Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 511 - Karin Weber - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 511 E-Book

Karin Weber

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Beschreibung

Der berühmte Romanschlager aus der goldenen Zeit der Unterhaltung - komplett als Trilogie in der BASTEI-Reihe "Die Welt der Hedwig Courths-Mahler"! Lesen Sie jetzt den zweiten Teil des spannenden, großen Familienromans unter dem Titel:

Die reiche Erbin

Langsam fuhr Professor Imhoff mit seinem Wagen durch die Straße, und der zu dieser Zeit übliche Verkehr er- forderte seine ganze Konzentration. Er fuhr gern, weil er dann nicht an Ragnhild denken konnte. Doch an einer Kreuzung sah er sie. Die Ampel zeigte auf Rot, er musste halten und schaute nach rechts auf den Bürgersteig, auf dem die Passanten sich ungeduldig zusammendrängten.
Ragnhild stand ganz vorn, ein schmales Mädchen mit großen Augen und einer herrlichen Fülle goldblonden Haares. Sie sah ihn nicht, jedenfalls nicht sofort. Sie hob die Linke und rieb sich die Wange, als habe sich ein Insekt auf ihrer Haut niedergelassen. Sie spürte seinen Blick.

Begleiten Sie Ragnhild Nielsen weiter auf ihrem Lebensweg. Es ist der zweite Teil der berühmten Trilogie!

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Seitenzahl: 135

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Inhalt

Cover

Impressum

Die reiche Erbin

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Coy_Creek / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0099-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die reiche Erbin

Wird Professor Imhoff ihre Spur finden?Zweiter abgeschlossener Teil

Nachdem Ragnhild die Villa ihrer Verwandten, in der sie immerzu gedemütigt wurde, fluchtartig verlassen hat, gerät sie vom Regen in die Traufe. In ihrer Not nimmt sie die erstbeste Stelle als Kindermädchen an, die sie findet, und wird noch schlimmer ausgenutzt als im Hause ihres Onkels. Es ist ein armseliges Dasein, das das einsame Mädchen hier fristet …

Währenddessen flattert in der Kampeschen Villa ein Einschreibebrief für Ragnhild Nielsen ins Haus, den ihre Cousine Ella, für die das Briefgeheimnis keine Bedeutung hat, dreist öffnet. Neugierig liest sie das amtliche Schreiben. Zuerst fährt ihr der Schreck in die Glieder, doch dann fasst sie einen teuflischen Plan …

„Haben Sie Zeugnisse?“ Die Frau im eleganten Morgenmantel streckte fordernd die Rechte aus, während ihr prüfender Blick Ragnhild Nielsen durchdrang. „Ich hoffe doch, dass Sie alle Papiere mitgebracht haben, meine Liebe“, fuhr sie scharf fort.

Ragnhild senkte den Kopf, und ihre Fingerspitzen schlugen nervös aneinander.

„Ich habe keine Zeugnisse, gnädige Frau.“

Josefine Bürger legte ihren rechten Arm lässig auf die Sessellehne und schaute sie unter hochmütig gesenkten Lidern an.

„Und dann haben Sie die Stirn und rauben mir meine kostbare Zeit?“

„Ich hoffte … ich habe Ihre Anzeige heute Morgen in der Zeitung gelesen, und Kinder … ich mag Kinder sehr gern, gnädige Frau. Wollen Sie es nicht mit mir versuchen?“

Frau Bürger ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Die kleine Ragnhild Nielsen, die sich bei ihr um die Stelle eines Kindermädchens bewarb, machte einen recht adretten und willigen Eindruck, und vor allem – das war für Frau Josefine die Hauptsache – schien ihr sehr viel an der Stellung zu liegen.

„Wie viel verlangen Sie?“, fragte sie lässig.

Offenbar besaß die Kleine wenig Erfahrung, wahrscheinlich war es sogar die erste Stellung, um die sie sich bewarb. Solche Mädchen ließen sich in der Regel vorzüglich ausnutzen, wusste Frau Josefine aus langjähriger Erfahrung, und waren mit wenig Geld zufrieden.

„Ich weiß nicht.“ Ragnhild zuckte hilflos die Schultern. „Bisher … ich lebte im Hause meiner Verwandten, und ich möchte mich jetzt selbstständig machen.“

„Hm.“ Die Frau nickte. „Ohne Zeugnisse können Sie nicht viel verlangen, meine Liebe, und ich bin prinzipiell gegen Personal ohne tadellose Ausbildung. Immerhin machen Sie soweit einen ganz ordentlichen Eindruck. Ich wäre nicht abgeneigt, es mit Ihnen zu versuchen.“

Ragnhilds Züge erhellten sich.

