Außerdem würde ich dir dringend raten, dir etwas Ordentliches anzuziehen.«
Mit einem Mal fühlte ich mich wie ein kleines Mädchen.
»Worauf wartest du?« Mit diesen Worten kam er mir näher, blieb erst unmittelbar vor mir stehen und schaute drohend auf mich herab. »Es schickt sich nicht, dass du in diesem Aufzug vor meinem Sohn herumtanzt.«
»Vater, ich glaube nicht, dass das nötig ist«, meinte Peter.
»Ich brauche keine Belehrungen von deiner Seite«, fauchte Anton und schob mich aus der Küche hinaus und die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Dort angekommen, schloss er lautstark die Türe hinter uns und strafte mich mit seiner finsteren Miene.
»Es tut mir leid, ich wollte nicht ...«, sagte ich.
»Die Leute reden auch so schon genug. Stell dir vor, man sieht dich mit Peter in diesem Aufzug!« Er schüttelte den Kopf. »Du bist meine Ehefrau und hast dich als solche zu verhalten. Hast du mich verstanden?« Anton kam mir so nahe, dass mir von seinem Mundgeruch beinahe übel wurde. Ich hielt mir schützend die Hand vor die Nase.
»Ob du mich verstanden hast?«, fragte er ein weiteres Mal.
Ich war aufgewühlt, verunsichert und ängstlich. Dennoch versuchte ich, Ruhe zu bewahren, und hielt meinen Blick auf Anton gerichtet. Falten, schütteres Haar, aufgedunsene Tränensäcke und ein Blick, der an Müdigkeit nicht zu überbieten war. Gerne hätte ich ihm die Stirn geboten, ihn zurechtgewiesen, aber dazu fehlte mir der Mut. Anton war ein alter Mann – mein Mann –, und ich hatte ihm Respekt zu zollen. Langsam senkte ich meinen Kopf und nickte unterwürfig.
Mit seiner Linken hob er mein Kinn an und schien meine Miene einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. »Mach dich fertig und kümmere dich um den Haushalt.«
»Ja, wenn du mich loslässt«, erwiderte ich und entzog mich seiner Berührung.
Anton setzte sich auf das Bett und beobachtete jede meiner Bewegungen. Beschämt wandte ich mich ab und schlüpfte rasch aus meinem Nachtkleid, warf es aufs Bett und zog mir eine abgetragene geblümte Bluse und einen Wollrock über. Für die Hausarbeit sollten die abgewetzten Kleidungsstücke ausreichen.
»Du, Rese, hör mal«, sagte Anton, während ich vor dem Spiegel stand und mein Haar zu einem ordentlichen Knoten hochsteckte. »Ich meine es doch nur gut mit dir.« Anton versuchte sich an einer verständnisvollen Stimme, dennoch behielt sein starrer Befehlston die Oberhand.
»Ich weiß, alle meinen es immer gut mit mir. Und alle behandeln mich wie ein unfähiges Schulmädchen.« Mir war bewusst, dass meine Aussage dreist war und den Missmut meines Gatten erneut heraufbeschwören konnte. Erhobenen Hauptes drehte ich mich um und sah ihn prüfend an. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und spielte mit den Fingern an seinem Schnauzbart. Bevor er etwas erwidern konnte, huschte ich eilig an ihm vorbei, rannte die Treppe hinunter in die Küche und machte mich am Herd zu schaffen.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich Peter, der noch immer vor seinem vollen Frühstücksteller saß.
»Ja«, antwortete ich kurz angebunden.
»Lass dir Zeit, du wirst dich schon eingewöhnen.« Peter lächelte mir liebevoll zu. Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Die sanft geschwungenen Augenbrauen, die Grübchen an beiden Wangen und die schmale Nase erinnerten mich stark an Ludmilla.
»Ja«, wiederholte ich und seufzte tief auf. Erst dann bemerkte ich, wie sich in meinem Brustkorb ein unsäglich schwerer Druck aufbaute. Meine Kehle fühlte sich trocken an, und Tränen trübten meinen Blick.
»Rese? Stimmt etwas nicht?«, fragte Peter und kam an meine Seite.
