Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 600 - Wera Orloff - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 600 E-Book

Wera Orloff

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Beschreibung

Nach dem tragischen Tod ihres Mannes nimmt Barbara von Eckern eine Arbeit in der Stadt an. Ihre Tochter Gisela, die erst ein paar Monate alt ist, bleibt bei ihren Eltern zurück. Und so wächst sie gemeinsam mit dem Nachzügler der Eltern, dem dreijährigen Arnd, auf Gut Finkenstein auf.
Als die Kinder flügge werden, verlieben sie sich ineinander. Eine Liebe zwischen Onkel und Nichte ist zwar ungewöhnlich, aber nicht verboten. Graf Hubert, Arnds Vater, widersetzt sich dieser Verbindung dennoch aufs Schärfste. Dafür gibt es einen Grund, den er aber unter keinen Umständen preisgeben will. Er schlägt vor, dass Barbara ihre Tochter für eine Weile mit in die Stadt nimmt, um die Liebenden zu trennen. Doch plötzlich ist Gisela wie vom Erdboden verschwunden ...


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Inhalt

Cover

Der Schicksalskuss

Vorschau

Impressum

Der Schicksalskuss

Können zwei liebende Herzen den alten Hass besiegen?

Nach dem tragischen Tod ihres Mannes nimmt Barbara von Eckern eine Arbeit in der Stadt an. Ihre Tochter Gisela, die erst ein paar Monate alt ist, bleibt bei ihren Eltern zurück. Und so wächst sie gemeinsam mit dem Nachzügler der Eltern, dem dreijährigen Arnd, auf Gut Finkenstein auf.

Als die Kinder flügge werden, verlieben sie sich ineinander. Eine Liebe zwischen Onkel und Nichte ist zwar ungewöhnlich, aber nicht verboten. Graf Hubert, Arnds Vater, widersetzt sich dieser Verbindung dennoch aufs Schärfste. Dafür gibt es einen Grund, den er aber unter keinen Umständen preisgeben will. Er schlägt vor, dass Barbara ihre Tochter für eine Weile mit in die Stadt nimmt, um die Liebenden zu trennen. Doch plötzlich ist Gisela wie vom Erdboden verschwunden ...

Sieben Uhr schlug es vom Kirchturm. Die junge Frau in einem Zimmer im ersten Stock des Herrenhauses von Gut Finkenstein erwachte.

Durch die Öffnung zwischen den Vorhängen, die das Fenster verdeckten, fiel eine breite Bahn gleißenden goldenen Sonnenlichtes herein.

Sonst hatte alles anders ausgesehen, wenn Barbara von Eckern erwacht war. Auch die Kirchturmuhr hatte einen anderen Klang gehabt.

Plötzlich wusste Barbara es wieder: Sie war daheim bei den Eltern.

Die Stimmen, die sie jetzt gedämpft aus dem Erdgeschoss heraufklingen hörte, waren diejenigen von ihrer Mutter und ihrem Vater. Da! Das war die helle Kinderstimme von Arnd, dem kleinen Bruder, der jetzt drei Jahre alt wurde. Und dieses Weinen jetzt, das rührte von ihrem eigenen Kind her, dem vaterlosen kleinen Mädchen, das ihre Mutter so liebevoll unter ihre Fittiche genommen hatte.

Barbara stiegen Tränen in die Augen. Die Erinnerung an die entsetzlichen Stunden, die ihr alles geraubt hatten, überkam sie mit schrecklicher Macht.

»Was fehlt denn unserer Kleinen?«, hörte sie die Mutter begütigend sagen. »Hast du Hunger? Schau, Herzchen, ich komme schon mit der Flasche!«

Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Die Gräfin hatte sich der kleinen weinenden Enkelin angenommen und fütterte sie.

Ich habe es gut, trotz allem, dachte Barbara dankbar. Ich muss froh sein, eine solche Mutter zu haben, die ganz selbstverständlich zu ihren eigenen Aufgaben noch die meinen übernimmt. Gisela ist hier gut aufgehoben.

Auch sie selber war es. Sie konnte es sich leisten, liegen zu bleiben und sich zu erholen. Der Doktor hatte von einem Nervenschock gesprochen.

»Das braucht seine Zeit«, hatte er gesagt, »um überwunden zu werden. Ruhe, kräftiges Essen, freundlicher Zuspruch und die Zeit, die werden es schon machen.«

Wie ein Albtraum waren die letzten acht Tage vorübergerauscht. Sie hatte kaum etwas richtig wahrgenommen.

