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Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, flüchten wir uns in den Versuch, die Zukunft mit mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu vermessen und radikale Unsicherheit in berechenbare und somit versicherbare Risiken zu überführen. Da wir nicht alles privat versichern können, haben wir einen »Versicherungsstaat« errichtet, der den Auftrag hat, unsere Lebensrisiken zu minimieren und uns gegen die Restrisiken abzusichern. Doch dies ist eine Illusion. So sehr wir es uns auch wünschen mögen: Die Zukunft lässt sich nicht vermessen und fundamentale Ungewissheiten lassen sich nicht in kalkulierbare Risiken überführen. Das hat bereits die Große Finanzkrise gezeigt und wird in der Corona-Pandemie eindrucksvoll bestätigt. Dennoch schwingt sich der Staat zum obersten Risikomanager auf. Um die daraus entstehenden Kosten zu stemmen, besteuert der Staat seine Bürger bis zur teilweisen Konfiszierung ihrer Vermögen. Schlussendlich zerstört die Risikogesellschaft – in dem Bemühen, der radikalen Unsicherheit zu entgehen – sich selbst, und der Versicherungsstaat muss Konkurs anmelden. Thomas Mayer, einer der renommiertesten deutschen Wirtschaftsexperten und mehrmaliger Manager-Magazin-Bestsellerautor, zeigt, wie es dazu kam, dass wir den Umgang mit fundamentaler Ungewissheit verlernt haben, und welche tiefgreifenden Konsequenzen dies in Wirtschaft, Finanzen, Politik und Gesellschaft hat. Er bleibt jedoch nicht bei der Analyse des Problems stehen, sondern zeigt auf, wie ein richtiger Umgang mit radikaler Unsicherheit aussehen könnte, und hat konkrete Empfehlungen für den Einzelnen, der unter den Bedingungen einer kurzsichtigen Politik wirtschaftliche Entscheidungen für die Zukunft treffen muss. »Thomas Mayer ist einer der besten Kenner der Marktwirtschaft sowie des Finanz- und Geldsystems, einer, der [...] nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft stecken bleibt.« Frank Schäffler
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Seitenzahl: 306
THOMAS MAYER
Ein Essay über Geld und Gesellschaft in Zeiten radikaler Unsicherheit
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Wichtiger Hinweis
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Originalausgabe
1. Auflage 2021
© 2021 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Redaktion: Matthias Michel
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt
Umschlagabbildung: Shutterstock/Zagory, Shutterstock/jvillustrations, Shutterstock/Fafarumba
Satz: Tobias Prießner
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-483-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-916-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-917-8
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Vorwort
Kapitel 1 - Die Dunkle Seite des Mondes
Teil I - Vom Umgang mit Unsicherheit
Kapitel 2 - Vom Schicksal zum Zufall
Kapitel 3 - Systemische gesellschaftliche Risiken: Soziale Sicherheit und Chancengleichheit
Kapitel 4 - Idiosynkratische gesellschaftliche Risiken: Klimawandel und Corona-Pandemie
Kapitel 5 - Warum die moderne Geldpolitik zum Scheitern verurteilt ist
Kapitel 6 - Warum die moderne Finanztheorie zum Scheitern verurteilt ist
Kapitel 7 - Expertenherrschaft in der Risikogesellschaft
Teil II - Der Versicherungsstaat
Kapitel 8 - Die staatlich geschaffene Fragilität
Kapitel 9 - Die Schwindsucht der rentierlichen Geldanlagen
Kapitel 10 - Wert, Wachstum, Qualität
Kapitel 11 - Staatlicher Zugriff
Kapitel 12 - Wenn der Versicherungsstaat Konkurs anmelden muss
Teil III - Narrative für die Zukunft
Kapitel 13 - Was tun?
Kapitel 14 - Die Bedeutung von Narrativen
Kapitel 15 - Umsetzung in die Praxis
Kapitel 16 - Der ehrbare Kaufmann und die Politiker
Kapitel 17 - Was sind die bekannten Unbekannten?
Kapitel 18 - Die Alterung der Gesellschaft
Kapitel 19 - Die Völkerwanderung unserer Zeit
Kapitel 20 - Die Digitalisierung unserer Lebensumstände
Kapitel 21 - Die ungezügelte Geldvermehrung der Zentralbanken
Kapitel 22 - Die Entstehung einer neuen geopolitischen Weltordnung
Kapitel 23 - Scheinwissenschaftliche Apokalypse (Klimawandel) und erlernte Hilflosigkeit (Pandemie)
Kapitel 24 - Die Auflösung der liberalen Ordnung durch Identitätspolitik
Nachwort
Anmerkungen
Liste der Grafiken
Liste der Tabellen
Literatur
Über den Autor
»So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.«
Jürgen Habermas1
Nach vier Jahren in der Forschung beim Kieler Institut für Weltwirtschaft und weiteren drei Jahren Praxis in der Entwicklungsökonomik bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau und dem Internationalen Währungsfonds gab ich auf. Mit der Erkenntnis: Entwicklung lässt sich nicht planen. Man kann dafür nur die Voraussetzungen schaffen, und das geht nicht von außen. Nach fünf Jahren in der Politikberatung für Industrieländer beim Internationalen Währungsfonds gab ich auch das auf. Mir schien, die Politik machte einfach das, was ihr am meisten nutzte, und suchte sich die Experten danach aus. Ich wechselte 1990 in die Finanzbranche und befasste mich dort mit den Kapitalmärkten. Als damals überzeugter Anhänger der Theorien von rationalen Erwartungen und effizienten Märkten war ich darauf gefasst, auch dort bald wieder aufzugeben. Ich gebe zu, meine Beziehung zur Ökonomik ist nicht sehr gefestigt.