„Ich verlange nicht viel, gnädige Frau, es würde mir schon genügen, wenn ich hierbleiben könnte.“

Sie hatte die Villa ihrer Verwandten überstürzt verlassen. Nun musste sie möglichst schnell wieder ein Zuhause finden.

„Weshalb sind Sie von Ihren Verwandten fortgegangen?“, fragte Frau Josefine. „Ohne zwingenden Grund tut man es doch nicht.“

„Ich … ich konnte dort nicht länger sein“, flüsterte Ragnhild.

„Sprechen Sie gefälligst lauter und sehen Sie mich an!“ Bei dem scharfen Ton zuckte das Mädchen zusammen und verfärbte sich. Frau Josefine konstatierte befriedigt, dass sie sich leicht einschüchtern ließ.

„Vierzig Mark im Monat und freie Station! Wann können Sie anfangen?“

„Sofort!“ Ragnhild atmete erleichtert auf. Sie hatte keine Angst vor der Zukunft, denn mit Kindern konnte sie gut umgehen.

„Geben Sie mir die Adresse. Ich möchte Auskünfte einholen.“

Ragnhild schüttelte im ersten Impuls den Kopf, dann aber presste sie die Lippen abwehrbereit zusammen.

„Ich bin im Zorn … ich bin einfach davongelaufen, gnädige Frau.“

„Interessant, interessant.“ Frau Josefine zeigte nicht, dass diese Auskunft sie befriedigte, bedeutete sie doch nichts weiter, als dass ihr neues Kindermädchen völlig von ihr abhängig war.

„Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Sie können gleich dableiben. Übrigens werden Sie bei Tisch servieren, auch wenn wir Gäste haben, und natürlich die Wäsche flicken und …“ Sie warf einen schnellen Blick auf Ragnhilds Gesicht, und als sie dort keine Spur von Abwehr bemerkte, stellte sie schnell noch weitere Pflichten auf, die dieses Mädchen übernehmen sollte.

Ihre Vorgängerinnen hatten sich samt und sonders geweigert, bei der Säuberung des Hauses zuzupacken.

„So, dies ist Ihr Zimmer.“ Die Bezeichnung Zimmer für diese Dachkammer war eine Schmeichelei. Es handelte sich tatsächlich um nichts weiter als um einen Bretterverschlag in einer Ecke des Trockenbodens.

Ein altes, verrostetes Eisenbett, ein dreibeiniges Gestell mit einer zerbeulten Emailleschüssel und ein wackeliger Stuhl standen hier. Das war alles.

„Nicht gerade komfortabel“, stellte Frau Josefine fest, „aber das macht nichts. Sie werden sich hier sowieso kaum aufhalten. Bei uns, meine Liebe, wird nämlich nicht gefaulenzt. Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie sofort wieder gehen.“

Ragnhild versuchte, ein erfreutes Gesicht zu machen, spürte aber selbst, dass es ihr nicht ganz gelang.

„Ich finde das Zimmer nett“, brachte sie stockend hervor.

„Dann ist es gut. Ziehen Sie Ihren Mantel aus und kommen Sie dann schnell wieder herunter. Ich werde Sie mit den Kindern bekannt machen.“

Ragnhild hatte Mühe, sich die Tränen zu verbeißen, als sie sich in dem halbdunklen Verschlag umschaute. In einer Ecke waren Spinngewebe, das Dachfenster anscheinend seit Urzeiten nicht mehr geputzt und so verschmutzt, dass das Tageslicht nur trübe hereinfiel.

Bei dem Gedanken, in diesem Bett schlafen zu müssen, ging ein Frösteln über ihren Körper.

Sie dachte an die Kampesche Villa, die ihr manchmal wie eine Hölle erschienen war. Dort musste sie Tag und Nacht arbeiten, verfolgt und gequält von Ella Kampe, der rothaarigen Tochter ihres Onkels, die ihr nicht einmal die Luft zum Atmen gegönnt hatte.

Ragnhild stellte Kläres Foto auf den wackeligen Stuhl, denn einen Tisch gab es in diesem Verschlag nicht.

Auszupacken hatte das Mädchen nichts, sie besaß nichts weiter als das, was sie auf dem Körper trug. Ein Schluchzen stieg in ihr empor.

