9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €
»Ein erschütternder und zwingender Roman über das gespannte Band zwischen Töchtern und Müttern.« The New York Times Book Review Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien. Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben. »Eine der herausragendsten Autorinnen Norwegens.« The New Yorker
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 312
Vigdis Hjorth
Roman
Johanna ist keine gute Tochter. Um sich zu retten, hat sie die Familie verlassen. Jetzt, dreißig Jahre später, ist sie wieder zu Hause. Sie sucht Nähe, sie will den Kontakt zur Mutter erzwingen, doch die verweigert sich kühl jeder Annäherung. Heimgesucht von den Erinnerungen an die Kindheit zieht Johanna sich in eine einsame Hütte am Fjord zurück, wo es an ihr ist, die Verhältnisse zu ordnen und sich aus den familiären Zwängen zu befreien.
Vigdis Hjorth erzählt drastisch von unseren zerrütteten Beziehungen, von Sehnsucht und Enttäuschung und davon, wie man der Vergangenheit begegnet, ohne sich selbst aufzugeben.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der wichtigsten und meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war außerdem für den National Book Award sowie den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und Frankreich lebt sie heute in Oslo.
Dr. Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt.
Sie würde sich [...]
Eines Abends habe [...]
Ich hatte getrunken, [...]
Ich habe mit [...]
Die ersten Monate [...]
Hatte ich Mutter [...]
Sie wird sagen, [...]
Als ich beschlossen [...]
Wie alt ist [...]
Sie wissen, dass [...]
Ich habe Mutter [...]
Im Haus neben [...]
Der vierte September, [...]
Ruth meint, dass [...]
Ich könnte in [...]
Ich stand gerade [...]
Ich habe keine [...]
In Gedanken sehe [...]
Ich weiß nichts [...]
Wie sieht Mutter [...]
Wenn ich erführe, [...]
Sie sind beide [...]
Wenn ich in [...]
Vor kurzem saß [...]
In dem Haus, [...]
Nach einem Treffen [...]
Ruth begleitet Mutter [...]
Stelle ich mir [...]
Ich kann die [...]
Ich weiß nicht, [...]
Ich war sechs, [...]
Ruth hat eine [...]
Ich könnte in [...]
Mutters Cousine Grethe [...]
Ich habe Mutters [...]
Wissen Ruths Kinder [...]
Ich verteidige mich, [...]
Ich rufe Mutter [...]
Ich bilde mir [...]
Zwanzigster September, ich [...]
Ich denke an [...]
Als ich vor [...]
Wenn Mutter mich [...]
Ruth antwortet nicht. [...]
Ich sitze in [...]
Ruth hat mich [...]
Ich sitze auf [...]
Mutter steht auf [...]
Hoher Himmel, kühle [...]
Mutter war mit [...]
Aber wie war [...]
Noch stehen Veilchen [...]
Haben Eltern nicht [...]
Ich rufe John [...]
Mutter schließt ihre [...]
Dreiundfünfzig Kilometer von [...]
Mutter nickt auf [...]
Ruth half Mutter [...]
Als Ruth verstanden [...]
Ich bewege mich [...]
Mutter wohnt in [...]
Von hier aus [...]
Drei Tage später [...]
Ich habe neun [...]
Ein neuer Anfang [...]
Im Frühling vor [...]
Wann fand Mutter [...]
Jeden Morgen ziehe [...]
Inzwischen kenne ich [...]
In der Regel [...]
Die Dunkelheit kommt [...]
Ich verschiebe die [...]
Ich sitze warm [...]
Während der nächsten [...]
Ruth wartet auf [...]
Ruth und Mutter [...]
Mutter sitzt vor [...]
Fühle ich mich [...]
Ich gehe hinein [...]
Am nächsten Tag [...]
Ich fahre zum [...]
In dem Moment, [...]
Eine Erinnerung: Ich [...]
Die grüne Tür [...]
Ich verschob die [...]
An dem Abend, [...]
Jetzt stehen nur [...]
Es folgten einige [...]
Das Schlimmste liegt [...]
Ruth und Mutter [...]
Der Friedhof ist [...]
Ruth schaut Mutter [...]
Als ich zwölf [...]
Wenn ich zeichnete, [...]
Ich gehe über [...]
Ich schreibe John: [...]
Einmal war ich [...]
Zu Weihnachten bekam [...]
Ich kam eines [...]
Ich konnte nur [...]
Vater schrie mich [...]
Ich rief Fred [...]
Ich dachte an [...]
Einmal war ich [...]
Erinnert sich Mutter [...]
Ich fuhr nicht [...]
Ich habe mich [...]
Mutter hatte mir [...]
Ich hielt mich [...]
Einmal war ich [...]
Es kommt vor, [...]
Meine Schwester weiß [...]
Ich erinnere mich [...]
Die Abende werden [...]
Die Tür der [...]
Ich hätte nicht [...]
Die Menschen um [...]
Draußen hängt der [...]
Dezember, Adventskalender. Morgens [...]
Die Nacht ist [...]
Wenn man wüsste, [...]
Mutter konnte krank [...]
Mutter wurde blass. [...]
Sie ließ Wasser [...]
Die Winterkälte ist [...]
Wenn sie die [...]
Ich fahre in [...]
Wie betäubt gehe [...]
Lebte sie ihre [...]
Ich habe eine [...]
Ich lege den [...]
Es ist ein [...]
Das erste Lied, [...]
In der Blechkiste [...]
Ich stehe um [...]
Liebe Mutter?