Doch es kam nicht zur erneuten Aufgabe. Die Märkte erwiesen sich nicht als so effizient, dass ein Ökonom, der sich mit ihrer Interpretation und Prognose befasste, dort kein Auskommen finden konnte – und zwar in lohnenderem Umfang als in der Entwicklungsökonomik und Politikberatung. Dieser Umstand hält mich seither in der Finanzbranche, aber nicht nur. Immer stärker faszinierten mich die Märkte als Richter über die in ihnen tätigen Akteure. Es sind Richter, die ihre Urteile fällen ohne Ansehen der Person. Sie demütigen den Nobelpreisträger ebenso wie den namenlosen Autodiktaten, wenn diese in ihren Einschätzungen falschliegen, und sie belohnen diese, wenn sie richtigliegen. Ich kenne keinen ehrlicheren Richter. Statt der Justitia müssten man die Finanzmärkte mit verbundenen Augen (für das Richten ohne Ansehen der Person), Waage (für das Abwägen der Sachlage) und Richtschwert (für die Härte der Durchsetzung ihres Richtspruchs) darstellen.
Etwas anderes faszinierte mich sogar noch mehr: der Umgang mit der Unsicherheit über die Zukunft. Je länger ich in und mit den Märkten lebte, desto größer wurde meine Überzeugung, dass die Wissenschaft wenig und der gesunde Menschenverstand viel zum richtigen Umgang mit Unsicherheit beitragen kann. Und immer stärker schien mir, dass der Umgang mit Unsicherheit nicht nur in den Finanzmärkten, sondern auch in der Gesellschaft viele falsche Praktiken hervorgebracht hat.
Nun ist es so weit, dass ich zu diesem Thema den vorliegenden Essay wage. Die Bezeichnung Essay ist bewusst gewählt, denn bei Wikipedia habe ich dazu die folgende Beschreibung gefunden: »Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema. Die Kriterien wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden; der Schreiber (der Essayist) hat also relativ große Freiheiten.«2 Diese Beschreibung passt zu mir und meiner Arbeit.
Es ist zu erwähnen, dass dieser Essay nicht ohne die Inspiration zweier anderer Arbeiten zustande gekommen wäre: Ulrich Becks Weltrisikogesellschaft und John Kays und Mervyn Kings Radical Uncertainty. Beiden Büchern ist daher in folgendem Versuch (nichts anderes bedeutet das Wort Essay) viel Raum eingeräumt. Und es gehört auch dazu, zu sagen, dass ich den Hinweis auf diese Bücher Edward Chancellor verdanke, mit dem mich eine langjährige Geistesfreundschaft verbindet. Außerdem danke ich Ludger Schuknecht, Kai Lehmann und Norbert Tofall für viele Anregungen und hilfreiche Kommentare. Mein Dank gilt auch Daniela Riepe für ihre umsichtige Betreuung dieser Arbeit, Matthias Michel für das sorgfältige Lektorat und nicht zuletzt Georg Hodolitsch, der mir nun zum vierten Mal als Programmleiter beigestanden hat.
Doch genug der Vorworte – begeben wir uns unverzüglich in medias res.
In seinem Roman Die Vermessung der Welt erzählt Daniel Kehlmann die Geschichte von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß.3 Der eine, Humboldt, will die Welt empirisch, der andere, Gauß, theoretisch vermessen. Beide Verfahren ergänzen sich, weil wir die ihnen unterliegende mathematische Logik in einem großen Teil der für uns wahrnehmbaren Umgebung gespiegelt sehen. Wir sehen, was sich uns mit dem uns mitgegebenen Wahrnehmungsapparat offenbart. Aber die Gegenwart ist nur ein flüchtiger Moment. Dauernd müssen wir in der Gegenwart Entscheidungen treffen, deren Folgen sich erst in der Zukunft zeigen. Doch die Zukunft liegt im Dunklen. Wir müssen sie ergründen.
Seit uns der Glaube an die göttliche Vorsehung abhandengekommen ist, haben wir uns zu ihrer Ergründung angewöhnt, in mathematischen Wahrscheinlichkeiten zu denken. Wenn wir schon nicht wissen können, was passieren wird, dann können wir doch vielleicht eine Liste der möglichen Entwicklungen erstellen und für jede eine Wahrscheinlichkeit vergeben. In seinem Buch Against the Gods erzählt der Finanzhistoriker Peter L. Bernstein die Geschichte der Vermessung der Zukunft mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung.4 Dazu muss mathematisch unfassbare Unsicherheit in mathematisch messbare Risiken verwandelt werden. Aus den uns vorstellbaren, künftig möglichen Entwicklungen wählen wir diejenige mit der höchsten Wahrscheinlichkeit als Prognose und vertrauen darauf, dass die Wahrscheinlichkeiten anderer Entwicklungen mit der Größe der Abweichung von der Prognose sinken. Unsicherheit wird scheinbar zum messbaren und damit versicherbaren Risiko.
Einige, aber nicht alle Risiken können wir privat versichern. Deshalb errichten wir den Versicherungsstaat, den wir beauftragen, unsere Lebensrisiken, die wir privat nicht versichern können oder wollen, zu minimieren und die Restrisiken öffentlich zu versichern. Im Gegensatz zur Vermessung der Welt scheitert die Vermessung der Zukunft – und damit der Versicherungsstaat – aber immer wieder an der mathematischen Unbeherrschbarkeit eigentlicher, »radikaler« Unsicherheit, die man auch als fundamentale Ungewissheit bezeichnen könnte. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung versagt. Wer lange in den Finanzmärkten unterwegs war, hat dies oft genug erlebt. Er weiß, dass Geldanlegen in der Kunst besteht, mit Überraschungen aller Art umzugehen, vom »gewussten Ungewussten« bis zum »ungewussten Ungewussten« (siehe Kapitel 2). Letzteres, das ungewusste Ungewusste entzieht der Vermessung der Zukunft mit den Methoden der Mathematik vollständig den Boden.
