Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Gefürchtet und seiner Erinnerungen beraubt, begibt sich Lucel auf die Suche nach seiner Vergangenheit. Körper und Geist gefangen zwischen Licht und Dunkelheit, ist er es, den die toten Seelen den Vernichter nennen. In einer Welt, die von einem Rassenkrieg zerrissen wird, entgleiten Lucel die Bedeutungen von Gut und Böse, Richtig und Falsch. Verwirrt und allen Idealen beraubt, muss er sich dem Willen der Sonne und der Erde entgegenstellen. Kann er in einer Welt des Feuers und des Blutes sich für das Leben entscheiden? *Inklusive Leseproben aus anderen Büchern von Sabina S. Schneider.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 336
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Sabina S. Schneider
Von den Göttern verlassen IV
Der Vernichter
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
PROLOG
ROSA KINDHEIT
ANSICHTEN EINER STADT
GRAU WIE STEIN
ZIVILISATION
VERDUNKELTE SICHT
DER MASTERPLAN
SONNE UND ERDE
EPILOG
Impressum neobooks
Bewegungslos lag sie in der dunklen Kammer, tief im Teffelofgebirge, in einem Grab, das keine Tote beherbergte, ihr Körper gefangen in dem Augenblick kurz vor ihrem Scheiden. Der Mangel an Sauerstoff ließ den Anwesenden den Kopf schwirren. Zu wenig für elf in dem dunklen Gewölbe. Der Geruch von Stein, Kälte und der Abwesenheit von Zeit erfüllte die Höhle. Das grüne Airenfeuer, erstarrt in der Sekunde, als sich Gelb und Blau begegneten und Licht gebaren, erleuchtete den Raum, der nicht existieren durfte. Und doch würden sie alle hier enden.
Malhim blickte auf das Weiß ihrer Haut und das Schwarz ihrer Haare. Steif lag sie da, wie eine Statue, gehauen in den heiligen Berg einer Rasse, die nicht die seine war. Konnte er sie wirklich hier lassen? Konnte er Serena nicht tot, nicht lebendig in der Tiefe eines Berges lassen, der weder ihr Zuhause war noch seins? Auch wenn sein Verstand wusste, dass dies die einzige Möglichkeit war, wollte sein Herz sich doch nicht von ihr trennen. Die Sehnsucht nach ihr, die ihn zu ihren Lebzeiten verzehrt hatte, war mit ihrem Ableben nicht erloschen.
Sein Herz, das Schuld war an ihrem Untergang und dem ihres gemeinsamen Sohnes und vielleicht an dem der ganzen Landen, schlug schmerzhaft in der zugeschnürten Brust. Als der Schmerz ihn mit dem Schuldbewusstsein marterte, erzitterte sein ganzer Körper. Doch Malhim schluckte ihn herunter. Er war König der Senjyou und als solcher durfte er keine Schwäche zeigen.
Die Stille verschluckte alles. Niemand verabschiedete sich, denn sie würden sich hier in diesem Raum alle wiedersehen. Doch warum hatte Serena die erste sein müssen? Malhim blickte zu seiner Rechten.
Mof hielt mit zitternden Händen einen Anhänger an sein Herz gedrückt, liebkoste ihn wie einen kostbaren Schatz. Sein Freund war in den wenigen Jahren gealtert, obwohl Senjyou nicht alterten. Nicht in diesem Sinne. Doch das Amulett mit den drei Seelen, die es beherbergte, saugte ihn aus. Würde er als Nächstes hier enden und mit ihm Molly, Salmon und Aragar?
Malhims Augen flohen vor den Schatten unter den Augen seines teuren Kameraden und fanden in Arias Moosgrün nur Trauer und Schmerz. Ihre kleine Gestalt war gebeugt. Obwohl sie trotz ihres jungen Alters die Schwere des Airenthrones immer mit gestrecktem Rücken getragen hatte, schien sie unter der Last des Anblicks zu zerbrechen.
Neben ihr stand Krohl. Der Airen hatte, um das Recht, an der Seite seiner Tochter stehen zu dürfen, nicht zu verwirken, seinen Geburtsnamen abgelegt. Durch seine wutentbrannten grauen Augen schimmerte ein Grün, das an Airas Moosfarbe erinnerte. Der Zauber musste erneuert werden, schoss es Malhim durch den Kopf, als sein Blick weiter wanderte und verschreckt auf Larons Gesicht liegenblieb. Verwirrung und Unglaube waren alles, was man in den Zügen des Vostoken, dessen Tochter reglos vor ihm lag, lesen konnte.
Dann verfing sich Malhims Blick in vollkommenem Hass. Armirus‘ Hass auf die, die seine Nichte ermordet hatten. Malhim fühlte, wie ein schwarzer Sturm in ihm wütete, die Bestie, die er in Ketten gelegt hatte, sich an dem Hass labte und mit ihm eins werden wollte. Doch bevor sie sich befreien konnte, sprangen seine Augen weiter zu Mikhael und quälende Liebe und Zorn brachen Malhims Herz und er eilte von steinernen Altären, die all ihre Namen eingraviert hatten, zu den Nächsten in der Runde der Anwesenden, die einen Kreis um sie bildeten.
In Halif Zügen erkannte er seine eigene Hilflosigkeit und in Nadines Trauer, Lauras leuchten vor Liebe und Schmerz. Nur die Züge von Haril waren wie immer kalt und ausdruckslos. Doch seine Hände zitterten. Trauerte seine rechte Hand um die Frau, die in den Augen des konservativen Magiers nie einen Fuß auf Senjyouboden hätte setzen dürfen?
Malhims Blick wurde wieder von der leblosen Gestalt in der Mitte angezogen. Auf ihrem steinernen Altar lag sie da, umgeben von leeren Gräbern. Konnten sie ihre Aufgabe erfüllen, bevor der Letzte seinen Platz in diesem Grabmal der Untoten eingenommen hatte?
Aira stimmte ein leises Summen an und riss Malhim aus seinen Gedanken. Der tiefe Ton der Trauer und der Wut erfüllte den Raum, prallte an den Wänden ab und hallte in ihren Herzen wider. Einer nach dem anderen ging an Malhim vorbei und verließ die unnatürliche Aushöhlung durch den schmalen Eingang. Der Senjyoukönig blieb alleine zurück.
