Die Wiederkehr der Wunderkammer - Henning Ritter - E-Book

Die Wiederkehr der Wunderkammer E-Book

Henning Ritter

4,9

Beschreibung

Das Kunstmuseum, eine der erfolgreichsten Erfindungen der europäischen Kulturgeschichte, durchlief eine dramatische Entwicklung. An seinem Beginn stand die Auflösung der Wunderkammer fürstlicher Provenienz. Erst in der Zeit der Französischen Revolution, als Vandalismus die Kunst bedrohte und Napoleons Kunstraub Gemälde und Statuen aus ganz Europa nach Paris brachte, fand es im Louvre zu einer vorläufigen Form. Am Beispiel der Museumsinsel in Berlin zeigt Ritter schließlich die kontroverse Geschichte des Museumsgedankens selbst. So sollte ausgerechnet die Integration von Gegenwartskunst – in diesem Fall jener des späten 19. Jahrhunderts – dem Museum als Hort und Symbol der Vergangenheitsbewahrung neues Leben einhauchen.

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Seitenzahl: 322

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Hanser-Ebook
HENNING RITTER
Die Wiederkehr der Wunderkammer
Über Kunst und Künstler
Hanser Berlin
Der Verlag dankt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sie freundlicherweise das Verzeichnis der Erstveröffentlichungen erstellte.
ISBN 978-3-446-24585-3
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung des Bildes »Portrait allégorique de Vivant Denon« von Benjamin Zix © bpk | RMN - Grand Palais | Paris, Musée du Louvre, D.A.G. | Thierry Le Mage
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Greiner & Reichel, Köln
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
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Inhalt

I
Abenteuer des Auges unter der Milchstraße Adam Elsheimer
Der ungemalte Atlas Peter Paul Rubens
Leidenschaft für das Seltene und Kuriose Der Illustrator und Sammler Albertus Seba
Das Ende des alten Sammelns Von der Wunderkammer zum Museum
Geisterbeschwörung des glücklichen Frankreich Augustin Pajou
II
Licht, vom Schatten verzehrt Europa 1789
Die Unfehlbarkeit des Künstlers Jacques-Louis David
Der Blick ein Blitz, das Wort ein Wetter Johann Heinrich Füßli
Der Mensch lebt, indem er stürzt Francisco de Goya
III
Pasticcio von Formen und Stilen John Soane
Die Erfindung der Alten Meister Wege zum Museum
Das ästhetische Alphabet Die Berliner Museumsinsel
Grenzenloses Sammeln Ist die Museumsinsel ein Universalmuseum?
General der Bilder Wilhelm von Bodes Vermächtnis
Berliner Museumskrieg Ludwig Justis Erinnerungen
Als wär’s ein Stück von uns Das wiedereröffnete Bode-Museum
IV
Kreuzzug gegen die Herrschaft des Papiers Gottfried Semper
Die Gegenwart als Tatort Honoré Daumier und Gustave Doré
Don Quichote der Moderne Honoré Daumier
Das Handwerk des Sehens Eugène Fromentin
Die Innenseite des Außenseiters Adolph Menzel
Die Phantasie braucht keine Stütze Odilon Redon
Bildermann und Büchernarr Das Ende einer Künstlerlegende: Vincent van Gogh
V
Der Blick des Sammlers Georges Salles
Verspielte Möglichkeiten Die Wiederkehr des Wunderbaren
Die neue Wunderkammer Notiz zur Bildwissenschaft
Die Liebe der Massen zur Kunst Christos Triumph
Literatur
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die Wiederkehr der Wunderkammer
I

ABENTEUER DES AUGES UNTER DER MILCHSTRASSE (Adam Elsheimer)