Meine erste denkwürdige Erfahrung mit der Unberechenbarkeit der Zukunft machte ich im Jahr 1994, ungefähr vier Jahre, nachdem ich in die Welt der Wall Street eingetreten war. Die Jahre davor war der Zins – hier die Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen – von 8,9 Prozent im September 1992 auf 5,4 Prozent im September 1993 gefallen. Der Zinsrückgang war eine Bonanza für die Anleihehändler, die diese Papiere für die Lagerhaltung kauften (da der Preis steigt, wenn die Zinsen fallen). Ich erinnere mich heute noch an den Eintrag von Larry Becerra, der bei Goldman Sachs ein großes Rad in diesem Bereich drehte, auf der internen Chatline der Firma: »Buy bonds until your hands bleed!«
Als die US-Notenbank, die Federal Reserve, dann Anfang 1994 ihren Leitzins, die Federal Funds Rate, erhöhte, stieg die Rendite auf zehnjährige Staatsanleihen bis auf 8 Prozent im November 1994. Die Preise fielen, die Händler machten Verluste, Goldman Sachs kam ins Trudeln und die Partner der Firma, die damals noch mit ihrem gesamten Vermögen hafteten, verließen reihenweise das Unternehmen. Sogar Steven Friedman, der zusammen mit Jon Corzine Goldman Sachs leitete, schmiss hin. Gefragt, wie es denn sein könne, dass die Firma so viel Geld verloren habe, wenn die Wahrscheinlichkeit für einen viel geringeren Verlust doch mit weniger als 1 Prozent angeben worden sei, antwortete Bob Litterman, der damals oberste Risikomanager von Goldman Sachs, Ereignisse mit mehr als drei Standardabweichungen vom Mittelwert und einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 0,27 Prozent seien zwar selten, aber doch möglich.
Im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre machte ein Hedgefonds mit dem Namen »Long-Term Capital Management« (LTCM) Furore. Treffender wäre der Name »Trades for the Short-term« gewesen. LTCM wurde nicht nur von dem Starhändler (und früherem Salomon Brothers-Chefhändler) John Meriwether geleitet, sondern hatte mit Myron Scholes und Robert C. Merton auch zwei Nobel-preisträger der Wirtschaftswissenschaften in seinem Anlagekomitee. Das Markenzeichen des Fonds war, die auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung aufbauende moderne Finanztheorie (Modern Finance) mit enorm gehebelten Finanzwetten in die Praxis umzusetzen.
Ich war geblendet von der Reputation dieser mit Preisen geadelten Genies, wenn ich als einfacher Bankenökonom meine begrenzten Überlegungen bei diesem Kunden vortragen durfte (Goldman Sachs war zu dieser Zeit ein Primary Broker für LTCM). Was konnte schon schiefgehen, wenn zwei Nobelpreisträger die Zukunft vermessen würden? In der Asien- und Russlandkrise lösten sich die Berechnungen jedoch in Luft auf, der Fonds ging pleite und drohte aufgrund seiner hohen Verschuldung die ganze Finanzbranche in den Abgrund zu ziehen. Ein Konsortium von Wall-Street-Firmen übernahm die Positionen von LTCM und die US Federal Reserve senkte die Zinsen, um die Lage zu stabilisieren. Damit befeuerte die Notenbank aber nur eine Rally am Aktienmarkt, die schließlich im Jahr 2000 mit dem Platzen der Blase von Internetwerten endete.
Als ich im Herbst 2002 von Goldman Sachs zur Deutschen Bank nach London wechselte, sagte man mir, dass das klassische Kreditgeschäft überholt sei. Die Zukunft gehöre sekuritisierten (in handelbare Wertpapiere transformierten) Krediten, deren Risiken man exakt kalkulieren könne, wenn sie nach den Regeln der modernen Finanztheorie geschickt zusammengepackt worden seien. Was sich nicht verpacken ließ, könne man mit Credit Default Swaps gegen Kreditausfall versichern.
Unter Anshu Jain, dem Leiter des Bereichs »Global Markets«, drehte die Deutsche Bank ein großes Rad auf dem hochkomplexen Gebiet der Collateralized Debt Obligations. Aber auch da erwies sich der Glaube an die Vermessbarkeit der Zukunft als Illusion. Die »wissenschaftlich« zusammengebastelten Finanzprodukte platzten und lösten die Große Finanzkrise von 2007/2008 aus, die zur Großen Rezession von 2008/2009 führte. Anshu Jain war wegen der aus seinem Bereich kommenden Verluste für die Deutsche Bank zerknirscht, aber Josef Ackermann, der Vorstandsvorsitzende, hielt an ihm fest (was er vielleicht später bereute, als Jain gegen seinen Willen seine Nachfolge antrat).
Für mich war die Große Finanzkrise ein Weckruf, stellte sie doch alles infrage, was ich bis dahin als wahr betrachtet hatte. Ich nahm an, dass alle Beteiligten auf der ganzen Welt dies ebenso sehen würden. Doch diese Annahme war naiv und stellte sich als großer Irrtum heraus. Die große Mehrheit der Akteure in der Finanzbranche und in den Zentralbanken machte weiter wie bisher. Sie glaubte weiterhin an die Vermessbarkeit der Zukunft mit wissenschaftlichen Methoden, obwohl sich diese Methoden – weil von der Wirklichkeit falsifiziert –als Pseudo-Wissenschaft erwiesen hatten. Aber auch in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft klammern wir uns an die Vermessbarkeit der Zukunft und unsere vermeintliche Fähigkeit, damit Risiken beherrschen zu können.
Ein herausragendes Beispiel ist der Klimawandel. Für die überwiegende Mehrheit der Menschen ist der Klimawandel das größte Risiko für die Menschheit. Eine »Eurobarometer-Umfrage« der Europäischen Kommission fand heraus:5
Für 93 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger ist der Klimawandel ein »ernstes« Problem, für 79 Prozent ein »sehr ernstes«.
92 Prozent der Befragten halten es für wichtig, dass ihre Regierung ehrgeizige Ziele für die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien festlegt, und 89 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass ihre Regierung Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz bis 2030 unterstützen sollte.
84 Prozent sprechen sich für eine Aufstockung der öffentlichen Finanzmittel für den Übergang zu sauberer Energie aus, selbst wenn dies mit einer Kürzung der Zuschüsse für fossile Brennstoffe verbunden wäre.
