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Der Kampf der Titanen hat begonnen. Zwei Schlüssel, zwei Wege. Oril, der die Erlösung aller in der vollkommenen Vernichtung sucht. Morphis, der, süchtig nach Magie, nicht loslassen kann und die Welt erhalten will, um weiter dem Rausch verfallen zu können. Mitten in dem Ringen gefangen, ohne es zu wissen: Serena und ihr Kind, beide Elemente in sich vereinend, fähig der Welt Licht zu bringen, oder sie für immer in Dunkelheit zu hüllen. Auf der Suche nach einem Weg, ihr Kind zu beschützen, bricht Serena auf, um Antworten im nördlichen Kloster Morphirium zu finden. Kann die Tochter zweier Verräter, ihr Vergewaltiger, ein Assassine und ein Volksverräter das Böse besiegen und Frieden in die Welt bringen? *Inklusive Leseproben aus anderen Büchern von Sabina S. Schneider.
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Seitenzahl: 403
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Sabina S. Schneider
Von den Göttern verlassen II
Bastarde
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Definition von Ich
Verräter
Wer ist der Vater?
Drei Brüder
Die Hölle
Ein Leben nach dem Tod
Masken
Vergessene Geheimnisse
Impressum neobooks
Hell wie die Sonne war dein Lächeln
Warum bist du nicht mehr hier
Die Welt ist nur noch Dunkelheit
Empfindungen hab´ ich nicht mehr
Meine Liebe brachte dir nur Schmerz
Doch vergessen kann ich nicht
Die Augen suchen nur nach dir
Schreit mein Herz vor Sehnsucht
Mein Name ist Schande und Verrat
Die Heimat für immer verloren
Die Suche nach dir vergessen
Seh´ ich dich halb-tot vor mir
In Sklaverei bin ich geboren
Freiheit war nur ein Wort für mich
Bis du in mein Leben tratst
Die Peitschenschläge verstummten
In Dreck geboren, durch Blut gezogen
Die Menschlichkeit fast verloren
Erblickte mein Herz deine Pracht
Du Retter meiner Seele
Mein Herz dürstet nach Abenteuer
Ich ergreife die Chance
folge dem Blau deiner Augen
Bereuen werden wir nichts
Im Netz der Intrigen verstrickt
Umwebt dein Gleichmut mein Herz
Das Feuer der Leidenschaft brennt
Ewiglich für uns tief in mir
Licht und Schatten vereint
Eine Liebe – verboten –
ihr Erzeugnis bringt Tod
und der Welt die Zerstörung
Von den Göttern verlassen
Sich selbst aufgegeben
Strömt die Welt voller Blut
Ihrem Ende entgegen
Serena saß in einer dunklen Kneipe in Torn und nippte an ihrem Bier. Wände, Tische und Stühle waren aus Stein, wie alles im Airenreich. Während die Senjyou mit dem Wald und seinen natürlichen Gegebenheiten in Einklang lebten, arrangierten sich die Airen mit den Bergen. Die Senjyou bezogen die Bäume wie in ihre Architektur auch in ihr Leben ein und die Airen meißelten sich aus dem Berg ihren Lebensraum. Über die Jahrhunderte hatten ihre Steinmetze eine eigene Ästhetik und Farbenwelt erschaffen. Von Weiß über Blau, Rosa, Rot, Türkis, Schwarz zu Silber und Gold wurde alles an farbigem Gestein verarbeitet, was das Gebirge jahrhundertelang eifersüchtig in seinem Inneren vor fremden Augen verborgen gehalten hatte.
Obwohl sich Serena in einer kleinen Spelunke befand, war der Tisch aus marmoriertem, glatt geschliffenem und poliertem Stein. Schwarz, durchzogen mit einem Muster aus weißen Adern, das nur die Natur schaffen konnte. Serena setzte ihren mit roten und grünen Steinen verzierten Kristallbecher klirrend ab. Auch nach mehreren Monaten in Magrem, hatten sich ihre Augen nicht an all die Farben, in denen die Airenstädte erstrahlten, gewöhnen können.
Vom Gebirge umschlossen, drang kaum Licht in die verschachtelten Gänge und Häuser der überirdischen Gebäude, die aus dem Gebirge gehauen und geformt waren. Erst recht gelang es keinem Strahl auf natürlichem Wege in die unterirdischen Räume. Und doch drang Licht in allen Farben durch die ganzen Stadt, überirdisch und unterirdisch. Jeder Sonnenstrahl wurde mit polierten Spiegeln aufgefangen und so oft reflektiert, bis er auch die dunkelste Ecke sanft erleuchtete.
Als Serena das erste Mal bei Sonnenuntergang durch Magrem geirrt war, hatten Tränen der Rührung ihren Blick verschleiert und die strengen Kanten des Gesteins zu weichen Rundungen verwischt. Die Stadt war in ein rotgoldenes Licht getaucht und jeder Stein, ob grün, blau, lila oder weiß, glühte in einem warmen Goldton.
Wie konnte ein Volk, das in so viel Farbenpracht und Schönheit lebte, nur immer so mürrisch und schlecht gelaunt sein? War es die dünne Luft oder die Angst jemand könne ihnen diese Schönheit stehlen? Eifersüchtig hortete jeder Airen die schönsten Steine, derer er habhaft werden konnte, anstatt ihr Funkeln und Strahlen mit anderen zu teilen.
Serena gelang es, zwei weitere Schlucke zu nehmen, ohne ihr Gesicht zu verziehen. Der Met der Vostoken hatte ihr nicht geschmeckt, das Bier der Airen jedoch war einfach widerlich. Auch nach Wochen konnte sie dem Gebräu nichts abgewinnen, aber im ganzen Airenreich schien es kein anderes Getränk zu geben. Man wurde skeptischer, mürrischer und noch unfreundlicher behandelt, wenn man auch nur versuchte, etwas anderes zu bestellen. Vor allem als Nicht-Airen.
Manchmal müsse man sich den Sitten anpassen, um akzeptiert zu werden, hatte Mikhael gesagt. Serena verstand es nicht, aber sie tat, wie ihr geraten wurde. In der passiven Rolle fühlte sich Serena am wohlsten.
Gewohnheit, hatte Mikhael es genannt.
Und wirklich, die Blicke der Airen schienen weniger mürrisch, weniger skeptisch und weniger unfreundlich zu sein, nachdem man gelernt hatte, das üble Gebräu, hergestellt aus den unterirdisch wachsenden grün-gelben Knollen, zu trinken, ohne das Gesicht zu verziehen. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken.
Es war einfach sich selbst zu belügen.
Eine Erkenntnis, die Serena nur mit Mühe akzeptieren konnte. Man müsse ehrlich zu sich sein, denn wem in der Welt dürfe man vertrauen, wenn man sich selbst nicht glauben könne, hatte Mikhael gesagt.
Doch wie sollte Serena ehrlich zu ihrem neugeborenen Selbst sein, wenn sie nicht verstand, was sie empfand und warum? Zu allem Überfluss sandten ihr Körper und ihr Geist mehrere Gefühle gleichzeitig aus. Auch widersprüchliche. Serena hatte zunächst Gefühle in primäre und sekundäre eingeteilt und war den primären Gefühlen gefolgt.
Was nicht sonderlich gut funktioniert hatte. Die „sekundären“ Gefühle wandelten sich in „primäre“, wenn man sie unachtsam beiseiteschob. Verwirrt und verzweifelt hatte Serena bei Mikhael Rat gesucht.
„Vergleichen, abwägen und Kompromisse finden“, hatte er ihr geraten. „Wie in einer Liebesbeziehung wirst du sowieso immer den Kürzeren ziehen.“ Als Serena nachgefragt hatte, was denn genau eine Liebesbeziehung sei, hatte er erst vor sich hin gestammelt, war rot geworden und hatte dann das Thema gewechselt.