Am vergangenen Abend hatte sie sich mit Frank Hübner verloben wollen, dem gut aussehenden, reichen Mann, doch er hatte im letzten Augenblick Ella Kampe vorgezogen, weil sie – Ragnhild – nur die arme Verwandte war.

Vor dem fleckigen Spiegel ordnete Ragnhild flüchtig ihr hellblondes Haar, das in der Sonne wie gesponnenes Gold glänzte. Sie musste sich beeilen, als Kindermädchen war sie nicht mehr Herrin ihrer Zeit. Sie hatte ihre Zeit verkauft. Für vierzig Mark im Monat!

„Hallo, Sie da oben!“, schrie Frau Josefine von unten herauf. „Sind Sie eingeschlafen?“

Ragnhild schreckte zusammen, warf ihren Mantel hastig über das Bett und lief die Bodenstiege hinunter, dann über den läuferbelegten Flur und schließlich auch noch die breite, bequeme Treppe, die für die Herrschaften bestimmt war.

Frau Josefine hatte die Augen böse zusammengekniffen.

„Mir scheint, bei Ihnen muss man die Zügel etwas schärfer anziehen, meine Liebe“, stellte sie grimmig fest. „Wie heißen Sie?“

„Ragnhild Nielsen“, gab das Mädchen verzagt Auskunft.

„Ragnhild, was für ein läppischer Name! Ich werde Sie Hilde nennen. Kommen Sie, die Kinder erwarten Sie!“

Verzagt folgte Ragnhild ihrer neuen Herrin.

„Das ist Hilde“, stellte Frau Josefine sie ihren beiden Kindern vor, die in einem reizenden Zimmer auf dem Teppich lagen und sich um ein Bilderbuch zankten. „Steht sofort auf und sagt Hilde Guten Tag!“

Ragnhilds Blick leuchtete auf, als er die beiden Kleinen umfing. Sie waren wirklich reizend, ein Junge mit trotzigem Gesicht und seine Schwester, ein Mädchen mit langem, lockigen Haar, das wie ein kleiner Engel aussah.

„Guten Tag, ihr zwei.“ Mit ausgestreckter Hand ging Ragnhild auf die beiden zu, aber weder der Junge noch das Mädchen machten Anstalten, aufzustehen und sie zu begrüßen.

„Gib mir das Bilderbuch!“, kreischte das Mädchen plötzlich los und zerrte es ihrem Bruder aus den Fäusten. Im Nu war eine regelrechte Schlacht im Gange, und es half nichts, dass die Mutter sie ermahnte, Ruhe zu geben. Die Kinder beachteten sie nicht.

Eine große Vase fiel um und zerklirrte auf dem Boden, aber auch das schien die beiden kleinen Raufbolde nicht zu stören.

„Und Sie stehen dabei und tun gar nichts!“, keifte Josefine Bürger Ragnhild an, die dieser turbulenten Szene hilflos gegenüberstand.

„Ich … wie heißen die beiden Kinder?“

„Georg und Verena!“, schrie ihre neue Herrin, denn sie musste schon schreien, um den Lärm zu übertönen. „Sorgen Sie gefälligst für Ordnung!“

Sie ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu, eine hilflose Mutter, die nicht imstande war, sich bei ihren verzogenen Kindern durchzusetzen.

Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte sich Ragnhild in das Gewühl der beiden Kinder, der Kissen, der Puppen und der Bücher, die durcheinanderwirbelten, bekam das Mädchen um die Taille zu fassen und stieß mit der freien Hand den Jungen zurück.

Georg fiel auf seinen Hosenboden und starrte sie so verdutzt an, dass Ragnhild unwillkürlich auflachen musste. Der Kleine verzog den Mund, als wolle er einstimmen, besann sich dann aber eines anderen und kreischte los, als ob er am Spieße steckte.

Seine kleine Schwester schaute zu Ragnhild empor und lachte hell und fröhlich.

„Du musst ihn ordentlich hauen“, versuchte sie das neue Kindermädchen aufzuhetzen. „Soll ich dir einen Stock holen?“

Das Gebrüll des Jungen wurde noch durchdringender, dass Ragnhild sich unwillkürlich die Ohren zuhielt.

Jemand riss hinter ihr die Tür auf, sie schnellte herum und sah einen fremden Mann in einem sehr eleganten Anzug, der verblüfft von ihr auf den schreienden Jungen schaute.

„Sie will ihn hauen, Vati, ich soll den Stock holen!“, rief die kleine Verena. „Und der Georg hat das auch verdient, weshalb nimmt er mir auch immer das Bilderbuch weg!“

„Kommen Sie mit!“, forderte der Mann Ragnhild barsch auf.

„Jetzt schnauzt er dich an“, erklärte Georg befriedigt. Er saß noch immer auf dem Teppich und wischte sich mit den Fäusten die dicken Tränen von den Wangen. „Und wenn du mich noch mal stößt, dann schrei ich wieder, und dann fliegst du. Und du alte Ziege kriegst mal eine Tracht, dass dir das Petzen vergeht“, knurrte er seine Schwester an.

„Wird’s bald?“ Die Stimme des Hausherrn klang gereizt, und Ragnhild beeilte sich, ihm in sein Zimmer zu folgen, dessen Tür er für sie aufhielt. Jetzt erst hatte sie Gelegenheit, ihn genauer anzuschauen, und ihr erster Eindruck war alles andere als gut.

Alles an ihm war zu elegant, der Anzug, der Schlips, die Schuhe aus Ziegenleder und sogar die gemusterten Strümpfe. Er trug einen dicken Brillanten an der linken Hand, der hell aufblitzte, wenn er sich das Kinn rieb.

„Sie sind die Neue?“, fragte er knapp und setzte sich in einen bequemen Sessel.

„Ja. Ich … heiße Ragnhild.“

„Hilde“, korrigierte der Mann sie herablassend. „Ich verlange, dass Sie die Kinder anständig behandeln, und verbitte es mir, dass Sie meinen Sohn schlagen!“

Der Blick des Mannes glitt an ihr auf und ab, und je länger er sie anschaute, desto wohlwollender wurde seine Miene.

„Gehen Sie wieder ins Kinderzimmer zurück, Hilde, und wenn Sie mal irgendeinen Wunsch haben, können Sie ruhig zu mir kommen. Ich bin nicht so. Jedenfalls zu solch hübschen Mädchen nicht.“ Er stand auf und kniff ihr leicht in die Wange.

Ragnhild wich empört zurück, aber das Grinsen in dem unsympathischen Männergesicht blieb.

„Haben Sie schon einen festen Schatz, Hilde?“, fragte er, bevor sie die Tür erreicht hatte. „Wir wünschen nämlich keine Mädchen, die … na ja, Sie verstehen schon.“

Ohne Antwort lief Ragnhild Nielsen hinaus, und als sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie noch das belustigte Lachen des Mannes. Verstört lehnte sie sich gegen die Flurwand.

Aus dem Kinderzimmer drang ein Toben, als versuchten die beiden, das gesamte Mobiliar zu zerstören. In der Küche klapperte irgendjemand überlaut mit den Töpfen, und aus dem Salon überschwemmte das Radio das Haus mit lauter Musik. Es war, als sei die Hölle losgebrochen, und später erst merkte Ragnhild, dass dieser Zustand für die Bürgers ganz normal war.

Die Kinder, die sich schon wieder balgten, schauten zu ihr hinüber und vergaßen ihren Streit.

„Was hat Vater gesagt?“, fragte der kleine Georg und schlenderte näher. Breitbeinig und selbstbewusst blieb er vor ihr stehen, ein kleiner Herr vom Scheitel bis zur Zehe. „Hat er dir gesagt, dass du uns nichts tun darfst, wenn du bleiben willst?“

Er warf seiner Schwester einen verschmitzten Blick zu, und in seltener Einmütigkeit nickte Verena ihm zu, streckte ihm dann anschließend allerdings wieder die Zunge heraus.

„Du Aas!“ Der Junge rannte mit vorgestreckten Händen auf sie zu, und Verena lief davon. Eine wilde Jagd durch das ganze Zimmer begann.

Nie zuvor hatte Ragnhild sich hilfloser gefühlt. Sie liebte Kinder, und sie glaubte, mit Kindern umgehen zu können, aber solch verzogenen, unausstehlichen Geschöpfen war sie noch niemals begegnet.

Eine halbe Stunde später schob Frau Josefine ihren gepflegten Kopf durch den Türspalt. Sie sah die Unordnung, die Kinder, die hintereinander herliefen, und sie nickte Ragnhild zu.

„Ich sehe“, sagte sie, „dass Sie mit den beiden Kleinen fertig werden.“

♥♥♥

In den ersten vierzehn Tagen im Hause der Bürgers kam Ragnhild buchstäblich keine Minute zur Besinnung, selbst abends nicht, wenn sie sich in ihrem kalten, zugigen Verschlag auszog und ins Bett kroch.