Eigentlich erinnerte Barbara sich nur genau an den furchtbaren Moment, da der Arzt ihr die verhüllte Gestalt im Krankenwagen gezeigt hatte.

Wie ein greller Blitz hatte sie die Erkenntnis durchzuckt, dass unter diesem Leinentuch ein Toter lag und dass dieser Tote ihr Mann war, der Vater ihres Kindes, der Geliebte, mit dem sie unaussprechlich glücklich gewesen war.

Dann war sie zu Boden gesunken, und eine gnädige Ohnmacht hatte sie von der Seelenqual erlöst. Was dann geschehen war, wusste sie nicht.

Erst auf Gut Finkenstein war Barbara wieder zu sich gekommen. Hier, in ihrem früheren Jungmädchenzimmer, lag sie seitdem in ihrem alten Bett.

Sie erinnerte sich, dass der Doktor sich über sie gebeugt hatte, der gute alte Dr. Werner, der schon die kleine Komtess Barbara behandelt hatte.

»Liegen bleiben! Schön liegen bleiben!«, hatte er befohlen und sie mit sanfter Gewalt wieder in die Kissen gedrückt, als sie sich mühsam hatte aufrichten wollen. »Na, nun wissen wir doch wenigstens wieder, wo wir sind, nicht wahr?«, hatte er dann wie ein liebevoller Großvater gesagt.

Die altmodische goldgeränderte Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, als er sich über sie gebeugt hatte.

»Ich bin daheim«, hatte sie geflüstert, »in Finkenstein bin ich, Doktor.«

»Prächtig, Barbara!«, hatte er sie gelobt. »Sie müssen noch zwei, drei Tage liegen bleiben, dann können Sie wieder aufstehen und leichte Arbeiten verrichten.«

»Bin ich krank, Herr Doktor?«

»Sie haben einen Nervenschock erlitten. Dadurch ist auch Ihr Kreislauf zusammengeklappt, Ihr Magen hat rebelliert, und immer wieder verloren Sie das Bewusstsein. Ich habe Ihnen ein Schlafmittel gespritzt, und dann haben Sie ein paar Tage geschlafen. Das ist wie Medizin für Sie.«

Barbara war noch immer ganz benommen gewesen, hatte aber begriffen, dass einige Tage vergangen waren seit jenem schrecklichen Morgen, da sie vor den rauchenden Trümmern inmitten des grauen Qualms auf den entseelten Körper im Krankenwagen gestarrt hatte.

Wo befand sich jetzt ihr Mann? Wo war ihr Kind? Und wie war sie hierhergekommen?

Sie hatte den Mund zu verzweifelten Fragen geöffnet und den Arzt verstört angesehen.

Aber sie war nicht dazu gekommen, ihm Fragen zu stellen, denn er hatte sie behutsam zurück in die Kissen gedrückt.

»Ich weiß, was Sie fragen wollen, Barbara.«

Er hatte sie einfach wie einst in Kindertagen beim Vornamen genannt, denn schließlich hatte er sie aufwachsen sehen.

»Ihnen ist wieder eingefallen, was geschehen ist. Sie erinnern sich wieder an das Unglück. Und nun wollen Sie wissen, was passiert ist, als Sie hier geschlafen haben.«

Der Doktor hatte den alten Sessel mit dem Gobelinbezug herangezogen, sich an ihr Bett gesetzt und ihre Hand in seine genommen.

Und dann hatte er ihr erzählt, was in den letzten Tagen geschehen war. Sie konnte aufgrund ihres Nervenschocks nicht bei der Beerdigung ihres Gatten anwesend sein. Er war sehr tüchtig und beliebt gewesen, und so hatten ihm viele Menschen das letzte Geleit gegeben, auch der Bürgermeister, der Bankdirektor und der Landrat. Auch ihre Eltern, so hatte Barbara erfahren, hatten Blumen ins Grab geworfen.

»Jedermann wusste, dass Sie krank waren und nicht teilnehmen konnten, Barbara. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Ich versichere Ihnen, dass Ihr Gatte mit großer Würde und Feierlichkeit bestattet wurde. Jetzt müssen Sie gesund werden, damit Sie für Ihr Kind sorgen und sich um den Nachlass kümmern können. Das alles wird noch Kraft genug kosten.«

Barbara hatte zu weinen begonnen. Sie wäre gerne dabei gewesen, als ihr Gatte zur letzten Ruhe gebettet worden war.

»Weinen Sie nur, mein Kind.« Der alte Arzt hatte sein großes weißes Taschentuch hervorgezogen und ihr die Tränen von den Wangen getupft. »Das erleichtert.«

Er hatte gewartet, bis sie sich ein wenig gefasst hatte, und dann erst weitergesprochen.

»Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass Sie auf dem Platz vor der Fabrik ohnmächtig geworden sind. Die Sanitäter trugen Sie in ein Nachbarhaus. Irgendjemand rief Ihre Eltern an, die sofort kamen. Ihre Mutter holte das Kind von einer Nachbarin, bei der es in Verwahrung war, und Ihr Vater fuhr Sie alle nach Hause. Seitdem liegen Sie hier, und Ihre Mutter pflegt das Baby.«

»Ich bin ihr sehr dankbar«, murmelte Barbara.

»Ja, Sie haben umsichtige und tüchtige Eltern. Ihr Vater hat schon mehrmals mit dem Rechtsanwalt Kreiner verhandelt. Es ist viel zu klären. Aber das hat noch Zeit. Sie können in Ruhe gesund werden, Barbara, und ich werde weiter jeden Tag nach Ihnen sehen kommen, bis ich sagen kann, Sie sind über dem Berg.«

Dann hatte er sich schwerfällig erhoben.

»Schlafen Sie ein bisschen, Barbara!«, hatte er ihr noch geraten, ehe er gegangen war.

Sie war auch gleich wieder eingeschlummert, denn der alte Doktor hatte ihr noch ein Schlafmittel gegeben.

Und nun saß sie auf der Bettkante und wagte es zum ersten Mal seit langer Zeit, auf ihren eigenen Füßen zu stehen.

Wie merkwürdig es in den Sohlen kribbelte und stach! Wie schwach sie in den Knien war! Sie hielt sich am Bettpfosten fest und tastete sich weiter.

Noch ein paar Schritte, und sie hatte das Fenster erreicht. Barbara zog die Vorhänge auseinander, und die Sonne flutete ins Zimmer.

Tief atmete sie die frische Luft ein. Ihre Augen ruhten auf den geliebten Parkbäumen und auf den Blumen, die in verschwenderischer Fülle blühten.

Wie friedlich alles war! Dicht und grün war das Blattwerk der Bäume. Der Rauch stieg aus den Essen des nicht weit entfernten Dorfes.

So schön war die Welt! Es schien undenkbar, dass Tod, Not und Grauen in ihr herrschten. Wie ein schwerer dunkler Traum kam Barbara von Eckern alles vor, was hinter ihr lag.

Wirr hing ihr das blonde Haar um das Gesicht. Sie war blass und etwas schmaler geworden, aber immer noch schön. Das Leid hatte ihre junge Schönheit nicht zerstören können.

Aber nun war sie allein. Warum hatte Heinz sterben müssen?

Babara lief zurück zum Bett und warf sich aufschluchzend in die Kissen.

♥♥♥

Wieder waren einige Wochen ins Land gezogen.

Die Patientin auf Gut Finkenstein war wieder gesund. Barbara von Eckern sah aus wie früher, nur dass sie Trauerkleidung trug statt der bunten Sommerkleidung.

Sehr ernst und still war sie geworden. Aber das war ja nicht verwunderlich.

Mehrmals war sie inzwischen in der Stadt gewesen und jedes Mal bedrückt zurückgekommen.

Sie hatte mit dem Rechtsanwalt Kreiner gesprochen, dem zweiten Buchhalter, der seit dem Verschwinden des ungetreuen ersten Buchhalters die Bücher ihres Mannes führte, und mit verschiedenen Behördenvertretern.

Das Ergebnis war traurig gewesen.

Die Fabrik war vollkommen niedergebrannt. Nichts davon war noch zu benutzen, weder die Maschinen und Einrichtungsgegenstände noch die Gebäude, die nur noch Ruinen waren.

Die Feuerversicherung zahlte für diesen großen Verlust keine Entschädigung, da infolge der durch die Unterschlagung des ersten Buchhalters entstandenen Ebbe in der Kasse die fällige Prämie nicht gezahlt worden war.

Das Wohnhaus war ebenfalls in dem jetzigen Zustand nicht mehr zu bewohnen. Nur Erdgeschoss und Keller waren noch intakt. Die restlichen Möbel, die noch erhalten waren, wurden abtransportiert und auf dem Speicher des Herrenhauses von Finkenstein untergestellt.

Frau Barbara ließ eine Anzeige aufgeben, in der sie das Haus und das Fabrikgrundstück zum Verkauf anbot. Sie hoffte, der Erlös würde ausreichen, um alle noch ausstehenden Forderungen der Arbeiter und Angestellten zu begleichen.

Diese Abwicklung lag in den Händen von Rechtsanwalt Kreiner. Barbara hatte damit nichts zu tun. Sie musste als eine arme Frau auf das elterliche Gut zurückkehren und darüber nachdenken, wie sie ihre eigene Zukunft und die ihres Kindes gestalten wollte.

Das also war aus der glänzenden Zukunft geworden, die die Komtess von Finkenstein einst vor sich gesehen hatte, als sie den Fabrikanten Heinz von Eckern geheiratet hatte.

Sie war ja nicht mehr die Erbin des Gutes, seitdem ihr kleiner Bruder Arnd, der Nachkömmling, zur Welt gekommen war. Wie oft hatte sie sich da glücklich geschätzt, so günstig verheiratet zu sein!

Und nun stand Frau Barbara vor einem Trümmerhaufen.

Viele Gespräche wurden auf Gut Finkenstein geführt. Da saßen sie dann zusammen, der Graf, die Gräfin und ihre Tochter, und jede der Frauen hielt eines der Kinder auf dem Schoß. Eine Generation trennte sie, und trotzdem waren sie beide vor Kurzem erst Mutter geworden, Barbara von Eckern zum ersten Mal, ihre Mutter, Gräfin Gertrude von Finkenstein, zum zweiten Mal.

Später Nachmittag war es. Der Gutsherr war mit Knechten und Mägden von den Feldern heimgekehrt, auf denen jetzt die Ernte im Gange war. In der Küche wirkte die alte Köchin Josefa und briet eine riesige Pfanne voll Kartoffeln für das Gesinde. Die jüngste Magd deckte den langen Tisch. Um sieben Uhr, wenn die Abendglocke läutete, würden sie sich alle versammeln und gemeinsam essen.

»Ich muss dankbar sein, dass ich hierbleiben kann«, murmelte Frau Barbara. »Stellt euch vor, ihr wäret arm und hättet keinen Platz für mich und mein Kind! Was sollte dann aus uns werden?«

Der Vater betrachtete seine Tochter, die er sehr liebte, voller Mitleid.

»Quäle dich nicht mit solchen Gedanken, Barbara!«, sagte er. »Du bist und bleibst unser Kind, und hier ist dein Platz, wenn du nicht weiterweißt.«

»Mein Erbteil habe ich schon ausgezahlt bekommen in Form einer Mitgift«, klagte sie, »und nun belaste ich euch von Neuem. Das bedrückt mich.«

»Ich kann es mir denken, Barbara. Und mir würde es ähnlich ergehen.« Die Gräfin nickte ihr verständnisvoll zu. »Bestimmt willst du sowieso nicht für immer hierbleiben. Ein junger Mensch wie du wird sich auf die Dauer langweilen bei unserem stillen, zurückgezogenen Leben. Du brauchst Abwechslung und eine Aufgabe, die dich ausfüllt, sonst kommst du ins Grübeln und merkst, wie allein du trotz allem bist.«

»Ja, trotz allem«, flüsterte Frau Barbara. »Obwohl ich euch habe und das Kind, bin ich allein, denn mir fehlt der Lebenskamerad.«

»Das ist es!«, stimmte ihr Vater zu. »Den kann keine Elternliebe ersetzen. Die Mutter hat recht. Eine Tätigkeit, die dich interessiert, würde dich von deinem Kummer ablenken.«

Sie sah von einem zum anderen, und ihre Finger spielten ein wenig ratlos mit der goldenen Kette, die sie um den Hals trug.

»Ich glaube, ihr habt euch schon viele Gedanken um meine Zukunft gemacht«, vermutete Barbara.

»Wir haben uns gedacht«, begann die Gräfin vorsichtig und streichelte dabei den blonden Schopf des kleinen Arnd, »du würdest gern wieder in die Stadt gehen. Schließlich hast du dich doch jetzt an diesen anderen Lebensstil gewöhnt, und hier ist alles so still.«

»Es tut mir gut, hier zu sein«, flüsterte Barbara und drückte die in ihrem Arm schlafende kleine Gisela fest an sich.

