Die Vergessenen 02 - Kitsune - Sabina S. Schneider - E-Book

Die Vergessenen 02 - Kitsune E-Book

Sabina S. Schneider

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Beschreibung

KITSUNE, der zweite Band der "DIE VERGESSENEN" Reihe. Der erste vergessene Gott ist auf Erden und wartet darauf, dass seine zerstückelten Körperteile wieder zueinander finden. Yuki - der Fuchsgeist, Lina - die Jägerin, Van - der Gestaltwandler und Akiko - das Medium, sind die Einzigen, die der Menschheit noch Hoffnung bringen könnten. Doch in alle Winde verstreut, ist jeder in seiner eigenen Welt gefangen. Kann die zersplitterte Gruppe noch das Kommen der alten Götter verhindern?

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Sabina S. Schneider

Die Vergessenen 02 - Kitsune

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

WAS BISHER GESCHAH …

PROLOG

SHIRO-i YUKI - WEISS WIE SCHNEE

DIE KATZE UND DAS MEER

SCHULD

DER WEG NACH OBEN

UNTER UNSTERBLICHEN

WASSER

DIE VOLLKOMMENHEIT DES YETI

FLUCHT

EPIOLOG

GLOSSAR

DIE VERGESSENEN I

DIE VERGESSENEN III

DIE VERGESSENEN IV

ÜBER DIE AUTORIN

GELÖSCHT I

Kapitel 01 - Wiedergeburt

AETERNITAS I

AETERNITAS II

AETERNITAS III

DNA I

DNA II

DNA III

VON DEN GÖTTERN VERLASSEN I

VON DEN GÖTTERN VERLASSEN II

VON DEN GÖTTERN VERLASSEN VI

Impressum neobooks

WAS BISHER GESCHAH …

*

„Das Tor gewaltsam geöffnet, zieht Spuren in der Blutlache des Panthers. Die Ebenen vereint, zerreißt Mystik die Realität, wenn Götter mit Dämonen auf Erden wandeln und die Menschheit unter ihren Füssen zu Staub zermahlen.“

*

Nach ihrem Studium tritt Lina ihren ersten Job an und lernt Van kennen. Sie fühlt sich, zu ihm hingezogen, doch eine innere Stimme schreit laut: Vorsicht! Denn Van ist mehr als ein netter Kollege. Lina kämpft, seit sie denken kann, mit Anfällen, Wesen, die in sie eindringen und ihr die Kontrolle entreißen wollen. Damit sie ihren Verstand nicht verliert, verdrängt Lina alles Übersinnliche und umgibt sich mit einer Mauer der Normalität.

Um einen Weg zu finden, seinem ewigen Leben voller Schmerz als Skinwalker, ein Ende zu bereiten, hat Van sich in einen Dämonenjäger Orden geschlichen. Doch auch ihr heiliger Dolch konnte ihm während der Aufnahmezeremonie nicht die erhoffte Ruhe bringen. Nun arbeitet er für eben diesen Orden, der sich der Vernichtung aller übernatürlichen Wesen verschrieben hat. Doch Van weiß nicht, dass er unter Beobachtung steht und reißt mit ein paar unbedachten Worten Lina mit in seine Welt. Nachdem Heinz, der Zuständige für Vans Observierung, erfährt, dass er einen Skinwalker in ihren heiligen Orden geholt hat, muss er schnell handeln. Als er auch noch befürchten muss, dass Lina von Van schwanger sein könnte, stellt er einen Eliminierungsantrag für sie aus.

Van sieht in Lina nur ein Zeitvertreib, ein Spielzeug. Dennoch kann er den Gedanken, ihr Blut an seinen Händen kleben zu haben, nicht ertragen und entführt sie, nachdem Akiko, eine mächtige, japanische Seherin, ihm von dem Antrag erzählt. Mit seiner Kraft, Menschen gedanklich zu manipulieren, dringt Van in Linas Geist und bringt sie an den sichersten Ort, den er kennt: Akikos Schrein in Japan.

Lina erwacht in einem kleinen Haus mitten auf einem Berg im Nirgendwo. Durch Vans Einwirkung ist sie sehr geschwächt und muss das Bett hüten. Akiko, das stärkste Medium, das es je gegeben hat, heißt sie willkommen. Durch Experimente des Ordens geschändet, weiß Akiko, dass an ihrer Liebe zu Van die Welt zerbrechen wird. Mit all ihrer Macht kämpft sie gegen die Zeit. Trotz des Wissens, dass egal, was sie tut, Akiko von der Dunkelheit, ihrer einseitigen Liebe entsprungen, verschlungen werden wird.

Obwohl Lina von einem tengu, einem in einen kappa verwandelten tanuki, und einem neunschwänzigen kitsune, angegriffen wird, klammert sie sich an die Normalität, um den Verstand und die Kontrolle nicht zu verlieren. Doch bald schon muss sie sich eingestehen, dass die bösen Träume real sind und ihre sorgsam aufgebaute Mauer fällt ein wie ein Kartenhaus und lässt sie nackt und wehrlos zurück.

Der kitsune, dessen Flamme bei einem Zusammenprall in Lina gefahren ist, bietet ihr an, sie aus Akikos Schrein zu befreien, und teleportiert sich mit ihr nach Tōkyō. Mit offenem Herzen heißt sie die Freiheit willkommen und verdrängt, dass sie für immer an einen japanischen Dämon gebunden ist, der sich selbst als Gott bezeichnet. Der Fluchtplan scheint perfekt, bis Lina bei der deutschen Botschaft einen neuen Pass beantragt.

Nach einer durchzechten Nacht in einem Park, suchen Lina und der kitsune, dem Lina den Namen Shiro gegeben hat, Ruhe in einem Love Hotel. Doch ihr Verschwinden bleibt nicht unbemerkt. Van rast in der Gestalt eines Panthers der Frau hinterher, die ihn mit ihrer Stärke und ihrem Humor an sich gefesselt hat. In seinen Gefühlen zu Lina hat er einen Sinn im Leben gefunden und die Bestie in sich besänftigen können. Der Wunsch, seine Frau vor einem liebestollen Fuchsgeist und vor dem Orden zu retten, verleiht Van in seiner tierischen Gestalt nie gekannte Schnelligkeit und Ausdauer.

Er folgt dem stinkenden Geruch des elenden Fuchses und findet Shiro über einer kaum bekleideten Lina. Als die Frau seines Herzens im beteuert, dass nichts zwischen ihr und dem möchtegern Gott passiert ist, will er ihr glauben. Nachdem Lina Shiro wegschickt, kann Van nicht von ihr lassen und Lina gibt sich ihm im Rausch der Gefühle hin. Nachdem das Feuer der Leidenschaft sich zu einer Glut abkühlt, wird Lina klar, was sie getan hat. Sie hat mit einem Wesen geschlafen, dessen bloße Existenz die Welt, die sie sich mühevoll aufgebaut hat, zum Einsturz bringen kann. Und das ohne Verhütung! Was, wenn sie jetzt von einem Dämon schwanger ist?

Linas ehrliche Worte verletzen Van tief, als plötzlich das Zimmer gestürmt wird. Shiro gelingt es Lina und Van, kurz bevor eine Kugel Linas Herz durchstößt, zurück zum Schrein zu teleportieren. Akiko heißt die Ausreißerin kalt willkommen. Die Seherin weiß, dass Van der Schlüssel zum Tor ist, hinter dem die alten, vergessenen Götter gefangen gehalten werden. Sein Blut wird das Tor öffnen und Lina ist die neue Inkarnation der Hüterin des Göttergefängnisses.

Akiko weiß auch, dass ihre Liebe zu Van nie erwidert werden wird, weil seine Seele und sein Herz an Lina gebunden sind, eine wankelmütige Frau, die ihr Glück, von ihm geliebt zu werden, nicht sieht. Dunkelheit steigt in Akikos Herzen auf, als Lina Van, der blind für Akikos Gefühle war, das Augenscheinliche verrät. In Vans Augen sieht Akiko das einzige Gefühl, das er für sie je empfinden wird: Mitleid.