Kaum hatte sie die Decke über sich gezogen, dann schlief sie schon den Schlaf völliger Erschöpfung. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass Kinder derartig strapaziös und unartig sein könnten wie Georg und Verena.

Manchmal zweifelte Ragnhild, dass es ihr gelingen würde, jemals die Zuneigung dieser kleinen Teufel zu gewinnen. Besonders Georg war unerschöpflich im Ersinnen neuer Streiche, die ihr das Leben schwer machten und ihr mehr als einmal die Tränen in die Augen trieben.

Und weinte sie dann, hilflos und erschöpft, stand der kleine Mann vor ihr, die Hände in den Taschen, und grinste befriedigt.

Grausamkeit war, das merkte Ragnhild bald, Georgs stärkster Charakterzug. Die Katzen und Hunde der Nachbarschaft flohen entsetzt, wenn er irgendwo auftauchte, und sogar vor den unschuldigen Herbstblumen im Garten machte seine Zerstörungswut nicht halt.

Als Ragnhild die Kinder einmal auf die Schönheit der Blumen aufmerksam machte, riss Georg sie mit den Wurzeln heraus und trampelte auf ihnen herum, bis sie völlig zerstört waren.

„Sind sie jetzt noch immer schön?“, wollte er tückisch wissen.

Am schlimmsten war, dass seine Mutter alles mit lächelndem Gleichmut hinnahm.

„Kinder müssen sich austoben, Hilde“, sagte sie oft.

Es widerstrebte Ragnhild, irgendeine Sache halb zu machen, und wenn man ihr Kinder anvertraute, fühlte sie sich verpflichtet, sie so gut zu betreuen, wie es in ihrer Macht stand.

Ragnhilds Versuche, Georg und Verena ein wenig menschliches Empfinden und Mitgefühl zu vermitteln, scheiterten jedoch alle. Es war kein Wunder, dass niemand in der Nachbarschaft mit den beiden spielen durfte. Sie galten mit Recht als kleine Unholde, und nur die stolze Mutter war zu blind, die Schuld an ihrer Vereinsamung bei Georg und Verena zu suchen.

An den sonnigen Nachmittagen dieses Frühherbstes spielte Ragnhild mit den beiden häufig im großen, fast parkartigen Garten, der allerdings allmählich zu einer Wildnis geworden war, weil jeder Versuch, Kulturpflanzen zu halten, durch die wilden Kinder zum Scheitern verdammt war.

Ragnhild saß auf einem Baumstamm auf der zertretenen Wiese und stopfte die Socken des Jungen. Ab und zu warf sie einen Blick auf Georg, der mit seiner Schwester Fangen spielte.

Solange die beiden herumtollen konnten, waren sie ganz erträglich, und Ragnhild wandte sich beruhigt ihrer nie enden wollenden Flick- und Stopfarbeit zu.

Erst die ungewohnte Stille, die plötzlich eintrat, machte sie stutzig. Ruhe in diesem Hause kannte sie nur als Alarmzeichen. Schnell erhob sie sich und ging auf die beiden Kinder zu, die neben der großen, halb verrosteten Regentonne standen und hineinstarrten.

Ragnhild konnte sich nicht vorstellen, was es dort Interessantes zu sehen gab.

„Georg!“, rief sie. Das Kind grinste breit zu ihr hinüber.

„Sie ersäuft gleich“, rief er zurück. „Komm schnell, dann siehst du es noch.“

Jetzt flog das Mädchen nur so über das heruntergetretene Gras und erstarrte, als sie sah, was das Interesse und die Freude der Kinder erregte. Die beiden hatten eine Katze gefangen, ein junges, tollpatschiges Tier, das ihnen nicht schnell genug entwischt war.

„Sie hat mich gekratzt.“ Georg wies auf seinen Arm, auf dem die Krallen des Tieres tatsächlich ein paar rote Striche hinterlassen hatten. „Aber dafür muss sie jetzt auch absaufen. Guck mal, die hat ihren Kopf kaum noch über Wasser.“ Er schlug mit der Faust auf das arme Tier ein, das in den Tönen höchster Angst seine Not hinausmiaute.

„Ihr Teufel!“, stieß Ragnhild atemlos hervor, griff in das Fell des Kätzchens und wollte es herausnehmen, aber Georg hängte sich an ihren Arm und zwang sie, die Katze wieder loszulassen.