92 Prozent der Befragten – und mehr als acht von zehn Befragten in jedem EU-Land – sind sich einig, dass die Treibhausgasemissionen auf ein Minimum gesenkt und die verbleibenden Emissionen kompensiert werden sollten, um die EU-Wirtschaft bis 2050 klimaneutral zu machen.
Das war im Jahr 2019. Zum Zeitpunkt dieser Umfrage stellte die Mutation des Coronavirus SARS-CoV-1 zu SARS-CoV-2 ein Risiko mit viel größeren Konsequenzen in der nahen Zukunft dar. Die Befragten wussten im Jahr 2019 aber nichts davon. SARS-CoV-2 gehörte damals für die meisten Menschen (außer einigen Gesundheitsexperten, die ihr Wissen für sich behielten) zur Kategorie des »ungewussten Ungewussten«. Der am 15. Januar 2020 veröffentlichte Global Risk Report 2020 des World Economic Forum listete sechs mit dem Klimawandel zusammenhängende Risiken unter den für 2020 am wahrscheinlichsten. Eine Epidemie oder gar Pandemie war nicht darunter.[1] Das wissenschaftlich begründete »teilweise gewusste Ungewusste«, das zur Gewissheit erhöht und publizistisch effektiv verbreitet wurde, hatte den Blick auf das hinter dem Schleier der Ungewissheit lauernde Unbekannte verstellt.
Die Corona-Pandemie ist ein Fanal dafür, wie wenig wir über die Gegenwart wissen, wie ungewiss die Zukunft ist und wie schwer es dem Staat fällt, die ihm zugewiesenen Rolle des Rundumversicherers seiner Bürger gegen Risiken für Gesundheit und wirtschaftlichen Wohlstand auszufüllen. Politik und Gesellschaft hätten von dem Risiko einer Virusmutation wissen können, haben jedoch die Augen davor verschlossen. Anfang Januar 2013 legte die Bundesregierung dem Bundestag und der Öffentlichkeit eine Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz vor, in der eine durch Modifikation des SARS-Coronavirus ausgelöste Pandemie beschrieben wurde:
»Das Szenario beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus, welches den Namen Modi-SARS-Virus erhält. Mehrere Personen reisen nach Deutschland ein, bevor den Behörden die erste offizielle Warnung durch die WHO zugeht. Darunter sind zwei Infizierte, die durch eine Kombination aus einer großen Anzahl von Kontaktpersonen und hohen Infektiosität stark zur initialen Verbreitung der Infektion in Deutschland beitragen. Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen durch die Behörden und das Gesundheitssystem schnell und effektiv umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus aufgrund des kurzen Intervalls zwischen zwei Infektionen nicht effektiv aufgehalten werden … Nachdem die erste Welle abklingt, folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist.«6
Das Szenario wurde als »bedingt wahrscheinlich« und als ein Ereignis, das »statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt«, eingestuft. Tatsächlich kam die SARS-CoV-2 Pandemie rund 100 Jahre nach der Spanischen Grippe, und der in der Risikoanalyse angenommene Verlauf nahm die tatsächliche Entwicklung erstaunlich genau vorweg. Dennoch waren Politik und Gesellschaft völlig unvorbereitet. Virologen, Epidemiologen und Politiker gaben verwirrende und zum Teil widersprüchliche Anweisungen, und es fehlten die einfachsten Schutzmittel in Form von Mund-Nasen-Masken. Obwohl die Risikoanalyse mit einer zweiten Welle nach Abklingen der ersten Infektionswelle gerechnet hatte, wurden im Sommer 2020 keine wirksamen Vorkehrungen dagegen getroffen. Die Folgen ausbaden mussten unter anderem die Gesundheitsämter, die bei der Verfolgung von Infektionsketten, und die Schulen, die bei der Organisation von Distanzunterricht erneut überfordert waren; letztere auch, weil in den »ruhigeren« Monaten seitens der Politik verabsäumt wurde, sinnvolle Konzepte für die Online-Beschulung zu erarbeiten.
Schon während der ersten Infektionswelle wurde klar, dass an der von SARS-CoV-2 ausgelösten Krankheit Covid-19 vor allem ältere Menschen sterben und insbesondere Alten- und Pflegeheime besonders geschützt werden müssen. Aber auch beim Schutz der Alten versagten Staat und Gesellschaft, sodass sich die Krankheit unter Menschen im Alter von 80 Jahren und mehr am stärksten verbreitete. Zeitweilig registrierten die Gesundheitsämter im Winter 2020 mehr als 700 Neuinfektionen pro 100.000 Personen im Alter von 90 Jahren und mehr in der Woche (Grafik 1.1).
Der Staat versprach Finanzhilfen für Wirtschaft und Bürger in gigantischem Ausmaß, und die Zentralbank flutete die Wirtschaft mit neuem Geld. Doch die überforderte Staatsbürokratie verteilte die Hilfen nur stockend und ungenau. Statt geplanten 509 Milliarden Euro gab die Bundesregierung im Jahr 2020 »nur« 443 Milliarden Euro aus, und das Finanzierungsdefizit betrug statt geplanter 218 Milliarden Euro »nur« 130 Milliarden Euro. Die private Wirtschaft überraschte positiv. Dem kleinen Mainzer Pharmaunternehmen Biontech gelang es in weniger als einem Jahr, einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln und mit seinem Partner Pfizer noch im Jahr 2020 auszuliefern. Doch die Europäische Kommission, die die Bestellung von Impfstoff an sich gezogen hatte, verpatzte die Beschaffung. Die USA, Großbritannien und Israel boten hohe Preise, während die EU-Kommission knauserte und feilschte. Die Länder der EU fanden sich daher auf den hinteren Plätzen in der Warteschlange der Impfwilligen wieder. Die Folgen davon waren vermeidbare Todesfälle und Einkommensverluste. Für die dafür Verantwortlichen hatte dies keine Konsequenzen.
