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DNA - Die Erbsünde E-Book

Sabina S. Schneider

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Beschreibung

Ein fantastischer Jugendroman mit Humor, Mystik, Spannung und Dramatik!


Wenn Verführung nur Hörigkeit bringt und die Wahrheit in den Wahnsinn treibt, gibt nur noch die Welt der Lügen Halt und die Macht der Fantasie wächst bis ins Unermessliche.


Ivo ist anders, denn alle halten sie für verrückt. Während andere Mädchen von Partys, Jungs und Alkohol reden, sucht Ivo nach dem Zauber im Alltag und verliert sich in ihren erfundenen Geschichten über Minotauren, Feen, Kobolde und Geister. Bis sie auf einem Rücksitz erwacht, neben sich einen Jungen, den sie nicht kennt …

*Inklusive Leseproben aus anderen Geschichten von Sabina S. Schneider

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Sabina S. Schneider

DNA - Die Erbsünde

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

PROLOG

Seine Mutter war eine hysterische, egoistische, rumhurende Schlampe. Sein Vater ein brutaler, schlappschwänziger Alkoholiker, der nur einen hochbekam, wenn er sturzbesoffen war und sein Opfer bewusstlos von Schlägen am Boden lag.

 

Schlampe

 

 

Alkoholiker

Drogenhure

 

 

Nichtsnutz

Miststück

 

 

Schlappschwanz

 

 

Er hatte diese Worte so häufig in den verschiedensten Kombinationen gehört, dass er sie im Schlaf murmelte, wenn er sich vor Schmerzen hin und her rollte, ohne eine Position zu finden, in der ihm nichts wehtat. Es hatte Jahre gedauert, bis er ihre Bedeutung verstanden hatte.

Er saß kauernd in der Ecke, beobachtete mit großen Augen die schlanke, blonde Frau mit den dunkeln Schatten unter den Augen. Das dünne Nachthemd verdeckte kaum etwas von ihrem Körper. Sie schrie, fuchtelte wild mit den Armen. Ihr gegenüber stand ein Mann. Mittelgroß, nicht dünn, aber auch nicht fett. Er hielt ein Flasche in der Hand, auf der mit großer blauer Schrift „ABSOLUT VODKA“ stand. Heute floss der gute Stoff in seinen Venen, nicht der billige Fusel, „den man nicht einmal eiskalt genießen konnte“, wie der Mann, der ihn schon so oft im Streit und im Suff als seinen Sohn verleumdet hatte, immer sagte. Wie oft hatte „Vater“ schon Mutter angeschrien, dass er einen Vaterschaftstest wolle, dass seine Mutter so oft schon rumgehurt habe, dass „das Balg“ von jedem Nachbarn im Umkreis von zehn Kilometern, dem Briefträger, dem Bofrost Mann und jedem Drogendealer in Deutschland sein könne.

Er war „das Balg“ und wünschte sich so sehr, dass jemand anderes sein Vater wäre. Doch die Ähnlichkeit ließ sich nicht verleugnen. Er hatte die gleiche, an der Spitze hochlaufende Nase. Die gleichen geschwungenen Lippen, an die der erwachsene Mann im fleckigen Unterhemd und in zerschlissener Jogginghose die große, schwere Flasche setzte. Es waren die gleichen stechenden Augen, die sich in Unglauben weiteten, als die Mutter ihm die Pulle aus der Hand schlug. Quer durch das Zimmer flog sie, verteilte den stinkenden Inhalt über den ganzen Raum und landete neben dem kleinen Jungen.

Wie durch ein Wunder blieb sie unversehrt, rollte in einem leeren, kalten Geräusch, das dem Jungen einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, auf dem billigen Laminat hin und her. Er kauerte sich in sich zusammen, legte die Arme um seine Knie und atmete nur flach. Wenn er sich nicht bewegte, würde er vielleicht eins mit der Wand werden, verschwinden. Doch er wusste, dass das nie geschehen würde. Ihm blieb nur, wie ein verängstigtes Tier still in der Ecke zu sitzen und zu hoffen, dass sie ihn vergessen hatten. Seine Glieder und sein Rücken waren noch wund vom letzten Ausbruch seines Vaters, als es dem Jungen nicht gelungen war, unsichtbar zu bleiben. Was war es gewesen? Sein ängstliches Wimmern, als die Faust abermals im Magen seiner Mutter landete, das die Aufmerksamkeit seines Vaters auf ihn gelenkt hatte?

Der Junge starrte auf die gefrorene Szene, die den Geruch von Wodka mit dem Versprechen von Gewalt übertönte. Das Prickeln in der Luft, die Ruhe vor dem Sturm, der gleich losbrechen würde, war ihm bekannt, vertraut.

Dann schrie der Mann: „Schlampe! Hure!“, packte sie am Haar, riss ihren Kopf nach hinten und legte seine Hand um ihren Hals, drückte zu. Die Instinkte des Jungen schrien auf. Jetzt war der beste Moment die Wohnung zu verlassen, wenn er unverletzt aus der Sache herauskommen wollte. Doch sein Körper war immer noch in der Starre gefangen. Wo hätte er auch hin sollen?

Die geschrienen Worte hallten schmerzhaft in seinen Ohren. Schlampe … Hure … und Schlimmeres. Er kannte ihre Bedeutung, wusste, dass es stimmte. Er hatte seine Mutter schon so oft fremde Männer nach Hause bringen sehen. Hatte durch die offene Tür beobachtet, wie sie was mit ihnen tat. Sie hatte auf jede erdenkliche Weise Sex mit unzähligen Männern gehabt. Manchmal mit zweien oder dreien gleichzeitig.

Seiner Mutter gelang es, sich zu befreien. Sie keuchte und würgte heraus: „Impotenter Alkoholiker! Du spürst doch nur was, wenn du auf Schwächere drauftrittst!“ Auch das stimmte. Der Junge hatte seien Vater noch nie gesehen, wie er Sex hatte. Immer nur nuckelte er mit leerem Blick an irgendeiner stinkenden Flasche. Die leeren Augen entflammten sich nur, wenn er zuschlug, wenn sie am Boden lag und weinte.

Seit langer Zeit taten sich sein Vater und seine Mutter weh, schrien sich an. Drohten sich gegenseitig, sich umzubringen. Die grün und blau geschlagenen Arme um sich geschlungen, schaukelte der Junge hin und her. Die geschrienen Worte wurden immer lauter in seinen Ohren und materialisierten sich in seinem Geist. Er wusste, er hatte zwei Monster vor sich. Dann hielt er im Schaukeln inne. Brach den beruhigenden Rhythmus ab, sein einziger Zufluchtsort. Der Gedanke, noch kein Wunsch, und doch so greifbar, ließ ihn erstarren. Probeweise flüsterte er ihn, ganz leise verließen die Worte seinen Mund, während er sie genauso in seinem Herzen meinte: „Warum bringt ihr euch nicht einfach gegenseitig um? Die Welt wäre so viel besser ohne euch!“

Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, flogen sie durch den Raum, erreichten kaum hörbar die beiden hasserfüllten Menschen, von denen er abstammte. Das Gesicht seiner Mutter verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. Sie griff nach einem Messer, stürzte sich auf seinen Vater und rammte ihm die Klinge in den Bauch. Er zuckte kurz zusammen, legte seine Hände um ihren Hals und drückte zu, während sie die Klinge tiefer in ihn drängte. Dann wurden ihre Hände schlapp, ließen von der Klinge ab, die in seinem Fleisch steckenblieb. Ihr Gesicht wurde erst weiß, dann grau und schließlich blauschwarz. Ihre Augen drehten sich nach hinten, ihre Zunge hing leblos aus ihrem Mund. Schlaff glitt sie zu Boden, als der Mann sie losließ. Er keuchte, fiel auf die Knie, zog mit einem Schrei das Messer aus seinem Bauch und sank in sich zusammen. Dann fixierten sich seine Augen auf die Flasche, direkt neben dem Jungen.

Er kroch darauf zu, eine rote Blutspur hinter sich ziehend. Seine Finger tauchten in die stinkende Flüssigkeit und er führte sie mit zitternder Hand zu seinem Mund und während der Saft des Lebens aus seinen Gedärmen floss, saugte er sich das flüssige Gift von den Fingern. Hoffte er, das Blut mit Wodka zu ersetzen?, fragte sich der Junge, der seinen Vater nur anstarren konnte. Dieser benetzte seine Finger wieder mit Alkohol und saugte erneut an ihnen. Dann verharrten seine Hände bewegungslos in der Luft, sein Mund und seine Augen geöffnet, kippte sein Körper zur Seite und er blieb reglos liegen.

Wie lange der Junge so dasaß und in die leere, gierige Mundöffnung glotzte, wusste er nicht. Es hätten Minuten sein können, Stunden oder Tage, bis das Heulen der Sirenen an seine Ohren gelang und zu seiner betäubten Seele vordrang. Männer in Uniformen brachen die Wohnungstür auf, erhellten seine Welt schmerzhaft mit Blitzen von Fotoapparaten und überhäuften ihn mit Fragen, deren Sinn er nicht verstand. Dann brachten sie ihn in einen Wagen, legten ihn hinein, stachen Nadeln in seine Arme und fuhren ihn weg. Weg von den toten Monstern. Weg von der notgeilen Hure und dem impotenten Schläger. Weg von seinen Eltern.