Nachdem seine Augen die kalten Wände abgesucht hatten, blieb ihnen nur der bewegungslose Körper. Erinnerungen an die eine Nacht, in der er Serena zu seiner gemacht und Lucel gezeugt hatte, durchströmten ihn. Erinnerung an die süßen Qualen der Jahre, in denen sie ihm so nahe und doch so unerreichbar gewesen war.
Ohne es zu wollen, war er an ihre Schlafstätte herangetreten und bedeckte ihre Lippen mit seinen. Wie ihr Verhalten zu Lebzeiten, waren sie kalt und hart. Er hatte nicht im Leben die Hitze der Liebe in ihr entflammen können und konnte ihr auch jetzt keine Wärme einhauchen.
Seine Finger krallten sich verzweifelt in die blaue Seide. Blau wie ihre Augen, die nie wieder sehen würden. Seine Hände wanderten ihren Körper entlang. Danach hatte er sich all die Jahre gesehnt. Doch die Haut war hart wie Stein und kalt wie Eis. Als wäre sie nur das Abbild einer Frau, gekonnt von einem Meister in Stein gemeißelt.
Sie war so jung von ihm gegangen. Sie hätte noch 50, 60, vielleicht sogar 70 Jahre vor sich gehabt. Ein Wimpernschlag in dem Leben eines Senjyou. Doch es waren wertvolle Jahre, die ihm mit ihr geraubt worden waren. Zeit, in der sie vielleicht gelernt hätte, seine Liebe zu erwidern.
Malhims Hand strich über ihr Handgelenk hoch über den Unterarm zur Schulter, hin zu ihrem Hals und den schönen Rundungen der Brust, die sich nicht mehr hob. Kurz verweilte seine Hand bei Zerelf, das Amulett des Friedens, das den Landen nur Blut gebracht hatte.
Dann verlor er den Boden unter den Füßen und flog durch die Luft, prallte an die Wand und saugte den Schmerz dankbar in sich auf. Er wollte ihn, hatte ihn verdient. Benommen sah er auf und blickte in Mikhaels funkelnde Augen. Wut, Zorn, Hilflosigkeit und Hass loderten ihm entgegen, doch auch Malhim hasste. Er hasste diese bernsteinfarbenen Augen.
Eifersüchtig blickte er auf die vollen Lippen, die vor Zorn bebten. Hatten sie das genossen, was ihm all die Jahre verwehrt geblieben war? Hatten die Lippen eines anderen Mannes sich leidenschaftlich mit dem Mund der Mutter seines Kindes vereint?
In den 10 Jahren war Serena oft auf Reisen gewesen, hatte Mikhael häufig besucht. Und jedes Mal hatte Malhim gezittert und war vor dem einen Albtraum verfolgt worden, der ihn alleine in die Knie zwingen konnte. Und jetzt war dieser wahr geworden: Serena würde nicht wiederkommen. Nie wieder würde sie zu ihm zurückkommen.
„Niederste Kreatur, die auf dieser Erde kriecht, musst du ihren Körper in Leben und Tod schänden?“ Mikhaels Stimme bebte unter der Wucht seiner Gefühle. Er war wütend auf den Senjyou, war es immer gewesen. Jetzt brach die Wut die Beschränkungen, die er sich um Serenas willen auferlegt hatte, und seine Fäuste landeten im Gesicht des schönen Königs, der die Bestrafung dankbar annahm.
Sie war wegen ihm gestorben. Er hatte das und mehr verdient. In dem nebelhaften Verstand seiner Agonie erreichte die Bedeutung der Worte nur sehr langsam Malhims Geist.
„Du hast geschworen, auf sie zu achten. Du hast versprochen, sie zu beschützen. Ich hätte sie dir nie überlassen dürfen.“ Mikhael spuckte aus und drehte sich um. Der Stahl seiner bepanzerten Stiefel stieß mit dem Boden zusammen und der Klang warf sich gegen die niedrige Decke und die engen Wände, wollte sich aus dem kleinen Gefängnis befreien, in dem es kälter war als am nördlichsten Punkt des Schneelandes.
Die Kälte würde den Körper für immer vor dem Verfall schützen. Zu einer Eisskulptur gefroren, lag er leblos da. Mikhaels Hand strich die kalte Wange entlang. Sie war noch so jung.
Sein Innerstes zerwühlte sich. Selbstvorwürfe, stärker als der Hass gegen Malhim, krochen ihm durch die Eingeweide. Ihm wurde schlecht, wenn er an Serenas Seele dachte.
Gefangen in dem leblosen Körper.
Alleine.
Ob sie ihn spürte?
Ob sie irgendetwas wahrnahm?
Wäre ein endgültiger Tod nicht besser als dieses Dahinvegetieren zwischen Leben und Tod?
Mikhael strich über die Lippen, die schon seit Jahren nur noch seine Wange berührt hatten, während seine sich nach ihnen verzehrten. Er hatte andere geliebt, doch auch wenn er nie bei Serena gelegen war, ihren Geschmack nur von unschuldigen Küssen kannte, war sie doch alles, was er wollte. Sein Engel, der ihm sein Leben gerettet hatte, nur um es in die Hölle der unerfüllbaren Verzehrung zu stoßen.
Wenn er es gewesen wäre, der sie mit Gewalt genommen hätte, und nicht Malhim ... Wenn Lucel sein Sohn wäre und nicht Malhims, wäre Serena dann noch am Leben? Wirklich am Leben? Wären ihre Wangen rosig und würden ihre Augen ihn anleuchten, während ihr Lachen durch die Wälder schallte?
Doch Wünschen und Denken halfen nicht, änderten nichts an ihrem Zustand, der schlimmer war als der Tod. Ein hysterisches Lachen entriss sich seiner Kehle. Der Tod war nicht endgültig und grausamer als alles, was sie ihr angetan hatten. Serena durfte Mutter nicht in die Hände fallen. Keiner von ihnen konnte eins werden mit der Erde, die alle verstorbenen Seelen in sich sammelte. Um Lucels willen nicht und um der Landen willen nicht.
Mikhael strich über Serenas Haar und hoffte, dass sie träumen konnte. Dann schweifte sein Blick zu dem am Boden zusammengekauerten Häufchen Elend, das ausdruckslos auf den Boden starrte. Er drehte sich um und ließ den verdammten Raum hinter sich. Ein kaltes Gefängnis. Serenas Grab und doch würde sie hier keine Ruhe finden. Keiner von ihnen würde das.