Grafik 1.1: Covid-19-Neuinfektionen in den Kalenderwochen 2020–2021 (7-Tage-Inzidenz (je 100.000) nach Altersklassen)
Das Jahr 2020 sollte uns Bescheidenheit lehren. Doch fürchte ich, dass wir – wie nach der Großen Finanzkrise – auch daraus keine Lehren ziehen werden. Noch während wir im Nebel der Pandemie herumstocherten, sah die Politik in der von dem Virus verursachten Zerstörung die Chance, eine neue, nach ihren Vorstellungen geplante Welt zu gestalten. Nach dem Teilabriss infolge der Pandemie soll die Wirtschaft »grüner« wieder auf- und dabei umgebaut werden. Woher Politik und Gesellschaft die Zuversicht nehmen, dass sie die mit dem Klimawandel verbundenen Unsicherheiten besser durchdringen und berechnen und die Wirtschaft effektiver und effizienter planen können als dies bei der Pandemie der Fall war, entzieht sich dem gesunden Menschenverstand.
In diesem Essay möchte ich nachzeichnen, wie es dazu kam, dass wir den Umgang mit fundamentaler Ungewissheit verlernt haben, welche tiefgreifenden Konsequenzen dies in Wirtschaft, Finanzen, Politik und Gesellschaft hat und wie ein richtiger Umgang mit »radikaler Unsicherheit« aussehen könnte. Dabei begebe ich mich auf eine Gratwanderung zwischen Ökonomie und Soziologie sowie zwischen (positiver) Analyse dessen, was ist, und (normativer) Empfehlung, was man tun könnte. Meine Empfehlungen richten sich nicht an die Politik, die auf Herausforderungen eher schlecht als recht reagiert, statt sie zu antizipieren und entsprechende Vorbereitungen zu treffen, sondern an den Leser, der unter den Bedingungen einer kurzsichtigen Politik und unter radikaler Unsicherheit wirtschaftliche Entscheidungen für die Zukunft treffen muss.
Teil I des Essays handelt vom Umgang mit Unsicherheit. Wir überführen radikale Unsicherheit in vermeintlich messbare Risiken (Kapitel 2) und scheitern beim Management dieser Risiken immer wieder in der Wirtschaft, im Finanzbereich und in der Gesellschaft (Kapitel 3 bis 7).
Teil II beschreibt die Errichtung des Versicherungsstaats mit dem Ziel, die Folgen der Unsicherheit zu beherrschen. Doch der Versicherungsstaat macht in seinem Bemühen, alle denkbaren Lebensrisiken zu minimieren und was übrig bleibt zu versichern, unsere Lebensumstände fragil (Kapitel 8). Die Nebenwirkung seiner Allversicherung ist, dass die Möglichkeiten zur finanziellen Eigenvorsorge für vorhersehbare und ungewisse Belastungen schwinden (Kapitel 9) und die Preise von Finanzanlagen verzerrt werden (Kapitel 10). In finanzielle Schwierigkeiten gekommen, besteuert der Versicherungsstaat seine Bürger bis zur teilweisen Konfiszierung ihrer Vermögen (Kapitel 11). Doch wird dadurch nichts besser. Das Risikomanagement wird selbst zum Risiko und droht, die auf Risikominimierung und Risikoversicherung ausgerichtete Risikogesellschaft zu zerstören. Die finanzielle Überdehnung der staatlichen Aufgaben führt den Versicherungsstaat schließlich in den Konkurs (Kapitel 12). Nun ist der Bürger, wenn es darum geht, durch das Meer fundamentaler Ungewissheit zu navigieren, auf sich selbst gestellt. Doch eröffnet die Selbstzerstörung der Risikogesellschaft auch erneut Chancen auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Erneuerung.
Teil III versucht Lösungswege aufzeigen. Statt an der Illusion der Vermessbarkeit radikaler Unsicherheit festzuhalten oder Handlungen aus Angst vor Unsicherheit bis zur Selbstlähmung einzuschränken, gilt es, die Zukunft mit gesundem Menschenverstand zu ergründen und sich durch die Zeit mit Versuch und Irrtum voranzutasten (Kapitel 13). Dazu ist es nötig, für Vergangenheit und Gegenwart realistische Erzählungen (»Narrative«) zu finden und aus der inneren Dynamik der Geschichten eine Ahnung – und leider ist mehr nicht möglich – über die Zukunft abzuleiten (Kapitel 14). Dafür gibt es Beispiele und Vorbilder im Finanzbereich und in der Geschichte (Kapitel 15 und 16).
Zu den großen Narrativen unserer Zeit (Kapitel 17), die es zu ergründen gilt, gehören der demografische Wandel (Kapitel 18), die Völkerwanderungen unseres Zeitalters (Kapitel 19), die Digitalisierung unserer Lebensumstände (Kapitel 20), die ausufernde Geldvermehrung der Zentralbanken (Kapitel 21), die Entstehung einer neuen geopolitischen Weltordnung (Kapitel 22), der Klimawandel und die Corona-Pandemie (Kapitel 23) sowie die Auflösung der liberalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Identitätspolitik (Kapitel 24). Das sind die »bekannten Unbekannten«. Das »unbekannte Unbekannte«, das im Dunkel fundamentaler Ungewissheit lauert, können wir nicht erzählen, sondern nur bedenken.
Könnten wir die Finalität der Geschichte erkennen, würden wir uns wohl auf geradem Weg dorthin begeben. Wäre die Geschichte ein Zufallsprozess – oder »ein verdammtes Ding nach dem anderen«, wie der britische Historiker Arnold Toynbee meinte –, könnten wir aus ihr nichts lernen. Liegt die Wahrheit jedoch in der Mitte, verändert die Geschichte uns und wir verändern sie. Insofern ist die Zukunft offen, aber nicht rein zufällig.
Vermutlich ist die Geschichte pfadabhängiger und damit auch zyklischer als wir Kinder der Aufklärung wahrhaben wollen. Mit einer ausgereiften Erzählung können wir den Pfad besser verstehen und die Zukunft erahnen. Diese Erkenntnis eröffnet auch neue Handlungsmöglichkeiten, die den Lauf der Geschichte verändern können. Nicht der Random Walk, sondern der Error-Correction-Process wäre dann das entsprechende, der Statistik entstammende Bild.