Eine Ausstellung wie diese haben wir lange nicht gesehen und werden wohl kaum etwas Vergleichbares wiedersehen: Das Städel zeigt das Gesamtwerk – nur zwei von vierzig Werken fehlen – eines der Großen seiner Epoche und der europäischen Malerei insgesamt. Die unvergleichlichen, von den produktivsten Künstlern seiner Zeit, wie Rubens, hochgeschätzten Bilderfindungen Adam Elsheimers, der, mit Goethe und den Rothschilds, zu den bedeutendsten Söhnen Frankfurts zählt – und doch in seiner Vaterstadt fast ein Unbekannter ist, obwohl die Bemühungen des Städel um sein Werk, in Sammlung und Forschung, sich sehen lassen können. Hier entstand die erste moderne Elsheimer-Monographie, hier wurden in jahrzehntelanger Detektivarbeit die Einzelbilder des sogenannten Frankfurter Kreuzaltars aufgefunden und wieder zusammengesetzt, hier hat die internationale Elsheimer-Forschung ihr Zentrum.
Daß der Maler die höchsten Sprossen des Nachruhms nicht erklommen hat, dafür mag die Kürze seines Lebens verantwortlich sein – er starb 1610 in Rom, nur zweiunddreißig Jahre alt, nachdem er in der Kunsthauptstadt Europas gerade einmal zehn Jahre lang gearbeitet hatte –, aber auch die Art seiner Produktion, kleinformatige, auf Kupfer gemalte Bilder, die durch ihre ikonographischen, kompositorischen und maltechnischen Erfindungen in Künstlerkreisen beachtet wurden, aber nicht die Aufmerksamkeit der reichen Auftraggeber fanden. Keith Andrews, der führende Elsheimer-Forscher, meinte, er sei »anscheinend von nervöser, melancholischer und neurotischer Anlage gewesen«. Elsheimers Selbstporträt in der Ausstellung könnte dazu verleiten, noch dunklere Farben zu wählen. Auch starb er in der falschen Epoche, als daß die bittere Armut seinem Nachruhm hätte Auftrieb geben können: Das neunzehnte Jahrhundert hätte aus alldem eine Künstlerlegende gewoben.
Das Risiko von Ausstellungen eines Gesamtwerks ist es, daß die Nähe der Bilder zueinander die Zäsuren und Unebenheiten der Werkgeschichte vertieft: Bei Elsheimer tritt nichts davon ein, im Gegenteil, das im Gedächtnis ohnehin schon konzentrierte Œuvre gewinnt noch einmal an Dichte und Konsequenz. Sogar die paar Bilder des Frankfurter Frühwerks, entstanden in der künstlerisch kargen Umgebung des lebhaften Wirtschaftszentrums, rücken näher an die Werke der römischen Zeit heran. Elsheimers Bildform wirkt schon fertig, ehe er mit der Kunst Venedigs und Roms in Berührung kam. Schon sein erstes nachweisbares Bild, »Die Hexe«, von Dürer inspiriert und noch altdeutsch getönt, steht nicht nur auf der Höhe der damals in der ersten Dürer-Renaissance als Ausweg aus dem Manierismus wiederbelebten deutschen Malereitradition, sondern scheint sofort im Gespräch mit der zeitgenössischen Malerei zu sein. Elsheimer, der im graphischen Gewerbe gelernt hatte, hatte hier offenbar die Lingua franca der internationalen Bildsprache gelernt.
Die Vertrautheit mit ihr erklärt wohl auch die Entscheidung für sein Bildformat, die er damals schon traf und bis zum Ende beibehielt: Es ist das Format großer graphischer Blätter. Sein letztes Bild, die berühmte Münchener »Flucht nach Ägypten« unter dem Sternenhimmel, an dem zum ersten Mal überhaupt die Milchstraße zu sehen ist, hat das Format von vierzig mal dreißig Zentimetern und gehört damit zu den größeren Bildern. Das Elsheimer-Format ist nicht nur eine Anlehnung an Druckgraphik, in die viele seiner Bilder übertragen wurden, um so in Europa in Umlauf gebracht zu werden, sondern es ist von ihm zu einem genuin malerischen Ausdrucksmittel gemacht worden. Denn seine kleinen Bilder nehmen es in Sujet und Ausführung mit jedem Gemälde auf. In ihren Mitteln der Graphik so fern wie nur irgend denkbar, sind sie preziöse Gefäße für alles, was die Malerei in großem Format nur bieten mag.