Die anderen standen vor der Grabkammer. Niemand hob den Blick aus Angst vor dem, was sie sehen würden: Vorwürfe, das Spiegelbild ihrer eigenen Anklagen. Mikhael reihte sich in den Kreis, den sie um den kleinen Körper gebildet hatten. Zu klein und zu zerbrechlich für einen 14-jährigen Vostoken, aber zu stämmig und zu weit entwickelt für einen Senjyou.
Mikhael umklammerte den Kristall in seiner Hand. Er war glatt und kalt, wie Serena.
Malhim trat mit blutendem und aufgeplatztem Gesicht an seinen Platz. Sein Herz verkrampfte sich und Zweifel, der sich in den Gesichtern aller wiederfand, regierte in Malhim.
Taten sie wirklich das Richtige?
Ein Seelentransfer wie bei Molly, Aragar und Salmon war ihnen nicht gelungen. Sie hatten es so lange diskutiert und aufgeschoben wie möglich. Doch es gab keinen anderen Weg. Nicht im Moment. Wie bei Serena, konnten sie auch bei Lucel nur Zeit gewinnen. Malhim musste mit Schaudern an die Experimente denken und die furchtbaren Ergebnisse, die er tief in seiner Seele vergraben hatte und die ihn doch nicht ruhig schlafen ließen.
Sein Blick fraß sich voller Liebe in die kleine Gestalt. Eine Hand glitt in die Tasche seiner Tunika, holte den farblosen Stein hervor und hielt ihn liebkosend zwischen seinen Handflächen.
Halifs tiefe Stimme erhob sich, seine Stirn glänzte vor Schweiß, als der kleine Körper glühte. Kurz bevor sein Gesang brach, stimmte Nadine ein. In ihrem Lied klang Widerwille mit. Bis zum Schluss war sie gegen das Ritual gewesen, hatte sich aber der Mehrheit gebeugt. Dann erklang Harils Stimme. Der Dreiergesang zerrte an dem kleinen Körper, saugte ihn aus.
Vor Malhims Augen schrumpfte die fleischliche Hülle seines Sohnes, als ihm alles gestohlen wurde, was ihn ausmachte.
Nadines Worte klangen in seinem Geist: „Was ist ein Mensch ohne Erinnerungen? Erinnerungen und Erfahrungen formen seinen Geist, seine Seele, sein Ich. Ohne sie ist er leer, wie ein weißes Blatt Papier. Nichts, was ihn ausgemacht hat, nichts, was wir an ihm lieben, wird mehr sein. Er wird nicht mehr Lucel sein.“
Genau das wollte Malhim.
Genau so musste es sein, redete er sich ein. Lucel wäre nicht mehr sein Sohn. Er wäre weder der Halbling, der den Senjyouthron besteigen sollte, noch der Vernichter der Welt. Nur ein kleiner Junge, der die Chance auf ein normales Leben bekam. Er wäre ohne Schmerzen und ohne Hass, denn er würde sich weder an seine Mutter erinnern, noch an den Mord, dessen alleiniger Zeuge er geworden war.
Wut stieg in Malhim auf. Wer war es gewesen? Wer hatte seine große Liebe aus dem Leben gerissen? Seine Sonne zum Verlöschen gebracht? Nur Lucel kannte diese Antwort, denn er hatte den Mörder zu Staub verbrannt. Ihn und einen ganzen Landstrich in seinem Schmerz ausgelöscht.
Hass und Trauer kämpften mit Angst.
Malhim wusste, dass sein Sohn mächtig war, doch Halifs Nullifizierungsschild hatte es ihn und alle anderen vergessen lassen. Wäre Phynissia nicht eingeschritten und hätte ihn nicht in Schlaf versetzt, wären sie alle verloren gewesen. Für einen kurzen Augenblick fühlte er Bedauern. Bedauern darüber, dass er noch lebte. Dass die Landen weiter existierten, obwohl Serena nicht mehr Teil von ihnen war.
Vergessen.
Er wünschte sich, er könnte vergessen.
Nicht Mitleid, sondern Neid lag in den Augen des Vaters, als er seinen Sohn schwinden sah. Doch Malhim durfte nicht vergessen. Nicht, bis es eine Ordnung gab, die den Toten erlaubte zu ruhen. Denn in einer Welt, in der die Toten nicht ruhten, konnte es kein Ende geben, keinen Frieden. Denn ihr Zorn, ihre Wut, ihr Hass und ihr Schmerz weilten ewig und hatten sich in Mutter manifestiert. Ein Bewusstsein, dazu verdammt, zu beobachten, zu leiden und nicht zu vergessen.
Deswegen durfte Serena nicht sterben und war gefangen im untoten Dasein, die Zeit für sie eingefroren, bis jemand eine Lösung fanden. Würde auch nur einer von ihnen Teil von Mutter, wäre alles vorbei. Deshalb durften und konnten sie nicht sterben. Keiner von ihnen. Doch seinem Sohn konnte Malhim das Vergessen schenken, das er so sehr für sich wünschte.
Dann wurde die Höhle dunkel. Licht zerfloss im Schatten und Schatten im Licht. Bilder, Gefühle, Farben, Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse schossen aus dem bewusstlosen Körper des kleinen Jungen heraus. Ballten sich zusammen, glühten in aller Pracht. Die Guten wie die Bösen verknoteten sich zu kleinen Wirbelstürmen. Voller Reue in dem Moment des Aktes hoben sie alle die leeren Kristalle über ihre Köpfe, riefen die Erinnerungen und die Wirbelstürme wurden in zehn Kristalle gesogen.
In der eigenen Farbenpracht gefangen, leuchteten:
Kinderlachen und Kinderweinen
Die ersten Schritte
Der erste Kuss
Zuneigung wie Abneigung
Freude und Schmerz
Gesichter und Namen
Gefühle
Alles, was Lucel charakterisierte, ihn liebenswert und einzigartig machte, wurde in kleine, kalte Steine geschlossen und die Kristalle färbten sich in den schönsten Tönen von Rosa, Türkis, Lila, Rot, Grün, Gelb, Blau, Orange und Braun. Dann sammelte sich ein schwarz-silberner Strudel über dem kleinen Körper, flog in die Grabkammer und versank in Zerelf, dem Amulett auf Serenas Brust.
