Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 510 - Karin Weber - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 510 E-Book

Karin Weber

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Beschreibung

Der berühmte Romanschlager aus der goldenen Zeit der Unterhaltung - komplett als Trilogie in der BASTEI-Reihe "Die Welt der Hedwig Courths-Mahler"! Lesen Sie jetzt den ersten Teil des spannenden, großen Familienromans unter dem Titel:

Die arme Verwandte

"Gib ihr halt ein bisschen Geld, Mutter. Damit sie sich wenigstens einen vernünftigen Mantel kaufen kann." Betont hochmütig musterte Ella ihre arme Verwandte. "Ich finde es empörend, dass sie jetzt einfach zu uns kommt. Als wenn es unsere Schuld ist, dass ihre Mutter und Vater... Verwandtschaft um drei Ecken herum, was ist das schon!" "Ich werde gehen", stieß Ragnhild hervor. Sie war so müde, dass sie nicht mal mehr die Kraft hatte, sich über diese schnöde Behandlung zu empören. Gestern hatte man ihre Eltern begraben, und es war ein grauer, regnerischer Tag gewesen, als der Totengräber die Erde über die schlichten Särge schaufelte.

Ragnhilds Schicksal lesen Sie in diesem großartigen Roman, der mitten aus dem Leben gegriffen und mit großer Gemütstiefe geschrieben ist. Es ist der erste Teil der berühmten Trilogie!

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Seitenzahl: 137

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Inhalt

Cover

Impressum

Die arme Verwandte

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Coy_Creek / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0098-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die arme Verwandte

Wo findet sie eine Zuflucht?Erster abgeschlossener Teil der Trilogie

Nach dem tragischen Tod ihrer Eltern kann die zarte, hübsche Ragnhild Nielsen in der feudalen Villa ihrer Verwandten unterkommen. Aber ihre Erleichterung über deren Hilfsbereitschaft währt nur kurz, denn von früh bis spät wird sie dort schikaniert. Besonders ihre Cousine Ella hasst sie und macht ihr das Leben zur Hölle. Ragnhild muss mehr arbeiten als alle anderen Dienstboten zusammen. Sie wird gehänselt und beschimpft, doch sie erträgt es geduldig.

Dann bricht Ragnhild eines Tages in der Waschküche zusammen und erleidet Verbrennungen. Glücklicherweise ist gerade der junge Professor Hilmer Imhoff zu Besuch, den Ella heiraten will. Er kümmert sich um Ragnhild – und kann sie anschließend nicht vergessen …

Ragnhild Nielsen blieb vor dem großen schmiedeeisernen Tor stehen, das den herrschaftlichen Besitz der Kampes von der übrigen Welt abgrenzte. Es war hoch und wirkte sehr unnahbar, als wolle es schon durch seine kunstvolle Arbeit zeigen, dass hier bessere Menschen wohnten, die nichts mit den anderen zu tun haben wollten.

Das Mädchen setzte den schäbigen alten Koffer auf das Pflaster und starrte den Kiesweg entlang, der irgendwo vor dem Haus endete. Sie hatte die Villa noch nie betreten, aber ihre Mutter wusste viel von dem Luxus zu erzählen, den ihre Verwandten dort trieben.

„Onkel Lüder verdient viel Geld“, hatte sie ihr oft gesagt, und Ragnhild wunderte sich, dass sie diese Feststellung ohne Bitterkeit treffen konnte. Ihre Mutter war eine großartige Frau gewesen.

Und gestern hatte man sie begraben, zusammen mit dem Vater.

„Geh zu Onkel Lüder, er wird dich aufnehmen.“ Ragnhilds Mutter hatte nicht daran gezweifelt, und ihrer Tochter blieb gar nichts anderes übrig, als den letzten Rat der Sterbenden zu befolgen.

Sie hob zaghaft die Hand, um den Türgriff herunterzudrücken. Das Tor war verschlossen. Ragnhild hätte es sich eigentlich denken können, dass man hier nicht einfach so ein und aus gehen konnte.

Rechts an dem Pfeiler aus Sandstein befand sich eine Klingel. Ragnhild drückte sie zaghaft und erschrak, als eine verzerrt klingende Stimme aus der Lautsprecheranlage sich nach ihren Wünschen erkundigte.

„Ich bin Ragnhild Nielsen“, sagte sie. Die Straße war leer. Nur ein Dienstmädchen, das einen kostbaren Pudel ausführte, blieb auf der anderen Straßenseite stehen und schaute neugierig zu ihr hinüber.