Die Detailverliebtheit Elsheimers wird gerühmt, auch der Titel der Ausstellung hebt sie hervor, man rühmt einen Miniaturisten, der sich ins Kleinste hineinarbeitet und hier ein Maximum an Genauigkeit erstrebt, aber man übersieht dabei, daß nahezu alle seine Bilder groß, ja monumental komponiert sind, so daß sie in einer vielfachen Vergrößerung sofort ihre innere Monumentalität beweisen würden. Elsheimers Malerei ist eine große im kleinen. Er hat eine Verkleinerungstechnik entwickelt, die einen Zuwachs an Intensität und Dichte erzeugt: eine Magie des Bildes.
Die Bühne seiner Bilder, auf der sich Heiligenlegenden, mythologische Erzählungen und Ansichten der Natur ausbreiten, ist die Bühne der Welt. Neigt sich der Betrachter zu den kleinen Bildern, dann glaubt er in eine Welt einzutauchen, deren Tiefe und Weite nicht zu ermessen sind. Daß es Elsheimer gelingt, in seinen Bildern immer wieder Anleihen bei den Meistern der großen Formate zu machen, bei Michelangelo, Tintoretto, Caravaggio, ist der beste Beweis für das innere Format seiner Malerei.
Eine der Neuerungen, die ihn in Künstlerkreisen berühmt machten, ist die Beleuchtungstechnik seiner Bildräume. Elsheimer arbeitet vorzugsweise mit mehreren unabhängigen Lichtquellen, die die Bildzonen ausleuchten und gegeneinander deutlich absetzen. Die ihrerseits von Lichträndern eingefaßten Figuren, das von innen leuchtende Braun, Grün und Blau der Figuren und der Landschaft erzeugen eine Raum- und Farbmagie, die unwillkürlich an ein geheimnisvolles Naturtheater denken läßt. Es geht um äußerste Verdichtung, um Intensität als Erfahrungsmodus.
Die großen Erzählungen der Malerei der Zeit erfahren bei Elsheimer eine Übersetzung in letzte Formulierungen. Es sind Bildforschungen, die zweifellos auch mit einem wissenschaftlichen Temperament des Künstlers zusammenhängen, der in die berühmte »Academia dei Lincei« aufgenommen wurde. In seiner »Flucht nach Ägypten« mit der Aufzeichnung der Milchstraße, ein Jahr bevor Galilei seine mit dem Teleskop durchgeführten Mondbeobachtungen veröffentlichte, hat Elsheimer seinen astronomischen Forschungen, für die er wohl auch ein Teleskop benutzte, ein bedeutendes Denkmal gesetzt. Auch wenn es, wie man festgestellt hat, nicht der Sternenhimmel eines bestimmten Tages ist, ist doch alles beobachtet – auf dem höchsten Niveau, das zu seiner Zeit möglich war.
Elsheimers Landschaften, deren mythologische Anlässe er immer mehr versteckt, in den Wäldern und Büschen verschwinden läßt, seine Waldstimmungen und sonnenüberglänzten Ausblicke, die die Ideallandschaften eines Lorrain oder Poussin im kleinen antizipieren, sind charakteristischerweise nicht so sehr Aufnahmen der Natur, wie sie seinem naturkundlichen Interesse durchaus naheliegen würden, sondern lassen an einen Begriff denken, den erst zweihundert Jahre später die Romantik prägte: die »Erdlebenskunst« (Carl Gustav Carus). Das malerische Protokoll über die Milchstraße ist alles andere als eine Kränkung des Menschen, wie man es über die neue Astronomie behauptet hat, es ist vielmehr die Entdeckung der Eigenwelt des Menschen, der von eigenem Licht erfüllten Zufluchtsräume, in die sich die Flüchtlinge aus Ägypten bergen.
In den liebenswertesten Bildern Elsheimers, den drei Fassungen der Erzählung von Tobias und dem Engel, spricht die Landschaft tröstend mit. Ihr Thema ist aber ein ganz humanistisches: die Erleichterung nach der Rettung aus der Gefahr. Um diesen Augenblick, in dem der Engel die Hand auf die Schulter des kleinen Tobias legt, ihn in die Welt zurückgeleitet, geht es: um den von Sorge befreiten Augenblick, den kostbaren Augenblick des Aufatmens und der zurückgekehrten Zuversicht. Wir können uns Adam Elsheimer als Leser Montaignes vorstellen, der die biblischen und antiken Erzählungen nach Momenten durchforscht, in denen eine Menschheitserfahrung aufscheint. Seine Bilder sind Trostworte jenes Humanismus, zu dem sich auch Rubens bekannte, der Freund Elsheimers, der manche seiner Bildmotive studiert und gezeichnet hat.

DER UNGEMALTE ATLAS (Peter Paul Rubens)

Allmählich mausert sich das Jahr 2004 zu einem Rubens-Jahr: Nach Antwerpen, Lille, Genua, Kassel und Braunschweig zeigt jetzt auch die Wiener Albertina, ohne jeden Jubiläumsanlaß, eine bedeutende Ausstellung von Ölskizzen, Zeichnungen und einigen wenigen Gemälden des Malers, darunter eines seiner rätselhaft schönsten, den Madrider »Liebesgarten«. Bei dieser Ausstellung handelt es sich um eine Art Generalprobe oder Voraufführung der mit großer Spannung erwarteten Schau von Rubens-Zeichnungen, die für das kommende Frühjahr im Metropolitan Museum in New York angekündigt ist. In Wien hat man den New Yorker Kernbestand durch Ölskizzen und Zeichnungen aus den reichen eigenen Beständen ergänzt. Daß die Rubens-Ausstellungen dieses Jahres unabhängig voneinander und ohne Überschneidungen oder gegenseitige Beschränkungen zustande kommen konnten, ist ein unbeabsichtigter Beweis nicht nur für den unerschöpflichen Reichtum des Œuvre des großen Barockmalers, sondern auch für die vielen Etagen seiner Produktion und seiner künstlerischen Existenz. Wenn in der Albertina die Ölskizzen und Zeichnungen in den Mittelpunkt gerückt werden, so erweist sich diese gewagte Mischung und Konfrontation, die nur hier gezeigt wird, nicht aber in New York, als ein überraschender Glücksgriff. Die eigenen Bestände der Albertina haben dazu verlockt, einen Einblick in Rubens’ Produktionsweise zu geben, wie ihn auch die Forschung bisher kaum gewährte. Der Besucher der Ausstellung, der an den Gruppen von Gemälden, Ölskizzen und Zeichnungen entlangwandert, meint am Arbeitsprozeß des Künstlers teilzunehmen, wovon sein größter Bewunderer im neunzehnten Jahrhundert, der Maler, Schriftsteller und Kritiker Eugène Fromentin, geträumt hat.
Rubens wurde schon zu Lebzeiten als Künstler-Unternehmer bewundert, seine Werkstatt war in ganz Europa berühmt. Aber es ist nicht etwa der Organisator der großen Gemäldeprojekte, der in der Wiener Ausstellung Profil gewinnt. Der Besucher erhält vielmehr Einblick in den persönlichen Bereich dieses Großbetriebes. Das meiste von dem, was die Ausstellung ausbreitet, entstand außerhalb der Werkstatt und nur zu einem Teil für sie. Seit Rubens’ Tod, als seine riesige Sammlung eigener Zeichnungen ans Licht kam, weiß man, daß er seine Zeichnungen für sich selbst gesammelt und sorgfältig verwahrt hatte, ohne seiner Umgebung Einblick in diese intimsten Produktionen zu geben. Und auch die Ölskizzen, die sich seiner legendären malerischen Schnellschrift verdankten, dienten zuerst der eigenen Verständigung über geplante Werke und erst später der Unterrichtung der Auftraggeber und der Werkstatt.
Der Arbeitsprozeß bestand, wie im Katalog minutiös dargelegt wird, aus mehreren Stufen: aus gezeichneten Entwürfen, monochromen Skizzen, farbigen Ölskizzen und Zeichnungen als Minimum. In Wien wird besonders das Verhältnis von Ölskizze und Zeichnung dokumentiert. Einen größeren Abstand scheint es nicht zu geben als den zwischen den kleinformatigen Ölskizzen, in denen große und figurenreiche Kompositionen mit einer erstaunlichen Fülle von Details entworfen werden, und den Zeichnungen, die meist ein einzelnes Motiv vergrößern, um als Vorgabe für die Ausführung im Gemälde oder im Stich zu dienen.
Das Wunder ist aber, daß die Zeichnungen keineswegs in das Joch dieser Funktion eingepaßt sind, sondern als selbständige Werke erscheinen und sich in der Kraft der Formulierung mit den Gemälden messen können, ja sie durch größere Bedeutungsspielräume sogar übertreffen. So zeichnet Rubens in den Vorarbeiten zur großen Antwerpener Kreuzaufrichtung die Halbfigur des Gekreuzigten als einen triumphierenden Jüngling. Dieser von Rubens zeichnend erfundene Typus, dessen Silhouette ganz dem Gekreuzigten auf seiner Altartafel entspricht, ist eine »Vorratserfindung«, die er so wohl in keinem seiner Werke untergebracht hat.