Seit sie in der Airenhauptstadt Magrem angekommen waren, hatten alle ihre Aufgaben und Pflichten. Nur Serena und Mikhael schienen keinen Platz in dem Ganzen zu finden.
Aira hatte von morgens bis abends Unterricht in der Airensprache, Airengeschichte, Airenliteratur, Airenpolitik, Airenwaffenkunde, Airen-hast-du-nicht-gehört.
Malhim rannte wie ein Besessener von einer Versammlung zur nächsten, immer gefolgt von seiner Leibgarde Haril, Aragar und Mof. Sie balancierten auf einem Seil, das bereits schon vor Jahren gerissen war, nicht einmal mehr eine Idee, sondern nur noch der Traum eines alten Senjyou. Und obwohl eine diplomatische Beziehung zwischen den verfeindeten Völker noch nicht greifbar war, erschien sie jedoch wieder möglich.
Wären Salmon und Garif, wenn sie noch leben würden, auch zu Malhims stummen Schatten geworden?
Das Erreichen ihres Zieles hatte die Gefährten viel gekostet.
Zu viel.
Ein schaler Geschmack erfüllte Serenas Mund. Um ihn hinunterzuspülen, nahm sie einen großen Schluck von dem übelschmeckenden Airengebräu. Und es half. Mochten die Airen es deswegen so? Es fühlte sich an wie Kopfschmerzen nach einem ganzen Tag Übelkeit. Die Abwechslung tat gut.
Und doch kehrte die Übelkeit in Form eines vertrauten Gesichtes wieder. Langes blondes Haar, Haut so weiß wie Schnee und leere, ausdruckslose Augen.
Alara …
Malhim hatte Serena gebeten, mit niemandem über ihrer Mutter zu sprechen. Eine Bitte, der Serena von ganzem Herzen gerne folgte. Doch ihre Gedanken und Gefühle sahen sich nicht an das Versprechen gebunden und lauerten auf die unpassendsten Momente, um über Serena herzufallen.
Sie hatte von ihrer eignen Mutter, die ihr außer das Leben nichts geschenkt und so viel genommen hatte, lernen müssen, wie sich Hass anfühlte und was er bedeutete.
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und Serena versuchte sich zu beruhigen. Sie wollte das Leben in sich nicht beim Schlafen stören. Mit der Hand fuhr sie vorsichtig über ihren Bauch. Dank der weiten Kleidung war noch nicht viel zu sehen. Doch ihr Leib rundete sich mit einer überraschenden Schnelligkeit.
Auch wenn das Wesen, das in Serena heranwuchs, seit jenem Tag nicht mehr aktiv gewesen war, wuchs es stetig im Schlaf. Wie groß ihr Bauch wohl werden würde?
Die durchschnittlichen Maße waren Serena nicht unbekannt. Doch ihre Schwangerschaft war alles andere als normal. Nur wenige wussten von ihr. Und in ihren Augen hatte Serena sie gesehen: die Angst vor dem, was in ihr schlummerte.
Auch nach jener Nacht hatten Haril und Malhim zu ihr kein Wort über ihr ungeborenes Kind verloren.
Malhim schwieg aus Scham.
Und nach einem Versuch, das neuentstehende Leben in ihr zu töten, nahm Haril die Schwangerschaft mit stoischer Wachsamkeit hin und beobachtete Serena aus sicherer Entfernung.
Mikhael schien etwas zu vermuten, sprach es jedoch nicht an.
Und Alara wusste es nun auch …
Was es auch war, das in ihr heranwuchs, es war ihr Kind und Serena würde es beschützen. Behutsam strich sie sich über den Bauch, blickte auf den Kristallkrug mit dem fürchterlichen Gebräu und entschied sich, es nicht mehr anzurühren. Was so furchtbar schmeckte, konnte nicht gut für ihr Baby sein.
Serena sah sich vorsichtig um.
Laut ihrem Informanten verbrachte er fast jeden Abend in dieser Kneipe. Doch Zorghk schien noch nicht da zu sein.
Serenas Herz flatterte. Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ihr Körper, Geist und vor allem ihr Herz selbst bei dem Hauch eines Gedankens auf verschiedenste Weisen reagierten. Zum Glück hatten die Gefühle mit der Zeit an Intensität verloren.
Mikhael hatte es mit einem Muskel verglichen, der ein Training durchlief. Der Anfang war hart, aber mit der Zeit wurde der Muskel stärker und man gewann an Kraft und Kondition. Er hatte Recht behalten. Mit dem Training kam auch langsam das Verständnis. Es half zu wissen, was man warum fühlte.
Jetzt brachte der Gedanke, ihren alten Lehrmeister zu sehen und mit ihm zu sprechen, Serenas Herz in Aufruhr. Sie horchte in sich hinein und erkannte das Gefühl: ANGST.
Ja, sie hatte Angst.
Angst vor dem, was sie heute Abend von Zorghk erfahren würde.
Zorghk hatte Serena ausgebildet und unterrichtet, nachdem man ihren Vater abgeführt hatte und sie alleine mit ihrer kalten und gefühllosen Mutter zurückgeblieben war. Sie verstand nun, dass Zorghk eine große Lücke in ihr gefüllt hatte. Er hatte ihr einen Alltag gegeben und Aufgaben, an denen Serena hatte wachsen können. Zorghk war zu einem zweiten Vater für sie geworden.
Griesgrämig, streng und fordernden, war er vermutlich der Einzige, der ihr etwas über ihre und Airas Eltern sagen konnte.
⧖
Es war wieder eines dieser steifen Banketts, die regelmäßig gehalten wurden, um den Clans die Gelegenheit zu bieten, einander ihre Edelsteine vorzuführen. Es strahlte, blitzte und funkelte, wohin das Auge blickte. Je höher der Rang und reicher der Clan, desto mehr Edelsteine strahlten von Umhängen, Gürteln, Ohren, sogar Schuhen. Ketten, Armreifen und Ringen bedeckten fast jedes Zentimeter Haut. Selbst vor Haarschmuck schreckte die erbarmungslosen Airen nicht zurück.
Serena ertappte sich dabei, wie sie zu Boden starrte und sich doch dem Strahlen nicht entziehen konnte. Er war aus dunklem, poliertem Marmor und spiegelte all das wieder, dem Serena entfliehen wollte. Selbst in ihren geputzten Stiefeln fing sich der Glanz und tanzte spöttisch hin und her, rief sie dazu auf, sich zu ergeben und im Licht der Edelsteine zu baden. Bis sie nichts mehr sah. Serena versuchte, sich in den Brokatstoff der langen, schweren Gardinen zu retten, die zweckentfremdet von der fünf Meter hohen Decke hingen, ohne vor Blicken zu schützen.
Die Fenster in Magrem waren nie behangen, denn sie ließen das lebensnotwendige Licht hinein. Nie völlig dunkel, schwamm die Stadt in einem Zwielicht, in einem stets andauernden Dämmerungszustand, der nur bei solch einer Edelsteinansammlung heller erleuchtet schien als der Tag selbst.
Serena sehnte sich nach der Dämmerung. Nicht dunkel, nicht licht. Die meisten Streitigkeiten der Klans entstanden, wenn die lichtempfindlichen Augen der Airen in dem Regenbogenkonzert des Lichts sich blind anrempelten, da war sich Serena sicher. Zu stolz, sich zu entschuldigen, blieb nur die Konfrontation.
Serenas Blick verfing sich dankbar in dem dumpfen Brokatstoff, fand Frieden in dem Kampf der Edelsteine. Die Anspannung fiel von ihr ab, ihre Glieder relaxten ein wenig unter der schweren Airenkleidung. Fell und Edelsteine. Serena hatte jeden Spiegel gemieden, um nicht zu erblinden und sehnte sich nach einer einfachen, erdfarbenen Tunika. Eins werden mit dem Wald, sich dort verlieren.
Doch im Moment fühlte sie sich aufdringlich, aggressiv. Ihre Kleidung schrie nach Herausforderungen. Wenn sie die Hallen in diesem Aufzug verließe, würde sie von einem Duell zum nächsten stolpern. Dass sie die meisten Airen um drei Köpfe überragte, spitzte die Situation nur unnötig zu. Die Airen waren ein neidische Volk und ein grummeliges.
Während Serena an den Frieden des Waldes dachte und ihren Augen eine Ruhepause gönnte, schloss sie den Lärm, der sich wie Gezanke von Waschweibern anhörte, aus ihrer Welt. Bis ihr Unterbewusstsein bei einem Namen aufhorchte und sie zur Konzentration zwang: Zorghk. Mit Verachtung ausgesprochen, als wäre es etwas widerwertig Schmutziges.
„Bei der Übergabe, damals. Alle gestorben. Nur Zorghks Leiche wurde nie gefunden. Man hat ihn gesehen. Mehrere Male erkannt. Jetzt, wo Zerelf zurück ist, soll er hier aufgetaucht sein.“
Serena machte die Sprecher aus. Sie hatten sich vom Tisch zurückgezogen, standen abseits, wie Serena. Sie versuchte, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Doch ihre Augen schmerzten und suchten, sich nach Erleichterung sehnend, wieder nach dem dunklen Stoff des Vorhanges.
„Als Führer der Leibgarde und Beschützer der Diplomatin darf man nicht überleben. Man stirbt als erster.“
Serena hörte schweren Stoff rascheln.
„Überleben tun nur die Feiglinge.“
„Und Verräter!“ Die kleinen Männer grummelten sich selbst zustimmend an.
„Das Mädchen. Ist sie die Tochter von Diplomatin Marihanna?“
„Sie hat den Talisman bei sich.“
Serena wusste nicht, welche Worte aus wessen Mund flossen, doch sie vernahm sie deutlich.
Zerelf – allein diesem Anhänger hatten sie es zu verdanken, dass man sie in den Mauern von Magrem willkommen geheißen hatte. Die Festung in den Bergen war uneinnehmbar. Wen die Airen nicht in ihr Land hineinlassen wollten, der hatte nur die Wahl geschlagen wieder abzuziehen.
Leichen wurden den Berggeiern überlassen. Riesige Aasfresser, die sie den ganzen Weg hoch in das Gebirge begleitet hatten, darauf wartend, dass einer umkippte. Gier in ihren Augen glänzend, und Hunger. Grässliche Vögel.
„Aira. Das ist doch kein Name für eine Airin“, schimpfte der eine und der andere grunzte zustimmend.
Serenas Wangen röteten sich ein wenig. Sie mochte den Namen. Sie hatte ihn Aira gegeben.
Die beiden Airen rollten mehr, als sie gingen, aus Serenas Hörweite.
Serena zwang ihre Augen wieder zum Kernpunkt des Geschehens. Der Schmerz war nicht mehr ganz so stechend. Langsam gewöhnte sie sich an die glitzernde Farbenvielfalt. Ihr Blick suchte tastend die Halle ab und fand, was er begehrte.
Aira saß an dem langen U-förmigen Tisch, nicht weit vom Kopfende. Sie war umzingelt von Airen, die wild durcheinander versuchten, Aira die verschiedenen Clanoberhäupter, ihre Debütanten, Verschwägerungen und Konfliktpotentiale zu erklären. Stoisch, doch mit Panik in den Augen, blickte sich Aira um, versuchte sich Namen zu merken, Gesichter und Ränge.
Serena hatte Mitleid. Seit dem ersten Tag wurde Aira gequält mit Geschichte, Traditionen, Namen, Aussprache und Etikette. Andauernd schwirrte jemand um sie herum, sagte ihr, was sie tun musste, wie sie denken sollte und was sie wie auszusprechen hatte.
Serena hatte nicht vor, Aira zu verheimlichen, was sie gerade gehört hatte. Sie brauchte Sicherheit und mehr Informationen. Wenn sie genaueres herausgefunden hatte, würde sie mit Aira sprechen, alles andere würde nur Zeit kosten.
Serenas Blick glitt zur anderen Seite der Tischreihen. Dort saß Malhim, tief verstrickt in ein Gespräch mit mehreren Airen. Nicht weit von ihm standen Mof und Aragar, ihren Kronprinzen nicht aus den Augen lassend. Die Senjyou trugen ihre Tuniken, hatten jedoch einen edelsteinbesetzten Pelzumhang wie alle um. Fast doppelt so groß wie ein durchschnittlicher Airen, überragten sie die Gesellschaft. Ein Grund, warum Malhim immer saß und nur aufstand, um von A nach B zu gelangen.
Serena bewunderte seine Hingabe. Seit sie die Stadt betreten hatten, war er von einem Treffen zum nächsten rotiert. Ob er aß oder schlief, wusste sie nicht. Doch seine Schatten würden schon über ihn wachen.
Vor allem Haril.
Haril versuchte sein Unbehagen zu verbregen, doch das Zucken seiner Augenbrauen, wenn ein Airen ihn ansah, anrempelte oder schlimmer noch ansprach, verriet seinen inneren Aufruhr. Der Hofmagier war in Elemir, der Hauptstadt der Senjyou, für seine Abneigung gegenüber Airen bekannt.
Mof und Aragar dagegen waren wie Statuen, standen still da und schienen nicht einmal zu atmen. Kein Necken, kein Lächeln, kein Zwinkern in den Augen. Nur Härte. Doch es gab ja auch nichts zum Lachen.
Salmon und Garif konnten nicht über den Prinzen wachen.
Serenas Herz krampfte sich zusammen. Auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, was passiert war und die Helden nicht hatte fallen sehen, marterte sie der Anblick der leblosen Körper, kurz bevor ihre leeren Hüllen nach Senjyou-Brauch dem Feuer übergeben worden waren.
Serena atmete schwer und beruhigte sich erst, als ihr Blick auf Mikhael fiel. Er saß ganz außen am Rand. Alleine. Wie Serena, hatte er hier keine Aufgabe und keinen Platz. Doch ihn schien dies nicht zu stören. Er genoss die Rolle des Beobachters und meist beobachtete er sie.
Auch jetzt trafen sich ihre Blicke. Intensiv und fordernd, lag Sehnsucht in seinen Augen.
Nach was sehnte er sich?
Was forderte er?
Sein Mund sprach die Botschaft, die seine Augen andeuten, nicht aus und Serena kannte die richtige Frage nicht. In seiner Gegenwart wurde sie nervös und unruhig. Und doch zog er sie an. Sie konnte nicht lange von seiner Seite weichen. Seine Anwesenheit war für Serena notwendig geworden, wie die Luft zum Atmen.
Noch bevor sie den Beschluss gefasst hatte, trugen ihre Beine sie zu ihm. Bevor sie wusste, dass sie einen Plan gefasst hatte, bat Serena ihn, sie in die weniger vornehmen Kneipen Magrems zu begleiten.
Er stellte keine Fragen und folgte ihr mit einem Lächeln. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten schelmisch und so gingen sie Abend für Abend in einen heruntergekommenen Schuppen nach dem anderen.