Unfähig, ihm zu antworten, schüttelte ich meinen Kopf und drängte ihn sanft von mir. Ich versuchte, das Zittern meiner Hände zu ignorieren, machte mich an irgendwelchen Pfannen und Töpfen zu schaffen, schürte das Feuer im Ofen und kramte ziellos in verschiedenen Kästen.
»Das war wohl alles ein wenig viel in den letzten Tagen«, meinte Peter, der meinen Zustand richtig zu deuten vermochte. »Mach eine Pause, geh raus, vertritt dir die Beine.«
Wieder schüttelte ich nur den Kopf und biss fest auf meine Lippen. Ein unsichtbarer Strick zog sich immer enger um meine trockene Kehle und raubte mir die Luft. Peter erkannte meine Gefühlslage, kam zu mir und legte seinen Arm um meine Schultern.
»So schlimm ist er gar nicht, der alte Griesgram. Sei nicht so verzweifelt, sonst muss ich gleich mitweinen. Und ich bin schrecklich laut dabei, glaub mir.«
In diesem Moment war ich unheimlich dankbar für Peters Fürsorge. Mir war danach, mich an ihn zu schmiegen, um mich an seiner Schulter auszuweinen. Meine Vernunft hielt mich allerdings davon ab. Zum Glück. Denn schon wenige Augenblicke später stand Anton hinter uns und räusperte sich lauthals.
»Nun sieh dir an, was du angerichtet hast.« Peter trat seinem Vater gegenüber. »Sie weint.«
Anton blickte erst zu mir, dann zu seinem Sohn. Den Kopf schüttelnd wandte er sich von uns ab und setzte sich an den Esstisch.
»Die beruhigt sich schon«, meinte er kalt und ignorierte mich.
»Was bist du nur für ein Mensch, Vater. Du hast die Rese doch gar nicht verdient.«
»Aha, so ist das also. Wer hat sie denn verdient? Du vielleicht?«
Die Spannung im Raum war unerträglich. Anton saß mit hochgezogenen Augenbrauen am Tisch und starrte seinen Sohn verächtlich an.
»Du bist schrecklich.« Mit diesen Worten wandte sich Peter ab und ließ mich mit Anton allein in der Küche zurück.
»Pah!«, raunte Anton. »Und du? Findest du mich auch so schrecklich, verachtenswert und abstoßend wie mein werter Sohn?«
Ich enthielt mich einer Antwort.
»Wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen, du und ich. Weißt du noch, wie ich dich als kleines Mädchen in die Büsche geschubst habe? Gelacht hast du und aufgeschrien vor Freude.« Bei den Erinnerungen an die längst vergangenen Tage erhellte sich Antons Miene. Mit einem zufriedenen Lächeln blickte er mir entgegen und schien auf eine Reaktion von mir zu warten. »Oder wie du dich nach dem Tod meiner Ludmilla immer wieder um mich und den Haushalt gekümmert hast?« Wieder starrte er mich nachdenklich an. »Ich war mir so sicher, dass wir miteinander auskommen würden und dass du hier ein gutes Heim hättest.«
»Ich bin schon lange kein Kind mehr, das sich über einen Schubser in irgendeinen Busch freut.« Ich krallte mich am Kochtopf fest und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Und nach Tante Ludmillas Tod folgte ich den Bitten meiner Eltern, mich um dich zu kümmern. Ich tat es nicht, weil ich hier mein künftiges Zuhause gesehen habe.« Die letzten Worte murmelte ich so leise, dass er sie unmöglich hören konnte.
»Dann bist du also unglücklich?« In Antons Augen spiegelte sich der Wunsch, dass ich ihm widersprechen möge.
»Warum hast du mir diese Frage nicht gestern gestellt? Vor unserer Hochzeit? Vielleicht hätte ich den Mut gefunden, sie dir ehrlich zu beantworten. Aber du und Vater wart beide so besessen von unserer Verbindung, dass niemand sehen wollte, wie es mir dabei geht.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Das habe ich«, flüsterte ich unter Tränen. »Und zwar mehr als einmal. Weder Vater noch du schienen mich hören zu wollen.«
Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Anton zurück und blickte betreten auf seine Hände, die er im Schoß gefaltet hatte.