Der geschrumpfte Körper lag auf dem Boden, ausgesaugt und leer. Allem beraubt und kaum noch am Leben. Laura, die mit Tränen in den Augen das Ritual verfolgt hatte, trat heran, hob den Jungen hoch, der weniger wog als ein Baby und presste ihn an ihre Brust. Serena war tot und diejenigen, denen sie am meisten vertraut hatte, hatten ihrem Sohn das Vermächtnis genommen, das sie ihm mit all ihrer Macht hatte hinterlassen wollen.
Laura sah in die Runde, doch alle wichen ihren Blicken aus. Sie sah Schuld und Angst. Zärtlich strich sie dem Jungen das schwarze Haar aus dem Gesicht. Lucel war wie seine Mutter: wunderschön, stark und doch zerbrechlich. Sein lockiges Haar fiel zur Seite und entblößte Ohren, die nur noch unmerklich spitz zuliefen. Auch das hatten sie ihm genommen.
Laura würde ihn aufziehen wie ihr eigenes Kind und versuchen, ihm das zu geben, was Serena ihm hatte geben wollen: eine schöne Welt, für die es sich zu kämpfen lohnte. Sie drehte den Verrätern den Rücken zu und machte sich auf, den beschwerlichen Weg aus dem Tunnellabyrinth zu beschreiten. Sie kehrte den Feiglingen und dem Hass, der Laura bei ihrem Anblick erfüllte, den Rücken zu. Sowie dem Ekel davor, nicht stark genug gewesen zu sein, um Lucel zu beschützen.
Lucel, den Sohn ihrer geliebten Serena.
Laura verstand kaum etwas von dem, was da unten passiert war, und so war auf keinem der Steinsärge ihr Name eingraviert.
„Lucel ... Lucel ... “, angenehm klang die sanfte Stimme in seinen Ohren. Wie ein Singsang lullte sie ihn tiefer in den Kokon, in dem er es sich bequem gemacht hatte. Er roch das Gras, fühlte den Wind und die warmen Strahlen der Sonne auf seiner blassen Haut. Grashalme kitzelten sein Gesicht, seinen Nacken und seine Arme. Er spürte alles und war doch nicht Teil vom Ganzen. Wie ein Fremdkörper abgestoßen, driftete sein Geist im Nirgendwo, erschuf eine Welt für sich.
„Lucel!“, rief die Stimme verärgert, zerrte an den Fäden seines Kokons und riss Löcher in seine kleine Welt, abseits von allem. Er kniff verärgert die Augen fester zu, brummte unzufrieden. Dann durchzuckte ihn ein kleiner Blitz, als er eine Hand auf seiner Brust fühlte. Ungeduldig rüttelte sie an ihm. Noch in seiner Welt gefangen, reagierte sein Körper instinktiv. Er packte den Arm und zog sie zu sich ins Grass, rollte sich auf sie und bedeckte sie mit seinem schlanken Körper.
Es war ihr Geruch, der den Kokon sprengte. Widerwillig öffneten sich seine Lider langsam und er blickte in weit aufgerissene Augen, grün wie das Gras, ihr Haar leuchtete golden wie die Sonne. Die Wangen waren gerötet, ihre vollen Lippen bebten. Unter seiner rechten Hand spürte er etwas Weiches. Verwirrt tastete er entlang, quetschte und rubbelte.
Selena stöhnte leise auf und das Rot ihrer Wangen wurde kräftiger. Lucel schloss die Augen wieder, legte seinen Kopf direkt neben ihren, genoss das seidenweiche Haar an seiner Wange und sog ihren Duft ein. Eine Wiese mit weißen Maiglöckchen erschien vor seinem inneren Auge. Er verlor sich in dem Blumenmeer. Doch Selenas Stimme zerrte ihn wieder in die Welt, in der er sich nicht komplett fühlte.
„Lucel! Wir sind keine Kinder mehr. Geh runter von mir!“ Ihre Worte waren barsch.
Lucel seufzte.
Was hatte sich in den sechs Jahren so geändert, dass er nicht mehr mit Selena im Arm einschlafen durfte? Sie waren immer zusammen eingeschlafen, hatten sich Gutenachtgeschichten erzählt und waren lachend Arm in Arm ins Land der Träume abgeglitten.
Dann plötzlich, aus heiterem Himmel, hatten ihre Eltern ihnen verboten im selben Bett zu schlafen, ja sogar im selben Raum.
Seit sechs Jahren schlief er nun alleine in einem großen, kalten Bett. Anfangs hatte sich Selena in sein Zimmer geschlichen, doch nachdem Vater sie erwischt und es ein riesen Donnerwetter gegeben hatte, war Selena nicht mehr zu Lucel gekommen.
Lucel hatte versuchte sich in ihr Zimmer zu schleichen, doch sie hatte ihn mit den Worten: „Wir sind keine Kinder mehr“, immer wieder weggeschickt. Lucel hatte diesen Satz satt. Was hatten Alter und Kindheit damit zu tun, ob er neben Selena schlafen durfte oder nicht?
„Lucel!“ Selenas Stimme klang drängend, fast ängstlich.
Hatte sie Angst vor ihm?
Bei dem Gedanken schmerzte seine Brust. Lucel rollte sich von Selena und starrte in das Blau des Himmels. Er liebte den Himmel und doch gab es Augenblicke, in denen sein Anblick ihn unendlich traurig machte. So nahe, war er doch unerreichbar.
Neben ihm raschelte es, als Selena sich aufsetzte. Immer noch mit geröteten Wangen sagte sie maulig: „Du hast auch keine Scham! Eine junge Frau da einfach so zu berühren! Unverschämter Kerl!“
„Hab ich dir wehgetan?“ Lucel musterte Selena sorgenvoll, suchte jeden Zentimeter ihres Körpers nach Verletzungen ab. Er durfte niemandem wehtun, aber vor allem nicht ihr! Der Gedanke war immer da, eng verbunden mit seiner ersten, klaren Erinnerung: Selenas tränennasse Gesicht, seine blutigen Hände und braunes bewegungsloses Fell.
„Nein! Nein, mir geht es gut“, erwiderte Selena schnell, als sie den Schatten über Lucels Gesicht huschen sah. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Er machte sich Sorgen um sie, empfand mehr als Geschwisterliebe.
„Na dann“, erwiderte Lucel plötzlich völlig desinteressiert, rollte sich zur Seite und schloss die Augen.