Nach dem zehnten Tag kamen sie zu einem Steinhaus, weit abgelegen vom Kern der Stadt. Das Licht war hier dürftig, da abseits des Palastes nur wenige Reflektoren aufgebaut waren. Ein rauchfreies Feuer brannte in einer Ecke. Die Feuersteine, alt und verbraucht, tauchten den Raum in ein kränkliches Graugrün. Die Bar hatte einen schmalen Tresen, wenige Tische und Stühle. Die meisten Gäste, jeder ein Bier in der Hand, standen. Keiner sagte ein Wort, alle Blicke waren auf Serena und Mikhael gerichtet.
Als Serena und Mikhael die verranzte Spelunke betreten hatten, waren alle Gespräche verstummt. Bis auf ein paar abfällige Grunzer, war es plötzlich so leiser geworden, dass nur der Rhythmus des eigenen Atems blieb.
Sie waren auch in den anderen Bars und Kneipen nicht willkommen gewesen, doch dass man sie so feindselig anstarrte, war das erste Mal. So würden sie weder dem Herd der Gerüchteküche noch Zorghk näher kommen. Hilflose Wut brodelte in Serena, paarte sich mit Frust. Sie wusste, sie musste etwas tun, glaubte endlich eine Aufgabe und einen Platz in dem Gefüge gefunden zu haben.
Doch all ihre Bemühungen prallten an den feindseligen Gesichtern der Airen ab. Mikhaels Gelassenheit und sein wissendes Lächeln gossen Öl in eine hochzüngelnde Flamme. Serena warf mit wütenden Blicken um sich. Wut prallte auf Feindseligkeit. Ihre Fäuste juckten danach, in irgendeinem Gesicht zu landen. Ihr Körper schrie Aggression und ihre Augen suchten nach einem Aggressor.
Ein Airen mit kurzem Bart, schwarzen Haaren und grauen Augen, rundlicher als die anderen, starrte besonders intensiv und machte kein Hehl aus seiner Abneigung. Serena machte einen Schritt auf ihn zu, als sich eine kräftige Hand auf ihre Schulter legte. Serena schüttelte sie ab, drängte sich durch die Menge aus kleinen, runden Gestalten und stand direkt vor dem Kurzbart.
Schweigend starrten sie sich an.
Serena, mit den Händen in die Hüften gestemmt, den Kopf gesenkt, blickte herausfordernd in graue Knopfaugen.
Bevor Serena den Mund aufmachen oder der Airen sich von seinem Stuhl erheben konnte, wurde sie in die Luft gehoben, über eine breite Schulter geworfen und hinausgetragen. Das grunzende Lachen der Airenmenge verabschiedete sie.
Zu perplex, um irgendwie zu reagieren, blieb Serena jedes Wort im Halse stecken.
Etwas abseits stellte Mikhael Serena wieder ab.
Serena holte wortlos aus und wollte Mikhael das Knie in den Unterleib rammen. Doch er war schneller, wich aus und griff nach ihrer Schulter. Serena ging in die Knie, drehte sich und zielte auf seine Knöchel. Wie eine Katze sprang Mikhael in die Luft, packte nach ihrem Arm, wirbelte sie herum und presste ihren Rücken gegen seinen Oberkörper. Serena bohrte ihren Absatz schmerzhaft in Mikhaels Zeh und traf mit ihrem Kopf sein Kinn.
Überrascht ließ Mikhael ihren Arm los, wich jedoch zurück, als sie zu einem Tritt ausholte. Als Serenas rechter Fuß nur Luft durchschnitt, ließ sie den linken folgen, trieb Mikhael mit Tritten und Schlägen zurück. Ein paar trafen seinen Oberkörper, wenige seine Arme, mit denen er seinen Kopf schützte.
Dann erwischte er Serenas Bein, nutzte ihren Schwung, drehte sie weiter, so dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Sie landete auf dem Bauch. Der Sauerstoff wurde beim Aufprall aus ihren Lungen gepresst. Nach Luft ringend, lag Serena auf dem steinernen Boden.
Der Frust war weg, Serena hatte keinen internationalen Konflikt ausgelöst, war jedoch keinen Deut schlauer als vor zehn Tagen.
Mikhael hielt ihr die Hand hin und fragte ebenfalls außer Atem: „Besser?“
Serena nickte und ergriff seine Hand.
Mit Schwung zog er sie hoch und sie landete an seiner Brust. Seine Arme umfingen sie, pressten sie fest an sich. Er atmete den Duft ihres Haares ein und vergessen waren die kalten Steine, die feindseligen Blicke und das Gefühl der Hilflosigkeit und Wut. Es gab nur sie beide auf der Welt und nichts war wichtiger als das Hier und Jetzt.
Mikhael umfasste Serenas Kinn und blickte ihr tief in die Augen.
Dann spürte Serena es.
Ihr Baby trat und förderte eine Erinnerung an die Oberfläche.
„… Du bringst sie über das Flachland, durch den Dunkelwald und das Senjyougebiet nach Torn, in die Berge zu den Airen …“
Serenas Augen blitzten. Sie umarmte Mikhael stürmisch und bedeckte seine Lippen mit ihren. Nur für einen herrlichen Augenblick. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Torn! Zorghk hatte sie nicht nach Magrem geschickt, sondern Torn.
Mikhael hob sie hoch und drehte sich im Kreis, presste Serena fester an sich. Er wollte die Zeit anhalten und auf ewig in diesem Moment leben. Serena lachend in seinen Armen. Das war alles, was er in der Welt wollte, je gewollt hatte.
Doch der Moment verging. Sie machte sich von ihm los, rutschte an ihm herunter, bis ihre Füße den Boden berührten. Als sie sich aus seiner Umarmung löste, spürte er ein Stechen im Herzen.
Fragen, die er sich weigerte zu stellen, schwammen gefährlich nahe an die Oberfläche:
Was war am Waldrand bei dem ausgestorbenen Dorf passiert?
Was geschah mit Serena?
Wie konnte ein Mensch unverwundbar sein?
Mikhael verdrängte sie, wollte die Antworten nicht wissen. Er wollte einfach da sein, wenn Serena ihn brauchte. An ihrer Seite sein und für sie tun, was er konnte. In seinen letzten Atemzügen würde er noch mit aller Kraft für sie kämpfen. Doch vor ihrem eigenen Körper konnte er sie nicht beschützen.
Schweigend gingen sie zurück zum Palast und zu ihren Quartieren. Nacht war über Magrem eingebroch. Hier und da erhellte ein grünes Licht ihren Weg, das aus den Fenstern der kleinen Steinhäusern leuchtete. Je näher sie dem Palast kamen, desto größer wurden die Steinbauten und verworrener die Wege und Gässchen.
Doch in den Monaten des Nichtstuns hatten Mikhael und Serena die Gegend erforscht, sich an den Wundern der Airenkultur und der Schönheit der Steinbauten berauscht, die meisterlich aneinandergereiht waren. Es gab Häuser aus schwarzem sowie weißem Marmor. Fenster, Türen und Wände waren mir Edelsteinen verziert. Vor den Eingängen hingen oft schwere Felle. Die Airen verwendeten nur wenig Holz, da das Material in den Bergen nicht nur selten, sondern vor allem in den Augen des langlebigen Volkes zu unbeständig war. Was nicht für die Ewigkeit gebaut wurde, war eine Vergeudung von Zeit und Rohstoffen.
Es dauerte eine Weile, bis sie am Palast ankamen. Wie eine natürliche Erhebung stach er aus den Reihen der flachen Häuser heraus. Auch wenn die Gebäude der Airen selten mehr als einen Stock nach oben gebaut waren, reichten sie, wie die Wurzeln eines Baumes, mit ihren unterirdischen Ebenen weit in den Berg hinein.
Nichts in diesem Teil der Landen war, wie es von außen erschien. Während es in den obersten Geschossen nur wenig Bewegungen gab, vibrierten die unteren Gänge, die fast jedes Haus miteinander verbanden, vor Leben, wenn die kleinen Airen geschäftig hin und her wuselten. In all dieser flachen, reliefartig aus dem Berg herausgearbeiteten Architektur strebte nur der Palast mit seinen 15 Meter hohen Mauern zum Himmel empor.
Spitze Türme ragen in die Luft. Gerade und feingliedrig, von den Meistern der Steinmetze behauen mit feinen strukturierten Mustern. Im Zentrum befand sich ein Meisterwerk der Glaskunst. Feingeriebene Steine, farbig sortiert und zu einer dünnen, durchsichtigen Masse verschmolzen, erschufen sie lebendige Bilder, die von der Geschichte der Airen erzählten. Riesige, polierte Flächen fingen jeden Lichtstrahl auf, leiteten ihn durch das Zentrum und dann weiter in die unteren Ebenen. Gigantische Fensterfronten wurden flankiert von Steinsäulen.
Die Wachen am Haupttor würdigten Serena und Mikhael wie immer keines Blickes. Die beiden gingen unbehelligt an ihnen vorbei, passierten den Hof und betraten das Nebengebäude. Ihre Zimmer lagen in der zweiten Ebene unter der Erde. Verzweigte Gänge und enge Treppen führten zu einem Trakt, in dem die Gäste untergebracht waren. Mikhael ging voraus, schob den Pelzvorhang beiseite und trat in das grün beleuchtete Zimmer. Es war ein helles Grün, frisch wie der Morgentau. Die Feuersteine waren kaum gebraucht, fast neu.
Serena folgte ihm. Im Zimmer stand ein breites Bett. Das Gerüst war aus Metall, die Matratze weich, gefüllt mit Federn. Felle lagen auf dem Bett und vor dem Bett, ein Baldachin schwebte über ihm. Eine Truhe aus Metall stand am Bettende, auf der Mikhael seine Kleidung zu legen pflegte.
Darüber hinaus war der Raum leer. Das Gemeinschaftsbadezimmer der Männer war am Ende des Flures. Gespeist von heißen Quellen, war das Wasser stets warm, fast heiß und sollte heilende Wirkung haben.
Als sich Serena wie gewöhnlich auf sein Bett setzte, wünschte sich Mikhael, sie würde es nicht tun. Er war nahe daran zu vergessen, dass er es mit jemanden zu tun hatte, der nicht einmal die emotionelle Stufe eines siebenjährigen Kindes erklommen hatte. Und so sehr er Serena in Ehren hielt, war er doch nur ein Mann. Er setzte sich so weit wie möglich von ihr weg, versuchte, sie nicht anzusehen. Ihre zarte Haut, die sogar im grünen Schimmer weich und anziehend auf ihn wirkte.
Die weite Airenkleidung, die nichts von ihren weiblichen Rundungen erahnen ließ, machte sie in diesem Moment nur geheimnisvoller und noch reizender. Seine Hände zuckten und er schlang seine Finger ineinander, um ihrer Herr zu werden.
Wie lange war es her, dass er bei einer Frau gelegen war? Zu lange.
Serena schwieg, blickte auf das Brokat des Baldachins. Mikhael traute seiner Stimme nicht und starrte wortlos in die grünen Flammen.
„Ich werde nach Torn gehen. Alleine.“ Serenas Stimme durchbrach die Stille.
Mikhael begehrte auf.
„Alleine?“ Sie machte ihm deutlich, dass sie IHN nicht dabei haben wollte. „Warum?“, schrie sein Innerstes.
„Ich suche jemanden. Er wird nicht auftauchen, wenn ich jemanden bei mir habe.“
Als Mikhael nichts erwiderte, fügte Serena schnell hinzu: „Ich komme wieder, sobald ich ihn gefunden habe.“
Ihn? Sie suchte einen Mann? Eifersucht packte ihn und schnürte seine Kehle zu. Serena gehörte ihm nicht. Sie gehörte nicht einmal zu ihm und doch wollte er toben, ihr verbieten zu gehen. Allein der Gedanke, dass sie nicht an seiner Seite wäre und er nicht wüsste, ob es ihr gut ginge, trieb ihn in den Wahnsinn, noch während sie neben ihm saß.
Doch er blieb stumm.
Mikhael hatte keine Wahl.
Er konnte sie nicht in einen Käfig sperren.
„Sie ist unverwundbar“, sagte er sich. Versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen.
„Sie verfügt über eine Macht, die deine Vorstellungskraft übersteigt“, redete er sich zu. Hörte sie seinen panischen Herzschlag? War sein Atem unregelmäßig?
„Serena war es gewesen, die uns alle gerettet hatte, während du gerade so dein eigenes Leben verteidigen konntest“, erinnerte er sich.
Die Worte kamen von selbst: „Versprich, dass du wiederkommst!“ Konnte Serena die Angst in seinen Worten hören?
„Versprochen“, war alles was sie erwiderte, als sich Mikhaels Arme um sie legten.
Warm und geborgen, schloss Serena die Augen und ließ sich fallen.
Sachte, wie einen verletzten Vogel, hielt er sie im Arm, traute sich selbst nicht. Wenn er ihren Körper unter dem vielen Stoff zu nahe an seinem Körper spüren würde, würde er sich nicht zurückhalten können.
Eine unsichtbare Fessel legte sich um ihren und seinen Arm. Beide hatten ein Stück ihrer Freiheit aufgegeben, um Sicherheit zu erlangen. Mikhael würde hier auf Serena warten und Serena würde zu ihm zurückkehren. Was sich manchmal anfühlte wie Eisenketten, wandelte sich von Zeit zu Zeit in ein Sicherheitsnetz.
Der Gedanke an die völlige Freiheit, den freien Flug oder Fall war erschreckend. Genauso erschreckend wie die Vorstellung von Unbeweglichkeit und Stillstand, in Ketten gelegt durch Bindungen, Versprechen und Pflichten, unfähig sich zu bewegen.
Das Leben schien aus Angst vor dem Extremen zu bestehen und ein Drahtseilakt zu sein. Jeder versuchte, die Balance zwischen zwei verbundenen Ängsten zu finden. Angst vor Freiheit, Angst vor Bindung. Eine unmögliche Harmonie. Doch in diesem Augenblick, als Mikhael sie in den Armen hielt, wusste Serena, dass es nicht unmöglich war, die Balance zu halten. Sie konnte es schaffen, mit ihm.
So war sie gegangen. Alleine.
Und er war geblieben. Alleine.
⧖
Mit finanzieller Unterstützung seitens Aira, die Serenas Gehen so gar nicht begrüßen wollte, hatte Serena Torn erreicht. Sie war auf einem Wesen geritten, das sie an einen überdimensionalen Ziegenbock erinnerte. Geschickt war das Tier mit ihr auf dem Rücken über Berggipfel, steinige Wege und an rutschigen Abhängen vorbeigehüpft.
Die Städte lagen nicht weit auseinander. Kaum ein Tagesmarsch war vergangen, ohne dass Serena und ihr gehörnter Gefährte, den sie liebevoll Blöcki nannte, auf eine Airensiedlung stießen. Torn war nicht klein, stand jedoch in keinem Verhältnis zu Magrem. Die Häuser ragten nur einen Stock über der Erde. Selten zwei. Die Wände waren mit Kalk verputzt. Türen und Fensterrahmen mit Blau, Rot oder Grün bestrichen. Die Farbe blätterte hier und da bereits ab, erzählte jedoch leise von einer einstigen Schönheit.
Während Magrem, umschlossen von einer Aushöhlung, riesig und dunkel war, nur von Spiegeln erhellt und grünem Feuer, lag Torn hoch auf dem Gipfel und wurde direkt von der Sonne beleuchtet.
Doch Airen waren nicht zu sehen.