Durch Irrtum und Korrektur kann ein im Nachhinein in Umrissen beobachtbarer, aber schwer in die Zukunft prognostizierbarer Zyklus entstehen. Doch ein Muster ist erkennbar: Fehlerhafte Entwicklungen setzen ein, wenn die individuelle Freiheit durch Verpflichtungen aller auf Ziele, die von wenigen definiert werden, unterdrückt wird. Korrekturen entwickeln sich, wenn diese Verpflichtungen aufgehoben werden. Gegenwärtig haben Freiheitsbeschränkungen Konjunktur. Wie weit die fehlerhafte Entwicklung gehen wird, ist offen. Zuversichtlich stimmt jedoch, dass wir auf die Korrektur hoffen dürfen.
Radical Uncertainty, radikale Unsicherheit, lautet der Titel eines im vergangenen Jahr erschienenen, bemerkenswerten Buches.7 Die Autoren John Kay, ehemals Kolumnist der Financial Times, und Mervyn King, ehemals Gouverneur der Bank von England, beschreiben darin, wie die moderne Gesellschaft der Illusion erlegen ist, Unsicherheit in berechenbare Risiken überführen zu können. Damit führen sie ein Thema fort, das schon den 2015 verstorbenen deutschen Soziologen Ulrich Beck beschäftigte. Beck folgerte: »Die Welt des berechenbaren und beherrschbaren Risikos setzt (und vielleicht sogar mit dem Siegeszug seines Berechenbarkeitsanspruchs) das Moment der Überraschung frei.«8 Wer glaubt, die Zukunft vermessen zu können, wird immer wieder – und meist unangenehm – überrascht.
Die alten Griechen waren begnadete Mathematiker. Einige Leser werden sich aus der Schulzeit noch an den Satz des Pythagoras zur Berechnung der Seitenlängen rechtwinkliger Dreiecke erinnern (a2+b2=c2). Im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasste Euklid von Alexandria ein Lehrbuch der Mathematik, das noch bis ins 20. Jahrhundert im Geometrieunterricht an Schulen verwendet wurde. Doch eines ist auf den ersten Blick merkwürdig: Die Griechen haben sich nie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigt. Der Grund dafür ist simpel: Im griechischen Denken gab es keinen Platz für Zufall und Wahrscheinlichkeit. Der Lauf der Dinge war von den Göttern bestimmt, und zwar unabwendbar. Obwohl der thebanische König Laios alles unternahm, um den Folgen eines Fluches der Göttin Hera zu entgehen, erfüllte sein Sohn Ödipus diesen unwissentlich. Wer seine Unsicherheit über die Zukunft verringern wollte, musste den Willen der Götter erkunden und sich ihm fügen. Mathematik half da nicht weiter.
Intensiver als wir heute für unser Alter vorsorgen, bemühten sich die Menschen des Spätmittelalters, für das Jenseits vorzusorgen und es zu diesem Zweck akribisch zu vermessen.9 Vor dem Eintritt in den Himmel wartete auf den Sünder das Fegefeuer, an das die Menschen damals noch fester glaubten als wir heute an den Klimawandel. Je größer die Schuld, desto länger der Aufenthalt dort. Da der Mensch schuldig geboren wurde und andauernd neue Schuld auf sich lud, brauchte er laufend Entlastung. Er gewann sie durch die Gnade Gottes. Glücklicherweise konnte man sich diese aus dem Gnadenschatz der Kirche erwerben. Für gute Werke gab es Ablass, der dem Umfang der Werke entsprechend Zeit im Fegefeuer ersparte. Auf einem Heilsmarkt konkurrierten verschiedene Gnadenangebote, die mit Ablasswerten in Form von eingesparten Tagen im Fegefeuer beziffert waren. Ablässe mussten ursprünglich erarbeitet werden, zum Beispiel durch Beten, Wallfahren oder Küssen von heiligen Reliquien, und waren daher knapp. Später wurden sie reichlich aus dem immateriellen Gnadenschatz der Kirche geschöpft und konnten käuflich erworben werden. In jedem Fall konnte man seinen Aufenthalt im Jenseits damit gut vermessen. Die Vermessung der irdischen Zukunft spielte dagegen kaum eine Rolle. Der Heilsapparat zur Jenseitsvorsorge schuf schließlich durch übermäßige Gnadenschöpfung eine gigantische Ablassblase – auf ihre Art eine Spekulationsblase –, die infolge der Reformation platzte.
Es ist daher keine Laune der Geschichte, dass Mathematiker erst nach der Reformation und in der Zeit der Aufklärung begannen, sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu befassen. »Das Risiko betritt die Weltbühne, wenn Gott sich von ihr verabschiedet … Denn in der Abwesenheit Gottes entfaltet das Risiko seine verheißungsund schreckensvolle, schier unbegreifliche Ambiguität«, schreibt Ulrich Beck dazu.10 Den Anstoß zur Wahrscheinlichkeitsrechnung gab eine Anfrage des Chevalier de Méré, eines passionierten Spielers, an den Mathematiker Blaise Pascal, der zur Beantwortung einen noch berühmteren Kollegen, Pierre de Fermat, hinzuzog. Der Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat in den Wintermonaten 1653/1654 markiert die Geburtsstunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Unsere Erwartung berechnen wir, indem wir die mögliche Entwicklung mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens multiplizieren. So jedenfalls hat es Abraham de Moivre, der die von Pascal und Fermat entwickelte Wahrscheinlichkeitsrechnung weitergeführt hat, im Jahr 1718 in seiner Doctrine of Chances postuliert.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt als eine eher einfache Spielart der Mathematik. Nehmen wir das Beispiel des Roulettetisches, in dessen Umfeld sie entstand. Der dort installierte Roulettekessel hat 37 Taschen, deren Farben sich zwischen Schwarz und Rot abwechseln und die von 0 bis 36 durchnummeriert sind. Der Kessel wird in eine Richtung hin angestoßen, und während er sich dreht, wird eine Kugel in die andere Richtung eingeworfen. Dank der Zentrifugalkraft dreht die Kugel ein paar Runden am oberen Rand des Kessels, bis sie durch die Schwerkraft nach unten gezogen wird und schließlich in einer der 37 Taschen landet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einer bestimmten Tasche, beispielsweise der mit der Nummer 10 landet, ergibt sich aus der Anzahl der betrachteten möglichen Ergebnisse im Verhältnis zur Zahl aller möglichen Ergebnisse, also als 1/37. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel in irgendeine andere Tasche als die mit der Nummer 10 landet, ebenfalls jeweils 1/37 (sofern der Roulettetisch nicht zugunsten eines bestimmten Ergebnisses manipuliert ist). Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel in eine Tasche mit der Nummer 0 bis 36 fällt, ist 37/37, also 1, während die Wahrscheinlichkeit, dass die Kugel auf eine Zahl unter 0 oder über 36 fällt, 0/37, also 0 ist.