Serenas Wunschgedanke zerplatzte wie eine Seifenblase. „Lucel!“ Verärgert über ihn und über ihre eigene dumme Schwärmerei, rüttelte Selena ihn, „die Abschlusszeremonie beginnt gleich! Alle warten nur auf dich.“
Lucel gähnte gelangweilt. Zeremonie war ein sehr großes Wort für eine Abschlussfeier von fünf Abgängern. Sie waren mit sechzehn nun im Erwachsenenalter und bereit für den Ernst des Lebens. Keine Schulbank mehr drücken. Doch Lucel mochte die Schule und für ihn gab es nichts zu feiern. Während dem Unterricht konnte man sich einfach hinter einem Buch verstecken und schlafen. Jetzt musste er sich mit der Zukunft beschäftigen, Arbeit, Karriere, Lebenserwartungen, Wünsche und Hoffnungen.
„Vater wird schon ungeduldig“, Lucels Ohren zuckten leicht. Er rieb sich über die leicht zugespitzte Kante.
„Mutter wartet!“ Selena seufzte innerlich, als Lucel sofort auf die Beine sprang und rief: „Warum trödelst du? Wir müssen los!“ Es war ein Wunder, dass er anstatt gleich loszusprinten, Selena ungeduldig die Hand hinhielt, um ihr aufzuhelfen.
Für Mutter tat Lucel alles.
Wenn er die Wahl zwischen ihrer Mutter und Selena hätte, würde er sich für ihre Mutter entscheiden. Das stand außer Frage. Selena ergriff beleidigt Lucels Hand. Seine Finger waren schlank, aber stark. Er zog sie mühelos in die Höhe. So schwungvoll, dass Selena das Gleichgewicht verlor und gegen seine Brust fiel. Sie hörte sein Herz schlagen und ihr Puls raste, presste das Blut schneller durch ihre Adern.
„Selena! Benimm dich! Ihr seid Geschwister!“, raunte sie sich selbst gedanklich zu und stopfte der Stimme den Mund mit einem erdachten, stinkigen Socken, die ihr leise ins Ohr säuselte: „Er ist nicht dein leiblicher Bruder.“ Ihr Vater würde sie steinigen, wenn er wüsste, dass sie Gefühle für Lucel hatte, die über Geschwisterliebe hinausgingen. Auch wenn ihre Mutter Freudentänze aufführen würde. Seit dem Tag, als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte Laura ihre Tochter in Lucels Arme getrieben. Wortwörtlich! Geschubst hatte sie sie und das nicht nur einmal. Allein um dem selbstgefälligen Lächeln ihrer Mutter nicht ausgesetzt zu werden, würde Selena nie zugeben, dass der Plan aufgegangen war.
Auch wenn es ihr schwer fiel, einfach dabei zuzusehen, wie die kleinen Weibsbilder des Dorfes sich Lucel anbiederten, ihm Geschenke machten und leise kicherten, wenn er vorbeiging. Sogar die Jungs rauften sich um den Platz neben ihm in der Klasse.
Verächtlich verzog Selena das Gesicht. Niemand von ihnen hatte Lucels Großartigkeit gesehen, bevor er, der schmächtige Junge, der immer nur apathisch in die Gegend glotzte oder schlief, Marikal die Stirn geboten hat.
Marikal war der größte Junge im Dorf und ein bulliger Macho, dem es Spaß machte, Kleinere zu ärgern, vor allem Mädchen. Eines Tages hatte er Selena zu seinem Opfer auserkoren und sie so lange an den Zöpfen gezogen, bis sie weinte. Lucel war in aller Ruhe zu ihm hingegangen, hatte ihn am Hals gepackt und solange in der Luft gehalten, bis Marikal keuchend um Verzeihung bettelte.
Er war der Held des Tages, der Schule und vor allem Selenas Held gewesen. Selena hatte nie wieder Probleme mit Marikal oder irgendeinem anderen Jungen. Und an jenem Tag war in ihren Augen ihr kleiner Ziehbruder von einem folgsamen Hündchen, das dem kleinen Mädchen überall hin folgte, zu einem begehrten Objekt des anderen Geschlechtes geworden. Sie hatte sich doch tatsächlich mit sieben Jahren in den kleineren, verträumten Lucel verliebt.
Eine Schwärmerei, aus der sie mit den Jahren hinauswachsen würde, pflegte sie sich zu sagen und huldigte Lucel in aller Stille an ihrem geheimen Schrein, ohne ihm ihre Gefühle zu gestehen. Sie wartete jeden neuen Frühling darauf, dass ihr Herz nicht mehr verräterisch klopfen und sie nicht bei jeder Berührung zusammenzucken würde. Doch in den neun Jahren wuchs Lucel, überholte Selena und wurde zu einem attraktiven Jungen, der nicht mehr nur ihr Herz höher schlagen ließ.
Selena machte sich schnaubend von Lucel los und stampfte, dicht gefolgt von ihrem Stiefbruder, zu dem Holzhaus, das sich auf einer Anhöhe im kleinen Dorf Krem befand. Ungeduldig wurde sie von Frau Schimmerlin empfangen, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch den Schülern mit schwingender Rute hinterherrannte.
Sie zeterte laut vor sich hin und scheuchte die beiden Zuspätkommer durch die Tür in den Klassenraum. Alle Stühle waren besetzt, viele Eltern standen. Laura Oberson jedoch saß auf ihrer alten Schulbank in der ersten Reihe und winkte ihren beiden Kindern aufgeregt wie ein kleines Schulmädchen entgegen.
Selena blickte peinlich berührt zur Seite, während Lucels Augen in einem ungewohnten Glanz erstrahlten.
Wie schon so oft fragte sich Selena, wie sie mit ihrem ruhigen, würdevollen und eleganten Wesen nur von dieser kindischen Person abstammen konnte? Ein leiser Zischlaut entschlüpfte ihren Lippen, als Lucel lächelnd zurückwinkte. Das musste ein Irrtum sein. Lucel war Lauras leiblicher Sohn und Selena war eine weit entfernte, adoptierte Cousine, nicht umgekehrt.
Ein Blick in Lucels schläfriges Gesicht sagte Selena, dass sie wieder die Stunden, in denen sich Frau Schimmerlin in Rage reden und gerührt von ihren eigenen Worten weinen würde, damit verbringen durfte, Lucel mit Elenbogenstößen wachzuhalten. Wie konnte man nur so viel schlafen? Ergeben in ihr Schicksal, stellte sie sich neben die anderen drei Absolventen und hielt ihren Ellbogen bereit. Wie gelang es Lucel nur im Stehen einzuschlafen?
Für das kleine Dorf Krem war das Haus der Obersons so groß wie ein Anwesen. Als Merez Oberson die Aufgabe des Obermeisters seinem Schwiegersohn überließ, zog er mit seiner Frau aus dem Hauptgebäude in ein Nebenhaus. Wie so oft, aßen sie auch heute alle gemeinsam zu Abend. Merez und Linda, Laura Oberson mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Dass Lucel nicht ihr leiblicher Enkel war, ließen sich die stolzen Großeltern nicht anmerken. Nach dem Essen verabschiedeten sie sich und Laura machte es sich wie immer mit ihrem Mann, Selena und Lucel vor dem Kamin bequem.
Selena würde es nie offen zugeben, aber sie liebte diesen Moment. Wie Kinder lümmelte sie sich mit Lucel auf den Fellen am Boden vor dem Kamin. Obwohl sie bereits Spätfrühling hatten, waren die Abende noch kühl und die Nächte kalt.
Selena starrte ins knisternde Feuer, beobachtete die Flammen bei ihrem Tanz, während Lucel mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und vermutlich schlief. Sicher konnte man sich da nie bei ihm sein. Er erinnerte Selena an einen großen, zotteligen Hund oder einen toten Käfer, wenn er so auf dem Rücken lag, alle Viere von sich gestreckt. Manchmal musste sie bei dem Anblick auch an eine hilflose Schildkröte, die auf dem Rücken lag und sich alleine nicht umdrehen konnte, denken.
Sanil Oberson, der den Namen seiner Frau angenommen hatte, einfach weil Laura den Klang Oberson besser gefiel als Wandik, lag ausgestreckt auf dem Sofa, während seine Frau im Schaukelstuhl saß und wieder einmal etwas strickte. Auch wenn der Winter vorbei war, würde der nächste mit Sicherheit kommen, pflegte sie zu sagen. Es dauerte nie lange, bis Laura mit dem Geschichtenerzählen begann. Auch heute nicht. Mit einem Lächeln der Erinnerung auf den Lippen räusperte sie sich und entführte die Familienmitglieder in eine fremde Welt.
Lucel spitzte seine Ohren, Selena kuschelte sich tiefer in das Bärenfell und Sanil legte sein Buch zur Seite, um der schönen Stimme seiner Frau zu lauschen. Sie alle kannten die Geschichte. Hatten sie schon tausendmal gehört. Und doch freuten sie sich jeden Abend darauf.
„Vor nicht allzu langer Zeit lebte in einem abgelegenen Dorf ein junges Mädchen namens Serena. Da ihr Vater verschwand, als sie noch sehr klein war, wohnte sie alleine mit ihrer Mutter in einer Hütte am Dorfrand. Obwohl Serena mit ihren schwarzen Locken und Augen in der Farbe des Himmels eine wahre Schönheit war, mieden die Dorfbewohner sie. Denn sie war immer ernst, lachte nie und weinte nicht. Alara, Serenas Mutter, war eine große Heilerin und hatte schon so manches Leben in dem kleinen Kreis der Gemeinschaft gerettet. Dennoch mieden die Bewohner auch sie, da auch sie nie lachte und nicht weinte. Doch die beiden machten sich nichts aus menschlicher Nähe und lebten in Ruhe vor sich hin.
Eines Tages jedoch kam ein Fremder mit einem Mädchen ins Dorf. Sie war klein und stämmig, hatte Haare rot wie Feuer und Augen so grün wie Gras. Wie ein dressierter Hund, folgte sie dem Mann überall hin. Denn sie war nichts anderes als eine abgerichtete Sklavin und so behandelte der Mann sie auch. Wenn er wütend war, schrie er sie an, wenn er betrunken war, prügelte er sie.
[Selenas Herz klopfte wütend und wie immer biss sie bei dieser Ungerechtigkeit in den nächstbesten Gegenstand. Heute war es das Fell, in das sie sich gekuschelt hatte. Haare klebten an ihrer Zunge und sie röchelte leise, als ein paar ihr in den Rachen rutschten. Lucel lachte leise und Laura reichte ihrer Tochter ein Glass Wasser, ohne in der Geschichte innezuhalten.]
Serena wurde seit dem Verschwinden ihres Vaters von einem kleinen, runden Mann namens Zorghk, der alleine tief im Wald lebte, in der Kampfkunst unterrichtet. So war Serena stark und wusste sich zu wehren. Als sie sah, wie der Mann auf das am Boden liegende Mädchen mit der Peitsche einschlug, konnte sie nicht an sich halten und eilte zur Rettung des armen Geschöpfs. Der Mann fiel bei dem Handgemenge zu Boden, schlug mit dem Kopf auf einen spitzen Stein und blieb reglos am Boden in seinem eigenen Blut liegen.
Doch Serenas Herz kannte kein Mitleid für ihn. Sie ließ ihn, wo er war, und brachte das schwerverletzte Mädchen zu Zorghk, ihrem Lehrmeister. Als er den Rücken des kaum noch atmenden Mädchens sah, schickte er nach Alara. Nur mit Mühe gelang es Serenas Mutter die Verletzte dem Tode zu entreißen. Die Sklavin würde leben. Doch ihr Herr war tot. In manchen Augen mag das Gerechtigkeit sein, doch nicht vor dem Gesetz, das wusste Zorghk und drängte Serena, mit dem Mädchen noch in derselben Nacht zu fliehen.
Gemeinsam liefen sie Tage und Nächte durch den dunklen Wald, der seit jeher das kleine Dorf umgab, immer in der Angst, verfolgt und gejagt zu werden. Das Mädchen war aus der Rasse des Bergvolkes und lebte seit seiner Geburt bei den Vostoken als Sklavin. Ohne Rechte, ohne Stimme, ohne Namen. Serena taufte sie Aira und versprach, sie zu ihrem Volk zu bringen, wo sie in Freiheit und Frieden leben könnte.
Am fünften Tag erzitterte der Wald vor wildem Geheule. Ein Rudel Wölfe hatte die Spur der Mädchen aufgenommen. Serena nahm die kurzbeinige Aira huckepack und lief so schnell ihre Beine sie trugen. Doch sie hatte keine Chance, den wilden Tieren zu entkommen. Nur mit einem Stock bewaffnet, stellte sich Serena den hungrigen Bestien entgegen. Doch trotz ihrer Kampfausbildung hatte sie keine Chance. Als gerade einer seine scharfen Zähne tief in Serenas Arm vergrub, erschien ein stattlicher, junger Mann und schlug mutig die Biester in die Flucht.
[Lucel fuchtelte mit den Armen und spießte imaginäre Gegner auf. Selena entschlüpfte ein leises Kichern und sie flüsterte seufzend: „Mein Held!“ Lucels Hände gefroren in der Luft und seine Wangen röteten sich leicht, als er sich verlegen räusperte.]
Da Mikhael, ihr Retter, ein Edelmann von Herzen war, konnte er die zwei jungen Damen nicht alleine im Wald herumirren lassen. Er beschloss, sie zu begleiten und mit seinem Leben zu beschützen. Sein Entschluss war nicht nur reiner Natur, denn sein Herz schlug, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, für die schöne Serena. Doch obwohl Mikhael die schönsten Augen der Welt hatte, die meist verschmitzt wie Bernsteine funkelten, blieb Serenas Herz unberührt.
Auf ihrem Weg hielten sie in einem Gasthaus, um sich auszuruhen und für die kommende Reise zu stärken. Dort begegnete ihnen Molly, eine junge, fröhliche Kellnerin, die den ganzen Tag nur lachte und deren Herz in freudiger Erwartung auf kommende Abenteuer pochte und Serena sofort entgegenflog. Molly schloss sich der Gruppe an.
Zu viert reisten sie durch Täler und Wälder, vorbei an Häusern und Feldern. Auf ins unbekannte Land, das vor ihnen noch niemand betreten hatte. In einem Wald mit Bäumen, die so groß waren, dass sie den Himmel berührten, traf die muntere Truppe auf das Waldvolk. Riesige Gestalten mit spitzen Ohren, die sangen, anstatt zu sprechen. Sie durchsuchten die Sachen der erstaunten Gefährten, die auf ihrer Reise zu Freunden geworden waren und fanden bei Aira ein Amulett.
Aufgeregt brachten sie die Gefährten zu ihrem König, der nicht nur singen, sondern auch sprechen konnte. Er erzählte ihnen, dass vor einiger Zeit das Waldvolk und das Bergvolk sich angefreundet und als Zeichen ihrer Verbundenheit gemeinsam das Amulett Zerelf gefertigt hatten. Doch das Amulett war vor über einem Jahrzehnt verloren gegangen. Und eben dieses trug Aira um den Hals. Der König des Waldvolkes bat die Gefährten, Zerelf in seinem Namen zum Bergvolk zu bringen, um die Freundschaftsbande zu erneuern und zu stärken.
In der Hoffnung, dort ein neues Zuhause für Aira zu finden, willigten die Freunde ein. Malhim, der Sohn des Königs, hatte sich wie Mikhael auf den ersten Blick unsterblich in Serena verliebt und bat seinen Vater, die Gruppe auf ihrer Reise begleiten zu dürfen. Schweren Herzens ließ der König seinen einzigen Sohn mit fünf Außerwählten ziehen: den Kriegern Salmon, Aragar, Garif und Mof, sowie dem Magier Haril.
Ausgeruht und gestärkt machten sie sich auf, ihre Aufgabe zu erfüllen. Doch sie wussten nicht, das Morphis, ein böser Zauberer, schon lange nach dem Amulett suchte. Und so fand seine Dienerin die Freunde unvorbereitet. Sie beschwor eine Severenarmee und ergoss einen Pfeilregen über die Gefährten. Haril, der Magier riss seine Hände in die Luft und erschuf mit all seiner Kraft einen Transportzauber. Kurz bevor eine Windkugel sich um die Freunde schloss, erblickte Serena das Gesicht der Angreiferin und erkannte Alara, ihre eigene Mutter.
Harils Wirbelsturm brachte die Reisenden in ein verbotenes Gebiet, den verwunschen Wald, in dem die Magie der Bäume so stark war, dass sie alle anderen Zauber verformten und zerrissen. Magier mieden diesen Ort um jeden Preis. So auch ihre Angreifer. Doch der Pfeilhagel war nicht ohne Spuren über sie hereingebrochen. Viele waren getroffen. Die Glücklichen waren nur leicht verletzt, doch Molly erlag ihrer Wunde noch vor dem Transport.
Voller Schmerz vertrauten die Gefährten ihren Körper dem Wald und seinen Wurzeln an. Vor allem Mof vom Waldvolk hatte an ihrem fröhlichen Wesen Gefallen gefunden und Trauer um das Mädchen aus dem Flachland fand sich in seinem Herzen ein.
Trauer ergriff auch Serenas Herz, denn sie hatte Molly sehr liebgewonnen. Gefangen in ihrem Schmerz, nutzte Oril, der verwirrte Herrscher des verwunschenen Waldes, die Chance, verzauberte die schöne Serena und entführte sie auf sein Schloss. Malhim und Mikhael, deren beide Herzen für Serena schlugen, machten sich sofort auf, um sie zu retten.
[Selena seufzte verträumt. Gleich zwei gutaussehende, strahlende Helden, die eilten, um die holde Maid aus den Klauen des Ungeheuers zu befreien. Und sie musste sich im wirklichen Leben mit dem da zufrieden geben. Sie warf einen verstohlenen Blick zu Lucels Ohren, die aufgeregt hin- und herzuckten. Wie machte er das nur? Ungewollt glühten ihre Wangen und Selena versteckte ihr Gesicht tief in dem Bärenfell.]
Nur mit Mühen gelang es ihnen, Serena aus den Krallen des verdrehten Geistes zu befreien. Und sie machten sich weiter auf zum Bergvolk. Doch Alara, die Dienerin des bösen Morphis, wartete mit einer Armee am Waldrand. Die Gefährten kämpften tapfer, vor allem Serena mähte einen Feind nach dem anderen nieder und es gelang ihnen trotz ihrer Unterzahl, den Feind zu besiegen. Müde und ausgelaugt erreichten sie das Bergvolk.