Sie brachten ihn in ein Krankenhaus, untersuchten ihn, gaben ihm Schmerzmittel und regelmäßig zu essen. Er fühlte sich wohl dort. Dann kamen die Uniformierten, stellten wieder und wieder dieselben Fragen.

 

„Wie heißt du?“

„Was ist passiert?“

„Wer hat dir wehgetan?“

„Wer hat deinen Eltern wehgetan?“

 

Der Junge schwieg, denn er kannte die Macht der Worte. Fest presste er die Lippen aufeinander, umschlang seine Beine und wippte hin und her. Denn er wusste, die Worte, die der Mann und die Frau sich an den Kopf geworfen hatten, waren wahr. Er glaubte, sich an eine Zeit zu erinnern, in der sie sich nicht Schimpfworte entgegengeschrienen, sondern Worte der Liebe einander zugeflüstert hatten. Dann waren sie zu Monstern geworden, weil sie sich gegenseitig zu Monstern „geschrien“ hatten. Seine Mutter war mit jedem Mal ein wenig mehr zu dem geworden, was sein Vater sie genannt hatte: eine Hure. Und auch bei seinem Vater war mit jedem Schimpfwort, das seine Mutter ihm in ihrer Wut entgegenschleudert hatte, ein Stück Gutes gestorben und von einer Fäule ersetzt worden, die sich wie ein Krebsgeschwür unaufhaltsam ausbreitete, bis er zu dem geworden war, was sie in ihm sah: einen gewalttätigen Trinker.

Zwei Monster, die sich gegenseitig erschaffen hatten. Und mit der Macht seines Wunsches und seiner Worte, die ihre Kraft aus der Wahrheit zogen, hatte er sie getötet, sich selbst zu einem Monster, einem Mörder, gemacht und hatte sein Schicksal angenommen. Denn was sollte schon aus dem Kind zweier Monster anderes werden als ein Dämon, in dem sich die Schlechtigkeit beider vereinte? Was sollte der Sohn eines impotenten, brutalen Trinkers und einer egomanischen Drogenhure werden, wenn nicht ein Mörder?

 

 

 

 

BÖSES ERWACHEN

Ihr Schädel dröhnte, ihr ganzer Körper schmerzte. Sie versuchte ihren Kopf anzuheben und stöhnte leise auf, als ein Wirbel blockierte und einen schneidenden Schmerz entlang ihrer Wirbelsäule schickte. Hätte ihr Magen nicht genau in diesem Moment rebelliert und sie mit einer nie gekannten Übelkeit abgelenkt, hätte sie vor Schmerzen aufgeschrien. Doch so schloss sie eilig den Mund und schluckte hart. Der Geschmack nach … Oh Gott, sie durfte auf keinen Fall über diesen widerlichen Geschmack in ihrem Mund nachdenken, oder sie würde hier und jetzt in einer peinlichen Würgegeräuschkulisse der Welt ihr Innerstes offenbaren. Und das wollte keiner sehen. Am wenigsten Ivo selbst.

Die Welt war verschwommen und von einem klebrigen Film bedeckt, als wäre sie untergetaucht und hätte die Augen unter dreckigem Wasser geöffnet. Lag sie tot im Biotopteich ihrer Schule? Aber wenn sie gestorben wäre, würde es ihr sicher nicht so beschissen gehen. Tod war das Versprechen ewiger Gefühllosigkeit und einen Bruch dieses Vertrages hätten unzählige Suizidopfer sicherlich schon bestreikt. Angewidert von ihrer eigenen Geschmacklosigkeit, versuchte Ivo sich angestrengt zu erinnern und langsam kam die verschwommene Welt wieder in den Fokus.

Ihre Sicht wurde klarer, doch die Schärfe wurde von einer bösartigen Bestie begleitet. Mit ihren Krallen grub sie sich durch ihr Gehirn und fraß alles auf, dessen sie habhaft werden konnte. Leise stöhnend hielt Ivo sich den Kopf, schloss die Augen, um wie ein Vampir der grausamen, tödlichen Grelle der Morgensonne zu entkommen.

Blind tastete sie nach einem Grund, fand etwas Weiches und hievte ihren Oberkörper hoch. Ein Stöhnen, das nicht von ihren Lippen kam, drang an ihr Ohr. Es klang tief und … männlich! Panik, vermischt mit Freude übermannte sie und Ivo riss ihre Augen wieder auf. Und das freudige Gefühl löste sich in Luft auf. Unter ihr lag nicht Jürgen, sondern ein Junge, den sie noch nie gesehen hatte. Kurz gelocktes, braunes Haar, nicht langes blondes, hing zerwuschelt in ein markantes Gesicht. Der breite Brustkorb hob und senkte sich. Einen seiner muskulösen Arme benutzte er als Kopfkissen, den anderen …

Ivo erstarrte, als sie etwas Warmes an ihrem Hintern spürte. Langsam schwenkte sie den Kopf nach rechts und ihr Blick glitt vorbei an schwarzen Lederrückenlehnen, hin zu dem Rückspiegel eines Autos. Was ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, sah nicht menschlich aus. Rote, blutunterlaufene Augen, Wimperntusche, die sich selbstständig gemacht hatte, als wäre sie unter den Regen gekommen und die Tusche wäre schutzsuchend zum Kinn gerannt … Oder als hätte sie sich die Augen ausgeheult. Ihr Geist zuckte vor diesem Gedanken zurück, als hätte er sich verbrannt. Langsam kamen die Bilder wieder und mit ihnen der Schmerz.

Panisch blickte Ivo nach unten, wandte den Blick vor ihrer eigenen Hässlichkeit ab. Magie hatte Recht behalten, Ivo hatte zu viel Wimperntusche aufgetragen. Ihre beste und einzige Freundin mochte es gar nicht, wenn Ivo sie statt Magda „Magie“ nannte. Was vor allem daran lag, dass Ivo das „I“ so lang zog, dass es nicht nach einem Namen klang, sondern nach „Magie“. Ivo seufzte innerlich. Ein Panda war nichts gegen das, was ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Ivo hatte sich in einen verheulten Horrorpanda verwandelt, der über Menschen herfiel und sie zu Tode knuddelte. Wie sehr wünschte Ivo sich, dass genau solch ein Panda sie jetzt holen würde. Doch wie immer blieb die Welt, wie sie war und die Macht ihrer Fantasie rettete sie nicht aus der grausamen Wirklichkeit. Auch hier fiel der Urteilsspruch der Jury auf Magies Seite. Kaum hatte sich dieser kunstvolle Satz in ihren Gedanken gebildet, packten Ivo zwei Pranken und drückten sie nach unten und ein kühler Lufthauch berührte durch den dünnen Stoff ihres Kleides Ivos Hintern.

Nun, dachte Ivo, es waren nicht die behaarten Arme eines Pandas, doch wenn der Junge unter ihr sie weiter so an sich drückte, würde sie sicher ersticken. Und dass Knuddeln zum Erstickungstod führen konnte, wusste doch jeder, oder? Panisch, weil trotz allem noch nicht bereit zu sterben, suchten Ivos Hände Halt in dem Leder des Rücksitzes des ihr unbekannten Autos und sie stemmte sich mit aller Kraft hoch. Der Junge ließ locker. Während sein Oberkörper auf dem Lederpolster lag, hatten sich seine Beine unter dem Vordersitz verkeilt.

Die Mascara-Spuren auf seinem weißen Hemd sagten Ivo, dass sie seine breite Brust als Kopfkissen benutzt haben musste. Ihr Blick glitt tiefer an ihm hinunter. Seine Gürtelschnalle baumelte offen herum, sein Jeansknopf stand mutterseelenallein, losgelöst von seinem Gegenpart, von der Hose ab. Der Reißverschluss war sperrangelweit offen und eine kleinkarierte Boxershorts blitzte Ivo entgegen. Um nicht zu schreien oder sich zu übergeben, hielt Ivo sich die Hand vor den Mund, würgte. Doch als sich ihre Augen in dem Blutfleck auf seinem Hemd verfingen, war es vorbei mit ihrer Selbstbeherrschung. Sie tastete wild nach dem Türgriff hinter sich, konnte ein erleichtertes Aufschluchzen nicht unterdrücken, als ihre klammen Finger sich um den Griff schlossen. Ivo riss an ihm und fiel unelegant mit dem Hintern zuerst aus dem Wagen.

Ohne sich die Mühe zu machen, die Autotür zu schließen, drehte sie sich um und lief ins Gebüsch. Von weitem hörte sie müde, unausgeschlafene Stimmen murmeln und betete inbrünstig, dass sie niemand gesehen hatte und übergab sich so leise wie möglich in einen Strauch, der stark nach wildem Knoblauch roch. Während jede lebensnotwendige Flüssigkeit sie durch den trockenen Mund verließ, war Ivo sich sicher, dass sie nie wieder Bärlauch essen würde und erkor die Hexenzwiebel zu ihrem Kryptonit.