»Und ich dachte, du wolltest diese Ehe genauso wie ich.« Anton schniefte lautstark durch die Nase und schloss nachdenklich die Augen. »Wir werden uns schon arrangieren, du und ich.«
Arrangieren. Alleine dieses Wort verstärkte den Druck auf meiner Brust. Der alte Mann vergaß, dass er über mein Leben sprach. Ein Leben, das ich vor mir hatte und von dem ich mir mehr erhofft hatte als eine Ehe, in der man sich miteinander arrangierte. Was, wenn ich tatsächlich zu wenig für meine Freiheit gekämpft hatte? Die leisen Tränen, die ich auf meinem Zimmer geweint hatte und die von niemandem zur Kenntnis genommen worden waren, hätte ich anderweitig einsetzen sollen. Ich hätte Vater packen müssen, ihn schütteln. Aber das hatte ich nicht getan und mich somit mitschuldig gemacht an dem Desaster dieser Eheschließung.
Müde legte ich den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Ich musste raus, an die Luft, weg von dem alten Mann und dem modrigen Haus. Ohne weiter zu überlegen, warf ich die Kochschürze auf den Tresen.
»Wo willst du hin?«, fragte er mürrisch und überrascht zugleich.
»Nur kurz ... ich fühle mich nicht so gut und brauch etwas frische Luft«, antwortete ich und hatte einfach nur Angst, dass er mir meine kurze Flucht aus der Realität nicht gewähren würde.
Er nickte.
Erleichtert griff ich nach meinem Mantel und verließ das Haus. Während ich zum Gartentor eilte, knöpfte ich meinen Wollmantel zu und krempelte den Kragen wärmend um meinen Hals. Als ich auf der Straße angekommen war, überlegte ich, welche Richtung ich am besten einschlagen sollte. Zuallererst kam mir Mutter in den Sinn. An ihrer Schulter könnte ich mein Leid beklagen und mir ihren Trost erhoffen. Doch dann hielt ich inne. Nein, sosehr es mich auch zu Mutter zog, so sehr wühlte mich der Gedanke auf, Vater gegenüberzutreten.
Tränen trübten meine Sicht, während ich orientierungslos meinen Blick über die menschenleeren Wege streifen ließ. Magdalena. Meine teuerste Freundin, zu ihr würde ich gehen.
Bevor ich mich auf den Weg machte, tupfte ich meine Wangen trocken und strich mir dezent übers Haar. Dann rannte ich los. Vorbei an den Nachbargärten, aus denen mich die Blicke neugieriger Weiber verfolgten. Was würden sie wohl hinter vorgehaltener Hand tuscheln, wenn sie die junge Frau des alten Anton verweint durch die Straßen laufen sahen? Mir war es einerlei. Sollte die ganz Welt sehen, dass diese Ehe ein Verdruss war.
Meine Schritte wurden länger, meine Atemzüge schneller. Könnte ich doch nur auf ewig fliehen vor der Ehe, die schon am ersten Tag frostiger war als das Eis des gefrorenen Inn im Winter. Dass wir zu dieser kalten Jahreszeit geheiratet hatten, war für mich ein Omen, dass diese Beziehung auf immer ohne Herzenswärme auskommen würde. Ich schluckte gegen meinen Kummer an und verfluchte erneut den Tag, an dem mich Vater ohne meine Zustimmung der Verdammnis ausgeliefert hatte.
Anton und ich, wir würden uns nicht arrangieren, dachte ich, während meine Füße ganz allein den Weg zu meiner lieben Magdalena zu finden schienen.
»Grüß dich, Rese.« Die Stimme von Magdalenas Mutter riss mich aus meinen Grübeleien und machte mir bewusst, dass ich mein Ziel bereits erreicht hatte. Herta Ecker winkte mir von der Wiese herüber freundlich zu und widmete sich dann wieder der Wäsche, die sie trotz der Kälte zum Trocknen aufhängte. Hertas Anblick ließ mich wie immer schmunzeln. Ich mochte die wohlgerundete und viel zu klein geratene Frau.