Lore-Roman 79 - Karin Weber - E-Book

Lore-Roman 79 E-Book

Karin Weber

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Beschreibung

Dr. Lüder Conradi hat es geschafft, wie man so schön sagt. Er ist reich, er besitzt ein florierendes Unternehmen, eine prachtvolle Villa, luxuriöse Autos ... und doch ist er nicht frei.
Durch ihre grundlose Eifersucht macht ihm seine gelähmte Frau Brigitte das Leben zur Hölle. Manchmal ist er versucht, einfach alles hinzuwerfen und fortzugehen. Aber das Werk bedeutet eine Verpflichtung für ihn. Er kann die über neuntausend Beschäftigten nicht im Stich lassen.
Während eines Italienurlaubes trifft Lüder auf Maren. Mit ihr verlebt er glückliche Tage. Durch sie fühlt er sich wieder jung und kann sein Leid für kurze Zeit vergessen. Er kämpft gegen die aufkeimende Liebe für das junge Mädchen, denn er weiß, dass diese Liebe sich niemals erfüllen darf und niemals erfüllen wird. Seine Frau wird ihn niemals freigeben. Lüder bringt es nicht fertig, Maren von Brigitte zu erzählen. Und vor allem ahnen beide nicht, dass Brigitte jeden Schritt ihres Mannes überwachen lässt und auf Rache sinnt ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Immer musst du bei mir bleiben

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Rom Chek / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9698-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Immer musst du bei mir bleiben

Ein fesselnder Liebesromanvoller Dramatik

Von Karin Weber

Dr. Lüder Conradi hat es geschafft, wie man so schön sagt. Er ist reich, er besitzt ein florierendes Unternehmen, eine prachtvolle Villa, luxuriöse Autos … und doch ist er nicht frei.

Durch ihre grundlose Eifersucht macht ihm seine gelähmte Frau Brigitte das Leben zur Hölle. Manchmal ist er versucht, einfach alles hinzuwerfen und fortzugehen. Aber das Werk bedeutet eine Verpflichtung für ihn. Er kann die über neuntausend Beschäftigten nicht im Stich lassen.

Während eines Italienurlaubes trifft Lüder auf Maren. Mit ihr verlebt er glückliche Tage. Durch sie fühlt er sich wieder jung und kann sein Leid für kurze Zeit vergessen. Er kämpft gegen die aufkeimende Liebe für das junge Mädchen, denn er weiß, dass diese Liebe sich niemals erfüllen darf und niemals erfüllen wird. Seine Frau wird ihn niemals freigeben. Lüder bringt es nicht fertig, Maren von Brigitte zu erzählen. Und vor allem ahnen beide nicht, dass Brigitte jeden Schritt ihres Mannes überwachen lässt und auf Rache sinnt …

„Die gnädige Frau haben bereits mehrfach nach Herrn Doktor gefragt“, äußerte der Butler in dem gezierten Tonfall, den Lüder Conradi hasste.

„Danke“, gab er kurz zurück. Dann ging er, die Aktentasche noch unter dem Arm, die Treppe nach oben.

Brigitte lag im verdunkelten Zimmer. Ihre Gesichtsfarbe wirkte gelblich, die Haut lederartig.

„Wo warst du so lange?“, empfing sie ihn feindselig. „Mit wem hast du dich herumgetrieben? Ich will die Wahrheit wissen! Wie heißt sie, diese … schamlose Person?“

„Nun beruhige dich doch, Brigitte“, murmelte Dr. Conradi erschöpft.

Ein schwerer Tag lag hinter ihm. Es hatte Ärger in seiner Fabrik gegeben … dazu die vielen Konferenzen, Besucher und Telefonate. Er sehnte sich unsagbar nach etwas Ruhe und Entspannung. Da stand er nun am Bett seiner gelähmten Frau, in der Haltung eines Schuljungen, der sich für eine angebliche Dummheit verantworten muss.