Was hatte sie gestern nur gegessen, fragte Ivo sich kraftlos und ausgezehrt, als sie auf die unerklärliche Farbe blickte. War es blau? Lila? Lilablassblau? Ihr Gehirn schrie wieder auf und Ivo schleppte ihren müden Körper Richtung Straße. Wie weit war es bis nach Hause? Waren ihre Eltern schon wach? Ihr Bruder? Hoffentlich schlief ihre kleine Schwester noch. Wenn der kleine Fratz sie so sah, würde Ivo nie wieder die Vorbildfunktion einer großen Schwester einnehmen können und nur noch als schlechtes Beispiel dienen.

Wie lange sie unterwegs war und wie viele Kotzpausen sie einlegen musste, wusste Ivo nicht. Alles was zählte, war, dass sie schließlich und endlich ankam. Ohne Schuhe, in dem teuersten Kleid, das sie je besessen hatte und für das sie noch zwei Monate lang den Rasen mähen musste. Ihr Magen war leer, ihre Füße wund und blutig. Warum mussten die Zwölftklässler auch im tiefsten Wald das nahende Ende des Schuljahres zelebrieren? Richtig … damit Mädchen wie sie ohne elterlichen Einfluss machen konnten, was sie wollten. Doch hatte sie gewollt? Ivo erinnerte sich nicht mehr.

Leise wie noch nie zuvor in ihrem Leben, schlich sie durch den Gang, an der Küche vorbei, die Treppe hoch, die dritte, siebte und neunte Stufe auslassend. Ihr Knarren konnte Tote wecken und war sogar lauter als Papas Schnarchen. Fiese, mit Absicht eingebaute Fallen von kontrollverrückten Eltern, die immer wissen wollten, wann ihre Kinder nach Hause kamen. Manchmal trat Ivo mit voller Absicht auf jede einzelne der quietschenden Stufen, verlagerte ihr Gewicht so dabei, dass jedes Gramm ihres schmalen Körpers dazu beitrug, dem ganzen Haus auf die Nerven zu gehen. Das machte vor allem Spaß, wenn sie sich nach elf zuhause einfand, was aber nur vorkam, wenn sie bei Magie wieder irgendeinen Marathon veranstaltet hatten. Was zu Ivos Leidwesen im Vergleich zu früher nur noch sehr selten vorkam.

Schnell war ihren Eltern klar geworden, dass sie bei Ivo den normalen Elternsorgen ferner waren als die Sonne der Erde. Sie sehnten sich danach, dass die Phase des jugendlichen Leichtsinns, wie sich nach Mitternacht ins Haus Schleichen, Alkoholmissbrauch, schlechte Noten in der Schule wegen monopolisierenden Interesses am anderen Geschlecht eintrat. Kein Streit, keine öffentlichen Szenen, kein „ICH HASSE EUCH!“, „IHR SEID NICHT MEINE ELTERN“. Ivo war entweder Kind geblieben, oder als Erwachsene geboren. Was davon zutraf, darüber schieden sich die Geister. All das, was Teenager zu tickenden Zeitbomben machte, die Erfahrungen, aus denen sie später ihre Weisheit im Erwachsenenalter schöpfen konnten, schien Ivo auslassen zu wollen.

Bis gestern Nacht.

Leichtfüßig wie noch nie in ihrem Leben, schlich sie zu ihrer Tür, drückte ganz vorsichtig die Klicke herunter, zuckte erschrocken zusammen, als die Scharniere leise beim Öffnen knarrten. Als der Schnapper wieder lautlos ins Schloss glitt, wäre Ivo am liebsten zu Boden geglitten, hätte ihren schmerzenden Kopf zwischen die Beine gesteckt und geheult. Doch stattdessen schleppte sie sich zum Bett, kramte in einer verstaubten Kiste unter der Matratze, seufzte erleichtert, als sie das kantige Rechteck ertastete. Seit Jahren hatte sie es nicht mehr benutzt, aber immer schön fleißig für den Fall, dass sie es wieder brauchen würde, die Batterien ausgetauscht. Ivo drückte auf den Knopf, hörte es rauschen und wiederholte immer wieder wie ein Mantra: „Magie, Magie … bist du da?“

Es dauerte nicht lange, dann erklang eine verschlafene Stimme: „Ivo …du sollst das I doch nicht so lang ziehen. Die halten dich doch alle für verrückt, wenn du laut ‚Magie‘ durch die Gegend schreist. Lernst du nicht aus Fehlern? Wie oft ist das schon passiert?“ Ivo stiegen die Tränen in die Augen und alle Worte, die ihre Gedanken schon längst geformt hatten, blieben ihr im Hals stecken.

Nach einer für Ivo untypisch langen Pause fragte Magda mit sorgenvoller Stimme: „Ivo? Was ist passiert?” Doch anstatt einer Antwort, erklang aus Ivos Kehle nur ein leises Wimmern, gefolgt von einem Schluckauf, Nasehochziehen und kaum hörbarem Schluchzen. Es dauerte eine Weile, bis Ivo sich soweit beruhigt hatte, dass sie Worte und schließlich Sätze formen konnte. Magda wartete geduldig, Ivos Kindergartenfreundin war immer geduldig mit ihr. Magie war immer auf Ivos Seite gewesen, wenn die Kindergärtnerinnen Ivo für ihre Geschichten gescholten hatten, als ihre Klassenlehrerin sie in der Grundschule eine Lügnerin genannt hatte und selbst als ihre Eltern den Rat der Vertrauenslehrerin im Gymnasium, Ivo zum Psychologen zu schicken, wirklich erwogen hatten.

Ivo wusste nicht wie sie mit dem Schmerz, der ihre Brust zudrückte, umgehen sollte. Sie weinte, doch nur, wenn jemand auf eine Blume trat, eine Katze am Schwanz zog und wenn eine Gruppe gemein auf einem Einzelnen herumhackte. Sie weinte bei Filmen an den unpassendsten Stellen. Sogar beim Hobbit waren ihr Tränen über die Wangen geflossen. Ivo war eine leidenschaftliche Leserin. Nachdem sie die ersten Zeilen von Harry Potter gelesen hatte, hatte sie das Buch in die Ecke gepfeffert und war zwanzig Minuten mit tränenden Augen schmollend dagesessen, bevor sie es wieder aufhob und mit gerunzelter Stirn weiterlas. Wie konnte man so grausam sein und einen Jungen unter der Treppe hausen lassen?

Wo Magda ruhig, besonnen und logisch war, war Ivo aufbrausend, leidenschaftlich und irrational. Nur wenn Ivo beschimpft, eine Lügnerin oder Irre genannt wurde, wurde Magda aufbrausend. Einmal hatte sie in der Grundschule einem älteren Jungen die Zähne ausgeschlagen, weil er Ivo eine Schwindlerin genannt hatte. Ivo hatte wie immer nur gelächelt, die Beleidigung tapfer hingenommen, doch Magie war die Hand ausgerutscht.

Ivo suchte nach Worten, während sie nach Luft rang. Gleichzeitig heulen und sprechen war wirklich nicht leicht. Wie schafften das nur die Zankweiber, die ihre Freunde anblafften, während ihnen Tränenbäche aus Augen und Nasen stürzten? Galt hier auch: Übung macht den Meister?

„Ich … es ist etwas Schreckliches passiert …“, stotterte Ivo in ihr Notfall-Walkie-Talkie, das schon so alt war, dass es trotz sorgsamer Pflege auseinanderzufallen drohte und nur noch von vergilbten Klebestreifen und Tesa zusammengehalten wurde.

„Wem muss ich die Zähne einschlagen?“, fragte Magda mit aller Ruhe und gab einen irritierenden Laut von sich, als Ivo ein leises, hysterisches Kichern entschlüpfte, „hat Jürgen etwas getan, das du nicht wolltest? Hat er dich …“ Die Ruhe aus Magdas Stimme schwand und wurde von einem kalten Hass ersetzt, den sie immer ausstrahlte, wenn Ivo über ihre Gefühle für Jürgen sprach. In Magdas Augen war Jürgen ein schwanzgesteuertes Monster, das über alles und jeden herfiel, der bei drei nicht auf den Bäumen war. Ivo musste daran denken, wie Magie genau diese Worte mit kaltem, regungslosem Gesichtsausdruck benutzt hatte und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. In ihrer Kälte war Magie für Ivo wie ein schlechtgelauntes Kätzchen, das nicht verstand, warum man ihm keine Milch gab. Doch Ivo durfte nicht zulassen, dass man über ihren Prinzen so sprach und brauste künstlich erregt auf: „Nein! Jürgen würde nie …!“ Doch dann verstummte Ivo, als Erinnerungsfetzen an die Oberfläche geschwemmt wurden.