Van kann nur zusehen, wie Lina an der Welt, in der er sie gebracht hat, zerbricht und schwört sich, ihr das zu geben, was sie braucht: ein normales Leben, ohne Übersinnliches. Ohne ihn. Sie entschließen sich dazu, den Schrein zu verlassen. Doch auf der Treppe zur Freiheit wartet Heinz auf sie, der Schlächter des Ordens. Die Stufen sind mit Runen besprochen, die Van in Ketten legen und Lina paralysieren. Machtlos muss sie mitansehen, wie Heinz mit Todesrunen eingravierte Kugeln in den Leib des schwarzen schießt.

Das Tier bleibt regungslos liegen. Muki, der tanuki, der Lina ins Herz geschlossen hat, schleicht sich leise heran und zerkratzt einige der Runen, die Lina gefangen halten. Als sie sich wieder bewegen kann, eilt sie zu dem toten Tier. Mit tränenden Augen versucht sie, die Bindungsrunen mit ihren Händen zu zerstören und reißt sich die Haut dabei auf. Ihr Blut vermischt sich mit Vans und sie wird in die Luft gerissen. Stimmen rufen sie, befehlen ihr das Tor zu öffnen. Die Wächterin, deren Gesicht Lina so oft nach ihren Anfällen im Spiegel gesehen hat, schreit in stummer Agonie, als Lina das Tor berührt. In dem Moment, als sich die Flügeltüren bewegen, schmeißt sich Shiro dagegen und holt Linas Geist zurück in die Welt.

Stolz prescht der Panther wieder quicklebendig durch die Reihen der Feinde und mäht eine Marionette von Heinz nach der anderen nieder. Auch Shiro schmeißt sich in den Kampf. Sogar der kleine Muki stellt sich mutig zwischen Lina und die Angreifer des Ordens. Doch der Gegner ist in der Überzahl und die Puppenarmee scheint unbesiegbar. Van sieht nur noch in der Flucht Rettung und verlässt mit Lina das Schlachtfeld.

Lina muss zusehen, wie ihre Freunde für sie sterben und sie fleht die vergessenen Götter um Hilfe an. In ihrer Verzweiflung öffnete sie das Tor einen Spalt, doch der alte Geist des Panthers, der in Van schlummert, wirft es wieder zu. Ein Gott jedoch zerreißt seinen Körper und es gelingt ihm, durch den Spalt zu fliehen. Van übernimmt die Kontrolle über Linas Verstand. Wie eine gehorsame Puppe hält sie sich an seinem Fell fest und lässt sich in Sicherheit bringen.

Aber der Schaden ist angerichtet. Der erste vergessene Gott ist auf Erden. Während er zerstückelt darauf wartet, dass seine Körperteile zueinanderfinden, sind die einzigen, die den Menschen Hoffnung bringen könnten, in alle Winde zerstreut und jeder in seiner eigenen Welt gefangen. Kann die zersplitterte Gruppe noch das Kommen der alten Götter verhindern?

PROLOG

Tôkyô, Januar 2011

Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß, sein langes, weißes Haar schwang im Rhythmus der Musik. Seine eisblauen Augen flogen über die Menge, als seine Stimme durch die Halle vibrierte. Voller Leidenschaft und Sehnsucht suchte er nach ihr. War auf die Bühne der Welt getreten, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sein fehlendes Stück, seine neunte Flamme. Sie musste irgendwo dort draußen sein und ihn vermissen, so wie er sie vermisste.

Die Menge tobte, die Männer grölten, die Frauen schrien und die Mädchen kreischten. Die Musik verstummte. Der Moment war gekommen, jetzt würde er wissen, ob sie unter ihnen war. Alle Lichter im Saal verloschen, alles wurde schwarz. Dann erschien eine blaue Flamme auf der Bühne, tauchte alles in die Farbe des Meeres. Ein weiteres Feuer leuchtete auf, bis acht Flammen ihn umtanzten. Er hatte die Lieder geschlossen, sein Herz raste vor Aufregung. Wäre sie da, wenn er die Augen öffnete?

Immer noch die Schwärze vor Augen, erhob sich seine Stimme und erreichte jedes Herz in dem ausverkauften Saal. Tastete suchend alle ab. Panik stieg in ihm auf und Hoffnungslosigkeit lähmte seine Brust. Sie war nicht da. Er riss die Augen auf und sah nur eine schwarze Wand vor sich. Kein Licht, das auf seine Flammen antwortete. Als die Verzweiflung seine Stimme brach, nur damit sie stärker und wütend zurückkehren konnte, füllte sich der Saal mit Energie.

Er gab ihnen einen Traum und ihre Energie, der Euphorie entsprungen, wurde zu einem Teil von ihm. Im Rausch der Musik verloren, tankte er neue Lebenskraft. Wurde eins mit dem Moment und genoss ihn aus vollen Zügen, denn er wusste, dass er sich unvollkommen und leer fühlen würde, wenn das Konzert vorbei war.

Im Höhepunkt seines Liedes kam sie auf die Bühne. Wunderschön, zerbrechlich und doch voller Kraft stimmte Mika in sein Lied mit ein. Seit ihrer Geburt blind, blickten ihre Augen in die Ferne, nahmen niemanden wahr. Er sah sie an, suchte wie schon so oft in ihren Augen nach dem Feuer, das ihm fehlte. Doch in ihr war nur Musik. Wieso konnte sie es nicht sein, nach der er sich sehnte?

Er erinnerte sich noch an die erste Nacht mit ihr. Erinnerte sich an ihren Geruch, ihren Geschmack und ihr Stöhnen. Trotz seines weißen Haares und ihrer Blindheit, war sie es gewesen, die ihn im Schnee gefunden hatte. Die ihn aufgepäppelt und ihm seine Menschlichkeit gegeben, ihn zu einem Menschen und einem Mann gemacht hatte.

„Mika!“, schrie seine Seele voller Wut in das Liebeslied, in dem sich ihre Stimmen vereinten. Ihr Kopf drehte sich zu ihm und sie runzelte die Stirn. Sie hatte ihn gehört. Sie hörte immer, wenn er lautlos schrie.

Von verzweifelter Liebe und Leid sangen sie. Einer alles verzehrenden Liebe, die doch nicht erfüllen konnte. Mika sang von blinder Liebe und von gebender. Er von einseitiger Liebe und Sehnsucht. Sie war nicht das, wonach er suchte. Konnte ihm nicht das geben, was er brauchte. Und doch war sie alles, was er hatte. Im Schnee, als er kurz vor dem Verlöschen gewesen war, hatte sie ihn gefunden und mitgenommen. Ein armes, kleines Tier ohne Zuhause. Mika hatte ihm einen Namen gegeben: Yuki – wie der Schnee.

Wäre jene Nacht doch nie passiert! Hätte er doch nie von Mika gekostet! Yuki wünschte sich, er könnte sie lieben. Sie daran hindern, an ihrer Liebe zu ihm zu zerbrechen. Und doch musste er Tag für Tag mit ansehen, wie Mika ihn anlächelte, während sie auf Scherben ging. Wie ihr Herz jedes Mal zerfiel, wenn er mit ihr im Duett nach einer anderen rief.

Doch er konnte nicht anders. Spürte, dass die Person, die seine Flamme in sich trug, in Gefahr war. Yuki sah ihren Schatten im Licht seiner Flamme tanzen, wenn er in die Welt der Träume abglitt. Flackernd rief sie nach ihm. Er konnte ihren Schmerz fühlen und ihre Angst. Sie brauchte ihn, noch mehr als er sie brauchte. Gefangen in einem unstabilen Körper, weder Tier noch Mann, hatte er vergessen, wer er war. Was er war.

Während jedem Konzert rief er nach ihr - seiner neunten Flamme. Doch sie antwortete nicht. Nur Mika reagierte auf seine verzweifelten Schreie.

Warum nur konnte sie nicht seine Flamme sein?

SHIRO-i YUKI - WEISS WIE SCHNEE

Tōkyō November 2010

Wo war er? Wer war er? Er wollte irgendwohin, aber wohin? An einen Ort ... Einen schönen Ort ... Einen Ort der Träume, an dem die Luft so voll war mit Energie, dass Träume wahr wurden. Unsanft schlug er auf dem Boden auf. Er war hart und aus Stein. Hatte er wirklich hier hin gewollt? Es war kalt. Schneeflocken fielen leise vom Himmel und bildeten eine dünne weiße Schicht auf dem schwarzen Stein. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine und Arme gehorchten nicht. Als er die Hand ausstreckte, sah er vor sich eine Pfote. Weiß wie der Schnee. Bliebe er liegen, würde das Weiß ihn vollkommen bedecken. Niemand würde ihn mehr sehen oder wahrnehmen und er würde einfach verschwinden.