Ich war ungeduldig [...]
Ich bekam keine [...]
Wie immer, wenn [...]
Als ich an [...]
Ich glaube nicht, [...]
Ich darf nicht [...]
Ich fahre zur [...]
Achtzehn Grad, ich [...]
Es geht darum, [...]
Also bilde ich [...]
Als ich vierzehn [...]
Ich schrieb:
Die Eulen fliegen, [...]
Wir alle teilen [...]
Ich lebe ein [...]
Ich erinnere mich [...]
Ich wachte damit [...]
Der Wald ist [...]
Es stimmt. Ich [...]
Mutter hat mich [...]
Wir sahen uns [...]
Ich schaue mir [...]
Die Künstlerin verhält [...]
Vielleicht hat sich [...]
Sie hat sich [...]
Ich bilde mir [...]
Ich schäme mich [...]
Ruth hat Yellowstone, [...]
Es gab Taufbilder. [...]
Als Kind habe [...]
Das Schlimmste zwischen [...]
Die allegorische Verkörperung [...]
Ich darf nicht [...]
Alle Kinder sind [...]
Die Mutter der [...]
Ich hatte versucht, [...]
Ich bilde mir [...]
Reiß dir die [...]
Ich gehe ins [...]
Ich versuche, tiefversunkene [...]
Dass ich mit [...]
Die Schwelle zu [...]
Das Thema ist [...]
Ich hatte mich [...]
Mutter trug immer [...]
Mutter in der [...]
Ich denke an [...]
Narben verschwinden nicht, [...]
Ich rufe Mutter [...]
Mutter musste verzweifelt [...]
Ich habe niemals [...]
Als Kind unternahm [...]
Aber Mutter hatte [...]
Es wird behauptet, [...]
Ich wache im [...]
Ich halte vor [...]
Ruth schrieb, sie [...]
Gleichzeitig fragte ich [...]
Mutter hat wegen [...]
Mutter lachte, wenn [...]
Marguerite Duras schreibt [...]
Ich fahre in [...]
Ich habe sie [...]
Seit der zerbrochenen [...]
Ich fahre zur [...]
Ich zeichne Mutter. [...]
Wie hat Mutter [...]
Auf Rembrandts Gemälde [...]
Wenn ich ihr [...]
Das zu wagen.
Ich rufe mir [...]
Ich fahre am [...]
Ich schlafe unruhig [...]
Ich ziehe mich [...]
Ich stehe mit [...]
Ich gehe hinaus [...]
Wie ich meine [...]
Ich fahre durch [...]
Ich wünschte, ich [...]
Lange hatte ich [...]
Währenddessen hatte ich [...]
Ich fahre hoch, [...]
Ich hatte etwas [...]
Trotzdem traf mich [...]
Ich musste alle [...]
Es gibt so [...]
Ich kündige beide [...]
Mutter ist tot [...]
Diese drei Dinge [...]
Sie würde sich bei mir melden, wenn Mutter gestorben wäre. Das müsste sie doch?
Eines Abends habe ich Mutter angerufen. Es war Frühling, das weiß ich, denn am nächsten Tag machte ich mit Fred einen Spaziergang um Borøya herum, und es war warm genug für ein Picknick auf der Bank am Osesund. Wegen des Anrufs hatte ich in der Nacht davor fast nicht geschlafen, und ich war froh, am Morgen jemanden zu sehen, und dass dieser Jemand Fred war, ich zitterte noch immer. Ich schämte mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstoßen. Mutter ging nicht ans Telefon. Ich hörte, wie sie mich sofort wegdrückte. Und trotzdem rief ich wieder an. Warum? Ich weiß es nicht. Worauf hoffte ich? Ich weiß es nicht. Und warum schämte ich mich?
Zum Glück war ich am nächsten Tag mit Fred zu einem Spaziergang auf Borøya verabredet, mein inneres Zittern ließ nach, als ich mit Fred gesprochen hatte. Ich holte ihn am Bahnhof ab, und als er sich ins Auto setzte, erzählte ich ihm, was ich getan hatte, Mutter angerufen, ich schüttete Fred auf dem Weg zum Parkplatz und auf dem ganzen Weg um Borøya herum mein Herz aus, aber er fand es nicht seltsam, dass ich Mutter angerufen hatte. Ich finde es nicht seltsam, dass du mit deiner Mutter sprechen willst. Ich schämte mich immer noch, doch mit ihm zu sprechen half gegen das Zittern. Aber ich habe ihr nichts zu sagen, sagte ich. Ich weiß nicht, was ich gesagt hätte, wenn sie ans Telefon gegangen wäre, sagte ich. Vielleicht habe ich gehofft, dass ich es plötzlich gewusst hätte, wenn sie ans Telefon gegangen wäre und gesagt hätte: Hallo? Mit ihrer Stimme.