Serena studierte die Karte, die ihr Aira mitgegeben hatte. Hier musste es sein. Sie stieg ab und führte Blöki am Halfter. Vor einem fellbedeckten Eingang blieb sie stehen und rief hinein: „Jemand zuhause? Ich suche ein Gasthaus.“
Niemand antwortete ihr.
So ging Serena von Haus zu Haus, bis ihr eine tiefe, verärgerte Stimme entgegenschrie: „Was blökst du hier am helllichten Tag herum, wenn alles schläft?“ Ein müder Airen kam aus der Tür getorkelt. Sein Körper gedrungen, schwer und rund. Er kniff mit schmerzverzerrtem Gesicht seine kleinen Äugelein zusammen.
„Ich suche eine Bleibe für die Nacht“, erwiderte Serena.
„Das gibt dir immer noch nicht das Recht hier …“, nachdem sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, riss er sie weit auf.
„Du bist kein …“
„Ich habe Gold“, sagte Serena, bevor er ihr all das entgegenwerfen konnte, das sie an jedem anderen Tag bereits gehört hatte und holte eine Handvoll Münzen heraus, streckte sie ihm hin. So empfindlich die Augen der Airen waren, was Sonnenlicht betraf, wandten sie nie den Blick ab von glitzernden Steinen oder dem Funkeln von Gold. Ihre Augen saugten sich an dem Metall fest. Die tanzenden Funken zogen sie in ihren Bann, nahmen ihnen jeden Willen und jede schlechte Laune. Für eine Weile jedenfalls.
Der kleine, runde Mann rieb sich die Hände, vergaß, dass er keinen Airen vor sich hatte und konzentrierte sich nur auf das Gold. Er führte Serena und Blöcki in die zweite Unterebene seines Haus und brachte sie durch enge, kaum beleuchtete Gänge zu einem unterirdischen Platz. Die Häuser waren natürliche Aushöhlungen der Berge, hier und da bearbeitet, doch die ursprünglichen Unregelmäßigkeiten waren geblieben. Wortlos führte er Serena zu einer Ansammlung von Höhlen.
„Binde den Bock dort an!“, waren die ersten Worte, die er von sich gab.
Serena wickelte Blökis Halfter um einen in die Erde gelassenen Metallstab, tätschelte ihn zum Abschied, hielt ihr Gold bereit und folgte ihrem Führer in das Höhlenhaus.
Ein stämmiges Exemplar eines Airen stand an einem langen Tresen. Er blickte auf das Gold in Serenas Hand, grunzte laut und rief eine Magd herbei. Serena drückte dem runden Kerlchen, das sie so bereitwillig in seine Stadt gelassen hatte, eine Goldmünze in die Handfläche und folgte der Magd.
Nach einem Blick auf die glänzenden Münzen führte diese Serena eine grob eingehauene Treppe hinunter zu einem geräumigen Zimmer. Die Magd ging zur Feuerstelle, legte einen blauen Stein zu dem gelben und eilte hinaus, bevor das grüne Feuer aufloderte.
Serena stellte ihren Rucksack mit etwas Proviant, sowie Ersatzkleidung ab und stieg die Treppe wieder hinauf. Nur einmal verlief sie sich, bevor sie die Vorhalle und den Wirt des Gasthauses wiederfand. Er ignorierte sie und Serena ging an ihm vorbei, legte eine Goldmünze auf den Tresen, sagte kurz: „Für die Verpflegung meines Bockes“, und ging.
Es dauerte eine Weile, bis sie die erste Kneipe fand. Es war noch früh und die meisten arbeiteten noch oder schliefen schon. Je nachdem welche Schicht die Arbeiter im Bergwerk hatte, gingen sie am frühen Morgen oder am späten Abend auf eins, zwei Feierabendbiere in ihre Stammkneipe. Um den Bedarf decken zu können, waren die meisten Airen-Bars, wie auch die Stollen, rund um die Uhr geöffnet.
Serena erkundete bis zum Schichtwechsel die Stadt und beobachtete, wie eine Gruppe erschöpfter Airen sich zu ihren Tränken begaben, während die anderen, den Schlaf noch nicht ganz aus den Augen gerieben, sich zum Arbeiten aufmachten.
Serena folgte einer zielstrebigen Ansammlung von runden Körpern in eine Bar und verbrachte ihre Zeit damit, in einer dunklen Ecke zu sitzen und die Ohren aufgesperrt zu halten. Doch in keinem Gespräch, das sie belauschte, fiel der Name Zorghk.
Wo Airen eine Kommunikation mit ihrem Misstrauen unmöglich machten, öffneten sich ihre Augen und Münder bei dem Anblick von Gold. So reich die Berge an Gestein und Mineralien auch waren, gehörte Gold auch hier zu den seltenen Gütern. Außerdem glänzte es und Airen liebten alles, was glänzte. Sie verzierten ihre Innen- und Außenwände damit, trugen es als Schmuck, nähten es auf ihre Kleider.
Nach zwei Wochen stieß Serena auf die Kneipe Haergiflo, „Zum besoffenen Ochsen“. Ein Airen namens Zorghk sollte sich dort öfters aufhalten. Gekaufte Informationen waren nicht die besten, aber es waren die einzigen Informationen, die sie in diesem Land als Nicht-Airen bekommen würde. Es musste reichen.
⧖
So saß Serena im Haergiflo und wartete, ein Getränk vor sich, das sie nie austrinken würde. Sie blickte sich um, Suchte in faltigen, beharrten Gesichtern nach bekannten Zügen. Doch erst nach Stunden, die Augen kurz vor dem Zufallen, sah sie ihn.
Er kam durch die unbehangene Türöffnung hereingestampft. Rotes Haar mit grauen Strähnen durchzogen. Die geliebte Knollnase und die kleinen grünen Augen, die sie sofort fixierten. Er drängelte sich durch die Menge, setzte sich ungefragt an ihren Tisch und starrte sie griesgrämig an.
„Man sagt, ein dreckiger Vostoke hätte ziemlich laut nach einem Zorghk gefragt. Nach einen gebrandmarkten Airen. Ein Namen, den man nicht einmal denkt, aus Angst man könne wie er seine Ehre verlieren und den Namen seiner Familie beschmutzen. Ich heiße Krohl.“
Serena musste lächeln. Sie hatte Zorghks ruppige Art vermisst. Es war schön, etwas Vertrautes um sich zu haben.
Zorghks Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sie hatte ihn angelächelt.
„Du hast dich verändert“, sagte Zorghk grummelig und fügte nach einer Weile hinzu, „das ist gut. Du bist jetzt deinem Vater viel ähnlicher.“
Bei seinen Worten stiegen Serena Tränen der Freude in die Augen. Sie empfand zum ersten Mal STOLZ. Auch wenn Serena wusste, dass Zorghk den Glanz des Mondes mit dem Strahlen der Sonne verglich. Serena lächelte Zorghk erneut an und sagte: „Danke.“
„Du bist mir zu keinem Dank verpflichtet. Ich sage nur, was ich sehe“, brummte Zorghk, griff nach dem abgestanden Bier vor Serena, leerte es mit einem Zug und bestellte mit einem Wink ein neues.
„Ich nehme an, du hast Fragen.“
Serena nickte.
„Und ich will alles über deine Reise wissen. Hör gut zu! Du gibst mir jetzt die Hälfte von deinem Gold. Ich werde mir hier noch ein wenig den Bauch vollschlagen und mich besaufen. Dann verlasse ich betrunken das Lokal. Was du machst, ist mir egal. Wir treffen uns in zwei Tagen etwa zwei Kilometer westlich von der Stadt. Es gibt dort einen verlassenen Höhlengang. In dem werde ich auf dich warten.“
Zorghks schwerer Akzent erfüllte Serenas Ohren. Grob und kurzatmig, bewegte sich die Zunge langsam, fast ängstlich. Tiefer, als die Natur es vorgesehen hatte, klang es wie Schmirgelpapier auf Stein. Ein vertrauter Klang, der sie an eine Stille erinnerte.