Erneut strengte er sich an, schaffte es auf die Beine. Nein, auf die Pfoten. Er hatte Pfoten. Ob das so richtig war? Es fühlte sich nicht falsch an, aber auch nicht richtig. Sein ganzer Körper fühlte sich nicht richtig an. War er schon immer so klein gewesen? Hatte er schon immer Pfoten anstatt Hände gehabt? Jemand kam auf ihn zu. Jemand der viel größer war als er. Wenn es ihm nicht gelang, rechtzeitig auszuweichen, würde er zertrampelt werden. Er musste schnell weg, aber das Kombinieren von Hinter- und Vorderpfoten wollte nicht klappen. Der Riese kam immer näher, schlug mit einem Stock auf den schneebedeckten Asphalt. Klong, klong, erklang es dumpf in seinen Ohren, als der Gigant langsam näher kam.

„Vorsicht! Ich bin hier unten!“, wollte er schreien, aber nur ein seltsames, leises Quietschgeräusch entschlüpfte seiner Schnauze. Er hatte eine Schnauze, keinen Mund, keine Lippen.

Sollten es nicht andere Laute sein? Doch die riesige Gestalt hielt an, beugte sich hinunter und tastete im Schnee herum. Dann traf eine Hand mit fünf Fingern seinen Kopf, klopfte leise, vergrub die Finger in seinem Fell und streichelte seinen Rücken entlang. Irgendwo in einer kleinen Ecke in seinem Gehirn glaubte er, zu wissen, dass auch er solche Hände gehabt hatte. Wenn er an sich dachte, dachte er an die Farbe weiß und die Zahl neun. Neun blaue Flammen? Warum dachte er an neun blaue Flammen, wenn er nur acht spürte? Ein Teil von ihm fehlte. Wo war seine neunte Flamme?

„Hast du dich verlaufen kleines Miezekätzchen? Es ist kalt und du bist so klein. Ich werde dich mitnehmen und mich um dich kümmern, bis wir deinen Besitzer gefunden haben.“ Seine Stimmbänder sollten in der Lage sein, ähnliche Laute zu formen. Aber alles, was er herausbekam, war dieses leise Quietschen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, für eine Katze gehalten zu werden. Warum? War er keine? Die riesige junge Frau nahm ihn hoch und drückte ihn an die Brust, während sie ihn streichelte und ihm beruhigende Worte zuflüsterte. Er sah zu ihr hoch. Sie kam ihm bekannt vor. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen.

In einer Hand hielt sie ihn, in der anderen einen Stock, mit dem sie den Boden abklopfte. Auf dem Rücken trug sie einen großen, schwarzen Kasten.

„Mein Name ist Mika“, sagte sie zu ihm. Er hatte das Gefühl, lange darauf gewartet zu haben, ihren Namen erfahren zu dürfen.

„Wie dein Name wohl ist?“ Er gab ein Knackgeräusch von sich, gefolgt von einer Art Bellen.

„Oh, haben wir hier ein Hündchen und keine Katze?“ Das gefiel ihm schon etwas besser.

„Wie wäre Wan? Sollen wir dich Wan nennen?“ Das gefiel ihm noch weniger, als für eine Katze gehalten zu werden. Der Name klang falsch und unangenehm in seinen Ohren und er knurrte leise.

„Das gefällt dir also nicht. Wie wäre es mit Yuki, wie der Schnee? Ich hab dich schließlich im Schnee gefunden.“ Das gefiel ihm schon besser. Es war fast perfekt. Er gab ein zustimmendes Bellgeräusch von sich.

„Dann also Yuki. Freut mich dich kennenzulernen, Yuki!“

----

Yuki lag auf dem Sofa. Es war alt, aber bequem. Der schwarze Stoff war hier und da durchgesessen und dünn geworden. Die Türen standen wie immer weit offen. Yuki hob leicht den Kopf und erhaschte einen Blick auf Mikas nackten Rücken, als sie sich im Schlafzimmer anzog. Schnell wandte er seinen Blick zu dem ungemachten Bett, drehte dann seinen Kopf nach links und blickte über den Balkon hinaus, in die gegenüberliegende Wohnung.

Und sah, wie die 50 jährige Nachbarin ihren hängenden Busen in einen Büstenhalter zwängte. Ruckartig drehte sich Yuki wieder zu Mika um. Hoffte, in ihrem Anblick das Gesehene zu vergessen. Doch Mika war bereits angezogen. Verärgert brummte er in sich hinein. Er würde die Augen eine Weile nicht schließen und hoffen, dass sich das Bild nicht für immer in sein Netzhaut eingebrannt hatte: Falten, Altersflecken und Gewebeschäden … Platzmangel hin oder her, musste man so nahe aneinander bauen?

Mikas Wohnung war nicht groß, doch sie hatte einen getrennten Schlaf-und Wohnbereich, sowie eine Küche mit einem kleinen Esstisch und zwei Stühlen. Toilette und Bad waren gleich im Flur rechts. Es war klein und man musste sich in der Wanne waschen, nicht außen, wie es sich gehörte. Nur die Westler liebten es, in ihrem eigenen Dreck zu schwimmen. In Japan wusch man sich bevor man in das saubere Wasser stieg. Doch in den Städteapartments war diese Möglichkeit aufgrund von Platzmangel selten gegeben. Yuki kam nicht umhin, es trotzdem als Sakrileg an der japanischen Kultur zu empfinden. Es war so, als ob er vor seiner Morgenwäsche absichtlich in eine Pfütze springen, sich darin suhlen und sich danach mit Freuden sauberlecken würde.

Ihm wurde schlecht und er schloss die Augen. Yuki fühlte sich müde und kraftlos, auch wenn er den ganzen Tag nichts anderes tat, als schlafen. Er war hungrig, auch wenn er den ganzen Tag aß. Hatte er sich an dem widerlichen Zeug, das Mika Hundefutter nannte, den Magen verdorben? Es schmeckte nicht nur furchtbar, sondern war auch noch schweineteuer.

„Yuki!“, Mikas Stimme klang besorgt, als sie nach ihm rief. Er bellte kurz zur Antwort.

„Ich gehe auf die Musikallee, willst du mit? Ein bisschen frische Luft wird dir sicher guttun.“ Er stand auf, folgte ihr, als sie die Wohnungstür aufmachte und huschte hindurch, bevor Mika sie wieder hinter sich schloss. Dann stieg Mika sicheren Schrittes die Treppe hinunter, immer den Blick vor sich ins Nichts gerichtet, ging der Straße entlang, bog rechts ab, dann links und lief dann weiter gerade aus. Immer ihr Keyboard auf dem Rücken, die Boxen in der einen Hand und ihren Blindenstock in der anderen. Obwohl es kalt war, trug sie fingerlose Handschuhe.

Mika hielt an einer Ampel, wartete bis das Signal für Grün ertönte, ging zu ihrem üblichen Platz und baute Keyboard und Boxen auf. Wo andere Bilder sahen, hörte Mika Töne. Mit Hilfe der Tonkarte, die das Keyboard ihr schenkte, konnte sie Tonbilder malen, wo andere Öl, Kreide, Acryl und Kohle verwendeten.

Es hatte geschneit und der breite Gehweg war bedeckt von einer hauchdünnen Schneeschicht. Yuki legte sich in den Schnee und spitzte die Ohren. Oft tummelten sich hier große Menschenmengen und Musiker. Fanden die Leute gefallen an einem der Künstler, hielten sie in ihrem Hasten inne und bildeten mal hier mal da Trauben auf dem Verbindungsweg zwischen Harajuku und Shibuya.

Im Winter waren es weniger Menschen und weniger Musiker. Heute hatten sich außer Mika nur zwei auf die verschneite Straße gewagt. Zu weit voneinander entfernt, als dass sich ihre Lieder in eine homogene Masse vermischen konnten, klang ein jeder für sich, umgeben von einer Mauer aus Melodie und Text.

Auch Mikas wunderschöne Stimme erfüllte in sich selbst hallend mal zart, mal kraftvoll die Straßen, als Yuki leise in ihr Lied einstimmte. Menschen blieben stehen, bestaunten den kleinen, weißen Hund und das blinde Mädchen mit der schönen Stimme.