Ich hatte mich selbst in diese Lage gebracht. Ich selbst hatte mich entschieden, Ehe, Familie, Land zu verlassen, vor fast drei Jahrzehnten, auch wenn ich nicht das Gefühl gehabt hatte, eine Wahl zu haben. Ich hatte meine Ehe und meine Familie für einen Mann verlassen, dem sie nicht über den Weg trauten, und für einen Beruf, den sie fragwürdig fanden, ich stellte Bilder aus, die sie beleidigend fanden, ich war nicht nach Hause gekommen, als Vater krank geworden war, ich war nicht nach Hause gekommen, als Vater gestorben war, für sie war das Entsetzliche, dass ich gegangen war, dass ich sie beleidigt hatte, dass ich nicht zu Vaters Beerdigung gekommen war, für mich war das Entsetzliche lange vorher passiert. Sie verstanden es nicht oder wollten es nicht verstehen, wir verstanden einander nicht, und doch rief ich Mutter an. Ich rief Mutter an, als wäre das ganz normal. Natürlich ging sie nicht ans Telefon. Was hatte ich gedacht? Was hatte ich erwartet? Dass sie ans Telefon gehen würde, als ob das ganz normal wäre. Für wen hielt ich mich, dachte ich, ich wäre wichtig, hatte ich gedacht, dass sie sich freuen würde? In Wirklichkeit ist es nicht wie in der Bibel, wo zur Heimkehr des verlorenen Kindes ein Fest gefeiert wird. Ich schämte mich, weil ich gegen meinen Schwur verstoßen hatte, und ich schämte mich Mutter und Ruth gegenüber, denn garantiert hatte sie Ruth von meinem Anruf erzählt, davon, dass ich meinen Schwur nicht halten konnte, während sie, meine Mutter und meine Schwester, ihren Schwur hielten und nicht einmal im Traum daran denken würden, mich anzurufen. Sie mussten erfahren haben, dass ich zurück war. Sicher googelten sie mich regelmäßig, wussten, dass eine Retrospektive meiner Bilder vorbereitet wurde, dass ich jetzt eine norwegische Nummer hatte, sonst wäre Mutter ans Telefon gegangen. Sie waren stark und konsequent, während ich schwach war und kindisch, ich fühlte und benahm mich wie ein Kind. Und außerdem hatten sie keine Lust, mit mir zu sprechen. Aber hatte ich Lust, mit Mutter zu sprechen? Nein! Aber noch einmal, ich war es, die sie angerufen hatte! Ich schämte mich, weil etwas in mir mit ihr sprechen wollte und weil ich ihr durch meinen Anruf gezeigt hatte, dass etwas in mir mit ihr sprechen wollte; brauchte ich etwas von ihr? Was sollte das sein? Vergebung? Vielleicht bildete sie sich das ein. Aber ich hatte keine Wahl gehabt! Warum rief ich sie dann an, was wollte ich eigentlich? Ich weiß es nicht! Mutter und Ruth glaubten, ich riefe an, weil ich bereute, sie hofften, dass ich bereute und dass ich litt, weil ich bereute, und dass ich alles wiedergutmachen wollte, aber Mutter ging nicht ans Telefon, denn so leicht sollte es nicht sein, dass sie und Ruth mich mit offenen Armen empfangen und aufnehmen würden, nur weil ich wieder da, wieder in Norwegen war und Kontakt haben wollte, o nein. Jetzt würde ich merken, was ich von meiner Entscheidung hatte und sie bereuen. Aber ich bereute sie nicht! Für sie sah es aus, als ob ich eine Wahl gehabt hätte, und das irritierte mich, aber Irritation ist leicht zu ertragen, Irritation ist nichts im Vergleich zu Scham, warum dieses lähmende Schamgefühl? Es half mir, mit Fred zu sprechen. Wir gingen über die Schieferwege am Meer, das voller schwimmender Enten und Schwäne war, an der Kurve beim Osesund fand ich Huflattich, ich sagte mir, das bringe Glück. Zu Hause stellte ich den Huflattich in einen Eierbecher mit Wasser, aber er war bald verwelkt. Jetzt ist Herbst, der erste September. Mein erster norwegischer Herbst seit dreißig Jahren.
Ich hatte getrunken, als ich anrief, nicht viel, zwei Glas Wein, aber ich hatte getrunken, sonst hätte ich nicht angerufen. Ich hatte die Nummer über die Onlineauskunft gefunden und wählte sie mit zitternden Fingern. Wenn ich nachgedacht hätte, vernünftig gewesen wäre, hätte ich nicht angerufen. Wenn ich vorher klar gedacht, mir die wahrscheinlichen Szenarien vorgestellt hätte, die folgen würden, wenn Mutter ans Telefon ginge, hätte ich nicht angerufen, ich hätte gewusst, dass es für uns beide zu nichts Gutem führen würde. Es war ein unrealistischer, irrationaler Anruf. Deshalb wurde er nicht beantwortet. Meine Mutter und meine Schwester waren rationale Menschen, ich war irrational, war das der Grund, warum ich mich schämte? Wenn ich ein rational denkender Mensch wäre, hätte ich gewusst, dass sowieso nichts dabei herausgekommen wäre, was man ein Gespräch nennen könnte, wenn Mutter ans Telefon gegangen wäre. Ein Gespräch zwischen Mutter und mir war unmöglich geworden. Aber das hat meinen irrationalen Impuls nicht verhindert, ich wollte nicht klar denken, ich wollte diesem plötzlichen und für mich selbst überraschend starken Impuls folgen. Aus welcher Tiefe kam er? Das versuche ich herauszufinden.
Ich habe mit meiner Mutter seit dreißig Jahren nichts geführt, was ein Gespräch genannt werden kann, vielleicht habe ich das noch nie getan. Ich lernte Mark kennen, bewarb mich heimlich an dem Institut in Utah, wo er unterrichtete, ich wurde angenommen, ich zog mit ihm übers Meer, fort von meiner Ehe, meiner Familie, das passierte im Laufe eines einzigen heißen Sommers. Es stimmt, was gesagt wird, dass ein einziger Blick ausreichen kann, ein kurzer Augenblick, und ich brannte mit nicht zu löschender Flamme; es wurde als Verrat und Schlag ins Gesicht verstanden. Ich schrieb ihnen damals einen langen Brief und erklärte, warum ich getan hatte, was ich getan hatte, ich schüttete ihnen mein Herz in einem Brief aus, aber die kurze Antwort, die ich darauf bekam, schien, als sei dieser Brief vorher niemals geschrieben worden. Eine kurze, stumpfe Antwort mit Drohungen der Verbannung, aber der Erklärung, dass mir, wenn ich »zur Vernunft« kämeund sofort die Heimreise anträte, vielleicht verziehen werde. Sie schrieben, als ob ich ein Kind wäre, über das sie ein Verfügungsrecht besäßen. Sie zählten auf, wie viel Geld und emotionale Kraft es gekostet hatte, mich großzuziehen, ich war ihnen einiges schuldig. Sie meinten das wortwörtlich, das begriff ich: dass ich in ihrer Schuld stand. Sie glaubten allen Ernstes, dass ich meine Liebe und meine Arbeit aufgeben würde, weil sie mir die Tennisstunden bezahlt hatten, als ich ein Teenager war. Sie nahmen mich nicht ernst, sie versuchten nicht, mich zu verstehen, stattdessen drohten sie mir. Vielleicht hatten ihre eigenen Eltern so große Macht über sie gehabt, vielleicht hatten sie selbst vor deren Worten so gezittert, vor allem vor den geschriebenen, dass sie glaubten, ihre eigenen würden auf mich eine ebenso starke Wirkung haben. Ich schrieb wieder einen langen Brief und erklärte, was das Kunststudium für mich bedeutete, wer Mark war. Wieder antworteten sie, als ob mein Brief nicht geschrieben worden wäre, als ob sie ihn nicht gelesen hätten, sie zählten Ausgaben auf, was die Wohnung gekostet hatte, die sie gekauft hatten, damit ich während meines Jurastudiums in der Nähe der Universität wohnen konnte, was meine Hochzeit gekostet hatte, die ich jetzt mit meinem unreifen Verhalten vor aller Welt lächerlich machte, ich ließ einen frischgebackenen Ehemann im Stich, beschämte seine Familie, stürzte sie in Unglauben. Ich müsse mir »die Gedanken, die dieser M« in mir gesät habe, aus dem Kopf schlagen. Nur wenigen Auserwählten gelinge es, von ihrer Kunst zu leben, es liege auf der Hand, dass ich nicht zu diesen gehörte. Das tat mir weh, ebenso dass sie ehrlich zu glauben schienen, solche Worthülsen würden mich dazu bringen, mein neues Leben aufzugeben, zurückzukehren zu emotionaler Erpressung, mich ihrer Form und ihren Erwartungen anzupassen, was für mich einer Selbstverstümmelung gleichkam. Ich antwortete nicht auf diesen Brief, im Dezember schrieb ich ihnen einen Weihnachtsgruß, eine freundliche, aber distanzierte Beschreibung der kleinen Stadt, in der wir wohnten, des Hauses, des winzigen Gartens, in dem wir Tomaten anpflanzten, ich erzählte von den Jahreszeiten in Utah. Ich schrieb, als wäre ihr voriger Brief nicht geschrieben worden, ich tat, was sie getan hatten, fröhliche Weihnachten! Ich bekam einen ähnlichen Brief zurück, kurz, distanziert, fröhliches neues Jahr! Ich schickte ihnen ab und zu einen Ausstellungskatalog oder eine Postkarte von einer Reise, ich schrieb ihnen, als John geboren war, und ich schickte ihnen ein Bild von ihm. Er bekam einen Brief zurück, Lieber John, willkommen auf der Welt, Gruß von Oma, Opa und Tante Ruth. Zu seinem ersten Geburtstag bekam er einen silbernen Becher mit der Post, Gruß von Oma, zum zweiten einen silbernen Löffel, zum dritten eine Gabel. In den ersten Jahren kam es vor, dass meine Schwester kurze Mitteilungen über die Gesundheit unserer Eltern sandte, wenn etwas Besonderes anlag, eine Nierensteinoperation, ein Sturz auf dem Eis, keine Anrede, keine Fragen, nur ein Satz über den physischen Zustand meiner Eltern, Ruth. Solange sie relativ gesund waren, kam das nur selten vor. Aus allem war herauszulesen, dass Ruth Mitleid verdient hatte, da sie sich allein um die beiden kümmern musste, dass ich egoistisch war, weil ich weggegangen war, ohne mir Gedanken zu machen. Sie schrieb, so empfand ich es, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, aber vielleicht empfand ich es so, weil etwas in mir ein schlechtes Gewissen hatte? Ich antwortete, gute Besserung. Aber nachdem die Triptychen Kind und Mutter 1und Kind und Mutter 2in ihrer Stadt und meiner Stadt ausgestellt worden waren, in einer der angesehensten Galerien, vielbesucht und von der Presse beachtet, versiegten Ruths knappe Mitteilungen und Mutters Feiertagsgrüße. Auf Umwegen, über Mina, deren Mutter noch immer in der Nachbarschaft wohnte, erfuhr ich, dass sie die Bilder empörend fanden, dass ich der Familie Schande bereitete, vor allem Mutter. John be-kam weiterhin Geburtstagsbriefe, aber sie waren nicht mehr so zugewandt, ansonsten herrschte Schweigen. Ich wusste nichts über das alltägliche Leben meiner Eltern. Ich ging davon aus, dass es von Routine geprägt war, wie bei den meisten älteren, gutsituierten Menschen, sie wohnten noch immer in dem Haus, in das sie gezogen waren, als ich ins Teenageralter kam, in einem vornehmeren Stadtviertel als dem, in dem das Haus meiner Kindheit stand, ich hatte jedenfalls nichts anderes gehört. Ich hätte davon erfahren, wenn das Haus verkauft worden wäre und sie Ruth und mir schon einen Anteil unseres Erbes ausgezahlt hätten, sie waren sehr korrekte Menschen, wenn es um finanzielle Dinge ging. Es wäre leicht gewesen, sie vor mir zu sehen, in den Zimmern des Hauses, in dem ich selbst gewohnt hatte, aber ich sah sie nicht vor mir. Vor vierzehn Jahren, als ich in einem gemieteten Studio in Soho in New York stand und arbeitete und Mark im Presbyterian Hospital lag, teilte Ruth mir mit, Vater habe einen Schlaganfall gehabt und liege im Krankenhaus, mehr stand dort nicht, sie bat mich nicht, zu kommen. In den nächsten drei Wochen schickte sie mehrere kurze Nachrichten über Vaters Zustand, verwendete teilweise unverständliche medizinische Terminologie, nichts Einladendes lag in ihren Worten, keine Anrede, keine Nennung meines Namens, kurze Mitteilungen, zu denen sie sich gezwungen fühlte, ich dachte, sie wollte nicht, dass ich kam. Meine Anwesenheit wäre eine Zumutung. Ich hatte keine Rolle zu spielen, es wäre allen unangenehm, wenn ich da wäre, mir selbst war die bloße Vorstellung unangenehm, ich wünschte Vater gute und schnelle Besserung. Am 20. November schrieb sie, er sei tot, das überraschte mich, ich stand noch immer im Atelier in Soho, Mark lag noch immer im Presbyterian, ich fuhr nicht hin, ich dachte nicht daran, hinzufahren und zur Beerdigung zu gehen. Sie baten mich auch nicht darum, Ruth schrieb, er werde dann und dann begraben werden, da und dort, Punkt. Am Tag nach der Beerdigung kam eine Nachricht von Ruths Telefon, aber sie war von beiden verfasst, dort stand wir, und sie war unterschrieben mit Mutter und Ruth, ein Abschiedsgruß. Mutter habe es sehr getroffen, dass ich nicht an Vaters Krankenbett heimgekehrt, nicht zu Vaters Beerdigung gekommen war, es habe sie fast umgebracht, stand dort, in gewisser Weise hatte ich sie symbolisch getötet, so hatte sie es formuliert, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ich habe diese Mitteilung nicht gespeichert, ich habe sie damals sofort gelöscht. Das bereue ich jetzt, es wäre interessant, sie heute noch einmal zu erleben, ich meine, sie jetzt noch einmal zu lesen, im September. Ich verstand diese Mitteilung als Vorwand, mich endgültig zu verstoßen und mir das Endgültige zur Last zu legen. Die Geburtstagsgrüße an John versiegten.
Wir hatten nicht länger »kaum Kontakt«, wir waren jetzt verfeindet, das war mir klar, aber es beeindruckte mich nicht, ich arbeitete, ich kümmerte mich um Mark und um John. Das Haus wurde verkauft, Mutter kaufte eine Wohnung, ich erhielt eine Abrechnung, einen Geldbetrag und einen sachlichen Brief von einem Anwalt, ohne Mutters neue Adresse, aber gut. Wenn wir zu einem kurzen Besuch im Land waren, sagten wir ihnen nicht Bescheid, als Mark starb, sagte ich ihnen nicht Bescheid, sie hatten ihn nie kennengelernt und hatten nie den Wunsch geäußert, ihn kennenzulernen. Als John vor vier Jahren nach Europa ging, nach Kopenhagen, sagte ich ihnen nicht Bescheid, warum hätte ich das tun sollen, sie hatten ihn nie kennengelernt. Ich sprach mit Mina, ich sprach mit Fred. Aber als das Skogum-Kunstmuseum beschloss, in zwei Jahren eine große Retrospektive meiner Werke zu zeigen, begann die Stadt meiner Kindheit, mich in meinen Träumen heimzusuchen. Als es immer häufiger zu Kuratorengesprächen darüber kam, welche Werke ausgestellt werden sollten, suchte sie mich auch tagsüber heim. Ich hatte versprochen, mindestens ein neues Bild fertigzubekommen, aber ich brachte nichts zustande, ich stand tagelang vor unterschiedlichen Leinwänden, doch mir schien alles belanglos. Mir fiel auf, dass ich seit meiner manischen Phase nach Marks Tod nichts Wesentliches mehr produziert hatte, nicht seit ich im Atelier gestanden hatte, um mit meiner Trauer um ihn fertigzuwerden. Die Trauer war jetzt weniger intensiv, war das der Grund dafür, und dass ich jetzt allein wohnte – in allem, was uns gemeinsam gehört hatte? Ich beschloss, nach Hause zu ziehen, ich nenne Norwegen noch immer mein Zuhause, nur für eine gewisse Zeit, bis zur Ausstellungseröffnung. Ich sagte ihnen nicht Bescheid, warum hätte ich das tun sollen? Ich vermietete das Haus in Utah, mit den Einnahmen und der Witwenrente von Mark konnte ich eine schöne Wohnung in dem neuen Stadtteil am Fjord bezahlen, mit einer eingebauten Dachterrasse, die ich als Atelier nutzen konnte. Jetzt wohne ich in derselben Stadt wie Mutter, viereinhalb Kilometer von ihr entfernt, ich habe ihre Adresse über die Onlineauskunft herausgefunden, sie wohnt in der Arne Bruns gate 22, das ist näher an der Innenstadt als die Häuser, in denen ich aufgewachsen bin. Über die Onlineauskunft fand ich auch ihre Telefonnummer heraus.
Die ersten Monate verbrachte ich vor allem in der Wohnung, ich kannte die Stadt nicht mehr, ich fühlte mich fremd, außerdem war später Winter. Grauer Nebel trieb über den teilweise vereisten Fjord, die Hügelkämme am Horizont ähnelten schlafenden Dalmatinern, die Bürgersteige waren von Eisbuckeln bedeckt. Wenn ich ein seltenes Mal nach draußen ging, kam es vor, dass mir Mutters Anwesenheit fast fünf Kilometer weiter bewusst war. Im Gegensatz zu den dreißig vergangenen Jahren bestand jetzt die konkrete Möglichkeit, ihr über den Weg zu laufen. Aber sie war sicher nicht viel unterwegs bei diesem Wetter, bei dieser Kälte, bei diesen Eisbuckeln, sie wollte sich doch nicht den Oberschenkelhals brechen. Ältere Frauen haben Angst, sich den Oberschenkelhals zu brechen. Sie musste jetzt weit in ihren Achtzigern sein. Ich stand eines Nachmittags vor dem Fahrkartenautomaten an der Haltestelle, als eine ältere Frau fragte, ob ich ihr behilflich sein könne. Ich hatte gerade gelernt, die richtigen Tickets zu finden, sie stand neben mir mit einem Vertrauen, das mich berührte, mit offener Handtasche und offenem Portemonnaie. Als sie ihre Fahrkarte bekommen hatte, fragte sie, ob ich ihr die Treppe hoch helfen könne, ich konnte nicht nein sagen. Sie fasste meinen Arm mit der einen Hand, das Geländer mit der anderen, ihre Einkaufstasche hing ihr um den Hals und baumelte bei jedem Schritt hin und her, sie ging so langsam, dass ich Angst hatte, meine Bahn zu verpassen, aber ich konnte sie nicht loslassen. Ich zählte die Treppenstufen, um mich zu beruhigen, es waren zweiundzwanzig. Auf dem Bahnsteig bedankte sie sich überschwänglich, ich sagte, keine Ursache, sie wolle ihre Tochter besuchen, sagte sie, und ich wurde verlegen.
Hatte ich Mutter angerufen, um zu sehen, wer sie jetzt ist? Um mit ihr zu reden, als wäre sie nicht meine Mutter, sondern ein ganz normaler Mensch, irgendeine Frau an einer Haltestelle? Das wäre unmöglich. Nicht weil sie mit all ihren Eigenheiten kein ganz normaler Mensch ist, sondern weil eine Mutter für ihre Kinder niemals ein ganz normaler Mensch sein kann, und ich bin eines ihrer Kinder. Egal, ob sie jetzt anders ist, sich verändert hat, für mich wird sie immer die Mutter von damals sein. Vielleicht findet sie es schrecklich, dass es so ist, Mutter zu sein ist ein Kreuz. Mutter hat es satt, Mutter zu sein, meine Mutter zu sein, und auf eine Weise ist sie das ja auch nicht mehr, aber solange die Tochter lebt, ist sie nicht sicher. Vielleicht hatte Mutter immer das Gefühl, meine Mutter zu sein sei unvereinbar damit, sie selbst zu sein. Vielleicht hatte Mutter schon seit meiner Geburt den Wunsch, nicht meine Mutter zu sein. Aber es gab kein Entrinnen, sosehr sie sich auch bemühte. Oder vielleicht ist es ihr gelungen, vielleicht hat sie während meiner langen Abwesenheit vergessen, dass sie meine Mutter ist, und dann rufe ich auf einmal an und erinnere sie daran. Für sie muss das sehr plötzlich passiert sein.
Sie wird sagen, dass sie jetzt eine andere ist als damals. Es ist verständlich, dass Eltern von ihren Kindern anders gesehen werden wollen, wenn die Kinder reifer und klüger geworden sind. Aber niemand kann von den eigenen Kindern erwarten oder verlangen, dass diese ihr Bild der Mutter aufgeben, das Bild ihrer Kindheit, und niemand kann von den eigenen Kindern verlangen, dass sie das Bild der Mutter ausradieren, das in den ersten dreißig Jahren ihres Lebens geschaffen wurde, um die Mutter unverstellt und objektiv als eine siebzig- oder achtzigjährige Frau zu sehen.
Es ist leichter für die, die ihre Eltern regelmäßig sehen. Die meisten meiner Bekannten sehen ihre Eltern vielleicht heute mit milderen Augen als früher, da die Kanten der Eltern durch die Höhen und Tiefen des Lebens abgeschliffen worden sind, sie sind nachsichtiger und versöhnlicher gestimmt, und einige haben erlebt, dass die Eltern den Grund für ihre Fehltritte erklärt haben, und einige wenige haben erlebt, dass die Eltern sie um Entschuldigung gebeten haben. Vielleicht erlebt Ruth Mutter etwas wärmer und klüger, das tut Ruth und Mutter sicher gut. Langsam wird das alte Bild durch ein neueres ersetzt, oder das Bild der jungen und das der alten Mutter verschwimmen miteinander, und mit dem aus der Überlagerung entstehenden Bild lässt es sich leichter leben. Die, die regelmäßig mit ihrer Mutter Kontakt haben und mit ihr über die Vergangenheit sprechen, tragen dazu bei, die Vergangenheit neu zu erschaffen, gemeinsam wird eine Geschichte geschrieben. So ist es vermutlich. Ruth erinnert sich vermutlich so, wie Mutter will, dass sie sich erinnert.
Aber ich habe auch Geschichten darüber gehört, dass die Eigenschaften der Mutter, die für das Kind in der Kindheit die schlimmsten waren, sich im Laufe ihres Lebens noch stärker ausgeprägt haben, so sehr, dass sie am Ende vollständig die Persönlichkeit der Mutter beherrschen. Minas Mutter hat in all den Jahren tagaus, tagein auf Mina herumgehackt und sich über sie beklagt, und sie tut es noch immer, noch schärfer und unbarmherziger als früher. Mina besucht sie jeden Tag mit Frikadellen und Suppe im Krankenhaus und wird mit Vorwürfen und Gemeinheiten empfangen. Was treibt Mina an? Wenn sie aufschriee, weil alles so ungerecht ist, würde die Mutter eine Bestätigung für ihr Lebens- und Minabild erhalten, sagt Mina, und das gönne sie ihr nicht. Dass die Worte der Mutter auf Mina anscheinend keinen Eindruck machen, ist Minas Strafe für die Mutter. Kind und Mutter.
Als ich beschlossen hatte, nach Hause zu ziehen, ging die Arbeit besser voran, ich begann mit einem Bild, das mir vielversprechend erschien, ich nahm es mit über das Meer, aber als alles Praktische, was mit dem Umzug zusammenhing, erledigt war und ich wieder anfangen wollte zu arbeiten, ging es nicht. Ich begann mit einem anderen, einem frühlingshafteren Bild, dann rief ich Mutter an, dann kam alles zum Stillstand. Ich wollte Museen und Galerien besuchen, wie ich das immer tue, wenn ich nicht weiterkomme, aber ich spürte eine Angst vor den öffentlichen Räumen, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Ich war nach Marks Tod so viel allein gewesen, dass ich menschenscheu geworden war, oder lag es daran, dass ich die Stadt nicht mehr kannte, oder daran, dass Mutter in dieser Stadt wohnte und ich Angst hatte, ihr über den Weg zu laufen? Draußen fielen mir alle älteren Frauen auf. Sie steigen langsam und mit krummem Rücken in die Bahn. Halten sich an den Handgriffen fest, lehnen sich an Wände und Türen, richten sich mühsam auf, wenn sich die Bahn nähert, überprüfen den Inhalt ihrer altmodischen Handtaschen, um sich davon zu überzeugen, dass alles noch da ist, Portemonnaie, Brille, Schlüssel, ich habe auch schon damit angefangen, die Brille? In der Apotheke sitzen sie mit verschlossenen Gesichtern auf den wenigen Stühlen, lesen keine Zeitung, schauen nicht auf ihr Telefon, fortgewandt von der Welt oder, andersherum, dem Nächstliegenden zugewandt, den Nummernzettel zwischen den zittrigen Fingern, der Tafel, auf der immer neue rote Zahlen auftauchen, alles passiert so schnell, sie fürchten, die Zahl könnte verschwinden, ehe sie es geschafft haben, aufzustehen und an die Theke zu treten, um die notwendige Medizin zu bekommen. Alte Körper versagen. Versagt Mutters Körper? Warum will ich das wissen? Hat Mutter ein Hörgerät? Warum will ich das wissen? Das frage ich mich. Man interessiert sich besonders für Informationen, die einem nicht zugänglich sind. Aus Mangel an Informationen phantasiere ich mir Mutter zusammen. Was ist es, was möchte ich wissen? Ich möchte wissen, wie es ihr geht. Nicht aus Fürsorglichkeit, nicht so, sondern: Wie hast du das alles erlebt? Wie war es für dich? Und wie erlebst du die Situation jetzt, die existenzielle, die wir teilen, was denkst du über unsere Situation? Werde ich das niemals erfahren? Wird sie niemals erfahren, wie es für mich war, wie es für mich ist? Sie muss sich doch Fragen stellen. Danach, was ich denke, wie es mir geht, egal, wie wütend, wie beleidigt sie ist, muss sie sich doch diese Fragen stellen, denn ich bin trotz allem ihr fast sechzig Jahre altes Kind.
