Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 698 - Wera Orloff - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 698 E-Book

Wera Orloff

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Beschreibung

Komtess Theresa von Zeuthen verlebt eine freudlose Kindheit und Jugend. Die Mutter stirbt bei ihrer Geburt, und die Stiefmutter will nichts von ihr wissen. So wächst Theresa ohne elterliche Liebe bei einer alten Tante und deren strengem Mann auf. Als sie flügge wird, verliebt sie sich unsterblich in einen jungen Mann und genießt es in vollen Zügen, endlich einmal mit Liebe überschüttet zu werden.
Aber leider währt das Glück nicht lang. Schon bald kommt Sebastian bei einem tragischen Unglück ums Leben. Für Theresa bleiben nur die Erinnerungen an den geliebten Mann - und sein Kind, das sie unter ihrem Herzen trägt ...

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Inhalt

Cover

Spät kam die Liebe zu Theresa

Vorschau

Impressum

Spät kam die Liebe zu Theresa

Eine freudlose Jugend machte sie einsam

Komtess Theresa von Zeuthen verlebt eine freudlose Kindheit und Jugend. Die Mutter stirbt bei ihrer Geburt, und die Stiefmutter will nichts von ihr wissen. So wächst Theresa ohne elterliche Liebe bei einer alten Tante und deren strengem Mann auf. Als sie flügge wird, verliebt sie sich unsterblich in einen jungen Mann und genießt es in vollen Zügen, endlich einmal mit Liebe überschüttet zu werden.

Aber leider währt das Glück nicht lang. Schon bald kommt Sebastian bei einem tragischen Unglück ums Leben. Für Theresa bleiben nur die Erinnerungen an den geliebten Mann – und sein Kind, das sie unter ihrem Herzen trägt ...

Das Telefon klingelte auf Schloss Herrensee. Die dunkelhaarige junge Gräfin nahm den Hörer ab.

»Hallo, Liane? Bist du selbst am Apparat?«, tönte es ihr entgegen.

»Ja. Hier Liane von Zeuthen!«

»Liane, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht! Ist es nicht bald so weit?«

»Noch nicht, Hilda!«, erwiderte die junge Frau lächelnd. »Ich muss eben Geduld haben! Der Junge kommt, wann es ihm passt.«

Der Junge? War es denn so sicher, dass es ein Stammhalter war? Gräfin Liane erwartete ihr erstes Kind, und solche teilnahmsvollen Anrufe erhielt sie häufig in den letzten Tagen.

Alle mochten die ausgeglichene Liane von Zeuthen gern. Etwas Warmes und Herzliches ging von ihr aus und machte den Umgang mit ihr so angenehm. Es war nicht nur wegen der hervorragenden Stellung ihres Gatten, dass die Menschen sich um sie bemühten.

Cornelius Graf von Zeuthen war eine wichtige Persönlichkeit und als Besitzer eines Industriebetriebes genauso geschäftstüchtig wie in der Verwaltung seiner Ländereien und des geschickt angelegten Vermögens. In der guten Gesellschaft legte man Wert darauf, mit ihm befreundet zu sein.

Aber diese Anteilnahme der Freundin galt nur der jungen Frau, die vor dem bisher größten Ereignis ihres Lebens stand.

»Ich drücke dir die Daumen, Liane! Es wird schon alles gut gehen! Und Nel ruft mich doch gleich an, wenn das Kind da ist, nicht?«

»Bestimmt, Hilda! Vielen Dank für deine guten Wünsche und deinen Anruf!«

Die junge Frau legte den Hörer zurück auf die Gabel und stand schwerfällig aus dem Sessel auf. Es war eine Erleichterung, langsam hin und her zu gehen.

Viele Stunden war sie schon in diesem luxuriösen Raum auf und ab gewandert. Stunden des Wartens, Stunden der inneren Vorbereitung!

Gräfin Liane hatte keine Angst. Sie freute sich nur unbändig auf das Kind. Sie war eine glückliche Frau, und das Glück ihrer Ehe sollte jetzt seine Krönung erfahren.

Da! Was war das? Welcher Schmerz zog plötzlich durch ihren Leib?

Die erste Wehe!, dachte sie freudig erschrocken. Jetzt geht es los!

Es ging ihr wie allen Frauen: Sie glaubte noch nicht recht daran. Sie schaute zu der gleichmäßig tickenden Uhr hinüber und zählte die Minuten. Da war er wieder, der Schmerz! Fünfmal war der nadelfeine Sekundenzeiger über das Zifferblatt gelaufen. Und noch einmal fünf Minuten! Wieder und immer wieder! Liane von Zeuthen wanderte langsam auf und ab, die Hände über dem Leib verschlungen, und horchte in sich hinein.

So fand sie ihr Mann, als er gegen ein Uhr von dem Besuch in der Fabrik vor den Toren der kleinen Stadt zurückkam. Beim ersten Blick schon schien sie ihm verändert. Ihr sanftes Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck angenommen.

Er eilte auf sie zu und umfing sie sanft.

»Liane, Liebste, was ist?«

»Das Kind, Nel, es will kommen!«

»O Liane!«

Der Seufzer des Mannes war ebenso sehr Angst wie Freude. Würde auch alles gut gehen? Was konnte geschehen? Er fürchtete sich vor den nächsten Stunden.

Verlegen auflachend löste er sich von ihr.

»Es ist eine bekannte Tatsache, Liane, dass die werdenden Väter mehr leiden als die Mütter. Du bist so ruhig und gelassen. Meinst du nicht, dass wir jetzt aufbrechen sollten, Liebste?«

Es war beschlossen worden, dass Liane in der Klinik von Professor Rebenhahn entbinden sollte. Dort standen die modernsten Einrichtungen zur Verfügung, und man konnte sicher sein, dass nichts versäumt wurde.

»Ich glaube, du kannst noch essen, Nel«, erwiderte sie und lächelte ihm beruhigend zu. »Es gibt gefüllte Rouladen, die isst du doch besonders gern.«

»Willst du denn nichts essen?«

»Nein, danach ist mir nicht zumute. Ich packe mein Köfferchen. Dann gehen wir.«

Eine halbe Stunde später verließen sie das Schloss. Der Wagen parkte vor dem Portal. Graf Cornelius selbst steuerte ihn.

Gräfin Liane stammte aus guten Verhältnissen. Sie hatte jedoch keine nahen Angehörigen mehr, da die Eltern bereits in ihrem siebzehnten Lebensjahr bei einem Autounfall gemeinsam den Tod gefunden hatten.

Ein Anwalt verwaltete seitdem das Vermögen, das ihr als Erbe zugefallen war, während sie selbst in einem Pensionat zu einer vollendeten jungen Dame erzogen worden war. Bei ihrer Pensionatsfreundin Hilda hatte sie mit neunzehn Jahren Graf Cornelius kennengelernt und sogleich ihr Herz an den interessanten, gut aussehenden Fünfunddreißigjährigen verloren.

Sechzehn Jahre Altersunterschied! Sie waren den beiden noch nie zu Bewusstsein gekommen. Der Graf trug seine junge Frau buchstäblich auf Händen. Alle Schatten des Lebens blieben Liane fern. Strahlend lag die Zukunft vor ihnen.

♥♥♥

Zwei Uhr mittags war es gewesen, als sie in der Klinik eingetroffen waren. Jetzt war es zwei Uhr nachts, und noch immer war der Stammhalter nicht da.

Nach sechsunddreißig Stunden, am 22. Februar um zwei Uhr nachts, tat Gräfin Lianes Kind seinen ersten Schrei. Aber die Mutter hörte ihn nicht. Sie war bewusstlos.

Fünf Menschen kämpften in dem Entbindungszimmer um ein dahinschwindendes Leben. Der Professor, zwei Assistenzärzte und zwei Schwestern bemühten sich um Gräfin Liane. Das winzige Bettchen mit dem Kind hatte man hinausgeschoben. Niemand beachtete es.

Eine Blutübertragung wurde gemacht. Einer der Ärzte spendete das Blut.

Danach kam die junge Gräfin für wenige Minuten zu sich. Graf Cornelius wurde gerufen und beugte sich erschüttert über sie.

»Es ist ein Mädchen, Nel!«, flüsterte die junge Frau sterbensmatt. »Bist du sehr enttäuscht?«

»Aber gar nicht, Liebling!«, versicherte er und küsste sie. »Es ist wunderbar. Nun musst du gesund werden, hörst du?«

»Ja«, hauchte sie. »Wir wollen es Theresa nennen – nach meiner Mutter. Ich habe eben von ihr geträumt ...«

Ihr Kopf sank zur Seite. Sie war schon wieder ohnmächtig.

Noch zwei Stunden flackerte Gräfin Lianes Leben. Dann stellte das junge Herz sein Schlagen ein. Alle Kunst des berühmten Arztes war vergebens gewesen.

Als ihr Mann in den Vormittagsstunden des 22. Februar aus der Klinik wankte, hatte er seine kleine Tochter nicht einmal angesehen. Man hatte es ihm angeboten, aber er hatte nur abgewinkt.

Er hatte die Frau, die er liebte, die sein ganzes Glück bedeutete, verloren. Für Graf Cornelius stürzte die Welt ein. An sein Kind dachte er nicht.

Das waren Theresas erste Lebensstunden: beiseitegeschoben, unbeachtet, ohne herzliches Willkommen. Sie kam in eine Welt ohne Liebe, denn alle Liebe, die ihr Vater zu geben vermochte, hatte ihrer Mutter gegolten.

Die kleine Theresa war schon in dieser Stunde so gut wie eine Waise.

♥♥♥

Zwei Jahre schlichen dahin.

Klein Theresa verspielte sie still in ihrem musterhaft eingerichteten Kinderzimmer. Sie hatte nie das süße Wort »Mama« gelernt. Schwester Lore, die Säuglingspflegerin, war durch eine geschulte Kindergärtnerin ersetzt worden. »Tante Gerda« brachte Klein Theresa Manieren bei, zog sie an und aus, badete sie und lehrte sie, den Brei zu löffeln. Tante Gerda sagte auch, dass man mittags Papa entgegenlaufen und ihn mit einem Küsschen begrüßen müsse. Und Theresa tat es, weil es so befohlen worden war.

Es kam nie vor, dass Graf Cornelius sein kleines Mädelchen mit seinen Armen auffing und an seine Brust presste.

»Guten Tag, Resa!«, pflegte er zu sagen, sich hinabzubeugen und einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn zu drücken. »Na, warst du auch brav? Du musst Tante Gerda schön gehorchen und jetzt zum Beispiel lieb deine Suppe essen, nicht wahr?«

Und damit verschwand er im Speisezimmer, wo für ihn gedeckt worden war.

Sehnsüchtig sah Klein Resa ihm manchmal nach. Sie wusste nicht, wonach sie sich sehnte, aber es fehlte etwas.

Es fehlte ein Mensch, der dem einsamen kleinen Wesen das Gefühl gab, geliebt, willkommen und unentbehrlich zu sein.

»Mein Leben ist so unbeschreiblich leer!«, klagte der Graf der besten Freundin seiner verstorbenen Frau, Hilda von Kramm.

Hilda – selbst glückliche Ehefrau und Mutter – sah ihn aufmerksam an.

»Sie müssen uns öfter besuchen, Nel! Vielleicht gibt es für Sie noch ein neues Glück, für Sie und Ihr Töchterchen.«

Hilda dachte oft an eine zweite Heirat des Grafen, an eine Mutter für Resa. Gewiss war Liane unvergessen, aber das Leben forderte sein Recht.

Auch Graf Cornelius hatte den Sinn dieser Worte verstanden. Hilda von Kramm hatte viele reizende Freundinnen, junge Damen aus den besten Familien. Es war eine Möglichkeit ...

So kam es, dass im zweiten Jahr nach Lianes Tode ihr Mann oft Gast im Hause Kramm war. Er wartete darauf, dass sein Herz beim Anblick eines der weiblichen Wesen, die dort aus und ein gingen, schneller schlagen würde.

Und das Erhoffte geschah. Über Nacht stand das Herz des Grafen in Flammen, entzündete sich beim Anblick einer grazilen jungen Frau: Doris von Windsmark.

Baronesse Doris war die verwöhnte Tochter eines Industriellen aus dem Rheinland. Sie verbrachte bei ihrer Tante, der Schwiegermutter von Hilda, den Sommer und genoss die Vergnügungen, die das Leben auf dem Lande zu bieten hatte.

Fünfundzwanzig Jahre war Baronesse Doris alt und in allen Luxusbadeorten und internationalen Wintersportplätzen zu Hause. Sie fuhr ihren eigenen Wagen, trug aparte Modellkleider und tanzte wie eine Göttin.

»Sie sind die bezauberndste Frau der Welt«, sagte Graf Cornelius und beugte sich zum Kuss über ihre Hand. Vergessen war Liane, die warmherzige, in ihrem Wesen so schlichte Frau! Die Leidenschaft für die kapriziöse Doris überkam ihn wie ein Rausch.

Baronesse Doris lächelte geschmeichelt. Ihr schlanker, geschmeidiger Körper schmiegte sich im Tanz sekundenlang fester an ihn. Aus den Augenwinkeln blitzte ein verheißungsvoller Blick.

So fand Cornelius von Zeuthen Mut zu seiner ersten Einladung. Sie trafen sich nun auch außerhalb von Hildas Heim.

Hilda sah diese Entwicklung mit Enttäuschung.

Ausgerechnet für Doris von Windsmark interessierte er sich! Warum gerade für dieses oberflächliche und kaltherzige Geschöpf, das Hilda nie so recht hatte leiden können? Doris dachte doch nur an sich. Ihre Eitelkeit beherrschte ihr Leben. Suchte Cornelius von Zeuthen etwa in ihr die Mutter für sein Kind?

Der Graf dachte überhaupt nicht an die kleine Theresa, als er seine Wahl traf.

Er war fasziniert von dieser strahlenden Frau, die nach und nach sein ganzes Denken zu beherrschen begann.

Es ging auf den Herbst zu. Graf Cornelius und Doris sagten längst Du zueinander. Man sah sie oft gemeinsam in Bars und eleganten Tanzlokalen der Umgebung. Und niemand wunderte sich darüber, als schließlich ihre Verlobung bekannt gegeben wurde.

Im Frühling sollte schon die Hochzeit sein. Der Graf wollte nicht mehr lange warten.

Bis dahin gab es viel zu tun. Die Vorbereitungen hielten Graf Cornelius ständig in Atem.

Baronesse Doris hatte es abgelehnt, in die Räume zu ziehen, in denen Graf Cornelius mit Liane, seiner ersten Frau, gewohnt hatte. Auch von der Übernahme der Möbel und anderer Einrichtungsgegenstände wollte sie nichts wissen.

»Hier ist der Geist deiner toten Frau lebendig. Alles wird dich ständig an sie erinnern. Glaubst du vielleicht, ich will in dem Sessel sitzen, in dem sie immer saß? Wir fangen ein neues Leben an, es darf keine Vergangenheit mehr geben!«

Der Graf beugte sich selbstverständlich diesem Wunsch seiner angebeteten Braut.

Die bisher benutzten Gemächer wurden Gästezimmer. Die übrigen Räume ließ er umbauen, gänzlich renovieren und von einem erstklassigen Innenarchitekten modern ausstatten.

Als Graf Cornelius mit seiner Braut die Einrichtung besprach, wurde plötzlich ein anderes Problem aufgeworfen, von dem bisher noch nie die Rede gewesen war.

»Und wo soll das Kinderzimmer sein, Doris?«

Sie sah ihn groß an.

»Kinderzimmer? Ich will keine Kinder!«

»Aber ich habe ein Kind!«

»Richtig, dieses kleine Mädchen! Wie heißt es doch gleich?«

»Theresa! Es ist ein liebes, artiges kleines Geschöpf!«

»Ich kann kleine Kinder nicht leiden«, erklärte Doris, »schon gar nicht, wenn sie mich daran erinnern, dass ich meinen Mann sozusagen aus zweiter Hand bekomme, dass nämlich vor mir schon eine andere mit ihm glücklich war.«

»Doris!« Er sah sie verwirrt an.

»Ich hatte selbstverständlich angenommen, mein Lieber, dass das Kind aus dem Haus kommt!«, sagte sie kühl. »Es gibt so hervorragend geleitete Internate.«

»Aber ... aber«, stammelte er hilflos. »Resa braucht eine Mutter.«

»Dachtest du, ich würde das Kind einer anderen Frau aufziehen? Es würde mich ja ewig an eine unangenehme Tatsache erinnern, die ich vergessen möchte!«

Er knickte in den Schultern ein wenig ein und senkte den Kopf.

»Selbstverständlich, Doris!«

Graf Cornelius von Zeuthen, der allgewaltige Gutsherr und Fabrikbesitzer, war in der Hand dieser Frau zu einer willenlosen Marionette geworden. Er wagte nicht, einem ihrer Wünsche zu widersprechen.

Und so verriet er sein Kind.

♥♥♥

In einer kleinen Stadt in Schwaben lebte die einzige Schwester des Grafen. Sie hieß Marianne und hatte einen bürgerlichen Superintendenten geheiratet. Die Ehe war kinderlos.

Pfarrer Dr. Kleinmüller war ein salbungsvoller, steifer Mann. Die Musterhaftigkeit war ihm sozusagen angeboren.

Marianne, die fünfzigjährige Schwester des Grafen, war seit fünfundzwanzig Jahren mit ihm verheiratet und mit der Zeit selber steif und hölzern geworden.

An diese einzigen Verwandten wandte sich der Graf wegen Resa. Er schrieb seiner Schwester einen Brief und teilte ihr mit, dass er sich wieder zu verheiraten gedenke, mit einer bedeutend jüngeren Frau, die noch keinen Sinn für die Aufgaben einer Mutter hätte. Aus diesem Grunde suche er eine Bleibe für sein Töchterchen und hätte dabei an seine Schwester gedacht.

Bei Dir, liebste Marianne, weiß ich die Erziehung Theresas in den besten Händen, schrieb er und bat um eine baldige Antwort.

Im Pastorenhaus rief dieser Brief eine nicht geringe Aufregung hervor.

Frau Marianne hatte ihn kaum gelesen, da war sie auch schon für des Bruders Idee eingenommen. Endlich erhielt sie einmal eine wirkliche Aufgabe!

Unverzüglich begab sie sich in die Studierstube ihres Mannes.

»Nel hat geschrieben«, sagte sie. »Er bittet uns, sein verwaistes Kind zu uns zu nehmen, und ich meine, er wird nicht umsonst bitten. Es ist doch einfach Christenpflicht.«

»Da magst du recht haben«, pflichtete der Gatte ihr bei und rutschte unbehaglich auf seinem Sessel hin und her. Dann rückte er umständlich seine Brille zurecht und vertiefte sich in die Lektüre des Briefes.

Dr. Gottfried Kleinmüller hatte dichtes graues Haar. Seine Gesichtsfarbe war frisch, seine Lippen schmal, die blauen Augen kurzsichtig. Er hielt seinen Hals sehr steif in seinem stets untadeligen weißen Kragen.

Marianne hatte gesagt, es sei Christenpflicht, sich der kleinen Nichte anzunehmen, und somit konnte er sich dieser Pflicht nicht entziehen. Aber insgeheim war er alles andere als begeistert.

Welchen Lärm würde dieses Kind verursachen! Störungen tagsüber und Störungen nachts würde es geben. Er würde auf viele Bequemlichkeiten verzichten müssen.

Und sicherlich machten heranwachsende Kinder auch immer wieder Ärger durch ihre Streiche. Mit ihrem ruhigen Leben war es dann wohl vorbei.

Aber von diesen Gedanken verriet Gottfried nichts. Vielmehr schrieb er noch am selben Tag eine Antwort an seinen gräflichen Schwager, in der er ihn aufforderte, Theresa zu ihnen zu bringen.

So reiste Graf Cornelius von Zeuthen mit seiner kleinen Tochter vierzehn Tage vor der Hochzeit im April ins Schwabenland. Niemals bisher waren Vater und Kind so lange allein gewesen wie auf dieser Fahrt.

Der Graf lenkte den Wagen, die zweieinhalbjährige Resa saß brav neben ihm. Sie drehte das Köpfchen hin und her und schaute interessiert auf die vorbeifliegende Landschaft. Sie redete kaum. Die Gegenwart des Vaters, der ihr so fremd geblieben war, machte sie befangen.

»Es ist ein außerordentlich stilles und artiges Kind«, sagte der Graf, als er der Schwester Theresa zuführte. »Sie wird dir nicht viel Mühe machen!«

»Hoffentlich!«, sagte Dr. Kleinmüller, der im Hintergrund süßsauer lächelte. »Marianne ist nicht mehr die Jüngste, und manchmal hat sie Kreislaufstörungen.«

»Ach wo!«, rief Marianne munter aus. »Ich bin noch frisch wie ein Fisch im Wasser, und gegen Kreislaufstörungen ist Bewegung gut. Willkommen, kleine Resa!«

Sie strich Resa über den Kopf und sah sie voll ehrlicher Freundlichkeit an, und das Kind lächelte vertrauensvoll.

Graf Cornelius atmete erleichtert auf. Es schien ja alles gut zu gehen. Gott sei Dank!

Er hatte auch gar keine Zeit. Die Hochzeitsvorbereitungen drängten, und Doris wartete auf ihn in München.