 

 

Ivo zog an ihrem Kleid herum. Noch nie hatte sie so etwas Teures angehabt und vor allem noch nie so etwas Kurzes. Normeilerweise trug sie Secondhand-Klamotten oder Selbstgenähtes. Gewöhnt an die schrillsten Farben, schrägsten Schnitte und unfassbarsten Kombinationen, hatte sie sich noch nie so unwohl gefühlt wie in diesem eng anliegenden, eleganten Kleid. Normalerweise war bei Ivos Kleidungsstil alles, was bedeckt sein sollte, auch immer schön bedeckt. Bei diesem für Ivo untypischen Outfit war sie sich jedoch nicht sicher. Sie fühlte sich nackt. Was daran liegen mochte, dass nur ein Viertel ihres Körpers mit Stoff in Berührung kam. Warum überhaupt ein 150 Euro-Kleid von Esprit mitten im Wald anziehen, für eine Party in einer versifften Holzhütte?

Dann blickte Ivo in Jürgens vor Bewunderung glänzenden Augen, die über ihre nackten Schulter entlang den Kurven des schwarzen Leders folgten, kurz hängenblieben an dem Übergang zwischen kaltem, glattem Stoff und nackter Haut, nur um dann anerkennend an ihren Beinen herunterzugleiten, zu ihren zehn Zentimeter hohen Stilettos. Ivo unterdrückte den schier unbändigen Zwang, den Stoff zumindest einen Millimeter näher zu ihren Knien zu ziehen. Das Kleid war so kurz, dass Ivo es für sicherer gehalten hatte, sich mit großen Buchstaben auf die Hand „N. v.!“, zu schreiben. Nicht vorbeugen! Eine falsche Bewegung und jeder würde das sehen, was seit Jahren nicht einmal mehr ihre Eltern zu Gesicht bekommen hatten.

Jürgens leises Pfeifen und sein Arm um ihre Schulter ließen Ivo vergessen, dass sie gerade dabei war, in den besten Schuhen ihrer Mutter, die sie sich ungefragt „geborgt“ hatte, tief in den weichen Waldboden zu sinken. Und so ignorierte sie das leise Flop, mit dem sich die dünnen Absätze der Schuhe aus dem Matsch befreiten, als Jürgen sie in die Hütte geleitete. Er steuerte sofort die Bar an und bestellte zwei Irgendwas. Ivo bekam nicht mit, was Jürgen bestellte, weil das Rauschen ihrer eigenen Worte in ihren Ohren sie taub machte für alles andere um sie herum. Ihr Mund bewegte sich immerzu, Laute kamen heraus, doch was auch immer sie sagte, ihre eigenen Worte kamen nicht in ihrem Gehirn an. Zu laut klopfte Ivos Herz und zu schnell rauschte ihr Blut durch ihre Adern.

Hoffentlich erzählte sie nicht die Geschichte von dem Waldgeist, oder dem Gnom, oder der Fee, die nur bei Sonnenaufgang sichtbar wurde. Ivos Augen suchten Jürgens Gesicht. Er lächelte noch. Was auch immer sie sagte, es schien ihn zu erfreuen. Dass seine Augen ständig über ihren Körper tanzten, war ein gutes Zeichen, nicht? Da hatten sich die 150 Euro und die Sklavenarbeit, die ihr dafür noch bevorstanden, doch gelohnt.

Als Jürgen ausgerechnet auf Ivo zugekommen und sie gebeten hatte, ihn auf die Stufenfeier der 12er zu begleiten, war sie fast an einem Herzinfarkt gestorben. Der beliebteste Junge der Schule, den sie seit Jahren anhimmelte, hatte sie, das Mädchen, das jedes Jahr aufs Neue offiziell zur Verrücken der Schule gekrönt wurde, nicht nach einem Date gefragt. Nein! Er hatte sie eingeladen, mit ihm auf die 12er-Stufenfeier zu gehen. Der Party des Jahres! Elftklässler wie Ivo hatten nichts auf der 12er-Stufenfeier zu suchen. Nur als Begleitung kam man in den Kreis der Auserwählten und den Alkoholgenuss. Womit hatte sie dieses Wunder nur verdient?

Magies Worte flackerten ungewollt in Ivo Geist auf und sie verdrängte den ungebetenen Rat der geliebten Freundin. Zum ersten Mal seit sie sich kannten – und Ivo erinnerte sich nicht daran, Magie je nicht gekannt zu haben – nahm Ivo Magie ihre Meinung krumm. Magie war weder mit Ivos Begleitung, noch mit ihrem Outfit, ja nicht einmal mit ihrem Make-up einverstanden gewesen. Und die Behauptung, Jürgen wäre nur auf das Eine aus, war … nun ja, nicht unbedingt abwegig, aber DAS wollte doch wirklich niemand hören.

Die Musik dröhnte so laut, dass Ivo ihre eigenen Gedanken nicht verstand, dennoch bewegte sich ihr Mund, stoppte nur, um gierig an dem Strohhalm zu ziehen, der in dem Glas hing, das Jürgen ihr in die Hand gedrückt hatte. Was Ivo da trank, wusste sie nicht und es war ihr auch egal. Wärme kroch in ihre kalten Glieder. Obwohl es Juli war und sich schwitzende Leiber in einer kleinen Holzhütte aneinander drängten, fror Ivo. Dann spürte sie plötzlich Jürgens warme Hand auf ihrem Schenkel, er beugte sich zu ihr herunter, um ihr etwas zuzuflüstern. Doch so sehr Ivo sich auch konzentrierte, vernahm sie nicht einen Laut, obwohl seine Lippen dabei sanft ihr Ohr berührten.

Als er spielerisch in ihr Ohrläppchen biss, zuckte Ivo erschrocken zusammen. Jürgen hatte sie in eine dunkle Ecke manövriert und presste sie jetzt mit seinem Körper an die verschwitzte Holzwand. Seine Hände waren überall, fuhren ihre bloßen Arme entlang, zu ihrer Taille, den Stoff hinunter zu ihren nackten Oberschenkeln. Langsam schob er das ohnehin schon viel zu kurze Kleid höher, während seine Lippen mit ihrem Hals beschäftig waren. Ivo spürte heiße und kalte Schauer über ihren Körper huschen wie der Hauch von Vater Frost, gepaart mit Drachenatem.

„Er sucht ein leichtes Mädchen …“, hallten Magdas Worte in Ivos vernebeltem Geist wider, als sie sich versuchte einzureden, dass Jürgen sie mochte, vielleicht schon lange heimlich für sie geschwärmt hatte oder gar in sie verliebt war. Doch als sein Mund bei ihrem Schlüsselbein ankam ohne je ihre Lippen berührt zu haben, reagierte ihr Körper automatisch und mit einer Kraft, die Ivo sich nicht zugetraut hätte, schubste sie Jürgen von sich weg. Das beklemmende Gefühl fiel von ihr ab und sie blickte ihn entschuldigend an. Die Worte, die ihre Lippen nun formten, drangen durch die Watte, die sich um ihren Verstand gelegt hatte, und kamen an: „Das geht mir zu schnell!“

Die Worte erreichten auch Jürgen. Enttäuschung und Wut blitzten Ivo aus seinen himmelblauen Augen entgegen. Der Mann ihres Herzens drehte sich um, und verschwand im Gedränge. Ivo blieb alleine zurück, zitterte am ganzen Körper. Ihr war wieder kalt. Väterchen Frost blies kräftig, doch dem Drachen war langweilig geworden und er hatte sich abgewandt.

Wie viel Zeit verstrich, bis Ivo alles leid tat und sie sich aufmachte, Jürgen zu suchen, wusste sie nicht. Vielleicht lange Minuten, oder auch nur wenige Sekunden. Sich durch die tanzenden, schwitzenden Leiber quetschend, suchten ihre vernebelten Augen den Jungen, von dem sie schon so lange jede Nacht träumte und fand ihn in der Umklammerung einer Anderen. Wie eine Ertrinkende presste das Mädchen mit der blonden Mähne ihren Mund auf seinen, während seine Hände ihren Körper erforschten.

Ivo blieb wie angewurzelt stehen und ihre Gedanken kreisten um eine einzige Frage: „Warum hat er mich nicht geküsst?“ Ihre Knie wurden weich und gaben unter ihr nach. Das musste an diesen verdammten Hochhackigen liegen, die sie nicht gewohnt war zu tragen. Wie bewegten sich Frauen nur mit so etwas fort, ohne ständig umzuknicken, auszurutschen oder in jedem Pflasterstein oder Gullideckel hängen zu bleiben? Absätze waren, genau wie Miniröcke, von Männern erfunden worden, um ihrer Beute die Flucht so schwer wie möglich zu machen, spuckte Ivos Geist die Gedanken aus, als zwei starke Arme sie auffingen und stützten.

Ihr Blick auf Jürgen wurde von einem weißen Hemd versperrt. Als Ivo hochblickte, trafen ihre grauen Augen auf grüne. Braune Locken fielen spielerisch in ein ernstes Gesicht. Der volle Mund in dem etwas hageren Gesicht bewegte sich, doch Ivo hörte nur das Hintergrundrauschen von Musik, lautem Geschrei und Geknutsche. Der Unbekannte packte Ivo sanft am Unterarm und führte sie an die Bar, bestellte zwei Irgendwas. Als Ivo einen Schluck nahm, verzog sie ihr Gesicht. Wasser war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie holte zerknüllte Geldscheine aus ihrer Minihandtasche, in die weder ein Geldbeutel, noch ein Handy passten, ja selbst Geld schien zu groß für diese Schlumpfausgabe einer Tasche. Ihr Taxi-Geld auf den Bartresen knallend, schrie Ivo gegen den Lärm, so laut es ihre Stimmbänder zuließen: „Wodka!“

Als das klare Gesöff vor ihr stand, setzte sie den Shot an die Lippen, ignorierte das Brennen sowie den Würgereiz und blickte den Fremden herausfordernd an. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, die Welt verschwamm und Ivo hielt sich fest an den grünen Augen, die suchend in sie hineinsahen. Er runzelte die Stirn, griff dann nach dem kleinen Glas vor sich und leerte es, ohne eine Miene zu verziehen. Ivo nickte anerkennend und langte zu dem Gläschen, das neu gefüllt vor ihr stand. Ivo verlor jeden Fokus. Die Welt drehte sich, die Ernsthaftigkeit wich aus dem Gesicht des Jungen und ein Lächeln umspielte seinen Mund, ließ ihn kurz attraktiv erscheinen. Dann verschwamm die Welt. Irgendwie bekam Ivo noch mit, dass sich ein Kreis um sie bildete, hörte von Weitem die Anfeuerungsrufe. Dann wurde alles schwarz.

 

 

„Hast du oben ohne auf dem Tisch getanzt?“ Magdas Stimme klang ernst. Ivo überlegte, dachte angestrengt nach und antwortete ehrlich: „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an Shots, dann erst wieder daran, in einem fremden Auto mit Ledersitzen aufzuwachen.“

„Ich bin stolz auf dich“, Magdas Stimme war ruhig und doch warm, voller Gefühle.

„Auf die Shots, oder darauf, dass ich Jürgen vor den Kopf gestoßen habe?“, fragte Ivo mit leidender Stimme. Ihr Kopf schmerzte und ihr Magen fühlte sich an, als würden kleine Eidechsen darin tanzen. Zum Glück war nichts mehr in ihrem Körper, weder Festes noch Flüssiges. Sie hatte alles auf ihrem langen Marsch vom Wald nachhause gelassen.

„Beides. Und du hast ihn nicht vor den Kopf gestoßen, sondern deine Jungfräulichkeit vor einem Wolf, dem Feind aller Frauen, verteidigt.“ Wie schaffte Magda es immer nur solche Sätze, die Ivo leidenschaftlich in die Welt rausschreien würde, mit einer unumstößlichen Ruhe und Ernsthaftigkeit auszusprechen? Bei dem Wort „Jungfräulichkeit“ brannten Ivos Ohren und ihr wurde schlecht. Dann eine Steigerung von schlecht. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und das unumstößliche Wissen, dass sie etwas Furchtbares, unaussprechlich Dummes getan hatte, fraß sich durch ihre Eingeweide.

„Ich … ich glaube nicht, dass ich noch Jungfrau bin“, flüsterte Ivo leise die Worte, die sie nicht einmal denken wollte.

„Wie bitte?“, selbst Magdas innere Ruhe schien gestört.

„Ich glaube nicht …“, wiederholte Ivo kleinlaut.

„Ich hab´ dich wohl verstanden“, erwiderte Magda eiskalt, holte tief Luft, „erzähl, was passiert ist.“ Und Ivo erzählte, ohne jegliche Ausschmückungen oder fantastische Elemente. Nur eine bloße, harte Ansammlung von Fakten.

„Da war Blut auf seinem Hemd … und seine Hose stand offen“, zählte Magda die Indizien auf, „… hast du irgendwo ein Kondom gesehen?“ Kondom … das Wort sickerte nur sehr langsam zu Ivos Verstand durch und alles Blut wich aus ihrem Gesicht, eine Taubheit legte sich um Ivo, heuchelte ihr vor, dass alles nur ein Traum sei.

„Kkkkk… kkkkooo … kooonn …“, ihre Lippen weigerten sich, das Wort zu formen. An Verhütung hatte sie nicht gedacht und er wohl auch nicht.

„Ivo, du weißt, was das heißt?“ Magdas Stimme klang hart und schnitt Wunden in Ivos mitgenommenen Leib. Schwangerschafts- und AIDS-Test. Sechs Wochen der Vorwürfe, des Wartens, der Selbstmarterung und der Sorge. Wie oft hatten sie darüber geredet, dass ihnen das nicht passieren würde, dass sie niemals so dumm sein konnten …

„Du musst dir die ‚Pille danach‘ besorgen.“

Auch daran hatte Ivo nicht gedacht, das hieß, sie müsste zum Arzt … Zum Frauenarzt! Sie war noch nie beim Frauenarzt gewesen. Kalter Schweiß brach aus all ihren Poren, ihr leidender Körper zitterte.

„Ich mache dir einen Termin bei meiner Frauenärztin.“ Magdas Worte schnitten wie scharfe Klingen in Ivos Herz. Der Schmerz kam erst, als das Blut aus den Wunden hervorquoll. Stille herrschte, Ivo fehlten die Worte.

„Du hast eine Frauenärztin?“ Wie ein Schlag ins Gesicht klangen Magdas Worte in Ivos Geist nach.

„Ja.“

„Ich wusste nicht … Warum hast du mir nicht davon erzählt?“ Ivos Stimme war voller Unglauben. Sie erzählten sich immer alles, jede Kleinigkeit, sie waren beste Freundinnen. Doch dass Magda zum Frauenarzt ging, davon hatte sie nie ein Wort gehört. Ein so wichtiger Schritt im Leben eines jungen Mädchens und Ivo hatte ihn bei Magda einfach verpasst …

„Du musst nicht alles aus meinem Leben wissen. Du hast sicher auch Geheimnisse vor mir“, Magdas Stimme klang irritiert. Und Ivo zwang sich zu einem Lachen.

„Natürlich erzähle ich dir nicht alles. Nur eine Frau mit Geheimnissen ist eine interessante Frau.“ Die Lüge tat weh und kam Ivo nur schwer über die Lippen. Magda wusste alles über Ivo, jede Kleinigkeit. Dass es Dinge gab, die sie von ihrer besten Freundin nicht wusste, verletzte Ivo tief, mehr noch als das Bild von Jürgen in den Armen einer anderen Frau, kurz nachdem er sie berührt hatte, wo sie noch nie zuvor jemand berührt hatte. Ivo hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt.

Die Worte sprudelten in einer Natürlichkeit aus ihr heraus, die sie selbst erschreckte: „Mach dir keine Mühe. Ich hatte heute Nachmittag sowieso einen Termin bei meinem Frauenarzt. Er wird mir sicher die ‚Pille danach‘ verschreiben, wenn ich ihn darum bitte. In der Gynäkologie sind Männer manchmal besser als Frauen. Sie sind vorsichtiger und nicht so rabiat. Ich … mir geht es nicht gut. Ich lege mich noch ein wenig hin bis zu meinem Termin.“

„Verschlaf nicht!“, sagte Magda nur und Ivo blutete das Herz. Wieso merkte Magda nicht, dass sie log? Dass dies eine ihrer Geschichten war, die der Wahrheit so fern waren wie der Mond der Erde? Ihre Magie würde immer die Wahrheit unter all den Geschichten finden, die Ivo so gerne erzählte. Wer war dieses Mädchen am anderen Ende des Notfall-Walkie-Talkies? Sie war jedenfalls nicht ihre über alles geliebte Magie, mit der sie Stunden und Tage verbringen konnte, ohne sich von ihr trennen zu wollen. Wenn sie jemand fragte, was sie auf eine einsame Insel mitnehmen wollen würde, war Ivos erster und letzte Gedanke: Magie.

„Du auch! Entschuldige, dass ich dich geweckt habe!“ Dann legte Ivo auf, drehte das Walkie-Talkie, das seinen Zauber verloren hatte, um und nahm mit zitternden Fingern die Batterien raus, die sie erst letzte Woche erneuert hatte. Das Notfall-Walkie-Talkie existierte nicht mehr, weil es Magie nicht mehr gab. Aus Magie war Magda geworden, eine junge Frau, die, ohne dass es Ivo bemerkt hatte, erwachsen geworden war und sich von ihr entfernt hatte. Kraftlos streckte Ivo alle Viere von sich, flüsterte ein letztes Mal den Namen ihrer Busenfreundin und versuchte fest an den Zauber von Worten zu glauben. Doch ihre Magie war verschwunden. Ivo hatte sich in ihrem Leben noch nie so allein und leer gefühlt.

 

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Die quadratischen, aneinander geklatschten Gebäude, die Ivo sonst an ein griechisches Labyrinth erinnerten, wirkten heute grau und trist. Kein Zauber, der einem die Sinne verwirrte, kein Minotaurus, der im Augenwinkel aufblitzte, nur um dann schneller zu verschwinden, als eine Fee im stürmischen Wind. Die Jagd nach ihm war aufregend und kaum, dass sie ihn gefasst zu haben glaubte, verschwand er, oder verwandelte sich in einen schimpfenden Lehrer, der sie wegen ihrer Jagdbemalung zum Rektor schickte.