Wie alt ist Mutter jetzt? Vor vielen Jahren kam eine Nachricht von Ruth: Mutter wird heute siebzig. Ich antwortete, grüß sie von mir und herzlichen Glückwunsch. Das muss vor Vaters Tod gewesen sein, das heißt, sie ist jetzt fünfundachtzig oder noch älter. Ich erinnere mich nicht an ihr Geburtsjahr und auch nicht an ihren Geburtstag, und so etwas lässt sich gar nicht so leicht herausfinden, wie man vielleicht meint. Ich könnte jemanden aus der Familie anrufen und fragen, Ruth oder Mutters Bruder, den finde ich bei der Onlineauskunft, aber ich kann nicht anrufen und nach Mutters Geburtstag fragen, das geht einfach nicht. Er ist im Herbst. Ich erinnere mich an ihren fünfundvierzigsten Geburtstag, der muss es gewesen sein, denn Thorleif war dabei, wir standen im Garten unter den Obstbäumen. Vielleicht erfinde ich das. Aber ich erinnere mich an meine Atemschwierigkeiten, an den Druck im Zwerchfell, den ich zu solchen Gelegenheiten hatte, immer dann, wenn sich die Familie öffentlich zeigte, ich hatte dann das Gefühl, dass mir ein Drehbuch in die Hände gedrückt worden war, alle erwarteten, dass ich meine Rolle spielte, die brave Anwaltstochter, die Anwaltsgattin, die Jurastudentin, das Unbehagen dabei und das Unbehagen angesichts der anderen; Thorleif, Ruth und andere Gäste hielten sich an das Drehbuch, das von Mutter und Vater verfasst worden war, vor allem von Vater; das Gefühl der Unfreiheit, das Gefühl, dass ich nicht ich selbst sein konnte, und übrigens wusste ich nicht, wer ich war, und ich konnte es dort, wo ich war, auch nicht herausfinden, im Garten von Mutter und Vater, auf dem Fest von Mutter und Vater; ich erinnere mich noch genau, das Gefühl von Gefangenschaft und eine schwelende Frustration, ich hatte Angst, sie irgendwann nicht mehr zurückhalten zu können, und was dann? Thorleif mit seinem tiefen Respekt vor Vater, Thorleif, der Vater nach dem Mund redete, Thorleifs Lachen, wenn Vater sich über meine »Künstlerkapriolen« lustig machte, das Augenverdrehen, weil ich mich an der Hochschule für Kunst und Gewerbe bewerben wollte, der Hochschule für Brunst und Gemüse, wie er es nannte, Thorleif lachte. Ich dachte schon früh, mein Vater sei nicht mein Vater. Als ich die Geschichte von Hedvig hörte, die nicht Hjalmar Ekdals Tochter war, dachte ich: So ist es! Nur dass ich mich nicht erschießen wollte, wenn es herauskäme, ich würde erleichtert sein, mich frei fühlen, glaubte ich. Mutter war mit einem anderen zusammen gewesen, vielleicht nur eine Nacht, sie war schwanger geworden, und Vater ahnte, dass es einen anderen gegeben haben musste, denn ich hatte keine Ähnlichkeit mit ihm, und immer, wenn Mutter mich ansah, wurde sie an ihre Untreue erinnert, schämte sich und fürchtete, alles könnte entdeckt werden, so musste es ein, das erklärte alles. Warum sie zusammenzuckte, wenn ich unerwartet das Zimmer betrat. Du sollst mich nicht so erschrecken! Vater erzählte zum hundertsten Mal den Witz über die Diebe, die ein Kunstmuseum ausrauben wollten, der eine fragt den anderen, woher sie wissen sollen, welche Bilder die wertvollsten sind, die hässlichsten, ha, ha. Es ist nicht schon Kunst, bloß weil es niemand versteht, ha, ha. Wenn du als Erwachsener nicht konservativ bist, hast du kein Hirn. Ich war die, die kein Hirn hatte. Meine Versuche des Widerspruchs wurden mit einem herablassenden Lächeln beantwortet, jeder Keim von Protest wurde als Ausdruck eines unreifen Wunsches nach Opposition um der Opposition willen verstanden, den ich nur unternahm, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und ausgelacht zu werden. Thorleif lachte, und mein Hals war wie zugeschnürt, aber das ist alles verbrannt in mir. Mutters flammender Blick, als sie begriff, dass ich keine Rede halten würde, Vaters gletscherblauer, glasiger Blick, das macht nichts mehr mit mir. All das ist verbrannt in mir.
Sie wissen, dass ich in der Stadt bin. Mina hat angerufen, sie ist Ruth am See begegnet, und als sie ihr erzählte, dass ich für einige Zeit nach Hause gezogen bin, wusste Ruth schon davon.
Sie lassen nichts von sich hören. Sie sind prinzipienfest und stolz, sie haben damals, als ich nicht zu Vaters Beerdigung gekommen bin, eine Entscheidung gefällt, und damit war es entschieden.
Ich habe Mutter angerufen. Es war abends, es war vielleicht zehn Uhr, ich ging davon aus, dass sie allein war. Ich stellte mir vor, dass sie vor dem Fernseher saß. Nein, so habe ich es mir erst im Nachhinein vorgestellt, ich sah kein so konkretes Bild vor mir, dass ich sie anrief, war ein spontaner Impuls, ich hatte die Idee, und ich rief an, ehe ich es mir anders überlegte. Ich hatte zwei Glas Wein getrunken. Mutter ging nicht ans Telefon. Das heißt, mein Anruf wurde zurückgewiesen. Vielleicht hatte Ruth meine Nummer in Mutters Telefon blockiert? Ruth meint bestimmt, dass es Mutter nicht guttun würde, mit mir zu reden, und das ist sicher richtig, in gewisser Hinsicht. Ruth weiß, dass ich in der Stadt bin, und sie hat Angst, ich könnte Mutter anrufen. Sie will jeglichen Kontakt verhindern. Meine Schwester beschützt Mutter, und sie beschützt sich selbst, indem sie meine Nummer in Mutters Telefon blockiert. Ich glaube nicht, dass Mutter das von sich aus tun würde. Sie ist in technischen Dingen immer hilflos gewesen, so erinnere ich mich daran. Obwohl sich viel verändert haben kann, vor allem seit Vaters Tod. Mutter ist in praktischen Dingen vielleicht geschickter geworden, doch ich bilde mir ein, dass Ruth das meiste erledigt, vor allem, wenn es um das Telefon geht. Aber