Auch wenn sie in den Jahrhunderten danach enorm weiterentwickelt wurde, bleibt die Wahrscheinlichkeitsrechnung bis heute durch ihre Geburt an den Spieltischen des 17. Jahrhunderts bestimmt. Seither vertrauen wir darauf, dass wir die Zukunft, auch wenn sie uns nicht genau bekannt ist, zumindest auf diese Art »vermessen« können – wodurch insbesondere die Kunst der Geldanlage in die Sphäre der Wissenschaft aufstieg (dazu später mehr).
Im Jahr 1921 schrieb jedoch der an der Universität von Chicago lehrende Ökonom Frank Knight, dass messbare Unsicherheit, also das, was wir gemeinhin mit »Risiko« bezeichnen, so weit von der wirklichen Unsicherheit entfernt ist, dass man sie eigentlich nicht als »Unsicherheit« bezeichnen könne.11 Knight führte für die wirkliche Unsicherheit den Begriff »radikale Unsicherheit« ein und verwies darauf, dass diese mit der an den Spieltischen entstandenen Messtechnik nicht zu erfassen sei. Ebenso sah dies John Maynard Keynes in seiner 1936 erschienenen Schrift The General Theory of Employment, Interest and Money.12 Im Vergleich zu den Ergebnissen am Roulettetisch seien zum Beispiel für die Aussichten auf einen weiteren europäischen Krieg, den Preis von Kupfer und den Zins in 20 Jahren, die Ablösung einer Erfindung durch eine neue oder für den sozialen Status von Vermögensbesitzern im Jahr 1970 einfach keine Wahrscheinlichkeiten berechenbar. »We simply do not know!«, meinte Keynes.[2] Und Peter L. Bernstein jubelte: »A tremendous idea lies buried in the notion that we simply do not know. Rather than frightening us, Keynes’ words bring great news: we are not prisoners of an inevitable future. Uncertainty makes us free.«[3]Animal Spirits, Bauchgefühle, waren für Keynes, der selbst ein begnadeter Anleger war, die wahren Triebkräfte für die Wirtschaft und die Finanzmärkte.
Dagegen setzten der US-Ökonom Frank Ramsey und der italienische Ökonom Bruno de Finetti das Konzept der »subjektiven Wahrscheinlichkeiten«.13 Sollte es nicht möglich sein, für die von Keynes gegebenen Beispiele Wahrscheinlichkeiten aufgrund subjektiver Einschätzungen zu geben und auf diese Weise auch die Unsicherheit abseits der Spieltischszene berechenbar zu machen? »We may treat people as if they assigned numerical probabilities to every conceivable event«, erklärte kurz und knapp Milton Friedman, ein anderer Großmeister unter den Ökonomen.[4] Wie Kay und King erläutern, würde dies aber voraussetzen, dass man alle möglichen künftigen Entwicklungen kennt, denn nur so könnte man eine Reihe subjektiver Wahrscheinlichkeiten vergeben, die sich zu eins addieren und folglich konsistent sind. Dies ist aber für die meisten künftigen Entwicklungen unmöglich.
Oft werden wir von Ereignissen überrascht, für die der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Namen Unknown Unknowns geprägt hat.[5] Das sind Ereignisse, von denen wir nicht einmal ahnen, dass sie passieren könnten, und für die wir daher keine Wahrscheinlichkeiten vergeben können. Weil wegen der Unknown Unknowns die Gesamtheit aller möglichen Ereignisse unbekannt ist, können wir keine Häufigkeitsverteilungen aufstellen, aus denen wir (unter der Annahme, dass diese auch für die Zukunft gelten würden) Wahrscheinlichkeiten errechnen könnten. Subjektive Wahrscheinlichkeiten sind daher nichts mehr als in Zahlen ausgedrückte Meinungen.
Nehmen wir an, wir können uns drei mögliche Lagebilder für die Zukunft ausmalen und halten jedes für gleich wahrscheinlich. Dann würden wir jedem dieser Lagebilder eine Wahrscheinlichkeit von 1/3 zuweisen und die jeweiligen Erwartungswerte aus diesen Wahrscheinlichkeiten und den Bewertungen der Lagebilder errechnen, wenn wir der Vorstellung Milton Friedmans entsprechen würden. Da wir aber wissen, dass die Zukunft von Ereignissen bestimmt sein könnte, von denen wir gegenwärtig keine Ahnung haben, können wir uns auf die zugewiesenen Wahrscheinlichkeiten nicht verlassen. Unsere gesamte Wahrscheinlichkeitsrechnung wird zur Makulatur, weil die Verhältnisse eben bei Weitem nicht so eindeutig bestimmt sind wie am Roulettetisch.