Die Stille in ihr.
Als noch keine Gefühlsorkane durch ihren Geist, Körper und ihr Herz zogen und alles auf den Kopf stellten, durcheinander brachten und verwüsteten. Serena spürte den Abschied, war jedoch nicht bereit loszulassen. Wollte in der Erinnerung an die Stille schlafen, die Zorghks Stimme heraufbeschwor.
„Warum können wir uns nicht hier unterhalten? Niemand hier beherrscht die Vostoken-Sprache gut genug, um uns zu folgen.“ Sehnsucht und Verzweiflung schwang in Serenas Stimme, spiegelte sich in ihren Augen. Sie war der Gefühle müde, sehnte sich nach einer Zeit, die nie mehr wiederkehren würde.
„Tu, was dir gesagt wurde!“, donnerte Zorghk. Solche Gefühle in Serenas Gesicht zu lesen erschütterte seine Welt, die, obwohl einst in Stein gemeißelt, schon so oft auseinander gebrochen war, dass nur noch blutrot getränkt Ruinen übrig waren.
Serena kämpfte den aufkommenden Trotz nieder, legte den Sturm, der ihr Inneres aufzuwirbeln drohte, in Ketten. Es war immer noch ein Kraftakt, sich zu kontrollieren. Den Gefühlen nicht wie ein Kind nachzugeben und sich von ihnen tragen zu lassen. Es gefiel ihr nicht, aber Serena wollte etwas von Zorghk, damit saß er am längeren Hebel.
Sie nickte und warf die Goldmünzen auf den marmorierten Tisch. Zorghk sammelte die Münzen mit einem Grunzen ein, setzte sich an einen Tisch zu seinesgleichen und verbrachte den Abend in Völlerei. Er gab eine Runde nach der anderen für seine Begleiter aus und Serena konnte nur zusehen, wie eine ihrer Goldmünze nach der anderen über die Theke wanderte, in die Taschen des grinsenden Wirtes.
Es war nicht direkt ihr Geld, aber es fühlte sich trotzdem falsch an. Serena bestellte sich etwas zu essen und verließ Haergiflo mit vollem Magen. Lange noch verfolgte sie das Gegröle der betrunkenen Airen. Von Unruhe ergriffen, steuerte sie ihr Hotel an, beachtete die schwankenden Gestalten um sich herum nicht. Wollte so viel Zeit wie möglich verschlafen, um die quälende Angespanntheit loszuwerden.
Doch es war so eine Sache mit der Zeit. Wenn man sie brauchte, konnte man nicht genug von ihr finden und wenn man wartete und hoffte, sie eile mit schnellen Füßen an einem vorbei, lief sie rückwärts und lacht einem dabei ins Gesicht.
So waren nur wenige Minuten vergangen, als Serena hellwach in ihrem Bett lag. Ihre Gedanken kreisten um sich selbst, ohne still zu stehen. Verwickelten sich ineinander und trafen sich bei einer Frage. Einfach und doch unlösbar: Was war am Waldrand geschehen? Einzelheiten ohne Zusammenhang quälten Serena seit Monaten.
Leichen aufgetürmt.
Der Geruch von Blut.
Das Beben der Erde und Asche.
Überall Asche.
Serena schloss die Augen, suchte in den Bildern einen Zusammenhang. Von alleine tasteten ihre Hände nach ihrem Bauch, die Finger drückten sich in ihr Fleisch und ihr gerundeter Körper bäumte sich auf. Ein Keuchen entrang sich ihren Lungen. Kraft zum Schreien hatte sie nicht.
Ihr Bewusstsein stieß mit dem ihres ungeborenen Kindes zusammen. Die Bilder überfluteten sie, begruben ihren Geist unter sich.
Ihr Sein gefror.
Ihr Herzschlag verlangsamte sich, blieb stehen, um dann lauter zu schlagen als jeder Ton, den Serena je vernommen hatte. Sie wurde durch einen Nebel gezogen. Schwärze umgab sie. Dann fand sie sich in einem Wald wieder.
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Sie waren Tag um Tag in dem verwunschenen Wald umhergewandert. Keiner wusste, wo sie waren, oder wo sie hingingen. Doch der Wald wies ihnen den Weg. Die Bäume machten ihnen Platz, zogen ihre Wurzeln und Äste ein, als hätten sie Angst.
Eine Flut der Empfindungen rollte über Serena her. Sie erinnerte sich. Es war kurz nach dem ersten Kontakt mit dem entstehenden Leben in sich. Nach der Reise in die Vergangenheit und dem Gefühlswirrwarr, der sie dabei ergriffen hatte. Durch einen Nebel sah sie Mikhael und Aira. Spürte ihre Sorge körperlich. Auch Malhim, wie er ihr auswich. Sein ganzer Körper sandte Strahlungen der Schuld aus. Argwohn kam von Haril.
Serena nahm wahr, wie sie selbst mit jedem Schritt stiller wurde, mit jedem Atemzug schweigsamer. Sie trennte sich von der verwirrenden Außenwelt ab. Versuchte Ordnung in ihr inneres Chaos zu bringen. Mollys Ableben, der ungewollte Beischlaf, die Entführung und all die Gefühle, denen sie nun hilflos wie ein Kleinkind ausgeliefert war, hämmerten mit vergangenen Gefühlen und der Sehnsucht nach Zuhause in ihrer Brust. Ihr verräterischer Geist formte Fragen, deren Antwort sie nicht wissen wollte:
War sie noch sie selbst?
War sie je sie selbst gewesen oder nur eine leere, seelenlose Puppe wie ihre Mutter?
Wer war sie, bevor sie klare Empfindungen wahrnehmen konnte?
Wenn sie vorher Serena gewesen war, wer war sie jetzt?
Was machte sie aus?
Was machte sie zu dem, was sie war?
Körper und Geist wurden müde. Sie konnte nicht anders. Serena wünschte sich zu verschwinden, nicht mehr zu sein, nicht mehr diesen Zweifeln, diesen Gefühlen ausgeliefert zu sein. Ein Ich, noch nicht geformt, drohte auseinderzufallen und nur eine ausgebrannte Hülle zu hinterlassen.
Die Nacht brach über sie herein. Sie schlugen ihr Lager auf und Mof erschuf eine Kugel, die Licht und Wärme spendete.
Serena konnte keine Ruhe und keinen Schlaf finden. Sie saß bei der Lichtkugel und wünschte sich ein lebendiges, flackerndes Feuer, dem sie ihre Gedanken anvertrauen konnte, in der Hoffnung, es würde die Zweifel und den Schmerz verzehren.
Mikhael übernahm die erste Wache, setzte sich zu Serena, legte den Arm und sie und zog sie an sich. Sie hörte sein Herz schlagen, das Blut durch seine Adern rauschen, spürte, wie sich beim Atmen sein Brustkorb hob und senkte. Trotz der kühlen Nacht war seine Haut im Gegensatz zu ihrer warm. Serenas Kleidung war nach ihrer Entführung verschwunden und Mikhael hatte darauf bestanden, ihr seine Tunika zu geben.
Seine Wärme wurde zu ihrer und ein Damm in Serena brach. Ihre Welt verschwamm und wurde in Wasser getränkt. Tränen wuschen die brennenden Wunden aus und bereiteten sie für eine langsame Heilung vor. Sie gab keinen Laut von sich. Nur ihre Finger krallten sich in Mikhaels vernarbte Haut, als sie still vor sich hin weinte.