In diesem Augenblick schnarrte der Türöffner, aber Ragnhild drückte zu spät. Das Summen verstummte wieder, und das Tor blieb verschlossen.

„Sie müssen sofort drücken“, erklärte das freundliche Mädchen, das über die Straße gekommen und neben ihr stehen geblieben war. „Wollen Sie zu den Kampes in Stellung?“ Sie warf einen bezeichnenden Blick auf Ragnhilds schäbigen Koffer. „Suchen Sie sich lieber etwas anderes, bei denen hält es keine lange aus. Eine Freundin von mir war da mal zwei Monate, aber dann hat sie dem alten Drachen den Krempel vor die Füße geworfen. Die Herrschaften glauben nämlich, sie seien bessere Menschen.“

Ragnhild Nielsen errötete, als ihr klar wurde, dass dieses Dienstmädchen sie für ihresgleichen hielt.

„Meine Herrin sucht noch jemanden, soll ich Sie empfehlen?“, bot ihr das Mädchen freundlich an. „Einen Tag in der Woche frei und immer pünktlich Feierabend. Bei den Kampes, da kriegen Sie keine Ruhe.“

Jemand kam den Kiesweg herunter, ein älterer Mann, der den Kopf steif in den Nacken gelegt hatte.

„Das ist Johann!“ Die Fremde kannte seinen Namen. „Der ist um keinen Deut besser als die Herrschaften. Ihm untersteht das Personal. Sie glauben gar nicht, wie er alle schikaniert.“

Johann kam gemessen näher, aber selbst aus der Entfernung spürte Ragnhild seine Missbilligung. Jemand, der zur Familie gehörte, hatte nicht auf der Straße zu stehen und zu klatschen.

„Na, wie ist es, soll ich mit meiner Gnädigen sprechen?“, drängte das fremde Dienstmädchen eifrig. „Sie gefallen mir nämlich.“

„Danke, ich … nein … wirklich herzlichen Dank …“

„Dann eben nicht!“ Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken. „Komm, Folko!“, rief sie den Hund, der eifrig den Pfosten beschnüffelte.

Johann blieb auf der anderen Seite des Gitters stehen, und in seinen eisblauen Augen lag grenzenlose Verachtung. Er schloss die Tür auf, ließ Ragnhild das Grundstück betreten und verschloss sie dann wieder.

„Die Herrschaften befinden sich im Salon“, teilte er ihr mit. Er machte keine Anstalten, Ragnhild den Koffer abzunehmen.

Das Haus tauchte hinter einer Biegung des Weges vor ihr auf, und Ragnhild blieb überwältigt stehen, als sie es das erste Mal sah. Es übertraf alles, was sie sich hatte vorstellen können, und im ersten Moment stieg Freude in ihr auf, dass es ihr neues Heim werden würde.

„Sie können hier nicht stehen bleiben“, schnarrte Johann ungeduldig hinter ihrem Rücken. „Die Herrschaften erwarten Sie im Salon!“

„Ja, ich weiß … Aber das Haus ist so schön …“ Ein schüchternes Lächeln im Gesicht, wandte Ragnhild sich zu Johann um, in dessen Miene sich grenzenlose Verachtung spiegelte.

Am liebsten wäre Ragnhild wieder davongelaufen, fort von diesem Haus, fort von diesem unmenschlichen Diener, fort von der Zukunft, die hier auf sie wartete.

„Bitte!“ Johann wies auf das Haus, eine Aufforderung, endlich weiterzugehen. Ragnhilds Gewissheit, dass sie den Kampes willkommen sein würde, geriet ins Wanken.

Das Innere des Hauses entsprach dem ersten Anblick, verriet guten Geschmack und sehr viel Geld, aber Ragnhild sah nichts mehr von dem, was sie umgab, weil ihr Herz so schwer war.

„Bitte, der Salon.“ Der Diener öffnete ihr die Tür, und mit ihrem schäbigen Pappköfferchen in der Hand trat Ragnhild Nielsen über die Schwelle. Zwei kalte Augenpaare starrten sie an.

Unwillkürlich knickste Ragnhild wie ein kleines Mädchen.

„Guten Tag, ich bin Ragnhild.“

„Guten Tag“, sagte die ältere Dame und hob ihr Lorgnon, um sie ungeniert zu mustern. Was sie sah, schien ihr überhaupt nicht zu gefallen, und ihre Miene drückte ihre ganze Missbilligung aus.

„Stell den Koffer nicht auf den Teppich. Unsere Teppiche sind sehr wertvoll“, mischte sich die andere Dame ein, in der Ragnhild sofort die Tochter der älteren Dame vermutete.

„Was willst du?“, fragte ihre Tante.

Ragnhild schluckte. Mit einem solchen Empfang hatte sie nie und nimmer gerechnet, denn schließlich waren Onkel Lüder und ihre Mutter Cousin und Cousine. Niemand hielt es für nötig, ihr einen Platz anzubieten.

„Ich bin Ragnhild … Ragnhild Nielsen.“

„Das sagtest du bereits“, stellte die ältere Dame gelassen fest. Sie ließ ihr Lorgnon sinken und schlug damit ungeduldig auf ihr Knie.

„Ich dachte … meine Eltern … sie sind tot, ein Unfall …“

„Ich habe davon gehört“, erwiderte Frau Therese Kampe. „Und was haben wir damit zu tun?“ Sie verzog den Mund. „Sie werden doch hoffentlich versichert gewesen sein.“

„Bei solchen Leuten weiß man nie, Mutter“, mischte sich ihre Tochter Ella gehässig ein. „Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie erwartet, dass wir jetzt für sie sorgen!“ Sie lachte schrill, und es störte sie gar nicht, dass Ragnhild bleich wurde.

„So etwas kommt natürlich überhaupt nicht infrage“, stellte ihre Mutter unfreundlich fest. „Wir sind doch schließlich kein Obdachlosenasyl. Oder hattest du das erwartet?“

„Gib ihr ein paar Mark, Mutter, dann ist die Sache in Ordnung“, schlug Ella vor.

Betont uninteressiert griff sie nach einer bunten Illustrierten.

Ragnhild holte tief Luft. Es gab nichts mehr zu sagen. Ihre Tante hatte ihr unmissverständlich erklärt, dass für sie kein Platz in diesem Hause war.

„Johann wird dir das Tor aufschließen“, erklärte Frau Therese. Sie machte Anstalten, nach der Klingel zu greifen, die in bequemer Griffnähe ihres Sessels angebracht war.

„Gib ihr ein bisschen Geld, Mutter, damit sie sich wenigstens einen vernünftigen Mantel kaufen kann.“ Betont hochmütig musterte Ella ihre arme Verwandte. „Ich finde es empörend, dass sie jetzt einfach zu uns kommt. Als wenn es unsere Schuld ist, dass ihre Mutter und ihr Vater … Verwandtschaft um drei Ecken herum, was ist das schon!“

„Ich werde gehen“, stieß Ragnhild hervor. Sie war so müde, dass sie nicht einmal die Kraft hatte, sich über diese schnöde Behandlung zu empören.

Gestern hatte man ihre Eltern begraben. Es war ein grauer, regnerischer Tag gewesen, als der Totengräber die Erde über die beiden schlichten Särge geschaufelt hatten. Nur wenige Menschen hatten ihnen das letzte Geleit gegeben. Unter ihnen war auch Onkel Lüder gewesen, wie immer in Eile, aber er hatte sich wenigstens bemüht, ihr ein paar tröstende Worte zu sagen.

„Wenn du mal in Not bist, hier ist meine Karte, rufe an oder komm zu uns.“ Sie hatte diese Worte wohl zu ernst genommen.

Ragnhild hatte verstanden. Aber der Weg zurück war schwer, denn sie wusste nicht, wovon sie die nächste Monatsmiete bezahlen sollte. Die Beerdigung hatte den letzten Rest der kleinen Rücklage verschlungen.

„Hundert Mark genügen wohl“, meinte Frau Therese. Sie krauste die Stirn, und dann schüttelte sie für sich den Kopf. „Fünfzig tun es auch, solch ein junges Ding hat ja doch bloß Tand und Putz im Kopf.“ Mit spitzen Fingern reichte sie Ragnhild den Schein.

Das Mädchen starrte ihn an und dann auf ihre Tante, die Frau, die sie lange Jahre nicht gesehen hatte. Was sagte man zu solch einer kaltherzigen Frau?

„Nimm schon“, drängte die Frau. „Du sollst nicht sagen können, wir hätten nichts für dich übrig gehabt!“

„Das gnädige Fräulein belieben wohl stolz zu sein“, stichelte Ella aus ihrem bequemen Sessel heraus. „Wenn sie nicht will, lass sie, Mutter, die fünfzig Mark kann ich gut gebrauchen. Ich habe bei Brockhoff einen entzückenden Schal gesehen.“ Sie stand auf und nahm der Mutter den Schein aus der Hand. „Sie können wieder gehen“, erklärte sie dem Mädchen, mit dem sie, ihren eigenen Worten nach, nur um viele Ecken herum verwandt war.