Doch die Angriffe ließen den Freunden keine Ruhe und sie beschlossen, ins Schneeland zu reisen, um im Morphium Kloster nach Antworten zu suchen. Und so brach Serena mit Mikhael, Krohl, der den Namen Zorghk abgelegt hatte, Malhim und Mof auf in die nördlichste Region der Welt. Während ihrer Reise begegneten sie Armirus, Mikhaels Ziehvater. Nach langen Gesprächen stellte sich heraus, dass Armirus der Bruder von Serenas Vater war und damit ihr Onkel. Von ihm erfuhr Serena auch, dass Laron, ihr Vater, noch am Leben und seit Jahren zu Unrecht in einem Verlies eingesperrt war.
Gemeinsam machten sie sich auf, ihn zu befreien und nahmen ihn mit in den kalten Norden. Wochenlang durchstreiften sie das Schneeland und fanden erst kurz vor dem Erfrieren das Kloster, das sich einsam von der weißen Schneehölle abhob. Sie gelangten durch eine geheime Tür hinter die dunklen Mauern und liefen Halif, Armirus‘ und Larons verschollenem Halbruder, in die Arme. Gemeinsam mit Nadine war es ihm gelungen, in wenigen Monaten die Kunst der Magie zu meistern. Mit ihrer Hilfe konnten sie nach einem langen Kampf den bösen Zauberer besiegen. Alara jedoch war nicht auffindbar.
Der Prinz des Waldvolkes gestand Serena seine Liebe. Seinen vor Leidenschaft glühenden, grünen Augen mit goldenen Sprenkel gelang es, die Eismauer um Serenas Herz zum Schmelzen zu bringen und sie kehrten gemeinsam in seine Heimat zurück. Kurze Zeit später bekamen sie einen hübschen Jungen, dem sie den Namen Lucel gaben.
[Sanil beobachtete aus dem Augenwinkel Selena und Lucel. Selbst mit ihren sechszehn Sommern, die sie jetzt zählten, lagen sie auf dem Fell und hörten gebannt ihrer Mutter zu. Er wusste, dass diese Tage bald vorbei sein würden und genoss jeden Abend, den sich die Jungspunde noch zähmen ließen.]
Sie lebten glücklich, besuchten oft ihre Freunde sowohl im Bergland als auch im Flachland. Es hätte ein Happy End werden können, doch plötzlich erkrankte Serena. Keiner wusste sich zu helfen, kein Heilmittel war bekannt, über die Krankheit an sich wusste man nichts. Voller Trauer bat Malhim das Bergvolk um Rat und man beschloss gemeinsam, Serena in einen Schlaf zu versetzen und ihren Körper tief im Gebirge aufzubewahren. Bis zu dem Tag, an dem man ein Heilmittel finden würde.
Sie würde keine Schmerzen leiden und die Krankheit würde ihr gemeines Werk in dem Raum ohne Zeit nicht vollenden können. Und wenn noch keiner ein Heilmittel für ihre Krankheit gefunden hat, liegt sie vielleicht heute noch dort und wartet, eingehüllt in Träume von Abenteuer, Liebe und Freundschaft, darauf, dass jemand sie retten kommt.
Selena war wie immer mit dem Ende, das keines war, unzufrieden und konnte nicht umhin, ihre traditionelle Frage zu stellen: „Wie geht die Geschichte weiter?“
Wie immer füllten sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen und es tat Selena leid, dass sie gefragt hatte.
Laura lächelte, sah voller Liebe von ihrer Tochter zu Lucel. So sehr sie sich wünschte, dass Lucel ihr leiblicher Sohn wäre, war sie doch froh für Selena, dass sie nicht blutsverwandt waren.
„Ich kenne die Geschichte nur bis hierhin. Den Fortlauf zu erzählen ist eine Sache der nächsten Generation. Vielleicht erzählst du ihn ja eines Tages deinen Kindern.“ Laura blickte wieder zu Lucel, der immer noch mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Die langen Holznadeln in ihren Händen bewegten sich rhythmisch im geübten Takt. Ihre Augen verloren sich im Feuer und sie sah ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken und blauen Augen, wie sie Lucel hatte. Es war nicht traurig und doch lachte es nicht.
Eine Träne, die sich kurz in ihren Wimpern verfing, kullerte über die Nase und tropfe auf den grünen Wollknäuel. Als sie aufblickte, starrten sie blaue Augen, die sie so gut kannte und so sehr liebte, voller Sorge an. Laura konnte nicht anders und sie schenkte Lucel ein strahlendes Lächeln.
Ihr entging Selenas Schnauben nicht und sie spürte sofort Sanils Hand auf ihrer. Die Luft vibrierte von den gemischten Gefühlen. Liebe und Eifersucht. Dann rettete sie ein Klopfen aus der peinlichen Lage. Laura legte das Strickzeug auf den kleinen Holztisch neben ihrem Schaukelstuhl, den Sanil ihr zu irgendeinem Geburtstag geschenkt hatte. Er war ein praktischer Mann und hatte nur wenig Ahnung von Romantik.
Doch er war ein guter Mann. Er hatte kein Wort darüber verloren, als Laura mit dem kleinen Lucel im Arm nachhause gekommen war und hatte die fadenscheinige Geschichte, Lucel sei der Sohn einer entfernten Cousine, die bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nicht in Frage gestellt. Sanil hatte Lucel wie seinen eigenen Sohn großgezogen, soweit es ihm möglich war. Laura wusste, dass Lucel ihm unheimlich und seine Anhänglichkeit gegenüber Laura unangenehm war. Doch Sanil gab sein Bestes, vergötterte Selena und tat alles für die Familie.
In Gedanken versunken, öffnete Laura die Tür und blickte in Augen, von denen sie nicht gedachte hatte, sie je wiederzusehen. Von einem Grün, etwas dunkler als ihre eigenen, starrten sie Laura aus einem haselnussfarbenem Gesicht entgegen. Augen, die sonst voller Güte, Freude und Fröhlichkeit waren, wirkten hart und bitter.
Lauras Herz hüpfte ihr in den Hals und ihre Knie wurden schwach. „Ist etwas mit Serena?“ Lauras Stimme zitterte.
Die Frau schüttelte den Kopf, presste aber die vollen Lippen aufeinander, bis alles Blut aus ihnen gewichen war und sie weiß wie Marmor wurden.
„Ich komme wegen Lucel.“ Leise entschlüpften die Worte dem widerwilligen Mund.