Lange saßen sie so da. Die Tränen liefen weiter. Trauer um ihr verlorenes Ich, ihr gegenwärtiges und ihr zukünftiges. Trauer um Molly, um alles, was geschehen war. Darum, was gerade passierte und noch geschehen würde.
Als ihre Tränen versiegten, streichelte Mikhael ihr über die Wange und fragte: „Besser?“
Weiterhin nach Atem ringend, nickte Serena.
„Es muss schwer sein, mit all diesen neuen Gefühlen umgehen zu müssen. Es tut mir leid.“
Serena blicke Mikhael tief in die Augen und sah dort MITGEFÜHL. Er litt, weil sie litt. Aber warum bat er um Verzeihung?
„Ich hätte sie aufhalten müssen. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er das Netz um deine Gefühle zerreißt. Ich wünschte, ich hätte dir diesen Schmerz ersparen können.“
„Warum wusstest du, dass es wehtun würde?“, fragte Serena. War es immer so? Brachten Gefühle nur Schmerz und Chaos?
„Das Leben ist nicht einfach. Für die meisten bedeutet Leben Leiden und ist ein ständiger Kampf, diese Leiden zu minimieren“, sagte Mikhael leise und strich ihr zart eine schwarze Locke aus dem Gesicht. Seine Stimme kam von Weitem, aus einer Vergangenheit, über die er stets geschwiegen hatte.
„Warum klammern sich so viele an ihr Leben, wenn es nur Schmerz und Leid bringt?“ fragte Serena verständnislos und presste ihr Ohr an Mikhaels Brust, um seinen Herzschlag deutlicher zu hören. Es schlug kräftiger und schneller als zuvor, sein Körper wurde wärmer. Seine Brust hob und senkte sich rhythmisch.
„Es gibt Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Ohne Dunkelheit gäbe es kein Licht und ohne Licht keine Dunkelheit.“
Serena blieb still, versuchte Mikhaels Worte einzufangen und zu verstehen, doch ihr Sinn entglitt ihr wieder und wieder.
„Was ist das Licht in deinem Leben?“, fragte Serena, hob den Kopf von seiner Brust und suchte in seinen leuchtenden Augen nach Antworten. Mikhael wich ihrem Blick nicht aus und antwortete, ohne zu zögern: „Du bist das Licht meines Lebens.“ Ernst blickte er zu ihr herunter, nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz. „Es schlägt nur für dich.“
Serena starrte auf ihre Hand, spürte seine Haut unter ihren Fingerkuppen, grub sie tiefer in seine Muskeln, um seinem Herzen näher zu kommen. Mit dem ersten Herzschlag begann das Leben und mit dem letzten endete es. Es war so einfach und doch unendlich kompliziert.
„Ich fühle so viel Dunkelheit in mir, dass ich nicht leuchten kann“, erwiderte Serena, die sich auf den Ursprung des Lebens konzentrierte, das rhythmische Schlagen des Herzens.
Mikhael lachte leise. Tief und melodisch schlug das Geräusch Wellen in Serenas Körper, erzeugte Gänsehaut.
„Du leuchtest wie der hellste Stern in einer Neumondnacht. Du hast mich gerettet. Ohne dich wäre ich nicht mehr.“
Der Wunsch, Mikhael nahe zu sein, erstarb, als Serena verstand. Es war Pflichtgefühl, das ihn an sie band. Überrascht stellte sie fest, dass sie ENTTÄUSCHT war. Sie hatte etwas anderes hören wollen, wusste jedoch nicht was. Sie löste sich aus seiner Umarmung und sagte kalt: „Du bist mir nichts schuldig. Ich entlasse dich aus deiner Pflicht.“
Plötzlich packte Mikhael sie an beiden Schultern, drehte sie zu sich um und schüttelte sie. In seinen Augen leuchtete ein Feuer der WUT. Warum war er wütend? Verständnislos starrte Serena ihn an, als sich seine Finger schmerzhaft in ihre Oberarme gruben.
Er ließ Serena los und starrte in die Leuchtkugel. Dann sprach Mikhael, ohne sie anzusehen: „Ich möchte dir ein Geschenk überreichen, das ich noch mit niemandem geteilt habe. Sie ist jungfräulich, meine Wahrheit.“ Seine Stimme klang tief, beinahe zärtlich, als er ihr seine Vergangenheit zu Füßen legte.
Mikhael erzählte von seiner Mutter, die ihn verkauft hatte. Von seinem Leben unter Räubern und Mördern. Seinen Spielchen mit Frauen, auch seinem Schauspiel und Betrug an Laura. Von seiner Flucht vor Armirus, seiner Begegnung mit ihr, Aira und Molly. Er sprach von seinen Gefühlen für Molly. Ohne Schmerz in der Stimme erzählte er aus einer dunklen Vergangenheit.
Ohne etwas zu sagen, hörte Serena zu.
Wie hatte sie all das vergessen können? Diesen intimen Augenblick der Wahrheit, der Wirklichkeit. Wenn sich alles unecht anfühlte, musste dieser Moment die Realität sein und doch hatte Serena ihn aus Angst begraben. Serena schloss vor ihrer eigenen Feigheit die Augen. In dem Moment, als Mikhael ihr von Molly erzählt hatte, war ihr Herz übergequollen mit EIFERSUCHT. Sie war eifersüchtig auf Molly. Molly, die von Serenas eigener Mutter ermordet worden war. Scham erfüllte Serenas Sein. Sie war selbstsüchtig und egoistisch. Sie hatte nur ihr Leid gesehen, sich zurückgezogen und ihre Wunden geleckt. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet, dass sie nicht die Einzige war, die litt. Keinen Gedanken hatte sie an Mikhaels Gefühle verschwendet, oder Airas.
„Es tut mir leid“, entschlüpfte ihren Lippen eine nutzlose, bittere Entschuldigung.
„Dir muss nichts leidtun. In jener Nacht hatte ich mich damit abgefunden, in der Gosse zu sterben. Dann kamst du. Wie ein rettender Engel aus Feuer, hast du deine brennenden Flügel um mich gelegt und mich wie einen Phönix aus der Asche auferstehen lassen. Ein Teil von mir ist in der Gosse gestorben und aus der Asche kam ich mit einem neuen Leben hervor, mit einem neuen Ich. Ich lebe, um bei dir zu sein. Nicht, weil es meine Pflicht ist, nicht weil ich es muss. Ich habe nichts anderes und will es nicht anders.“ Mikhaels Finger verschränkten sich ineinander, die Ellbogen auf den Knien gestützt. Ein Lächeln spielte um seinen Mund, das Licht der Kugel tanzte in seinen Augen.
Serena erstarrte aus Ehrfurcht vor seinen Worten. Ehrlich und Wahrhaftig mussten sie die Realität sein, nach der sich ihr Herz sehnte.
Die Antwort.
„Ein neues Ich”, flüsterte Serena leise, als hätte sie Angst, dass die Erkenntnis ihren Geist verließ wie der Laut ihren Körper. „Veränderung. Ist es okay, sich zu verändern? Sich zu verlieren, wenn man sich noch nicht einmal gefunden hat?“ Fragen, die ihre Antworten bereits in sich trugen.
„Veränderungen gehören zum Leben. Ohne Veränderungen gäbe es keinen Fortschritt, nur Stagnation. Wovor hast du Angst?“ Mikhaels Augen rissen sich vom Licht los, suchten Serenas Gesicht, tasteten es ab.
„Wie konnte ich je Ich sein ohne Gefühle? Werde ich zu einer anderen Person? Wie kann ich all das empfinden und nicht in den Empfindungen untergehen, ein Mich verlieren, wo nicht einmal ein Ich ist?“ Waren die Worte auch verworren, leuchtete die Fragen klar heraus.
„