Je mehr Menschen stehenblieben, desto stärker fühlte Yuki sich. Energie durchströmte seinen müden Körper und seine Flammen begehrten kraftvoll auf, brannten stetig und licht. Mika freute sich über den Applaus, der folgte. Man drückte ihr Geld in die Hand und fragte nach ihrem Namen, dem ihres Hundes. An jenem Tag wurde auf den kalten Steinen der Straße zwischen Harajuku und Shibuya ein Star geboren. Ein weißes, puschelliges Sternchen, das dem Menschenmädchen folgte, als es zusammenpackte und sich auf den Weg zur Tokyo School of Music machte.

Das braun gekachelte, achtstöckige Gebäude befand ich in einer Nebengasse, und war bis auf ein großes Poster recht unscheinbar. Mit einem muffigen Aufzug fuhren sie in den dritten Stock und betraten einen Raum voller Musikinstrumente und Geräte, die Yuki nicht zuordnen konnte. Mika ging zielstrebig zu einem Stuhl, der etwas abseits stand, stellte ihre Sachen ab und setzte sich. Yuki legte sich neben sie und beäugte die anderen Menschen argwöhnisch.

Mikas Augen waren auf den Boden gerichtet und sie saß bewegungslos da. Ein älterer Herr kam zur Tür herein. Yuki knurrte leise, fast lautlos in sich hinein. Er mochte den Mann nicht. Lange, fettige Haare umrahmten seine Halbglatze wie eine Krone und gaben ihm das Aussehen eines Oktopusses mit zu dünnen Tentakeln. Mit seinen Glupschaugen beäugte er die weiblichen Studenten wie ein Elch zur Brunftzeit. Und alles in Yuki schrie danach seine Zähne tief in dem weichen Hinterteil des Mannes zu vergraben. Doch er hielt sich zurück, für Mika.

Nach der Geduldsprobe kehrten sie wieder nachhause zurück, ohne dass Mika auch nur ein Wort verloren hatte. Die Frau, die sonst Yukis Welt mit Musik und Farbe füllte, wurde an jenem Ort zu einem stummen, glanzlosen Fisch. Glücklich wirkte Mika nur, wenn sie auf dem breiten Gehweg vor ihrem Keyboard stand und sang. So verging Tag für Tag. Sie verließen die wunderbare, bunte Klangwelt der Straße, um in der braunkarierten Stille der Musikschule abzutauchen. Bis ein Auto bei Rot über die Ampel fuhr.

Mika konzentrierte sich auf den Ton der Ampel und hörte nur das Vogelgezwitscher. Das Quietschen von Rädern riss Yuki aus der Welt der grünen Wälder, in die der Gesang der Ampel ihn immer lockte. Er heulte voller Grauen auf, als er den Wagen heranrasen sah. Rot wie Blut. Die Räder rauchten, als der Fahrer bremste und das Lenkrad herumriss. Doch der Toyota schlitterte weiter auf Mika zu. Yuki sprang mit aller Kraft in die Luft, wollte Mika mit seinem Körper rammen, sie aus der Gefahrenzone bringen. Doch er war zu klein, nicht schwer genug.

Das Auto schlitterte weiter, war kurz davor Mika zu erfassen und sie ihm für immer zu entreißen. Er wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als größer und stärker zu sein. Um Mika retten zu können. Schutz ... Rettung ... Ein wohl vertrauter Schmerz ergriff ihn, zerklüftete seine Brust. Eine Erinnerung blitzte auf. Kleine, schwarze Ameisen. Eine Arme von leblosen Puppen stürmte auf ihn ein.

„Dieses Mal muss ich sie retten!“, schrie sein Geist. Sein Körper vibrierte, dehnte und streckte sich. Aus kleinen Pfoten wurden kräftige Hände und lange Beine. Sein Fell verwandelte sich in einen weißen Kimono. Seine Haut wurde glatt und farblos wie neu gefallener Schnee.

Starke Händen packten Mika, rissen sie mit sich. Ein warmer Körper legte sich schützend um sie, als ihre Welt sich drehte. Sie klatschten auf den Asphalt und rutschten durch den matschigen Schnee. Viel zu spät erklang die Autohupe. Der Fahrer fluchte, riss das Lenkrad wieder herum, schlitterte wieder und fuhr einfach weiter. Yuki hob Mika hoch und drückte sie fest an sich.

„Orokamono - Dummkopf! Hast du das Quietschen der Räder nicht gehört?“, eisig kalt entschlüpften Yuki die Worte, auch wenn die Sorge heiß in ihm brannte. Mikas Herz klopfte aufgeregt gegen seines, sie zitterte.

„Entschuldigung …“ Ihr Gesicht war blau und sie schlotterte am ganzen Körper. Yuki stand auf, half Mika hoch. Als ihre Beine unter ihr nachgaben, nahm er ihr den schweren Rucksack ab und hob sie hoch.

„Ich bringe dich nach Hause“, sagte er. Die ersten Schritte waren ungewohnt. Yuki musste mit Mika auf den Armen, um Gleichgewicht kämpfen. Doch schnell gewöhnten sich seine Beine daran, ihn zu tragen und seine Schritten wurden sicherer, sein Griff um Mikas Rücken und ihre Knie fester.

Der Wind wirbelte Schnee auf, der sich kalt und nass unter seinen nackten Füßen anfühlte, riss an seinen Haaren, schleuderte sie in die Luft. Ohne darauf zu achten, blickte Yuki auf Mikas Gesicht herunter. Seine Hände pressten ihren Körper näher an seinen. Er spürte ihr Herzklopfen und das leichte Zittern ihres Körpers. Sie wirkte so klein und zerbrechlich. Viel zu schnell standen sie vor der Haustür und Yuki musste Mika herunterlassen und sein Körper vermisste ihre Wärme, als jeder Kontakt zwischen ihnen abbrach.

Ungeschickt verbeugt sich Mika vor ihm und stammelte „Vielen Dank, aber woher wissen Sie, wo ich wohne?“ Yukis Finger fuhren durch sein langes Haar, teilten Strähnen in kleine weiße Bäche, die über seine Schultern liefen.

„Ich … wohne hier“, antwortete er.

„Dann müssen Sie der neue Nachbar sein! Ich heiße Mika Yamadera. Freut mich Herr …“, ihre Finger zitterten noch leicht, als sie sich das Haar hinter die Ohren strich.

„Yuki“, nannte er ihr den einzigen Namen, den er kannte.

„Yuki? Mein Hund heißt Yuki“; dann verstummte Mika und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, ließ leblose Porzellanhaut zurück: „Yuki, mein Hund ...“

„Ihm ist nichts passiert, er versteckt sich vor Schreck sicher in irgendeinem Busch. Ich gehe ihn suchen.“ Abrupt drehte er sich um, lief die Treppe hinunter, zurück zur Kreuzung, als würde er dort wirklich sein tierisches Ich finden. Sein Herz klopfte schnell. Seine Füße trugen ihn, als hätte er sich schon immer auf zwei Beinen und nicht auf vier Pfoten fortbewegt. Ein Automatismus, in Fleisch und Blut übergegangen.

Dann hielt er inne, blickte sich in der bekannten Umgebung um, die ihm doch fremd war. Sah hinunter auf seine Hände. Die Haut war weiß, die Finger lang. Die Nägel liefen spitz zu, waren menschlich und hatten doch etwas Tierisches. Er fuhr mit der linken Hand über die rechte. Glatt, kein Härchen war aufzufinden. Er griff zu seinem Haar, packte eine Strähne, zog sie vor sein Gesicht, roch daran, kaute darauf und leckte sie ab. Es schmeckte wie immer nach geschmolzenem Neuschnee.

Ungewollt und unvorbereitet wurden die Passanten Zeugen einer seltsamen Begebenheit, die nicht einmal das menschliche Gehirn an eine glaubwürdige Realität anpassen konnte. Ein hochgewachsener Mann in einem weißen Kimono stand barfuß im Schnee. Ein schöner Mann, bei dessen Anblick Mütter rot wurden, Töchter in Aufruhr gerieten, Männern und Jungen der Atem vor Bewunderung und Neid stockte. Dieser Mann, einem Traum entstiegen, blickte angestrengt auf den Rücken seiner Hand und … leckte an ihm. Fuhr langsam mit dem feuchten Handrücken vom Kopf über die Wange. Einer Mutter entschlüpfte ein Stöhnen, die Wangen aller leuchteten rot.