Oder nehmen wir an, wir beobachten die Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Ereignisse in der Vergangenheit, zum Beispiel, wie sich der monatliche Durchschnitt der Aktienpreise im Verlauf der letzten zehn Jahre entwickelt hat. Wir stellen fest, dass die Preise in den meisten Monaten um 0,5 Prozent gestiegen und nur in 2 Prozent der Fälle um 5 Prozent oder mehr gefallen sind. Können wir daraus schließen, dass wir auch in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent Monatsverluste von 5 Prozent oder mehr ausschließen können? Natürlich nicht, denn die Entwicklung der Aktienpreise wird nicht von Naturgesetzen bestimmt, die im Lauf der Zeit keinen Veränderungen unterliegen. Stattdessen werden sie durch geschichtliche Entwicklungen getrieben, die aus der Vergangenheit heraus nicht mechanisch in die Zukunft fortgeschrieben werden können.
Ludwig von Mises, Friedrich von Hayek und andere Ökonomen der Österreichischen Schule haben die Auffassung vertreten, dass wir die Zukunft betreffende ökonomische Entscheidungen auf der Grundlage unserer subjektiven Kenntnisse der Fakten und Zusammenhänge treffen, die nicht objektiv und mathematisch zu erfassen sind.14 Wirtschaftliches Handeln braucht einen Plan. Dieser Plan wird gefasst, indem in den Märkten erworbene frühere Erfahrungen genutzt werden, um sich ein Bild über zukünftige Ergebnisse zu machen. Dieses »Erwartung« genannte Bild ist ein entscheidender Bestandteil jeder wirtschaftlichen Handlung. Das zur Bildung von Erwartungen notwendige Wissen sieht in jedem einzelnen Kopf etwas anders aus, weil es die spezifischen und einzigartigen Fähigkeiten der Einzelnen widerspiegelt, Informationen zu sammeln und zu interpretieren. Das Wissen ist oft implizit. Die Akteure sind möglicherweise nicht in der Lage, es zu artikulieren, und es lässt sich sicherlich nicht objektiv messen. Man kann es nur an den Handlungen erkennen.
Wenn Einzelpersonen auf dem Markt handeln, können sie ihr Wissen erweitern, indem sie es mit dem Wissen anderer Personen abgleichen. Somit schafft jeder Austausch neues Wissen, aus dem weitere Austausche abgeleitet werden können. Entgegen der neoklassischen Annahme kann es kein endgültiges Gleichgewicht auf dem Markt geben. Der Markt befindet sich in einem Zustand des ständigen Ungleichgewichts. Allenfalls kann man sich einen – nie zu erreichenden – theoretischen Endzustand des Gleichgewichts wie ein platonisches Ideal vorstellen. Dieser Idealzustand würde sich aus der vollendeten Ausnutzung der aus den Ungleichgewichten resultierenden Gewinnchancen durch kluge Akteure am Markt ergeben. In der Realität führen jedoch ständig neue Informationen dazu, dass dieses Gleichgewicht nie erreicht werden kann.
In diesem Umfeld handelt der von Joseph Schumpeter beschriebene »dynamische Unternehmer«, der absolut Neues schafft, für dessen Zustandekommen keine Wahrscheinlichkeiten vorab gefunden werden können. Für Schumpeter ist der Kapitalismus: »by nature a form or method of economic change and not only never is but never can be stationary«.[6] Er wird vom Unternehmer vorangetrieben, der neue Produkte schafft, die bestehende Produktionsstruktur revolutioniert, neue Absatzgebiete findet oder die Industrie reorganisiert. Dabei spielt für Schumpeter die Kreditgeldordnung eine besondere Rolle. Sie erlaubt dem Unternehmer, von der Bank für ihn (durch die Kreditvergabe) geschaffenes, neues Geld zu bekommen, ohne von vorher getätigten Ersparnissen abhängig zu sein. Durch seine Tätigkeit zerstört der Unternehmer unaufhörlich alte Strukturen und schafft neue. »This process of Creative Destruction is the essential fact about capitalism.«[7]
Obwohl es gute Gründe dafür gibt, dass sich die Wirtschaft andauernd in einem dynamischen Ungleichgewicht befindet, ihre Entwicklung einem nicht-stationären Pfad folgt und wir uns nicht alle möglichen künftigen Entwicklungen vorstellen können, haben sich im ökonomischen Diskurs Ramsey und de Finetti gegen Knight und Keynes durchgesetzt. Die Zukunft gilt als mit den Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung vermessbar, und das Konzept der radikalen Unsicherheit wurde an den Rand gedrängt. Die Folgen sind bis heute gravierend.
Der Markt entstand als Instrument zur Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten unabhängig voneinander handelnder Individuen. Beabsichtigte Aktivitäten erweisen sich als erfolgreich, wenn sie im Markt Widerhall finden, oder sie scheitern, wenn das nicht der Fall ist. Folglich gehört das Scheitern zur Koordinationsfunktion des Marktes und ist unverzichtbarer Teil der Marktwirtschaft. Ebendies nährt bei risikoaversen Menschen seit der Transformation der menschlich eng verbundenen Stammesgesellschaft in die »Große Gesellschaft« einander persönlich unbekannter Mitglieder die Skepsis gegenüber dem Markt. Fundamentale Ungewissheit lässt den Markt bedrohlich erscheinen.
Ist der Erfolg am Markt ehrlich verdient oder erschwindelt? Was passiert, wenn man in der Marktwirtschaft scheitert? Auf diese Fragen wurden Antworten gegeben, die von der Korrektur am Markt erzielter Ergebnisse bis zum Ersatz der Marktwirtschaft durch zentrale Planung reichen. Die Ungewissheit soll berechenbar und damit planbar werden. Seit dem Scheitern der zentralen Planwirtschaft im »real existierenden Sozialismus« steht die Korrektur der Marktergebnisse statt der zentralen Planung allerdings im Vordergrund der Gesellschaftspolitik.
In Deutschland wird die Soziale Marktwirtschaft als guter Kompromiss zwischen der Koordination wirtschaftlichen Handelns am Markt und der Absicherung gegen ein Scheitern am Markt verstanden. Als politischer Vater dieses Modells gilt Ludwig Erhard, der erste Wirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik. Entgegen einer heute populären Lesart verband Ludwig Erhard mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft jedoch keineswegs die Umverteilung der am Markt erarbeiteten Einkommen und Vermögen.15 Im Gegenteil, er sah darin eine große Gefahr: