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Als die Ferien im Internat beginnen, bleibt Ilse Komtess von Elmsborn als Einzige weinend zurück. Sie ist zu Hause nicht erwünscht. Seit ihre Mutter die Familie vor fünf Jahren verlassen hat, weigert ihr Vater sich, auch nur ein einziges Wort mit seiner Tochter zu sprechen.
Ilses Lehrerin Andrea Pichler ist empört und beschließt, die Komtess heimzubringen und dem Rabenvater die Leviten zu lesen. Das allerdings erweist sich als schwierig, denn der Graf hat sich in einen der Türme des schlossartigen Gutshauses am Meer zurückgezogen und lässt niemanden zu sich.
Andrea gelingt es dennoch, in sein Refugium einzudringen. Doch als sie dem im Rollstuhl sitzenden Grafen mit den fahlen Zügen, in dessen Augen alles Leben erloschen zu sein scheint, gegenübersteht, steigt grenzenloses Mitleid mit diesem gebrochenen Mann in ihr auf und noch ein anderes Gefühl, das sie nicht benennen kann ...
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Seitenzahl: 134
Cover
Wo sich die Wege kreuzen
Vorschau
Impressum
Wo sich die Wege kreuzen
Erfolgsroman um die Sehnsucht eines Frauenherzens
Als die Ferien im Internat beginnen, bleibt Ilse Komtess von Elmsborn als Einzige weinend zurück. Sie ist zu Hause nicht erwünscht! Seit ihre Mutter die Familie vor fünf Jahren verlassen hat, weigert ihr Vater sich, auch nur ein einziges Wort mit seiner Tochter zu sprechen.
Ilses Lehrerin Andrea Pichler ist empört und beschließt, die Komtess heimzubringen und dem Rabenvater die Leviten zu lesen. Das allerdings erweist sich als schwierig, denn der Graf hat sich in einen der Türme des schlossartigen Gutshauses am Meer zurückgezogen und lässt niemanden zu sich.
Andrea gelingt es dennoch, in sein Refugium einzudringen. Doch als sie dem im Rollstuhl sitzenden Grafen mit den fahlen Zügen, in dessen Augen alles Leben erloschen zu sein scheint, gegenübersteht, steigt grenzenloses Mitleid mit diesem gebrochenen Mann in ihr auf – und noch ein anderes Gefühl, das sie nicht benennen kann ...
»Ich habe keine Mutter mehr. Sie hat uns vor fünf Jahren verlassen.«
Armes Ding, dachte Andrea Pichler und strich der Kleinen über die glänzenden dunklen Haare.
»Aber Ihr Vater, Komtess, er wird doch auf Sie warten?«
Ein heftiges Kopfschütteln.
»Er mag mich nicht mehr, weil ich der Mama so ähnlich sehe. Ich darf nicht mehr nach Hause kommen.«
»Wo haben Sie denn sonst die Ferienzeit verbracht?«
»In einem Landhaus. Mrs. Brown hat das so angeordnet.«
»Mrs. Brown?«
»Sie ist unsere Hausdame.«
»Und warum fahren Sie dieses Jahr nicht wieder dorthin?«
»Weil Mrs. Brown möchte, dass ich mit ihrem Sohn Benno eine Ferienreise mache«, erklärte Ilse schluchzend. »Aber ich will nicht. Er ist so schrecklich gemein. Schon als Kind hat er mich oft gequält.«
Andrea presste zornig die Lippen zusammen. Nette Zustände waren das! Mit dem Vater der kleinen Komtess würde sie gerne mal ein ernstes Wort reden.
So leicht, wie der es sich machte, ging es wirklich nicht. Hier war sie als Ilses Lehrerin verpflichtet einzugreifen.
Andrea ahnte, dass diese unbekannte Mrs. Brown ganz bestimmte Absichten mit dieser verordneten Ferienreise verfolgte.
»Wann wollte Sie dieser Benno Brown denn abholen, Komtess?«
»Gestern! Ich habe mich den ganzen Tag versteckt.«
»Armes Kind, wie helfe ich Ihnen nur? Hier können Sie auf keinen Fall bleiben!« Andrea dachte angestrengt nach.
Sie hörten nicht, dass jemand das Klassenzimmer betrat, jemand, der ein verschmitztes Jungengesicht und zwei fröhliche braune Augen hatte.