Nein, sie war nicht mehr im Kindergarten, um ihr Gesicht mit Farbe zu beschmieren und wild durch die Gegend zu rennen, wie ein aufgescheuchtes Huhn. Es hieß Kriegsbemalung und nicht Jagdbemalung! Was sollte das heißen, die Farbe sei nicht abwaschbar, sie hätte nur Permanent-Marker im Mäppchen gehabt? Nein, die anderen Mädchen hätten Make-up aufgelegt und keine Jagd… äh, Kriegsbemalung! Es gäbe keine Minotauren auf dem Schulhof und auch sonst nirgendwo! Sie solle sich ihrem Alter entsprechend benehmen.

Ein leises Lächeln schlich sich auf Ivos Lippen. Ihre Mutter war zum Rektor bestellt worden und hatte sich die Beschwerde über ihre 15-jährige Tochter anhören müssen. Mit Ivo jedoch sprach sie nicht darüber. Stattdessen fand Ivo ab dem Tag Schminkstifte in ihrem Mäppchen und Taschentücher in ihrer Hosentasche. Wie oft hatte sie sich schon schnell Bemalungen aus dem Gesicht wischen müssen, wenn ein Lehrer sie aus einer Hecke zerrte, von Bäumen herunterholte und im Biotop auf der Suche nach Zwergen und Trollen erwischte.

Für Ivo war die Schule immer ein Ort der Suche gewesen. Selbst im Klassenzimmer, im Unterricht, wenn sie gebannt den kühlen, sachlichen Worten ihrer Lehrer lauschte und auf die versteckte Magie im Wissen lauerte. Chemie war ein Wunderland für Ivo, all die Flüssigkeiten, die ihre Farben wechselten, Kristalle, die aus dem Nichts wuchsen und Pülverchen, die explodierten. Fast so sehr mochte sie Englisch und Französisch. Andere Laute mit derselben Bedeutung eröffneten ihr neue Universen, entführten sie in eine Klangwelt, die nach jeder Unterrichtseinheit mehr Sinn ergab. Aber am liebsten mochte sie Latein und all die herrlichen Heldensagen, Götter und Halbgötter, ihre Intrigen und Liebeleien. Wären ihre guten Noten in Kunst, Deutsch, Chemie, Englisch, Französisch und Latein nicht, hätte man sie schon längst der Schule verwiesen. Die meisten Lehrer schüttelten nach sieben Jahren nur noch leise den Kopf und ließen Ivo in ihrer Fantasiewelt schwelgen, solange sie gute Noten schrieb und den Unterricht nicht allzu sehr störte.

Ivo liebte trotz der seltsamen Blicke der Schüler wie auch der Lehrer die Hallen des Wissens und freute sich auf jeden Tag, an dem sie etwas Neues entdecken konnte. Denn sie war nicht alleine, Magie wartete meist am Schuleingang auf sie und gemeinsam betraten sie das Zauberland. Doch heute war Magie nicht zu sehen. Ivos Herz wurde schwer, als sie sich daran erinnerte, das Magie nicht mehr war. Magda hatte Magies Platz eingenommen. Wann war es geschehen? War es ein schleichender Prozess gewesen? Wie lange schon hatte Ivo mit Magie gesprochen und von Magda Antworten bekommen? War ihre Freundin schon vor Jahren ersetzt worden und Ivo hatte es nicht gesehen? Nicht sehen wollen?

Ivo zwang ihre Mundwinkel nach oben und hielt sie mit aller Kraft dort festgetackert, als sie durch die Glastür schritt, doch der Zauber blieb aus. Sie steuerte auf die Teeküche zu, zum ersten Mal seit Jahren in der Hoffnung, Prinz Jürgen nicht zu begegnen. Niemandem zu begegnen, der auf der 12er-Stufenfeier gewesen war. Sie wollte wirklich nicht wissen, was sie in den Stunden ihres Blackouts getan hatte. Ob es Beweisfotos gab? Oder kursierten bereits Videos von ihr oben ohne auf einem Tresen tanzend im Netz? Sie hätte Facebook und YouTube durchsuchen sollen nach „die peinlichsten Auftritte“, „Mädchen im Alkoholrausch“ oder „Dinge, die kein Mensch sehen will“.

Schnell und leise huschte Ivo an der 12er-Teeküche vorbei in die der 11er. Als sie den Raum mit den muffigen Couchüberresten von mehreren Generationen betrat, scannten ihre geschulten Augen die Menge und fanden Magda. Sie saß in einem alten, kotzgrünen Sessel, dessen ursprüngliche Farbe auch braun gewesen sein konnte. Wie immer hing ihre Nase über einem Buch. Doch kein Taschenbuch, sondern eine gebundene Ausgabe von … Freud? Das war wirklich nicht Magie, die da saß, und doch hob sich ihr Blick, traf Ivos, zwang sie zu sich, wie die Erde den Mond um sich kreisen ließ.

Ernst sah Magda sie an und fragte: „Was hat der Arzt gesagt?“ Ivos Augen weiteten sich erschrocken, sie fuchtelte mit den Armen, hielt Magda den Mund zu und flüsterte aufgeregt: „Es muss doch nicht jeder wissen, dass ich beim Frauenarzt war!“ Als leises Gekicher an ihr Ohr drang, liefen Ivos Ohren rot an. Magda verdrehte die Augen, schob Ivos Hand weg und sagte in normaler Lautstärke: „Ich habe nichts vom Frauenarzt gesagt, das warst du. Ein einfaches ‚Alles-Okay‘ oder Kopfschütteln hätte gereicht.“ Und wie immer hatte Magda Recht, das unterschied sie von Magie nicht. Doch was war es dann? Ivo ging in die Knie und starrte Magda an, vergaß, dass sie peinlich berührt sein sollte und suchte nach Veränderungen, Unterschieden.

„Und, was hat der Frauenarzt gesagt?“, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr. Ein eisiger Schauer lief Ivo über den Rücken. Langsam, wie in einem Horrorfilm, drehte sie sich um, das immer schneller werdende Tadam-tadam-tadam des weißen Haies im Kopf. Ein schrilles Kriiii klang Ivo in den Ohren, als sie in ein markantes, von braunen Locken umrahmtes Gesicht und grüne Augen blickte. Der Junge aus dem Wagen! Was suchte er hier? Ihr Blick glitt zu der Stelle, an der das weiße Hemd einen Blutfleck gehabt hatte. Kein weißes Hemd, kein roter Fleck. Wieso sollte er auch das gleiche Hemd tragen? War er hier, um über sie zu lachen? Ihr für eine Nacht zu danken, an die sie sich nicht erinnerte?

„Hier!“, sagte er mit dunkler Stimme.

„Hier?“, wiederholte Ivo und blickte ihn mit zusammengezogenen Brauen an.

„Hier!“, wiederholte er.

„Was ‚hier‘?“, Ivos Augenbrauen waren kurz davor sich in der Mitte zu einem unschönen Bogen zu vereinen. Sie schaute ihn an, versuchte ihn in ihre fantastische Welt einzuordnen, ihm eine Rolle zuzuteilen. Für einen Ork oder Troll war er zu gutaussehend. Für einen Ritter nicht galant genug, für einen Helden bräuchte er ein Lächeln und für einen Schurken ein verschmitztes Zwinkern in den Augen. Nicht einmal ein Tier konnte sie ihm zuteilen.

Er streckte ihr die Hand hin und sagte: „Da!“ Er sprach also mehr als ein Wort. Definitiv kein Ork. Die Idee, aus ihm einen Elf zu machen, verwarf sie, als sie seine großen Hände sah. Nicht feingliedrig und viel zu grob! Dann fiel Ivos Blick auf das kleine Etwas in seiner Hand. Ihre schwarze Schlumpfhandtasche, kleiner als ein nützlicher Geldbeutel.

„Oh!“, sagte Ivo, machte jedoch keine Anstalt nach ihr zu greifen. Eine Weile hielt er die Tasche in seiner ausgestreckten Hand und Ivo schaute sie an, als wäre sie giftiges, kontaminiertes Plastikleder, das ihre Haut auch nur bei der geringsten Berührung zum Schmelzen bringen würde.

„Willst du sie nicht?“, fragte der Junge, der von ihrer knienden Perspektive wie ein Mann wirkte und nicht wie ein heranwachsender Teenager. Ivo schüttelte langsam den Kopf. Dann hörte sie Magda neben sich leise seufzen. In aller Ruhe verstaute das Mädchen ihren Freud in ihrer viel zu prall gefüllten Umhängetasche, griff nach dem schwarzen Kunstleder-Ding und sagte: „Danke!“ Als wäre der Junge nur ein Überbringer, ein Bote, nickte er und ging. Doch anstatt zu fliegen, wie man es von Hermes, dem Götterboten, erwartete, ging er einfach aus der Teeküche. Ivo verwarf auch diese Rolle für ihn und blickte neugierig auf Magdas Hand, die ihr die Tasche mit hochgezogenen Brauen hinhielt.

„Deine Hand ist nicht geschmolzen“, sagte Ivo und berührte vorsichtig das schwarze Kunstleder.

„War er das?“, fragte Magda und ignorierte Ivos unsinnige Bemerkung. Ihre Stimme klang angespannt. Ivo nickte.