„Ja.“ Ragnhild Nielsen bückte sich nach ihrem Koffer und nahm ihn empor. Es war ihr, als sei er inzwischen ein paarmal so schwer geworden. Zwei Tage konnte sie noch in der Wohnung ihrer Eltern bleiben, dann musste sie ausziehen, denn die Wirtin hatte bereits neue Interessenten.

In diesem Augenblick betrat der Fabrikant Lüder Kampe das Haus. Er stutzte, als er Ragnhild auf der Schwelle des Salons stehen sah. Dann ging ein gutmütiges Lächeln über sein joviales Gesicht.

„Fein, dass du dich mal sehen lässt, Mädchen“, begrüßte er sie und schlug ihr herzlich auf die Schultern. „Aber was soll der Koffer?“

Beklommenes Schweigen folgte seiner Frage, und Lüder Kampe bemerkte sofort, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Er warf einen kurzen Blick auf die versteinerten Gesichter seiner Frau und seiner Tochter, und dann trat er neben Ragnhild.

„Du möchtest bei uns bleiben?“, fragte er mit einer Weichheit, die seine Familie nicht mehr an ihm kannte. „Du bist uns jederzeit willkommen. Therese, lass ein Zimmer vorbereiten, Ragnhild wird bei uns bleiben. Zieh deinen Mantel aus, Kind. Und du, Ella, kümmere dich gefälligst um den Mokka!“

Seine Tochter warf den Kopf in den Nacken und rauschte gekränkt hinaus. Im Vorbeigehen fand sie allerdings noch Zeit, einen gehässigen Blick auf Ragnhild zu werfen, der der neuen Hausgenossin nichts Gutes verhieß.

„Setz dich!“, befahl Frau Therese Ragnhild und wies mit ihrem knochigen Zeigefinger auf einen Sessel. „Ich möchte mit dir sprechen, Lüder.“

Ihr Mann nickte zustimmend, aber bevor er seiner Frau folgte, lächelte er Ragnhild ermunternd zu. Das Mädchen wagte kaum, sich zu rühren, und starrte stumpf auf den kostbaren Teppich.

Ella kam aus der Küche zurück und näherte sich ihr mit katzenhaft geschmeidigen Schritten.

Mit der Linken strich sie sich eine weiche Welle ihres roten Haares aus der Stirn, und ihr Gesicht war so bösartig, dass Ragnhild erschrak.

Es gab viele, die Ella für eine Schönheit hielten, denn mit ihrem naturroten Haar und den grünlichen Augen wirkte sie tatsächlich sehr apart. Aber in diesem Moment konnte man sie beim besten Willen nicht einmal hübsch nennen.

„Du wirst hierbleiben“, sagte sie mit tiefer, kehliger Stimme, die vor Hass vibrierte. „Aber glaube nicht, dass du hier die Prinzessin spielen kannst! Wir brauchen keine Mädchen wie dich. Du wirst dich bei uns nützlich machen.“

Immer mehr duckte sich Ragnhild in dem riesigen Sessel, in dem ihre zierliche Gestalt fast ganz verschwand. Wodurch hatte sie Ellas Hass herausgefordert? Sie fand keinen Grund, denn sie kannte dieses Mädchen ja kaum.

„Und glaube nicht“, fuhr die Rothaarige mit mühsam gebändigter Erregung fort, „dass du dir hier einen Mann angeln kannst. Erst kommen wir, Kläre und ich, und wehe dir, wenn du versuchen solltest, Besuchern schöne Augen zu machen. Du bist nämlich ein Typ, auf den manche fliegen. Nimm dich in Acht!“

Ella richtete sich auf, als sie die Schritte der Eltern näher kommen hörte, und schaute dem Vater dann mit völlig veränderter Miene freundlich entgegen.

„Wir haben uns schon angefreundet“, empfing sie ihn. „Ragnhild möchte sich im Hause ein wenig nützlich machen.“

„Das freut mich.“ Onkel Lüder strahlte über das ganze Gesicht. „Deine Mutter war eine prächtige Frau, Ragnhild, und du siehst ihr sehr ähnlich. Ich glaube, wir beide werden uns gut verstehen.“

„Ich heiße dich … willkommen“, schnarrte Frau Therese. Sie neigte sehr hochmütig knapp den Kopf. „Johann wird dir dein Zimmer zeigen.“

„Danke schön.“ Ragnhild war froh, den Salon verlassen zu können, aber sie ahnte, dass diese Villa für sie kein Heim werden würde. Sie musste hierbleiben, aber nicht als Hausgenossin, sondern als besseres Dienstmädchen, und sogar noch dankbar sein, dass man sie duldete.

♥♥♥

Vor dem Frühstück am nächsten Morgen fürchtete sich Ragnhild, denn dort würde sie zum ersten Mal die ganze Familie Kampe kennenlernen, Ellas Schwester Kläre und Arthur, den Sohn des Hauses.

„Oh, là, là“, sagte der junge Mann bewundernd, als sie den Speiseraum betrat. Nach Ellas Schilderung hatte er ein unscheinbares, ärmlich gekleidetes Mädchen erwartet und nicht eine so aparte Schönheit. Er verzog den Mund zu einem breiten Lächeln.

„Mein Sohn Arthur, und das ist Kläre, unser Nesthäkchen“, stellte Vater Kampe ihr seine Kinder stolz vor. Seine Frau herrschte Ragnhild recht unfreundlich an, sich zu setzen.

Arthur fiel es offenbar schwer, seinen Blick von Ragnhild abzuwenden, und etwas in seinem Gehabe war dem Mädchen sehr peinlich. Bisher hatte noch kein Mann gewagt, sie so dreist zu mustern. Der Sohn des Hauses gefiel ihr nicht, mochte er auch der Stolz seines Vaters sein.

Sein Anzug war für ihren Geschmack zu modisch, seine Krawatte zu grell und sein Gehabe zu blasiert. Ragnhild beschloss, ihn einfach nicht zu beachten.

„Ich finde dich aber nett“, sagte Kläre mit verblüffender Offenheit. „Du hast doch gesagt, sie sei eine miese Ziege, Ella“, wandte sie sich empört an die ältere Schwester. „Du denkst wohl, nur ein Rotfuchs wie du …“

„Wenn du nicht sofort deinen vorlauten Mund hältst, kriegst du ein paar hinter die Ohren“, drohte Ella verärgert. Zwar war es ihr nicht peinlich, dass Ragnhild aus dem Munde der Jüngeren hörte, was sie von ihr dachte, aber der Vater schickte einen Blick zu ihr hinüber, der nichts Gutes verhieß.

„Ich stimme dir zu, Kleines“, erklärte Arthur gönnerhaft.

„Vor dem musst du dich in Acht nehmen, Ragnhild“, fuhr seine Schwester ihm offenherzig über den Mund. „Ich hab schon oft gesehen, dass er unsere Dienstmädchen einfach in den Arm nimmt.“

„Du bist eine ganz unerzogene Göre“, schimpfte ihr Bruder.

„Ich verbitte mir diese Zankereien beim Frühstück“, herrschte der Hausherr seine Kinder an. „Könnt ihr euch denn überhaupt nicht benehmen?“

Kläre streckte ihrem Bruder verächtlich die Zunge heraus, und Arthur machte eine Bewegung, als wolle er ihr eine Ohrfeige herunterhauen.

„Mahlzeit!“ Lüder Kampe warf seine Serviette auf den Tisch. „Ich werde im Büro frühstücken, da habe ich wenigstens meine Ruhe.“ Er stampfte mit schweren Schritten hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

„Der Alte soll sich nur nicht so haben“, murrte Arthur und warf Ragnhild einen langen, werbenden Blick zu. „Er hat kein Verständnis dafür, dass man noch jung ist.“ Er zog selbstgefällig seinen grellbunten Schlips zurecht.

„Mach dir nichts draus, Ragnhild, so ist das bei uns immer“, tröstete Kläre sie. „Aber es ist schon wahr, Arthur ist ein Ekel, und die Ella ist auch nicht besser.“ Ganz offensichtlich hatte das kleine, kapriziöse Geschöpf die arme Verwandte ins Herz geschlossen, und in einem jähen Impuls beugte Ragnhild sich über den Tisch und strich ihr leicht über den mageren Arm.

Drei zusammengekniffene Augenpaare verfolgten diese warme Geste, und keinem gefiel sie. Man pflegte hier aufeinander keine Rücksicht zu nehmen, jeder lebte für sich in dieser prächtigen Villa, und deshalb waren alle hart geworden, hart gegen andere, allerdings nicht gegen sich.

Das Nesthäkchen Kläre hatte spontan in Ragnhild einen Menschen mit Herz erkannt.