»Beste Andrea, kannst du dich eigentlich nicht von diesem alten Kasten trennen?«
»O Volker, ich habe dich ganz vergessen! Gut, dass du hier bist! Ich weiß mir wirklich keinen Rat mehr!«
»Hängt dein ratloser Zustand mit diesem kleinen, verweinten Fräulein zusammen?«
»Ja. Darf ich zuerst bekannt machen? Das ist mein Freund Volker Holm, Komtess! Von Beruf Arzt, mit eigener Praxis.«
»Und mit einem Tick«, fügte Volker lachend hinzu.
»Tick?« Ilse vergaß vorübergehend ihren Schmerz und betrachtete verwundert den netten Fremden.
»Volker liest leidenschaftlich gerne Kriminalromane und wartet stündlich auf seinen großen Fall als Amateurdetektiv.«
»Falls Sie mal einen netten, kleinen Mord in der Familie haben sollten! Stelle meine Dienste gerne zur Verfügung!«
»Rede mir nicht immer dazwischen, Volker! Also, dies hier ist Komtess Ilse von Elmsborn.«
In kurzen Worten schilderte Andrea ihm, was sie soeben erfahren hatte.
»Donnerwetter! Das ist stark!« Volker blickte mitleidig auf das zarte junge Ding und setzte sich auf einen der Schultische. »Eine Idee hätte ich«, sagte er dann. »Sie könnten mit uns fahren.«
»Das wäre überhaupt eine Idee!« In Andreas Augen blitzte es auf. »Können wir unsere Reiseroute nicht ändern, Volker? Ich hätte mich gerne einmal persönlich mit dem Vater der Komtess unterhalten.«
»Ich darf ja nicht nach Hause fahren! Papa will mich nicht sehen!« Tief sank der dunkle Kopf herab. Tränen liefen wieder über die schmalen, blassen Wangen.
»Aber Sie haben Heimweh, nicht wahr, Kind?«
Ilse zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist ja niemand mehr da, der mich mag.«
»Dein Vorschlag ist gar nicht so übel, Andrea! Wir sehen uns den Rabenvater mal an, du hältst ihm einen Vortrag über die Pflichten eines Vaters, und wenn der Erfolg ausbleibt, fährt Komtess Ilse eben mit uns weiter.«
»Ich kann unmöglich verlangen, dass Sie meinetwegen Ihre Ferienpläne ändern«, widersprach sie.
»Aber Komtess!« Andrea strich der Weinenden beruhigend über die Wangen. »Sehen Sie denn nicht, dass Doktor Holm ganz begeistert von dieser Änderung ist? Er mischt sich für sein Leben gerne in anderer Leute Angelegenheiten, immer in der Hoffnung, auf den bereits erwähnten großen Fall zu stoßen.«
»Da werden Sie bei mir aber kein Glück haben!« Unter Tränen lächelte Ilse dem sympathischen Riesen zu.
»Auf denn, zu fröhlichen Taten!« Volker reckte die schlaksige Gestalt. Seine braunen Augen blitzten. Dieser merkwürdige, unzugängliche Graf von Elmsborn war so recht nach seinem Geschmack. Dessen Töchterchen allerdings auch. Die kleine Komtess hatte schon einen festen Platz in seinem Herzen.
Kurz darauf ging die Fahrt los. Das Gepäck war verstaut. Volker saß am Steuer, die Komtess hinten auf der Rückbank und Andrea neben ihm auf dem Beifahrersitz.
Volker und Andrea kannten sich schon seit ihrer Kindheit. In einem kleinen Schweizer Gebirgsdorf waren sie zusammen zur Schule gegangen und später auch auf das Gymnasium. Als Andreas Eltern gestorben waren, hatten Volkers Angehörige sich der Waise angenommen.
So waren sie beide wie Geschwister herangewachsen und waren sich auch in der gleichen Weise zugetan. Jeder wäre für den anderen durchs Feuer gegangen.
Der junge Arzt schmunzelte. Er war auf seine beiden hübschen Begleiterinnen stolz. Besonders Andrea war ein erfreulicher Anblick. Ein richtiges Schweizer Sportmädel. Braun gebrannt, dazu seidiges blondes Haar, von einem bunten Band gehalten, zwei blitzende blaue Augen und eine mittelgroße Gestalt, schlank und energiegeladen.
Die kleine Komtess wirkte dagegen sehr zart und schutzbedürftig. Volker kochte, wenn er an den Rabenvater dachte, der dieses halbe Kind so mitleidlos von sich stieß. Nun, Andrea würde ihm schon die Leviten lesen.
Volker drückte aufs Gaspedal. Er wollte den Damen zeigen, was in seinem Wagen steckte. Tatsächlich schaffte er es auch, mehrere Fahrzeuge zu überholen.
»Aber Komtess, was machen Sie denn da?«, rief er plötzlich.
Er hatte im Rückspiegel gesehen, dass Ilse von der Rückbank gerutscht war und nun dort unten hockte.
»Na, siehst du, Volker, das hast du jetzt von deiner Angeberei!«, warf Andrea ihm vor.
»Ich habe keine Angst, Fräulein Pichler, nur in dem Wagen, den wir gerade überholten, saß Benno Brown. Er hat mich gesehen!«
»Den hängen wir ab!« Volker strahlte. Eine Verfolgungsjagd war so recht nach seinem Herzen. Rasch bog er an der nächsten Abfahrtsstelle ein, und Benno Brown sauste an ihnen vorüber.
»Kein angenehmes Gesicht«, kommentierte Andrea, die den Fremden blitzschnell gemustert hatte.
♥♥♥
»Für so dumm hätte ich dich wirklich nicht gehalten!« Mrs. Brown sah ihren Sohn zürnend an. »Ich spiele dir die Chance deines Lebens zu, und du lässt sie dir entgleiten!«
»Kann ich dafür, wenn die Göre vor mir davonläuft? Warum willst du auch unbedingt, dass ich sie heirate?«
»Warum?« Mrs. Brown schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Warum wohl? Damit das alles hier einmal uns gehört!«
»Als wenn das so einfach wäre! Da spricht der Graf auch noch ein Wort mit.«
»Den habe ich in der Hand, gottlob. Und wenn die Komtess dich heiraten wollte, gäbe er ohne Weiteres seinen Segen.«
»Zuerst einmal muss ich die Göre erwischen«, knurrte Benno. »Dann werde ich versuchen, ihr den Kopf zu verdrehen.«
»Das dürfte dir leichtfallen.« Mrs. Brown betrachtete ihren Sohn mit stolzem Blick. Benno war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Der kleine Schmiss auf der rechten Wange verriet seine Zugehörigkeit zu einer schlagenden akademischen Verbindung. Er war mittelgroß, ein wenig gedrungen und immer sehr elegant gekleidet.
In wenigen Jahren würde Benno seinen Doktor machen, und der Graf konnte mit einem solchen Schwiegersohn wirklich zufrieden sein.
»Du glaubst also wirklich, dass Komtess Ilse in diesem Auto saß?«
»Ich habe sie genau erkannt, bevor das alberne Ding von der Rückbank gerutscht ist. Ein junger Mann und eine elegante blonde Frau saßen mit ihr im Auto.«
»Was mögen das für Leute gewesen sein? Es ist wirklich unerhört von der Komtess, sich so zu benehmen!«
»Glaubst du, ich hätte mich nicht geärgert? Eine ganze Woche lang habe ich mich in dem Nest aufgehalten und nach ihr gesucht! Alles vergebens! Dann kam mir die Idee, dass sie vielleicht nach Hause gefahren sein könnte! Na ja, und so bin ich eben hier!«
»Eine unangenehme Geschichte! Dabei besitzt sie keinen Pfennig Geld!«
Benno lachte hämisch. »Du legst sie aber wirklich an die Kette. Gut so! Desto weniger Arbeit habe ich später mit ihr!«
»Ob ich mal in dem Landhaus anrufe, in dem sie sonst ihre Ferien verbrachte?«
»Lass das, Mama! Wenn mich nicht alles täuscht, kommt der besagte Wagen gerade auf das Haus zugefahren!«
»Täuschst du dich auch nicht?« Aufgeregt trat Mrs. Brown zu ihrem Sohn an das Fenster.
»Jetzt ist er hinter den Bäumen verschwunden. Aber es war derselbe Wagen, ohne Zweifel.«
♥♥♥
Volker blickte angestrengt geradeaus. Komtess Ilse hatte ihm soeben erklärt, dass die dunklen Türme vor ihnen schon zu Gut Elmsborn gehörten.
»Dann hätten wir es ja bald geschafft.« Der Weg stieg jetzt steil bergan.
Plötzlich stießen Andrea und Volker einen Schrei der Überraschung aus. Vor ihnen lag die brandende See, und auf hohen Klippen, fast aus dem Meer emporwachsend, stand Gut Elmsborn da. Ein uralter, riesiger Bau aus dunklen Quadersteinen mit unzähligen Türmen und Wehrgängen. Die See brach sich an dem spitzen Fels.
Einer der Türme ragte weit ins Meer hinein, nur durch einen überdachten Steg mit dem Gutshaus verbunden.
»Dort wohnt jetzt mein Vater.« Ilses Hand deutete auf den Turm. »Seit meine Mutter wegging, hat er das Gutshaus verlassen und wohnt ganz allein dort drüben. Außer dem alten Diener lässt er niemanden zu sich.«
Fast zwei Wochen hatten sie gebraucht, um die Küste zu erreichen, zwei herrliche, von Sonnenschein vergoldete Wochen. Eine wunderschöne Freundschaft verband sie mittlerweile.
»Sie sehen so unglücklich aus, Komtess! Freuen Sie sich denn nicht, Ihre Heimat wiederzusehen?«
Ilse schüttelte den Kopf. Sie schmiegte sich an Andrea und begann heftig zu weinen.
»Kein Grund zur Aufregung«, brummte Volker mitleidig. »Wir bleiben ein paar Tage in Ihrer Nähe, und wenn es nicht klappt, fahren Sie mit uns weiter.«
»Können wir nicht gleich durchfahren?«, fragte Ilse schüchtern.
»Das geht nicht«, erwiderte Andrea. »Wir müssen Ihre Angelegenheit regeln, Kind! Was soll denn werden, wenn Sie nächstes Jahr das Internat verlassen?«
»Ich fürchte mich so vor Mrs. Brown und ihrem Sohn«, verriet Ilse den Freunden.
Volker sah grimmig vor sich hin und dachte nach.
»Hören Sie, Komtess! Wir sind doch Ihre Freunde! Warum laden Sie uns nicht ein, für ein paar Tage auf dem Gut zu bleiben?«
»Das wäre herrlich! Aber Mrs. Brown wird es niemals erlauben!«
»Darauf lassen wir es ankommen! Wir haben ein dickes Fell, nicht wahr, Andy?«
»Allerdings! Sie ist ja nur die Hausdame! Zum Hinauswerfen dürften ihre Befugnisse nicht ausreichen!«
»Sie wird es Ihnen sehr schwer machen«, gab Ilse zu bedenken.
»Dann werden wir den Drachen erlegen!«, sagte Volker lachend.
Andrea betrachtete den finsteren, von der See umtosten Turm. Was für ein Mensch mochte dort wohnen? Wie sah dieser Graf von Elmsborn aus, der sich vor der Welt verbarg, weil er nicht stark genug war, sein Schicksal zu ertragen?
Eines stand fest! Er musste ein schlechter Vater sein, denn er vernachlässigte seine Tochter in sträflicher Weise.
Begriff er denn nicht, was für ein Glück es bedeutete, eine solche Tochter zu haben?
Der Wagen durchfuhr ein kleines Fischerdorf und hielt vor einer hohen Parkmauer, die sich am Ende der Straße kilometerweit hinzuziehen schien. Vom Meer war hier nichts mehr zu sehen.
»Fahren Sie ein Stück an der Mauer entlang, Doktor Holm, bis zur Gärtnerei. Von dort aus können wir durch den Park an die Terrasse des Hauses fahren.«
So kam es, dass Mrs. Brown vergeblich darauf wartete, dem Besuch in der Halle entgegenzugehen. Wie eine eherne Statue stand sie später auf der Terrasse und blickte dem Auto entgegen, das es wagte, auf den Gutshof zu fahren.
»Guten Tag!« Volker pflanzte sich herausfordernd vor der zugeknöpften Engländerin auf und störte sich keinen Deut an ihren verächtlichen Blicken. »Sie sind die Hausdame, wie?«
Andrea schmunzelte. Volker schien den richtigen Ton anzuschlagen. Er behandelte Mrs. Brown wie seine Untergebene und nahm nicht mal die Hände aus den Jackentaschen.
»Ich bin Doktor Holm, und dies ist Fräulein Pichler, die Internatslehrerin. Wir möchten Komtess Ilse zu ihrem Vater bringen.«
»Der Graf empfängt nicht!« Es klang hochnäsig und ablehnend.
Aber Volker war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er überragte die Engländerin um Haupteslänge.
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht so ohne Weiteres behaupten! In solchen Fällen fragt man besser erst mal nach! Bis Sie das getan haben, werden wir uns nach ansprechenden Gastzimmern umsehen!«
»Gastzimmer?« Mrs. Brown schnappte nach Luft.