„Du hast dich von Natan Baumgarten entjungfern lassen?“ Alles in Ivo verkrampfte sich, die Stille in der Teeküche rauschte in ihren Ohren. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Voller Unglauben, Vorwurf, Bewunderung und Hass. Wer war Natan Baumgarten?

„Du weißt nicht einmal, wer das ist, oder?“, in Magdas Stimme klang etwas mit, das Ivo noch nie bei ihr gehört hatte. Nicht, wenn sie mit ihr sprach. Deswegen dauerte es, bis Ivo das Gefühl erkannte. Es war eine Mischung aus Ärger, Ungeduld und Genervt-Sein.

„Natürlich nicht. Du hast immer nur das gesehen, was du sehen wolltest“, Hohn kämpfte mit Spot und etwas Traurigkeit klang in Magdas Stimme mit.

„Ist er neu auf der Schule?“, fragte Ivo kleinlaut. Sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut, wünschte sie wäre ein Schlangen- oder Chamäleon-Mensch, der sich aus seiner ausgetrockneten Oberhaut schälen, eins mit seiner Umgebung werden, oder sich in jemand anderen verwandeln konnte.

„Neu? Ist das dein Ernst oder lebst du eine deiner Geschichten aus?“ Ivo schwieg. Magie hatte nie Probleme gehabt, zwischen Ivos Geschichten und der Realität zu unterscheiden. Magda seufzte leise und fuhr fort: „Er ist kein Ritter, der aus einem fernen Königreich angereist kam, um dich vor dem bösen Magier zu retten. Natan Baumgarten geht seit sieben Jahren auf unsere Schule und ist in Jürgens Klasse. Er ist ein sehr guter Schüler und wegen seiner Coolness auf gleichem Beliebtheitsrang wie Jürgen. Aber im Gegensatz zu Jürgen ist er keine männliche Schlampe und kein Arschloch.“ Ivo sog scharf die Luft ein. Sie hatte immer gewusst, dass Magie ihre Gefühle für Jürgen nicht guthieß, hatte Ivo mehr als einmal vor ihm gewarnt. Aber so deutlich hatte sie ihrer Meinung noch nie Luft gemacht.

„Halte dich von Natan fern! Er ist kein Umgang für dich. Ich muss jetzt zum Geschichtskurs“, sagte Magda, stand auf und ließ Ivo sprachlos und allein zurück. Das Geläster und Geflüster ihrer Mitschüler ging an Ivo vorbei. Sie waren ihr egal, es immer gewesen. Doch Magdas Worte und ihr Verhalten hatten tiefe Wunden in Ivos Herz gerissen. Ein Herz, das an Märchen, Legenden und Zauber, Happy Ends und ewige Liebe glaubte. Ivo setzte sich auf den Boden und umschlang ihre Knie. Ihr ganzes Leben schien vor ihr in Scherben zu liegen.

Ihre beste und einzige Freundin hatte sich verändert, ohne dass Ivo es mitbekommen hatte. Ivo hatte ihre Jungfräulichkeit nicht an ihren Prinzen, sondern irgendjemand, den sie in ihrer Welt nicht einordnen konnte, verloren und war vielleicht schwanger. Sie hatte Magda belogen und ihre beste Freundin hatte es nicht einmal bemerkt. Wie lange schon hatte Ivo Magda in dem Labyrinth ihrer Geschichten orientierungslos herumlaufen lassen? Für Ivo war immer klar gewesen, dass Magie die Geschichten von der Realität trennen und hinter den erfundenen Märchenfiguren und Abenteuergeschichten Ivo, den Menschen, sah. Hatte sie das je? Gab es auf der Welt irgendjemanden, der Ivo sah, wusste, wer sie war?

Ein leichtes Zittern schüttelte ihren Körper, als sie versuchte aus all den Geschichten, die sie in all den Jahren erzählt hatte, ihr Selbst herauszuschälen. Es gelang ihr nicht. Und wenn sie es nicht einmal konnte, wie sollte es je Magie gelungen sein? War Magie auch nur eine ihrer erfundenen Figuren, die sie auf reale Menschen projizierte? War Magda es leid, eine Rolle in Ivos erdachtem Stück zu spielen? Wenn Ivo all ihre Geschichten aufgab, alle Schichten ihrer Fantasie abzog, wie die Haut bei einer Zwiebel, blieb nichts, war in ihr nur Leere.

Doch Ivo hätte die Schule nicht so lange unbeschadet überlebt, wenn sie sich so leicht unterkriegen lassen würde. Sie brauchte ein Rätsel, ein Puzzle, das sie lösen musste, damit die Welt wieder Sinn ergab. Ihre Gedanken fixierten sich auf Natan den Weisen. Sie würde herausfinden, was genau in der Nacht passiert war und wer oder was Natan war. Sie würde des Pudels Kern ergründen und mit der Erkenntnis ihre Welt wieder in Ordnung bringen. Er war schließlich ihr Erster und vielleicht der Vater ihres Kindes … wenn sie schwanger war.

Ihre Hand strich leicht über ihren Bauch.

 

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Ivo saß im Schutze eines Biotop-Strauchs und starrte ins Klassenzimmer. Selbst der Dreck an den seit Monaten nicht geputzten Fenstern schmolz unter ihrem Blick. Herr Hecke unterrichtete gerade Politik. Nur wenn es um CDU, FDP, CSU und SPD ging, wurde er zum GMH – Größtmöglichen Hampelmann. Er gestikulierte mehr als ein Pantomime in Panik. Nur dass sein Organ durch den ganzen Klassenraum hallte und Schlafen, Schwätzen, ja sogar Denken unmöglich machte. Je nach Wetterlage ähnelte es einem Regen- oder Fruchtbarkeitstanz, dem Ivo normalerweise mit glänzenden Augen und glühendem Herzen folgte. Leidenschaft, so zur Schau gestellt, war bei Erwachsenen seltener als ein schwarzgeflecktes Einhorn. Und jeder wusste, dass Einhörner meist wolkenweiß oder nachtschwarz waren.

Ivo riss sich von dem hypnotisierenden Pantomimenspiel los und lenkte ihren Blick auf den braunen Lockenkopf. Weder gelangweilt noch begeistert saß er leger in seinem Stuhl. Seine Unterarme lagen auf dem früher einmal moosgrünen Tisch. Neben sich ein leerer Block und ein Stift. Die Ellenbogen hingen in der Luft, berührten keinen Millimeter der ausgebleichten graugrünen Fläche. Adrett, als säße er beim Mittagessen und stellte seine Manieren zur Schau. Block und Stift schienen noch nie benutzt. Frisch und jungfräulich, was Ivo von sich nicht mehr behaupten konnte. Sein Blick war nach vorne gerichtet, nicht konzentriert, nicht gelangweilt und überhaupt nicht verträumt.

Entrüstet stellte Ivo fest, dass er einfach nur da saß. Nicht mehr, nicht weniger. Wie konnte man so indifferent sein? Wo blieb die gelangweilte Lässigkeit? Die aufmüpfige Coolness? Die berechnende Schleimhaftigkeit? Das abwertende Gelangweilt-Sein? Oder ihre Lieblinge: die zeitlose Leidenschaft oder die ewige Verträumtheit? Dann stützte er plötzlich sein Kinn auf die linke Hand, kurz flimmerte seine Aura zwischen Coolness, Gelangweilt-Sein und etwas Überheblichkeit hin und her und wurde wieder kalt und ausdruckslos wie ein Fisch.

Frustriert blieben Ivos Augen auf ihm kleben, suchten nach weiteren kleinen Einzelheiten, die ihr mehr über ihn erzählen würden, ihr Stoff liefern konnten für eine Geschichte über ihn. Doch auch die restlichen 25 Minuten blieb er indifferent. Wurde fast eins mit den Möbeln. Kein Wunder, dass er ihr vorher nie aufgefallen war. An ihm war nichts Interessantes. Er sah nicht schlecht aus, man könnte sogar sagen gut. Aber nichts brillierte an ihm, als wolle er in der Menge untergehen.

Er war so ganz anders als Prinz Jürgen, der immer am hellsten leuchtete, wenn er im Mittelpunkt stand. Sein Lachen war einzigartig und das schelmische Funkeln in seinen Augen verriet, dass er anders war, besonders und es wusste. Er war galant, hatte Humor und sah meist nur sich selbst. Ivo wusste, dass Magda Recht hatte, dass Jürgen ein selbstbezogener Egomane war. Aber genau so musste ein Prinz sein, bevor er seiner Prinzessin begegnete, die ihn für immer umkrempelte. Ivo hatte Jürgen schon immer angehimmelt, sich aber selbst nie als Prinzessin gesehen, bis an dem Tag, als er sie zur Stufenfeier eingeladen hatte. In einer Nacht hatte sie sich in eine sexy Cinderella verwandelt, mit Hilfe des geliehenen Feenstaubs ihrer Mutter.