„Ich weiß, dass du mich betrügst“, drang Brigittes schrille Stimme erneut an sein Ohr. „Du hast mich nur geheiratet, weil ich reich bin. Ich weiß es längst. Aber ich dulde nicht, dass du mich mit jedem dahergelaufenen Frauenzimmer hintergehst. Alles, was du bist, bist du nur durch mich. Wenn ich gewollt hätte, wärest du noch immer ein kleiner Ingenieur. Aber das hast du längst vergessen.“

„Kaum. Du erinnerst mich jeden Tag daran. Ich habe nicht vergessen, dass ich einmal der unbedeutende Ingenieur Conradi war, und ich wünschte, ich wäre es immer noch!“, schrie er seiner Frau voller Wut entgegen. „Dann hätte ich wenigstens meine Ruhe. Du machst mir mit deiner grundlosen Eifersucht das Leben zur Hölle!“

Selbst erschreckt über seinen heftigen Ausbruch, drehte sich Lüder zur Seite. Er durfte nicht vergessen, dass Brigitte seit drei Jahren krank war. Früher einmal war sie eine schöne, lebenslustige Frau gewesen — allerdings etwas zu verwöhnt und blasiert.

„Denkst du jetzt an die andere?“, fragte sie bissig. „Ich sehe dir ja an, dass du darauf brennst, wieder gehen zu können. Schon die zehn Minuten, die du täglich bei mir verbringst, sind dir zu viel.“

Sie hatte die Wahrheit gesagt. Die zehn Minuten waren ihm zu viel, aber das lag an ihr. Er kannte diese Szenen, sie wiederholten sich jeden Tag. Manchmal war er versucht, einfach alles hinzuwerfen und fortzugehen. Er würde überall sein Auskommen finden. Aber das Werk, das er mithilfe von Brigittes Geld aufgebaut hatte, bedeutete eine Verpflichtung für ihn. Er beschäftigte jetzt über neuntausend Leute. Und die konnte er nicht einfach im Stich lassen.

„Möchtest du noch etwas?“, fragte er mühsam beherrscht.

„Ich wünschte, ich wäre tot. Ich ertrage dieses Herumliegen nicht mehr. Gib mir eine Spritze und mach ein Ende.“

Lüder Conradi wusste genau, dass sie es nicht ernst meinte. Brigitte klammerte sich förmlich ans Leben. Sie konsultierte einen Arzt nach dem anderen. Unsummen hatte sie schon dafür ausgegeben. Und dann kaufte sie laufend neue Garderobe — sie konnte die Kleider nicht tragen, aber sie musste sie einfach haben.

„Ich habe noch zu arbeiten. Entschuldige mich jetzt, Brigitte. Falls du noch irgendeinen Wunsch hast, brauchst du nur zu klingeln, du weißt es ja.“

„Ich habe nur den Wunsch, dich niemals kennengelernt zu haben“, kam es bitter zurück.

„Gute Nacht.“ Lüder verneigte sich höflich und hastete dann förmlich hinaus.

Ja, das war sein Leben jetzt — Arbeit, Sorgen und Verdruss. Freude gab es für ihn nicht mehr. Gewiss, er hatte es geschafft, wie man so schön sagt. Er war reich und unabhängig. Er besaß ein florierendes Unternehmen, eine prachtvolle Villa mit Schwimmbecken und Parkgelände, eine Segeljacht, luxuriöse Autos … und er hatte das Lachen verlernt.

***

Maren Weinhold hatte es heute besonders eilig, nach Hause zu kommen. Schon in der Wohnungstür überfiel sie ihre Mutter mit der großen Neuigkeit.

„Stell dir vor, ich habe eine Fahrkarte gekauft. Vierzehn Tage Italien, vierzehn Tage Sonne.“

„Auch in Italien kann es regnen“, erinnerte Frau Antonie wenig beeindruckt.

„Wenn ich hinfahre, scheint bestimmt die Sonne“, gab Maren lachend zurück. „Ich reise übrigens nicht allein. Edith will mitkommen. Sie hat das Geld endlich beisammen.“

„Das schöne Geld“, murmelte die Mutter.