»Sie haben richtig verstanden! Komtess Ilse war so liebenswürdig, uns für ein paar Tage einzuladen.«
»Das geht nicht!« Sie breitete unwillkürlich die Arme aus, als wolle sie Volker den Durchgang verwehren.
»Liebe Frau, diese Entscheidung müssen Sie anderen Leuten überlassen. Dazu sind Sie nicht befugt! Oder soll ich mich über Sie beim Grafen beschweren?«
»Das können Sie ja mal versuchen! Benno!« Mit schriller Stimme rief sie nach ihrem Sohn, der jetzt auf die Terrasse geschlendert kam.
»Benno, hör nur! Die Komtess wagt es, diese Leute aufs Gut einzuladen!«
»Jawohl, ich wage es, Mrs. Brown! Haben Sie vergessen, dass ich hier zu Hause bin?« Die kleine, schüchterne Ilse stand mit geballter Faust vor der boshaften Frau. Sie verspürte keine Angst mehr, nur noch schrecklichen Zorn. Was erlaubte sich diese Mrs. Brown, so mit ihren Freunden umzuspringen!
»Das ist gegen die Anweisung, die ich von Ihrem Vater habe«, behauptete Mrs. Brown.
»Graf von Elmsborn weiß noch nicht einmal, dass wir hier sind!«, mischte Andrea sich ein. »Wie kann er es da schon verboten haben? Gehen Sie jetzt, und melden Sie uns bei ihm. Als Lehrerin der Komtess wünsche ich eine Unterredung mit dem Grafen.«
Mrs. Brown drehte sich zürnend zu ihrem Sohn um.
»Benno, nun sag du doch auch einmal etwas.«
Der junge Brown zuckte gleichgültig die Schultern. Seine Augen lagen genießerisch auf Andrea. Donnerwetter! Wenn die Kleine ein paar Wochen auf dem Gut blieb, konnten das angenehme Ferien werden!
»Ich weiß nicht, was du hast, Mama! Komtess Ilse kann doch Freunde mitbringen! Dagegen hat Graf von Elmsborn bestimmt nichts einzuwenden!«
Seine Mutter maß ihn mit bitterbösen Blicken. Der eigene Sohn ging ins feindliche Lager über.
♥♥♥
Andrea kehrte von ihrem Morgenspaziergang zurück. Sie trug einen Strauß Wiesenblumen in der Hand, die sie draußen vor der Parkmauer gepflückt hatte. Vom Turm der Dorfkirche schlug es halb acht.
Volker war ein passionierter Langschläfer, und Ilse schien seine Ambition zu teilen, wie Andrea in den wenigen Tagen ihres Aufenthaltes auf Gut Elmsborn feststellen konnte.
Es war also noch etwas Zeit bis zum Frühstück. Sie bog von der Straße auf die Deichmauer ab. Der Anblick des Meeres fesselte sie immer aufs Neue. Es war Ebbe, vor ihr befand sich jetzt das Wattenmeer. Ein wundervoller Morgen und eine schwermütige, faszinierende Landschaft. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass das Meer auf sie, ein Kind der Berge, solchen Eindruck machen könnte.
Andrea spazierte bis an das äußerste Ende des Dammes und hockte sich dort auf einen Stein, das Gesicht der Sonne zugewandt. Rechts von ihr, auf der Innenseite des Dammes, begannen die schroffen Felsklippen, auf denen das Gutshaus zum Teil errichtet war.
Jetzt erst sah Andrea, dass sie ziemlich nahe an dem vorgeschobenen Turm, dem Wohnsitz des Grafen, stand. Er hatte sie nicht empfangen, der wunderliche Mann. Durch den Diener hatte er ihr ein kaltes, schroffes Nein ohne jeden Kommentar übermitteln lassen.
Seit Tagen grübelte Andrea nun darüber nach, wie es ihr gelingen könnte, den Grafen dennoch zu sprechen.
Auf irgendeine Weise würde sie zu ihm gelangen. Ein nachdenklicher Ausdruck trat in ihre Augen. Sie war doch eine geschickte Turnerin! Wenn sie sich hier herabließ und über die Klippen zum Turm kletterte?
Einmal am Turm angelangt, bedurfte es nur noch ein paar geschickter Klimmzüge, um in eines der offenen Fenster einzusteigen.
Andrea überlegte nicht mehr lange. Der Graf würde sicher schon erwacht sein. Und in dieser frühen Morgenstunde war bestimmt noch kein Diener da, der sie vertreiben konnte.