Kurz bevor es klingelte, kroch Ivo durch das Biotop, schwang sich über den niedrigen Zaun, eilte in den Gang von Trakt drei, und positionierte sich so, dass sie die Klassentür im Auge hatte, sie aber nicht gleich gesehen wurde, wenn die Tür aufging. Pünktlich stürmten die Schüler kurz nach dem Gong vom Klassenzimmer in den Gang. Unmöglich, sie in dem Gewusel auszumachen, selbst wenn man es darauf anlegte. Dann sah Ivo aus dem Augenwinkel einen Blondschopf zum Klassenzimmer eilen. Schnell zog Ivo sich hinter die Wand zurück. Ihr Herz klopfte schneller. Sie wusste nicht wieso, aber sie war sich sicher, dass dies das Mädchen war, mit dem Jürgen rumgemacht hatte, nachdem er Ivo hatte stehen lassen.

Warte … war Jürgen auch in dem Klassenzimmer gewesen? Ivo runzelte die Stirn, konzentrierte sich und rief sich die Bilder der letzten vierzig Minuten in den Kopf. Doch alles außer Herrn Hecke und der Braunlocke war schwarz. Ivo mochte es gar nicht, Menschen nur ihrem Aussehen nach einen Spitznamen zu geben. Das war so … fantasielos! Sie musste sich eingestehen, dass sie einen Tunnelblick gehabt hatte, als Jürgen locker lässig, aber immer noch elegant aus dem Klassenzimmer geschlendert kam.

Ivos Magen verkrampfte sich schmerzhaft, als er auf die blonde Schönheit zuging. Doch anstatt bei ihr stehenzubleiben, ging er leise pfeifend an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Das Mädchen blieb stehen, wartete. Ihr Gesicht war uninteressiert, gelangweilt, hellte sich dann jedoch plötzlich auf. Die Schönheit freute sich wie ein Kind, ging mit wippenden Schritten, wo sie vorher die Hüften geschwungen hatte, auf jemanden zu … auf Ivos Braunlocke! Sie stellte sich auf die Zehenspitze, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und hakte sich bei ihm ein.

Hatte er eine Freundin? Doch er musste wie Ivo gesehen haben, dass sie ihn mit Jürgen auf der Stufenfeier betrogen hatte. War Ivo nur ein Rachefeldzug gewesen? Hatte sie ihre Jungfräulichkeit wegen einer blöden Kabbelei zwischen einem untreuen Pärchen verloren? Wut stieg in ihr auf. Wenn er eine Freundin hatte, sollte er sie doch schwängern und nicht die Situation bei einem jungen Ding mit verletztem Ego und gebrochenem Stolz ausnutzten, das vor lauter Prozenten nicht einmal mehr Eins und Eins zusammenzählen konnte!

Bevor Ivo darüber nachdenken konnte, folgten ihre Beine den beiden Turteltauben, während sich ihre Aura in eine dunkle Wolke hüllte. Nicht zum ersten Mal zahlten sich all die Minotaurenjagden aus. Ivo huschte von einer versteckten Ecke zur anderen, ließ ihre Beute nicht aus den Augen und wurde mit jedem Tätscheln, jedem Lächeln, jeder noch so kleinen Berührung wütender. Auf wen jedoch, wusste sie nicht. Auf Braunlocke, der im Suff ihre Jungfräulichkeit geraubt hatte? Auf Miss Barbiepuppe, die mit Jürgen rumgemacht und Ivo jedes Fünkchen Verstand und Selbstachtung geraubt hatte? Auf sich, weil sie sich besinnungslos betrunken hatte?

Plötzlich bremste Ivos Körper. Blieb einfach wie angewurzelt stehen. Warum tauchte Jürgen nicht in ihrer Anklageliste auf? Etwas tropfte von Ivos Wange auf den dunklen, undefinierbaren schwarzweißgrauen Boden. Ein kleiner Miniatursee breitete sich aus und verlief dann in der Wüste. Ivos Finger zitterten, als sie zur Wange fuhren und Nässe erfühlten. Die Erkenntnis traf sie, durchfuhr sie wie eine Hand, stülpte ihr Inneres nach außen. Nicht einmal in ihren Geschichten hatte Jürgen ihre Gefühle erwidert. Ivo hatte gewusst, was er von ihr wollte und war trotzdem zu der Feier gegangen. War sie bereit gewesen, ihm das zu geben, um ihrem Prinzen nahe zu sein, ohne eine Prinzessin zu werden?

Warum hatte sie dann einen Rückzieher gemacht? Weil sie doch das gewollt hatte, was er nicht bereit war ihr zu geben? Ivo wollte das Gefühl, seine Prinzessin zu sein und durch seine Worte oder einen Kuss zu einer Königin werden. Zu seiner Königin. Feige hatte sie sich hinter ihren Geschichten versteckt, den zugeteilten Rollen und Charakteren und es hatte einen indifferenten, nichtssagenden Charakter gebraucht, den sie nicht einordnen konnte, um ihr einen Spiegel vorzuhalten. Ivo glaubte an die eine wahre Liebe und sie wollte sie, mehr als alles andere auf der Welt. Sie wollte jemanden, den sie von Herzen lieben konnte und der ihre Gefühle im gleichen Maße erwiderte.

Das Rauschen ihres eigenen Blutes und die stillen Schluchzer, die ihre Kehle nicht verlassen wollten, machten sie taub für die Schritte im fast leeren Gang. Erst als große, dunkelbraune Schuhe in ihr eingeschränktes Sichtfeld traten, blickte Ivo hoch und sah in grüne Augen. Ohne Sorge, ohne Mitgefühl starrten sie Ivo einfach nur an. Ein Schluchzen entschlüpfte ihrem Mund zusammen mit einem Hickser, dann sprudelten die Worte aus ihr heraus: „Ich bin auf einer riesigen Schleimschnecke ausgerutscht und habe mir den Fuß verknackst. Nicht der Schmerz, sondern der Schreck, dass sie so schnell wieder weg war, hat mich aus der Bahn geworfen. Du hast nicht zufällig gesehen, wo sie hin ist? Die Schleimschnecke meine ich.“

„War sie blond oder brünett?“, fragte Braunlocke. Ivo drehte den Kopf leicht beiseite, ihr Blick verschwamm etwas und sie antwortete, ohne darüber nachzudenken: „Vielleicht waren es auch zwei. Eine blonde und eine brünette. Aber der Schreck ist weg und es tut auch nicht mehr weh.“ Ivo wollte sich umdrehen und gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie Jürgens Stimme hörte: „… Ja, ich wollte mal testen, ob Verrückte besser ficken. Aber die Kleine aus der Elften ist total frigide und trocken wie die Wüste! Allein bei der Vorstellung, sie nochmal zu küssen, wird mir schlecht. Es geht nichts über blonde Schlampen!“ Jürgens furchtbare Worte wurden von einem Gruppengelächter begleitet. Es waren mindestens zehn, hörten sich in Ivos Ohren aber nach hunderten Hyänen an.

Ihr Prinz sprach über sie! Ivos Beine gaben unter ihr nach und sie wollte im Erdboden versinken, platt wie eine Flunder und eins mit dem Fußboden werden. Oder wie ein Chamäleon das dreckige Weiß annehmen und sich so an die Wand pressen, dass … Als Ivos Augen wie Dartpfeile auf der verzweifelten Suche nach einem Loch hin- und herschossen, in dem sie sich verkriechen konnte, packten starke Arme sie und pressten sie an die Wand. Doch anstatt zu einem undefinierbaren grauen Eierschalengelb zu werden, färbten sich ihre Wangen und Ohren rot und ihr Atem ging schneller, als weiche Lippen hart auf ihre trafen.

Eine Zunge drang durch ihre Lippen, spielte mit ihrer. Die Welt drehte sich, ihre Knie zitterten und sie musste ihre Hände in den Stoff von Braunlockes T-Shirt graben, um nicht unelegant an der dreckigen Wand herunterzugleiten. Sie spürte das Herz unter ihren Handflächen schneller klopfen. Dann waren die Lippen fort. Das Kribbeln ebbte etwas ab und sie hörte Worte laut geflüstert: „Du bist der Wahnsinn, Kleine. Nur ein Kuss und ich brauche mehrere kalte Duschen!“ Sanft nahm er ihre Hand in seine und drückte die Lippen auf ihre zitternde, heiße Haut.

Ivo blinzelte, sah in grüne Augen voller Leidenschaft und ihr fielen hunderte Geschichten über Räuber, Piraten, Abenteurer und Ganoven ein. Sie ignorierte die geweiteten Augen, das leise Gemurmel und die neidischen Blicke, als der Hyänen-Clan betont langsam vorbeihuschte. Sie verlor sich völlig in dem bezaubernden Leuchten des Grüns.

Natan ließ von Ivo ab und sagte: „Das wird ihnen das Maul stopfen.“ Enttäuscht stellte Ivo fest, dass seine Augen wieder ausdruckslos waren, wie zuvor. Was war gerade passiert? Braunlocke drehte sich um und ging, ließ Ivo sprachlos und verwirrt zurück. Verwirrung war ihr nicht neu, doch die Sprachlosigkeit stürzte sie in ein unbekanntes Nichts, als würde ihr ganzes Sein in ein Vakuum gesaugt werden.

Wer war dieser Junge, der so eine nie gekannte Wirkung auf Ivo hatte? Und was war Natan überhaupt für ein Name? Eine unpassende Gleichsetzung mit Natan dem Weisen? Seine Eltern mussten wahnsinnig gewesen sein.