In der routinierten Bewegung seiner morgendlichen Wäsche gefangen, bemerkte Yuki die befremdliche Blicke erst nach einigen Runden seines Putzrituales. Als er die Augen auf sich spürte, wurde er von einer gewaltigen Energiewelle erfasst. Sie presste sich in seinen Körper, fegte jeden Gedanken an Müdigkeit weg. Das Gefühl der Sättigung entlockte seinen Lippen ein zufriedenes Knurren. Hocherhobenen Hauptes stolzierte er zum Haus.

Yuki ging durch die offene Haustür und lehnte sich an die kalte Wand. Das Glücksgefühl, das die Sättigung begleitet hatte, war verschwunden. Seine Gedanken kreisten um Mika. Wie sollte er ihr erklären, dass er … Bevor er den Satz zu Ende denken konnte, hallte ein leises Puff durch das Treppenhaus und als sich der leichte Nebel, der aufgekommen war, verzogen hatte, stand an der Stelle des schönen Mannes ein niedliches Hündchen.

Yuki sauste freudestrahlend die Treppen bis in den dritten Stock hinauf, nur um dann vor einer verschlossener Tür schlitternd zum Stehen zu kommen. Auch wenn sein Geist die Worte formten, verließ seine Schnauze nur seltsame, leise Knackgeräusche, als er nach Mika rief. Kein Miauen, kein Bellen. Und doch hörte Mika ihn.

Die Tür sprang auf und sie streckte die Arme aus, um ihn zu empfangen. Yuki sprang an ihre Brust, hechelte und seine nasse Zunge glitt rau über ihre Wange. Ihre Haut schmeckte nach umeshu – süßlich herben Pflaumenwein. Eine Erinnerung flackerte in ihm auf. Eine kleine Anhebung eingezäunt von bunten Blätter, die leicht schimmernd im Mondlicht glänzten, neben ihm …

Mika umschlang ihn und rieb ihr Gesicht lachend an seinem weißen, weichen Fell und das Fragment seiner Vergangenheit entglitt seinem schlüpfrigen Geist. Doch für den Ansatz eines Momentes hatte Yuki sich komplett gefühlt. Alleine zurückgelassen in dem dicken Nebel seines Verstandes, erdrückte ihn die Leere, die kurz davor nur der Hauch eines Unwohlseins gewesen war.

Yuki immer noch auf dem Arm, ging Mika in die Küche und setzte ihn vor einer prall gefüllten Plastikschale ab. Der Geruch nach zusammengematschten, konservierten Fleischstückchen stach ihm in die Nase und Yuki musste ein Aufheulen unterdrücken. Sein Geist seufzte, als Mikas Hand zärtlich über sein Fell streichelte und Yuki steckte ergeben die Schnauze in die braune Substanz. Mit aller Kraft hart daran arbeitend, nicht zu riechen und nicht zu schmecken, würgte er das weder feste, noch weiche Fleisch mitsamt seiner Schleimschicht herunter.

----

Als Yuki am nächsten Morgen erwachte, hockte er auf dem Boden, Kopf und Arme auf Mikas Schoss. Weißes, langes Haar ergoss sich über ihre Schenkel. Sein langes, weißes Haar! Yukis Herz machte einen Sprung und er wackelte aufgeregt mit haarigen Ohren, die sich plötzlich auf dem Kopf befanden und nicht mehr rechts und links von seinen Wangen.

Er löste sich vorsichtig von Mika, schlich in den Flur und blieb vor dem Spiegel stehen. Eisblaue Augen eines Mannes mit Tierohren starrten ihm neugierig entgegen. Automatisch verglich er sie mit dem warmen Dunkelbraun, das ihn in Mikas Augen an geschmolze Schokolade mit feinen Goldplättchen erinnerte. Dann fixierte Yuki seinen Blick auf die pelzigen weißen Ohren und dachte an runde, menschliche Ohren. Ein leises Puff ertönte und seine Ohren waren da, wo sie bei einem Menschen sein sollten.

Er strich sich übers Haar, fuhr seine Wangenknochen entlang und sein Kinn. Die Haut war glatt und weich. Doch wie sehr er Mika jetzt auch mit seinen zwei Beinen und seinem aufrechten Gang ähnelte, war er doch nicht wie sie. Gab es andere wie ihn? Menschen, die sich in Tiere verwandelten? Oder war er ein Tier, das sich in einen Menschen verwandelte?

Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Mika war aufgewacht. Lautlos huschte er durch die Wohnungstür, zog sie hinter sich zu und klopfte, kaum dass sie ins Schloss gefallen war. Mit zerzaustem Haar öffnete Mika und fragte verschlafen: „Wer ist da?“

„Yuki“, antwortete er.

„Yuki-san! Vielen Dank noch mal“, beeilte Mika sich zu sagen. Ihre Wangen röteten sich und sie verbeugte sich tief. Ihr dunkles, kurzes Haar hüpfte bei der Bewegung auf und ab, fiel ihr ins Gesicht.

„Sie haben mir und dem kleinen Yuki das Leben gerettet. Wir stehen tief in Ihrer Schuld.“

„Nenn mich Yuki!“, erwiderte er irritiert. Es gefiel ihm nicht, von Mika mit san angesprochen und gesiezt zu werden. Zu sehr war er an ihre Körperwärme und ihren Geruch gewöhnt, um falsche Distanziertheit heucheln zu können.

„Okay, Yuki-kun. Komm doch rein! Ich habe nicht viel da, aber für ein Dankeschön-Frühstück wird es reichen.“ Mika trat auf die Erhöhung, die den Eingangsbereich von der Wohnung trennte, und ging in dem schmalen, dunklen Gang vorbei am Bad und an der kleinen Ablage, auf dem das Telefon stand, in die Küche. Yuki folgte ihr. Mika griff mit routinierten Händen im Regal nach dem Hundefutter, öffnete die Dose und rief: „Yuki!“

„Ja?“

„Ah, ich meinte den kleinen Yuki“, erwiderte Mika lachend. Ihr Lachen berührte etwas in ihm, eine kleine Dampfwolke stieg von seinem Kopf auf. Dampf? Wolke? Er fuhr mit beiden Händen hoch, berührte Pelz und wackelte mit weißen, puschelligen Ohren. Als sein Herz erschrocken schneller klopfte, verwandelte sich seine Nase in eine Schnauze. Er tastete sie entlang und versuchte, sich zu beruhigen. Was war bloß los mit ihm? Er konzentrierte sich und hatte plötzlich Tatzen anstelle von Händen. Yuki schloss die Augen atmete tief ein und es gelang ihm, seine menschliche Form zu stabilisieren.

„Siehst du Yuki irgendwo?“, fragte Mika besorgt.

„Der … ist an mir vorbei gerannt. Durch die Tür.“ Mika legte die Stirn in Falten, ihre Ohren spitzten sich, als sie genauer in die Wohnung hineinhorchte. Sie fand keinen Yuki und nickte zweifelnd. Doch sie setzte mit gekonnten Griffen Kaffee auf und schob Brotscheiben in den Toaster. Jeder Handgriff saß. Ordnung war alles für Mika.

„Singst du, Yuki-kun?“, fragte Mika aus dem Blauen heraus, griff nach rechts, öffnete eine Schublade und holte zwei Löffel heraus.

„Singen?“, fragte Yuki verwirrt. Er begleitete Mika ab und zu heulend. Aber singen?

„Deine Stimme ist fürs Singen geschaffen. Sie vibriert tief, selbst wenn du nur sprichst. Man hört Stärke und Willenskraft.“

„Ich singe nicht“, nicht mit Worten, dachte Yuki. „Aber ich kenne alle deine Lieder“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu. Mikas Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann lächelte sie, öffnete ihren Mund und eine bezaubernde Melodie entsprang ihren Lippen. Leise und sanft. Dann wurde sie kräftiger. Yuki hatte die Worte schon so oft im Geiste gesungen, dass sie automatisch aus seinem Mund schlüpften. Eine tiefe Version von Mikas Lied, die in den Magen fuhr und eine Unruhe erzeugte, die mehr forderte. Yuki war so gefangen in dem Moment des Zaubers, dass er nicht bemerkte, dass einer seiner Schwänze im Rhythmus mitschwang.

Ihre Stimmen vereinten sich im Chor. Unterschiedlich wie sie waren, ergänzten sie sich perfekt. Dann verstummte Mika und bat Yuki, alleine weiterzusingen. Als der letzte Ton verklungen war, sah Mika ihn mit ihren unergründlichen Augen an und sagte: „Du singst wie Yuki.“

„Ich bin Yuki“, erwiderte er. Mika lachte: „Wie mein Yuki.“ Er griff nach Mikas Hand, drückte sie fest und sagte mit tiefer Stimme: „Ich wäre gern dein Yuki.“

Mika spürte die Wärme seiner Hand und die Hitze seines Körpers, die sie erreichte, ohne dass sich ihre Leiber berührten. Er roch nach frisch getautem Schnee. Ihre Hand versteifte sich. Wie oft schon war die Süße ihrer verführerischen Hilflosigkeit und Abhängigkeit verflogen und hatte Pflichtgefühl und Belastung Platz gemacht? Sie hörte nachts immer noch Hiros Abschiedsworte: „Wer will schon einen Gendefekt wie dich heiraten? Zu einer blinden Frau auch noch blinde Kinder?“ Ihr Traum von einer Familie lag seit jenem Tag in Millionen Scherben irreparabel zersprungen vor ihren Füßen. Sie war Monate lang auf den Scherben gelaufen. Bis ihre Füße blutig waren und ihr Herz zu müde, um zu schmerzen.

Mikas schönes Gesicht verzerrte sich zu einem gequälten Lächeln und sie erwiderte mit hartem Ton: „Dieser Platz ist bereits vergeben.“ Yuki ließ Mikas Hand los und die Wärme verschwand, als er Abstand von ihr nahm. Ihr blieb nur Kälte. Bedauern schlich sich in ihr Herz und Mika fügte kläglich hinzu: „Aber du kannst gerne jederzeit vorbeikommen und mit mir singen. Du hast eine wunderschöne Stimme.“

Yuki erwiderte nichts. Das Schweigen wuchs, nahm den ganzen Raum ein. Als plötzlich der Toast hochsprang und die peinliche Stille zerriss. Mika zuckte überrascht zusammen, sagte jedoch dankbar: „Setzt dich doch! Ich hole kurz Aufschnitt und Aufstriche.“ Mikas Bewegungen waren hektisch, ihr Puls raste.

Als sie sich endlich hingesetzte hatte, biss Yuki ins Toastbrot und musste an nattō denken. Ob man Toastbrot normalerweise mit nattō aß? Wieder von einem unangenehmen Schweigen umhüllt, saßen sie sich gegenüber. Mika rührte Zucker in ihren Kaffee. Jedes Mal, wenn der Löffel den Becherrand berührte, hallte der Aufprall durch das Schweigen, umgarnte es und hob es hervor, wie etwas Heiliges. Nervös legte Mika den Löffel beiseite, atmete tief ein und zählte bis drei, bevor sie eine Frage stellte. Irgendeine, um der Stille ihre Macht zu nehmen: „Lebst du schon lange in Tōkyō?“

„Drei Wochen.“

„Vor drei Wochen habe ich Yuki gefunden“, erwiderte Mika überrascht, „wo warst du denn vorher?“

„Weiß nicht.“ Yuki dachte sich nichts bei seiner Antwort und griff nach dem Käse.

„Wie meinst du das?“

„Ich erinnere mich nicht.“ Er wusste nichts über diese fremde Welt. Kannte nichts, außer der Zeit, die er mit Mika verbracht hatte.

„Eine Art Amnesie?“, fragte Mika.

„Was ist mit dir?“, lenkte Yuki ab.

„Ich lebe seit einem Jahr in Tōkyō.“ Mikas Finger verkrampften sich.

„Alleine?“ Mika fühlte sich sichtlich unwohl bei dieser Frage, antwortete jedoch trotzdem: „Meine Eltern leben auf dem Land in Akita. Dort bin ich aufgewachsen.“ Mika sagte nicht mehr und Yuki fragte nicht näher nach.

„Du singst schön.“ Die Worte klangen selbst in seinen Ohren hohl und leer.

„Danke“, erwiderte Mika, die Wangen leicht gerötet.

„Danke fürs Frühstück“, sagte Yuki und erhob sich.

„Ich hoffe, du kannst dich bald wieder an etwas erinnern“, entgegnete Mika.

Yuki nickte nur und ging in den Flur. Er schloss die Tür, ohne hindurchzugehen und verwandelte sich ohne Probleme in einer fließenden Bewegung in den weißen, puschelligen Yuki. Mit seinen kurzen Beinen brauchte er länger für die Strecke zurück und gab, endlich angekommen, sein seltsames Bellen und Knacken von sich. Mika nahm ihn auf den Arm, drückte ihn an ihre Brust und setzte ihn vor den gefüllten Fressnapf. Die Nase rümpfend dachte Yuki darüber nach, dass es manchmal besser wäre, weniger gut riechen zu können.

„Mein Held in strahlender Rüstung war gerade hier“, sagte Mika, als sie ihn hinterm Ohr kraulte, „er ist etwas wortkarg. Aber seine Stimme musst du hören! Da werden einer Frau die Knie weich. Vielleicht können wir bald zu dritt auftreten. Seine Singstimme ist bezaubernd.“ Ihre Hand hielt kurz inne, als sie verstummte.

„Ich hoffe, er kommt wieder …“, flüsterte sie so leise, dass Yuki seine Ohren spitzen musste, um die Worte zu hören. Peinlich berührt, würgte Yuki das furchtbare Fressen hinunter und musste wieder an Brot mit nattō denken. Nachdem er mit seinem zweiten Frühstück gekämpft und sich als eindeutiger Verlierer geoutet hatte, zog sich Mika um, packte ihre Sachen und sie gingen wieder zu ihrer Bühne. Die Straße gehörte ihnen und die Menschen blieben stehen, um die blinde Frau und den melodischen Hund zu bewundern.

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Mika hatte nach seinem erneuten Auftauchen einen Raum in der Musikschule gebucht. Yuki sah sich in dem nach Angstschweiß und zerstörten Träumen riechenden Zimmer um. Die Wände waren weiß, wölbten sich ihnen in regelmäßigen Muster entgegen. Wirkten wie Sofapolster, die an die Wand genagelt waren, schön akkurat nebeneinander. Boden und Decke waren schwarz. Im hinteren Teil des Raumes standen seltsame Geräte, groß und klein, lang und dick. Ein paar glänzten golden oder silbern, einige waren auf lackiertem Holz, das im Licht funkelte. Welche standen alleine, andere lehnten oder hingen an der schwarzen Wand, die nicht mit Sofapolster behangen war. Mika konzentrierte sich auf ihr Keyboard, das sie routiniert aufbaute und schloss ihre kleinen Boxen an einen Minigenerator an.

Nachdem sie fertig war, stellte sie sich vor das Keyboard, schloss die Augen und ließ ihre Finger über die Tasten tanzen. Yuki erkannte die Melodie nach den ersten Noten. Ein Lied über Freiheit und Unabhängigkeit, Fliegen und Fallen. Worte, die er so oft gedacht hatte, formten sich automatisch. Überrascht schnellten Mikas Augenlieder hoch und ihre Finger stockten kurz, bevor sie flüssig weiterspielten. Yukis Stimme erfüllte den Raum, sprang an den Wänden ab, sammelte sich in ihrem Bauch, vibrierte heftig in ihr und weckte Gefühle, die sie lange begraben hatte. Das Atmen fiel ihr schwer und ihr Herz klopfte wild.

Noch nie hatte sie so etwas Schönes gehört. Sie wollte ewig spielen, damit er ewig sang. Doch das Lied ging zu Ende und Mikas Finger weigerten sich sofort zum nächsten Lied überzugehen. Aus ihrer Trance gerissen, zitterten ihre Hände vor Aufregung und Angst. Angst davor, neben Yukis Strahlen zu verblassen und zu verschwinden. Weggeschwemmt zu werden von dem Orkan seiner Stimme. Nach einer langen Pause fragte Mika atemlos: „Hast du ein Mikrophon benutzt?“

„Mikrophon?“ Mikas Angst steigerte sich in Panik. Wie sollte jemandem ein Stern auffallen, wenn neben ihm die Sonne lichterloh schien?