Frau Antonie war früh verwitwet. Ihre ganze Sorge galt jetzt der einzigen Tochter. Es war schließlich nicht leicht gewesen, bis Maren ihr Studium als Ingenieurin abgeschlossen und berufliche Anerkennung gefunden hatte. Über den Umweg einer technischen Zeichnerin musste sie sich hocharbeiten, und dann stand sie in scharfem Wettbewerb mit ihren männlichen Kollegen. Sie musste viel leisten, um sich durchzusetzen. Aber jetzt respektierte man das Fräulein Ing., wie die Arbeiter sie im Betrieb scherzhaft nannten. Maren hatte eine energische Art, sich Achtung zu verschaffen. Diese Italienreise war praktisch der erste „Luxus“, den sie sich gönnte.

Frau Antonie deckte den Abendbrottisch. Die Bohnensuppe roch lecker. Maren wusste die Kochkunst ihrer geliebten Mutter sehr wohl zu schätzen.

„Iss nicht so hastig“, mahnte Frau Antonie gewohnheitsgemäß, als ihre Tochter zum Löffel griff. „Du kommst noch früh genug zu Edith. Wer weiß, ob sie überhaupt zu Hause ist.“

„Wir sind verabredet.“ Maren strahlte die Mutter an.

„Das ist für Edith noch lange kein Grund, zu Hause zu sein“, äußerte Frau Antonie.

Sie hielt nicht allzu viel von dieser Freundin, die stets auf Raten kaufte.

***

Beschwingt ging Maren die Straße entlang. Ihre Schulfreundin Edith wohnte ganz in der Nähe. Ediths Zuhause war allerdings nicht gerade gemütlich zu nennen. Sie hat halt keine Mutter mehr, dachte Maren entschuldigend. Ediths Vater war, gelinde ausgedrückt, ein egoistischer Eigenbrötler.

Edith öffnete mit verweinten Augen.

„Ich darf nicht mitfahren“, schluchzte sie. „Mein Vater will es nicht. Nichts gönnt er mir, gar nichts. Ich bin jung, ich will etwas vom Leben haben.“

„Mit wem sprichst du da?“, fragte eine Männerstimme hinter der geschlossenen Tür. „Komm zurück, Edith. Wir haben unsere Schachpartie noch nicht beendet.“

„Eines Tages stecke ich die verdammten Figuren noch in den Ofen“, bekannte Marens Freundin wütend.

Maren verstand sie völlig. Ediths Vater behandelte seine Tochter immer noch wie ein unmündiges Kind. Nichts durfte sie tun, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Stets musste sie sich seinen Wünschen beugen.

„Mit wem sprichst du so lange?“, rief er jetzt ungeduldig.

„Ich komme ja schon“, gab Edith wütend zurück. Sie zog ihre Freundin ins Wohnzimmer.

„Ach, Sie sind es.“ Herbert Renken erhob sich und streckte Maren mit gezwungener Freundlichkeit die Hand entgegen. „Wie nett, dass Sie sich wieder einmal bei uns sehen lassen.“

„Maren wollte mit mir zusammen in Urlaub fahren“, warf Edith ein. „Sie darf nämlich ihr Geld ausgeben, wofür sie will.“

„Du brauchst keinen Urlaub im Ausland. Wir fahren zusammen in den Harz. Dort ist es auch schön und …“

„Und wenn wir hinfahren, regnet es. Zweimal waren wir schon im Harz. Und beide Male hatten wir nur Regentage. Ich habe keine Lust, immer in einem Hotel zu sitzen. Ich will dorthin, wo die Sonne scheint.“

„Wir fahren in den Harz und damit basta“, kam es kühl zurück.

Auch Marens Einwände und Bitten blieben erfolglos. Entmutigt folgte sie ihrer Freundin in die Küche, um bei der Zubereitung des Nachtmahls mitzuhelfen.

„Vater hat nur Angst, das billigste Dienstmädchen zu verlieren, das es auf der Welt gibt“, erzählte Edith später bitter. „Ich halte den ganzen Haushalt in Ordnung, und er, was tut er? Nichts! Du glaubst gar nicht, wie ich dich um diese Reise beneide. Aber nächstes Jahr werde ich dabei sein. Und wenn ich Vater vorher eine Portion Schlaftabletten in seinen Kaffee schütten müsste. Ich würde es tun.“

Diese finstere Drohung klang so komisch, dass Maren wider ihren Willen lachen musste. Bald stimmte auch Edith, trotz ihres Kummers, ein.

„Wenn du allein fährst, hast du viel größere Chancen“, meinte sie dann. „An der Riviera laufen außer deutschen Urlaubern bestimmt auch noch ein paar ledige Millionäre herum. Sei auf Draht und fang dir einen.“

„Ich heirate nur aus Liebe“, erwiderte Maren überzeugt.

„Wie romantisch“, spottete Edith. „Ich würde den ersten Besten nehmen, wenn seine Brieftasche nur dicker ist als sein Bauch.“

Maren wusste es besser. Edith führte zwar kühne Reden, aber in Wirklichkeit war sie ein tiefveranlagter Mensch, der sich nur nicht so recht durchzusetzen verstand. Jedenfalls ihrem Vater gegenüber nicht. Enttäuscht machte sich Maren wenig später auf den Heimweg.

***

Als Dr. Conradi am nächsten Abend aus dem Werk nach Hause fuhr, erwartete ihn das gleiche Theater. Der Butler mit der näselnden Stimme und den vornehmen Allüren öffnete ihm wie stets das Portal.

„Die gnädige Frau haben bereits mehrfach nach dem Herrn Doktor gefragt. Die gnädige Frau bitten den Herrn Doktor …“

„Und ich bitte Sie jetzt, den Mund zu halten. In Zukunft mache ich mir die Haustür allein auf. Ich wünsche Sie hier abends bei meiner Heimkehr nicht mehr zu sehen. Haben Sie mich verstanden?“

Der Diener senkte seinen wie mit einem Lineal gezogenen Scheitel.

„Wie Herr Doktor wünschen“, murmelte er. „Ich möchte mir allerdings die Bemerkung gestatten, dass die gnädige Frau …“

„Hören Sie mal zu, mein Lieber“, fiel ihm Lüder ins Wort. „Ich bezahle Sie. Am Ersten können Sie sich ihre Papiere bei mir abholen.“

Ohne den Butler eines Blickes zu würdigen, ging der Hausherr ins Kaminzimmer und goss sich einen Kognak ein. Er wollte jetzt endlich ein paar Minuten Ruhe haben.

Seine Frau war jedoch anderer Meinung. Als Lüder eben das Glas ansetzen wollte, hörte er Brigitte schreien. Sie hat wieder einen ihrer Anfälle, dachte er resigniert. Er beeilte sich nicht mit dem Hinaufgehen.

Der Butler war schon im Krankenzimmer. Er hielt ein Glas Wasser in der Hand, in der anderen das Röhrchen mit den Tabletten. Sein Gesicht wirkte unbewegt. Auch hier war alles perfekt, sogar der hysterische Anfall seiner Frau, durchfuhr es Dr. Conradi angeekelt. Er nahm dem Diener das Glas ab und stellte es auf den Tisch.

„Nimm dich gefälligst zusammen!“, fuhr er Brigitte an. „Ich falle auf dein Getue nicht mehr herein.“

Die Kranke richtete sich in den Kissen auf. Sie war jäh ernüchtert.

„Willst du damit sagen, dass ich nur schauspielere?“, fragte sie scharf.

Er konnte sich eines bitteren Lächelns nicht erwehren. Sie bewies ihm ja eindeutig, dass sie nur Theater gespielt hatte.

„Sie können gehen.“ Mit dem Daumen wies Lüder zur Tür.

Der Butler warf einen fragenden Blick auf Frau Conradi. Erst als Brigitte zustimmend nickte, verschwand er in seiner unhörbaren Art.

„Ich habe den Schleicher entlassen. Ich kann seinen Anblick nicht mehr ertragen. Er macht mich ganz nervös“, teilte Lüder seiner Frau mit.

„Du wirst ihn nicht entlassen. Er genießt mein Vertrauen, und … ich brauche ihn. Er ist ein Mensch, der versteht, dass eine unglückliche Frau wie ich Rücksicht verdient. Dir ist es ja gleichgültig, was ich den ganzen Tag hier mache.“

„Das ist mir gar nicht gleichgültig. Ich gäbe mein ganzes Vermögen darum, könnte ich dir helfen. Das weißt du doch, Brigitte. Du solltest mir nicht solche Vorwürfe machen. Das ist nicht fair.“

Wieder diese Szene. Jetzt würde sie auf die Erbschaft pochen, mit deren Hilfe er seinen Aufstieg erst geschafft hatte.

„Ich werde ein paar Wochen Urlaub machen“, sagte er mitten in ihr Lamentieren hinein. „Ich werde ein paar Wochen nach Italien fahren.“

„Das verbiete ich dir!“ Wie immer, wenn Brigitte sich erregte, wurde ihre Stimme unnatürlich schrill. „Du willst dich dort mit irgendeinem Mädchen treffen. Sag es nur. Vergisst du denn, dass du mir eigentlich alles verdankst, was du bist? Du kannst mich nicht verlassen.“

„Ich will dich nicht verlassen, ich will nur einmal ein paar Wochen ausspannen. Begreif doch endlich“, fuhr Conradi seine Frau an. „Deine Eifersucht ist lächerlich. Ich bin kein Mann, der seiner Frau die Treue bricht! So gut solltest du mich eigentlich kennen.“

„Ich bin ja keine Frau, ich bin nur ein notwendiges Übel.“

„Du wirst dich drei Wochen lang ohne mich behelfen müssen. Ich beabsichtige in wenigen Tagen zu fahren.“

Dr. Conradi gab seiner Frau keine Gelegenheit mehr, ihm zu antworten. Er ging hinaus.

***

An der Sperre rief Maren jemand an. Sie schnellte herum, dann glitt ein Lächeln über ihre Züge, das sie noch bezaubernder machte.

„Ich bin es nur“, versicherte Edith Renken. „Ich wollte doch einmal sehen, was für ein Gesicht jemand macht, der diesem Wetter hier entrinnen kann.“

Edith gönnte Maren die Reise, die sie sich selbst so heiß gewünscht hatte.

„Eine Bahnsteigkarte habe ich mir gelöst. Wenn schon kein männliches Wesen dort oben steht, um tränenumflorten Blickes sein Taschentuch fliegen zu lassen, dann muss doch wenigstens ich es tun.“ Sie lachte.

„Es ist zu nett von dir, dass du dir eine Stunde freigenommen hast, um mich an den Zug zu bringen“, versicherte Maren. „Es tut mir so leid, dass du nicht mitkannst.“

„Nächstes Jahr bestimmt.“ Edith zuckte die Schultern.

Sie nahm einen der beiden Koffer, die Maren gehörten und schob sich burschikos durchs Gedränge. Sie hatte es so eilig, dass sie einem Mann den Koffer gegen das Schienbein rannte.

„Passen Sie doch besser auf!“, riet sie ihm stirnrunzelnd.

„Sie wollen wohl Panzerfahrerin werden?“, fragte der junge Mann zornig zurück. „Oder Sie brauchen eine Brille!“

„Damit ich Sie womöglich noch deutlicher sehen könnte?“, fragte Edith mit gespieltem Entsetzen. Sie tat, als sei diese Aussicht furchtbar, obwohl der junge Mann äußerst nett und sympathisch wirkte.

„Sie bleiben keinem eine Antwort schuldig, nicht wahr?“, fragte er augenzwinkernd.

„Ich war ungeschickt“, bekannte sie. „Verzeihen Sie mir.“

„Einer schönen, jungen Dame verzeihe ich alles.“ Der Mann blieb wie selbstverständlich an ihrer Seite und nahm ihr mit einem gemurmelten Satz den Koffer ab.

Edith ließ es geschehen.

Ihre Freundin Maren hatte sie ganz vergessen. Schmunzelnd folgte sie dem voranschreitenden Paar. Sie hatte ihre Freude an der munteren, schlagfertigen Art ihrer Freundin.

Erst oben auf dem Bahnsteig fiel Edith wieder der Zweck ihres Kommens ein. Der junge Mann hatte sie nämlich gefragt, wohin sie reisen wolle.

„Ich bleibe bei diesem schönen Wetter lieber hier“, gab sie zurück, und eine kleine Falte erschien auf ihrer Stirn. „Ich begleite nur meine Freundin an den Zug. Wo ist sie überhaupt?“

Genau wie sie blickte auch der junge Mann Maren entgegen. Dann wanderte sein Blick zu Edith zurück. Die beiden jungen Damen waren zwei reizvolle Erscheinungen, wenn auch in ihrer Art ganz verschieden.

Maren war blond und hatte blaue Augen. Ediths Haar war brünett. Ihr Gesicht sah aus, als käme es viel mit Sonne und frischer Luft in Berührung. Sie war der Typ des Sportsmädels.

„Und wohin fahren Sie?“, fragte Edith mit einem kleinen Seufzer.

„Nirgendwohin. Ich erwarte eine Tante.“

„So“, äußerte Edith, und das klang nicht gerade sehr erfreut. Sie machte sich keine Illusionen über das Alter dieser Tante. Wahrscheinlich war sie jung und anziehend.

Es schien, als könne der Fremde ihre Gedanken lesen.

„Tante Auguste ist knapp siebzig Jahre alt“, erläuterte er mit jungenhaftem Grinsen. „Was halten Sie davon, wenn wir uns heute Abend bei einer Flasche Wein über sie unterhalten würden? Tante Auguste ist ein unerschöpfliches Gesprächsthema.“

Edith zögerte.

„Ich sehe, dass Sie begeistert sind“, fuhr der junge Mann augenzwinkernd fort. „Ich heiße Clement Stelling, und es gibt Menschen, die mich für ungefährlich halten. Es wäre nett, wenn auch Sie zu den Menschen gehören würden, Fräulein …?“

„Renken“, ergänzte Edith. „Und wo, wo dachten Sie …“

Clement schlug sofort einen Treffpunkt vor. Edith fand es seltsam, dass er nicht einmal nachzudenken brauchte.

„Sie, Herr Stelling, sprechen Sie eigentlich oft junge Mädchen auf der Straße an?“, fragte sie misstrauisch.

„Nie“, wehrte Clement anscheinend entrüstet ab, aber sein Lächeln passte nicht ganz zum Ton seiner Worte. „Ich lasse mich immer von jungen Damen anrempeln, verstehen Sie. Ich glaube, auf meinem Schienbein wächst ein blauer Fleck.“

„Sie werden den Schmerz ertragen“, äußerte Edith leichthin. „Oder müssen Sie jetzt einen Arzt aufsuchen?“

„Eventuell werde ich ein gewisses Schmerzensgeld fordern müssen“, äußerte Clement Stelling geheimnisvoll. „Aber darüber reden wir später.“

Er war höflich genug, Maren nach der Platznummer zu fragen und ihr beim Suchen behilflich zu sein. Er verstaute die beiden Koffer im Gepäcknetz und fragte, ob sie irgendwelche Wünsche habe.

„Danke, nein.“

Edith tätschelte ihr den Arm. „Also, mach’s gut, altes Haus und vergiss nicht, was ich dir geraten habe. Du weißt doch, erst das Bankkonto, dann das Herz. So ist es im Leben eingerichtet. Die Männer tragen ihre Brieftaschen nun einmal auf dem Herzen, das ist mehr als nur ein Symbol.“

Maren lächelte verkrampft. Sie war nicht böse, als Edith und der nette, junge Mann sich jetzt verabschieden mussten. Minuten später rollte der Zug aus der Halle.

„Jetzt winkt doch ein Mann hinter ihr her“, schmunzelte Edith. „Aber wenigstens einer ohne eine Träne im Knopfloch.“

„Weshalb auch, Sie sitzen ja nicht im Zug“, gab Clement keck zurück.

Edith schaute ihn von der Seite an. Sie fand, dass dieser junge Mann ein atemberaubendes Tempo vorlegte. Aber es wäre übertrieben zu sagen, dass ihr dieses Tempo missfiel.

„In drei Minuten kommt Tante Auguste, wenn der Zug keine Verspätung hat“, stellte Clement Stelling nach einem Blick auf die Bahnhofsuhr fest. „Wollen Sie ihr guten Tag sagen?“

„Es geht leider nicht. Ich habe nur eine Stunde frei bekommen, und mein Chef kann manchmal sehr streng sein.“