»Jetzt noch, mein Kind!«, erwiderte sie Mutter lächelnd. »Aber das wird sich ändern. Eines Tages siehst du, dass dies hier nicht mehr deine Welt ist.«

»Du magst recht haben, Mutter.«

»Und da meinten wir«, spann ihr Vater den Faden fort, »du solltest einen Beruf ergreifen, irgendeine Ausbildung beginnen.«

»Lernen?«

»Ja. Du bist noch jung, gerade zwanzig. Da fangen andere ihr Leben erst an. Du hast uns erzählt, dass du Maschineschreiben gelernt hast. Du hast deinem Mann bei der Arbeit geholfen und ihm abends am Schreibtisch die Sekretärin ersetzt. Wie wäre es, wenn du jetzt noch Kurzschrift und Sprachen lernen würdest? Dann könntest du dir eine Stellung suchen und vollkommen unabhängig sein.«

»Euch nicht mehr zur Last fallen? Das würde mich sehr erleichtern.«

»Von zur Last fallen kann gar keine Rede sein. Wir denken an einen Beruf nur um deinetwillen. Du musst auf andere Gedanken kommen und neue Menschen kennenlernen.«

Dass sie im Stillen hofften, Barbara würde auf diese Weise auch einen neuen Lebenskameraden finden, sprachen sie nicht aus.

»Und was wird aus Gisela?«, überlegte die junge Witwe.

»Mach dir keine Sorgen um das Kind!«, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort. »Gisela bleibt hier und wächst mit Arnd zusammen auf. Das ist für den Jungen gut. Er wird nicht so sehr verwöhnt. Und für deine Tochter ist es auch gut. Sie hat gewissermaßen einen Bruder und ist kein Einzelkind.«

»Wollt ihr das wirklich tun?« Rührung zitterte in Barbaras Stimme.

»Ja! Und ich bin entschlossen, Gisela auch einen Teil des Erbes zu hinterlassen wie einer Tochter«, fuhr ihr Vater fort. »Sie soll nicht unter dem Unglück ihres Vaters zu leiden haben. Sie wird auf Gut Finkenstein aufwachsen, wenn es dir recht ist. Und wenn sie eines Tages heiratet, bekommt sie die gleiche Mitgift wie du einst.«

»Das ist sehr großzügig, Vater«, stammelte Barbara mit feuchten Augen. »Wie soll ich dir nur danken?«

»Indem du dich wieder dem Leben zuwendest, Kind! Ich möchte, dass du wieder die tatkräftige, lebensfrohe Barbara wirst, die du einmal warst! Glaube mir, das ist auch im Sinne deines Heinz!«

Nun rollten wieder Tränen über die blassen Wangen der jungen Frau, aber es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern Tränen stiller Trauer und Dankbarkeit.

»Ihr seid so gut zu mir, so unendlich gut!«, hauchte sie. »Ich danke euch für alles. Ich werde tun, was ihr sagt.«

♥♥♥

Wiederum ein paar Wochen später – die Blätter der Birken wurden schon gelb – trat die junge Witwe in das etwas altmodische und staubige Büro des Rechtsanwalts Kreiner.

»Das ist eine von den Frauen, die ihrem Mann das Leben leicht machen«, hatte dieser einst zu ihrem Mann gesagt. »Da haben Sie einen guten Fang getan, mein Lieber, einen ganz großartigen Fang!«

Seine Begeisterung für Barbara von Eckern war nicht geringer geworden, seit der alte Herr sie näher kannte.

Immer, wenn er sie an der Seite ihres Gatten gesehen hatte, hatte er seine Freude an ihrer frischen Erscheinung und der natürlichen Gescheitheit gehabt, die aus ihren impulsiven Worten gesprochen hatte.

Ab und zu war er Gast gewesen in der Villa der von Eckern und hatte sich mit Genuss verwöhnen lassen. Wer setzte ihm denn schon einmal Leckerbissen vor? Und Frau Barbara hatte es Freude gemacht, den alten Junggesellen zu verwöhnen.

Es hatte ihm imponiert, wie sie in der ersten glücklichen Zeit ihrer Ehe einen Nachmittagskursus in Maschineschreiben besucht hatte, um ihren Mann entlasten zu können.

Manchmal war er abends auf einen Sprung vorbeigekommen. Dann war Heinz von Eckern im Arbeitszimmer auf und ab gegangen und hatte dabei diktiert, und Frau Barbara hatte seine oft schwierigen wissenschaftlichen Ausführungen niedergeschrieben. Es hatte sich ja um eine pharmazeutische Fabrik gehandelt, und Heinz von Eckern hatte Arzneimittel hergestellt.