„Im Raum müssten einige stehen. Schließe sie einfach an meine Box an.“ Mika hörte Yukis leise Schritte, seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren, so sanft trat er auf. Dann hörte sie ein Rascheln, ein Klicken und ein furchtbare schrilles Fiepen. Mika wartete. Sie wartete darauf, dass Yuki sich mit dem Mikrofon anfreundete. Wartete darauf, dass ihr Herz langsamer schlug und das Zittern ihrer Hände nachließ.

Dann herrschte wieder Stille und Mika wurde sich bewusst, dass sie alleine in einem abgeschlossenen Raum mit einem Mann war. Einem Mann, der die schönste Stimme der Welt hatte. Nervös fragte sie: „Bist du so weit?“ Er murmelte zustimmend. Mika hoffte, dass ihre Hände sich beruhigen würden. Sie schloss die Augen, atmete tief durch.

Sie dachte an ein Gefühl und ihre Finger gaben ihre Seele wieder. Jeder Text, jede Melodie war ein Gefühl, das Mikas Selbst ausmachte und diese Lieder und Töne, gesungen von Yuki, waren intim und berührten sie so tief, dass sie körperlich spüren konnte, wie er in ihre Seele drang, sie rücksichtslos erforschte und sich für immer in ihrem Heiligtum einnistete.

Mika fürchtete sein Talent. Hatte Angst vor der Nähe, die er unbewusst schuf und der Zuneigung, die sich in ihrem Herzen formte. Und doch war es der schönste Augenblick in ihrem Leben, als ihre Stimmen miteinander spielten, sich antasteten, neckten, um sich dann im Refrain zu vereinen. Sie sangen durch, bis die Nächsten das Zimmer stürmten, um auf ihr Recht und ihre Reservierung zu beharren.

Eilig packten Mika und Yuki zusammen. Sie redeten nicht, auch nicht auf dem Nachhauseweg. Durch die Musik hatten sie alles gesagt. Zu viel geteilt. Worte wirkten jetzt blass und unzureichend. Mikas Wangen brannten und es fiel ihr schwer, sich auf den Weg zu konzentrieren. Würde es genau so sein, wenn sie zusammen auftraten?

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Es war soweit. Mikas Herz klopfte wild. So aufgeregt war sie schon seit Langem nicht gewesen. Sie spürte Yukis Präsenz neben sich. Er strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Als könne ihn nichts auf der Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Mika wusste, dass er ihr Ersatzmikrophon in der Hand hielt, so wie sie ihres vor dem Keyboard aufgebaut hatte. Vor ihr war nichts. Der Gehweg war leer. Sie spürte die Vibration der Klänge frei durchschwingen, ohne auf Widerstand zu treffen.

Ihre Finger fühlten sich steif an, jedoch nicht vor Kälte. Es war eine Kaninchenstarre. Furcht lähmte sie. Furcht vor der Übermacht von Yukis Stimme, vermischt mit dem Wunsch, nein, dem unüberwindbaren Drang, dieses Wunder wieder zu hören. Mika hatte auf keine weitere Probe bestanden. Yuki war perfekt. Er brauchte keine Proben.

Mika schloss die Augen und ließ ihre Finger tanzen. Zuerst etwas zögerlich, übernahm die Gewohnheit die Führung und sie sprangen wie immer über ihre Tonkarte und führten Mika in die Welt der Bilder und Gefühle. Gewohnheit. Mika liebte sie, weil sie ihr Freiheit schenkte. Und sie hasste sie, weil sie nicht ohne sie konnte. Für Mika waren Gewohnheit und Regulierung der einzige Weg, selbständig zu leben. Nur in der Musik fand sie Spontanität.

Die Melodie des Keyboards erhob sich in die Lüfte. Zuerst leise, kaum hörbar, vereinte sich Mikas Stimme mit der Melodie. Sanft und zart schwang sie in der Luft, umwob die Klänge des Keyboards, wurde eins mit ihnen, um dann abrupt zu verstummen. Die Melodie wurde tiefer und Mikas Körper spannte sich in Erwartung auf die kommende Euphorie an, wenn Yukis Stimme sich erheben würde. Sein Tenor erfüllte die Himmelsphäre. Mika hörte ihre Gefühle in seiner Stimme, die voller Leidenschaft von Liebe und Einsamkeit erzählte.

Der Wind riss Yukis langes, weißes Haar in die Luft, zerrte an seinem Schal, den er von Mika bekommen hatte, warf seinen Kimono in die Luft. Der Stoff, blau wie der wolkenlose Winterhimmel, flatterte wie ein aufgeregter Vogel und erweckte die Spatzen, mit geschwungenen, schwarzen Linien auf dem seidenen Stoff verewigt, mal kräftig, mal hauch dünn, zum Leben und ließ sie fliegen. Wie ein Sturm fegte die Böe über ihn hinweg, trug sein Lied kilometerweit und zog die Menschen an den Ort der Wunder, an dem Träume wahr wurden.

Als Yuki sich der Welt, in der nur Musik herrschte, entriss und die Augen öffnete, stand sie vor ihnen. Eine riesige Menschenmenge, die ihnen gebannt zuhörte. Männer und Frauen, Mädchen und Jungen schenkten ihnen ihre volle Aufmerksamkeit. Einige hatten Tränen in den Augen, viele Gesichter umspielte ein Lächeln der Erinnerung. Erinnerung an vergangene Liebe, Gedanken an währende Liebe und ein Traum von kommender Liebe. Energie strömte aus der Menge, schnellte auf Yuki zu, erfüllte seinen Geist und seinen Körper.

Für einen kurzen Moment gelang ihm ein Blick hinter den Vorhang der Amnesie. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, zu wissen, wer und was er war. Doch als das Lied zu Ende war und die Menschenmenge applaudierte, fiel der undurchdringbare Vorhang und alles wurde wieder schwarz.

Mika war berauscht von dem tobenden Applaus. So viele Zuhörer hatte sie noch nie gehabt. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, ihre Augen funkelten. Sie fühlte sich lebendiger denn je. Ob es wohl dieser Moment war, in dem Mika Yuki für immer verfiel, ihren Schwur und sich selbst verriet?

Mit jedem Lied versammelten sich mehr Menschen um sie und die Traube stand noch lange da, nachdem die letzte Note verklungen war. Mika plapperte aufgeregt, immer ein Lachen in der Stimmt. Yuki trug den Rucksack mit Keyboard und den kleinen Boxen. Als sie an dem Apartmentkomplex ankamen, trat Yuki wie selbstverständlich in die Wohnung. Mika machte Tee und wurde ganz ruhig. Der Redeschwall war so plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Mika wirkte unsicher und wie immer, rief sie nach ihrem Yuki, wenn sie sich unwohl fühlte.

„Schläft auf der Coach.“ Yuki mochte es nicht, zu lügen, und doch konnte er sich nicht dazu bringen, Mika die Wahrheit zu sagen. Mika nickte und rührte nervös in ihrer Tasse herum.

„Du bist müde. Ich gehe.“ Bei seinen Worten stieß der Löffel gewaltsam mit dem Tassenrand zusammen und echote wie ein Gong im Raum. Mikas Hand zitterte leicht.

„Kommst ...“, setzte Mika an und verstummte. Dann atmete sie tief durch und versuchte es noch einmal: „Kommst du wieder?“ Überrascht starrte Yuki sie an und antwortete: „Wenn du es willst.“

„Morgen?“ Yuki hörte Mikas Herz aufgeregt schlagen. Ihre Wangen färbten sich rot und ein bezauberndes Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht, als er: „Bis Morgen“, brummte.

Yuki ging zur Tür, öffnete sie und schloss sie, ohne herauszutreten. Dann wurde alles um ihn herum größer und er kleiner. Mit seinen vier puschelligen Beinen tappte er mit erhobenem Haupt leise über das Laminat, ging zu Mika und stupste sie mit seiner feuchten Nase an. Sie hob ihn hoch, setzte ihn auf ihren Schoß und erzählte aufgeregt von dem Auftritt, der Menschenmenge, von dem großen Yuki und seiner tollen Stimme. Etwas peinlich berührt hörte Yuki zu.

DIE KATZE UND DAS MEER

Yokohama November 2010

Der Wind peitschte Linas Haare in die Luft, biss sich mit kalten Zähnen in die Haut. Sie wartete bereits über eine Stunde. Was machte dieser überdimensionale Kater nur? Lina saß auf der Treppe, blickte abwechselnd aufs Meer und in den Himmel. Dann lehnte sie sich zurück, reckte ihr Kinn nach oben und versuchte jeden Sonnenstrahl einzufangen, den sie erhaschen konnte. Die Sonne wärmte ihr Gesicht, während der Meereswind sein Bestes gab, es einzufrieren. Das Meer barg Gefahren. Jetzt mehr denn je und Lina wusste, dass es ihre Schuld war.

Plötzlich verschwanden die roten Flecken, die zu sehen, waren, wenn das Licht der Sonne, durch die Augenlieder reichte. Das bisschen Wärme war ihr genommen worden. Gleich würde sich über ihre Haut ein weißer Film Eiskristalle legen. Lina öffnete ihre Lider langsam und blickte in blaue Augen. Blauer als der Himmel. Sie starrten sie fragend an, suchend.

„Du bist spät! Was hast du die ganze Zeit gemacht?“ Lina mochte es nicht, wenn Van sich Sorgen machte und ging in Angriffsstellung über, wie sie es immer tat, wenn sie verunsichert war. Und er verunsicherte sie seit dem ersten Tag, an dem sie sich begegnet waren. Als sie noch nicht gewusst hatte, was er war. Noch Bevor er sie aus Deutschland nach Japan entführt hatte und für sie gestorben war. Vor dem Sex in einem billigen Love-Hotel. Dem wilden, erfüllenden Sex.

„In weniger als einer Stunde ein Schiff organisiert, das uns von Japan wegbringt, ohne dass es jemand nachverfolgen kann“, erwiderte er ihre bissige Bemerkung ignorierend. Van wusste, dass Lina ein Recht hatte, wütend zu sein. Sie hatte Freunde sterben sehen und war an ein Wesen gebunden, das sie tief verabscheute: ihn. Eine Windböe ergriff seine Lederjacke und zerrte an seinen schulterlangen, gelockten Haaren. Die bronzene Haut lugte im Kontrast zu dem weißen Hemd spielerisch hervor.

Leicht angeschrägte Augen blickten auf Lina herab. Sie streckte die Hand aus, wollte die schönen Wangenknochen mit den Fingern nachfahren. Lina erinnerte sich an das samtweiche Gefühl seiner Haut unter ihren Fingerkuppen. Doch sie ließ ihre Hand unverrichteter Dinge fallen. Sie hatte das Recht, ihn auf diese Weise zu berühren, verwirkt. Van wusste, dass sie ihn fürchtete und das war gut so. Denn er hatte die Macht ihre ganze Welt, die sich nur noch auf wenigen, wackeligen Pfeilern aufrechthielt, für immer ins Verderben zu stürzen.

Verderben ... und Tod. Linas Augen füllten sich mit Tränen und Vans mit Schmerz. Sie hatten Kameraden verloren, sie im Stich gelassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Er hatte Akiko zurückgelassen, für Lina. Eine Frau, die ihn und seinesgleichen fürchtete. Zu Recht. Sein Herz krampfte sich zusammen. Ihre schönen grünen Augen schwammen in einem Meer der Traurigkeit. Er würde sie so gerne glücklich machen. Ihr die Welt zu Füßen legen. Und doch war er sich nicht einmal sicher, ob er sie vor ihrem Schicksal retten konnte.

Van streckte Lina eine Hand hin und half ihr beim Aufstehen. Er nahm beide Reisetaschen und überließ Lina den Rucksack.

„Ich hoffe, du hast ein Schiff mit bequemen Betten gefunden. Ich weiß nicht, ob ich seetauglich bin.“ Van versteifte sich und wich ihren Blicken aus. Das hieß nichts Gutes. Sie liefen den Pier entlang, an den großen Kreuzfahrtschiffen vorbei in einen Dschungel aus Containern. In allen Farben waren sie aufeinandergestapelt. Kräne streckten ihre langen Hälse wie überdimensionale Giraffen in den Himmel, bewegten sich nur langsam und vorsichtig, fast königlich.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Lina scharf, als sie einen Kran beobachtete, der einen Container vom Pier auf ein Schiff verfrachtete. Hoch oben in der Luft wirkte der Container klein, wie ein Spielzeug.

„Ja“, antwortete Van und beließ es dabei. Sie gingen tiefer in den Containerdschungel hinein. Schlängelten sich an roten, blauen, orangenen und grünen, an mehreren Stellen angerosteten Stahlquadern vorbei. Lina schwante Böses.

Van spürte ihre Blicke im Nacken, als er vorging und einen älteren Mann mit Bart ansprach. Lina kannte das Spielchen mittlerweile. Van ließ gerade mehr als seinen Charme spielen. Sie hoffte nur, dass er in dem Geist des Mannes keine irreparablen Schäden anrichtete.

Als sie in Richtung Anlegedock weitergingen, betete Lina inständig, dass ihre Befürchtungen umsonst waren und sie eines der Passagierschiffe vom Dienstboteneingang oder ähnliches aus betreten würden. Ein Wunschtraum, den sie besseren Wissens nicht aufgeben wollte.

Dann standen sie vor einem Schiff, das mit hunderten von riesigen, bunten Containern beladen war. Es war weiß. Die Backbordseite war in blauer Schrift mit den Buchstaben C-E-S-C-O versehen. Lina blieb wie angewurzelt stehen.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, entgeistert starrte sie von Van, der sich verlegen durch die Haare fuhr, zum Schiff und den Containern.

„Es ist der einfachste Weg Yokohama zu verlassen und sicherzugehen, dass uns niemand wiedererkennen kann. Auf den Kreuzfahrtdampfern sind viele, die diese Touren öfters machen. Das Personal zum Beispiel. Die könnten sich unsere Gesichter merken.“ Zwei Ausländer. Ein atemberaubend schöner Mann und eine ausländische Frau. Sie blieben im Gedächtnis. Wenn der Orden den richtigen Leuten die richtigen Fragen stellen würde ... Er hatte sie durch weniger ausfindig gemacht.

Linas Wangen glühten vor Scham, als sie daran dachte, wie er sie gefunden hatte. Sie war dumm gewesen. Fazebuch und Skyb waren keine guten Kommunikationskanäle, wenn man gesucht wurde. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, das der Wind ihr in die Augen gepeitscht hatte und hoffte, dass ihre Wangen so gerötet vom kalten Wind waren, dass ihre Schamesröte nicht weiter auffiel und seufzte. Van hatte Recht. Komfort stand nicht oben auf ihrer Liste. ÜBERLEBEN war an erster Stelle in Großbuchstaben vermerkt. Danach kam Flucht vor den Armenen und dann Informationen über das Tor sammeln.

Van wusste, er hatte einen Kampf gewonnen, der nie richtig begonnen hatte. Er drehte Lina den Rücken zu und lief über eine schmale Brücke zum Schiff. Lina folgte ihm, seinen breiten Rücken nicht aus den Augen lassend. Elegant und ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, bewegte er sich auf dem wackeligen Konstrukt aus Seilen und Holzbrettern. Wie immer hatte er seine Ärmel leger hochgekrempelt. Das Schwarz seiner Lederjacke ging über in das Weiß seines Hemdes und hob das Bronzene seiner Haut hervor.

Normalerweise hätte sich Lina an solch einem Anblick erfreut, doch sie musste all ihre Kräfte zusammennehmen, um einen Schritt nach dem anderen zu machen. Beide Hände krallten sich abwechselnd in die labilen Seile der schmalen Hängebrücke. Das Meer bewegte das Schiff und das Schiff die Brücke. Entsetzt starrte Lina in das blaue Nass. Es musste dort furchtbar kalt sein. Sie würde mit Sicherheit sofort an einem Kälteschock sterben.

„Sterben“, hallte es in ihrem Geist und Lina gefror in der Bewegung. Wovor hatte sie Angst? Vor dem Tod? Der Tod würde sie von dem Dasein erlösen und von der Schuld. Woher kam dieser Gedanke nur? Lina spürte wie die Flamme, Shiros Flamme, in ihr aufbegehrte und schrumpfte. Sie schüttelte das Gefühl ab und blickte geradeaus, machte einen Schritt nach dem anderen. Die Angst war verflogen.