Ähnlich steht es mit all den Pathosgestalten, seinen aufsteigenden, stürzenden, gleitenden Körpern: Prometheus, der dem Betrachter aus dem Bild entgegenzurutschen scheint, oder der tote Christus, der wie ein Stein vom Kreuz fällt. Sie haben in der zeichnerischen Sprache ein Potential, das über die Verwendungen in den großen Gemälden hinausweist, nach noch ungemalten Bildern verlangt, in denen sie ihre Existenz zur Geltung bringen können. Rubens bewegt sich mit seinen Figuren im ikonologischen Neuland, er schafft seinen eigenen »Mnemosyne«-Atlas. Seine Produktion an Pathosfiguren scheint unerschöpflich. So sind auch seine hockenden, in sich versammelten Frauengestalten wie Hagar oder Susanna im Bade psychologische Rätsel, ein Eindruck, der durch die Neigung des Malers, solche Figuren beispielsweise mit den Zügen von Hélène Fourment zu überblenden, noch verstärkt wird.
Der Wagemut von Erfindung wie Ausführung unterstreicht die Selbständigkeit und Freiheit des Zeichnungskosmos des großen Malers. Der Rundgang der Ausstellung beginnt mit einigen Zeichnungen nach Künstlern des sechzehnten Jahrhunderts und Antiken. Rubens war ein vielseitiger, ein ebenso genauer wie gelegentlich auch verbessernder Kopist. Seine Aneignungsfähigkeit scheint grenzenlos gewesen zu sein, und diese Aneignung war nicht nachahmend, sondern erriet gleichsam das schöpferische Zentrum der Vorlage. Rubens’ Zeichnungen sind Gefäße für Eindrücke, die auch noch nach Jahren und Jahrzehnten abrufbar sind. Ihr Anregungspotential war mit keiner Übertragung in ein Gemälde erschöpft, weder im Umriß noch in der Bedeutung.
Davon kann man sich auch anhand der privaten Zeichnungen seiner Familie, seiner Söhne und Ehefrauen überzeugen. In einem günstigen Augenblick porträtiert, nach Möglichkeit, ohne daß die Porträtierten es bemerken, scheinen sie ganz intim gesehen zu sein, und doch finden sie scheinbar ungeplant den Weg in Rubens’ Gemälde. Intimität und Nüchternheit, familiäres Sentiment und künstlerischer Kalkül sind hier kaum voneinander zu unterscheiden. Das gilt für eine der schönsten und berühmtesten Kinderzeichnungen überhaupt, den Lockenkopf des kleinen Nicolaes Rubens, der persönlicher nicht erfaßt sein könnte und dem doch schon die Verwendung als Jesusknabe ins Gesicht geschrieben scheint. Das zweckfrei Formulierte findet wie absichtslos seine Bestimmung.
Man hat in dieser Fügsamkeit von allem und jedem ein Zeichen für Rubens’ glückliches Temperament sehen wollen. Aber es ist eher die Spur der souveränen Regie, die er über sein Werk ausübt. Während es die großen Formate des Barockmalers, die einst als Zeichen des souveränen Künstlers galten, heute beim Publikum nicht leicht haben, mutet die Atelierseite seiner Existenz ganz modern an. Von manchen seiner Bilderfindungen kann man leicht den Weg zu Füßlis neuer Mythologie, von seinen Zeichnungen den zu Degas finden. Und die Verfahrensweisen dieses Künstlers muten nur deswegen etwas fremdartig an, weil eine so hochtourige Produktion heute kaum angetroffen wird. Allenfalls Picasso wäre darin mit Rubens zu vergleichen.
Für dieses hochorganisierte Können sind die Ölskizzen ein eindrucksvoller Beleg. In leicht transportablem Format – sie dienten der Kommunikation mit den Auftraggebern – erlaubten sie es Rubens, in rasantem Tempo die komplexe Struktur großer und figurenreicher Bilder abzubilden. Die Ölskizze konnte das Bild oder eine Bilderfolge vertreten. Auch Rubens’ rascheste Entwürfe waren in diesem Sinne »fertig«. So kann man die zahllosen Ölskizzen, die in der Regel bei den Bestellern verblieben, als eine eigene Ateliergattung bestaunen, die aus bestimmten Auftragsverhältnissen entstanden war.
Man fragt sich am Ende, was Rubens nicht konnte. Er war mehr als nur der Regisseur seines großen Könnens. Allein in seinen Zeichnungen hinterließ er einen Fundus von Bilderfindungen, die er durch sein eigenes malerisches Werk längst nicht ausgeschöpft hat. So steckt in den Zeichnungen ein noch unbekannter Rubens. Die Ausstellung in der Albertina in Wien ist die schönste Eingangspforte in diese Arkana seines Genies.

LEIDENSCHAFT FÜR DAS SELTENE UND KURIOSE (Der Illustrator und Sammler Albertus Seba)

Als Beobachter ist der Mensch ein Spätentwickler. Sogar das Nächste, das pochende Herz, hat sich seiner Neugierde lange entzogen. Erst auf das Jahr 1628 wird beispielsweise die Beschreibung des Blutkreislaufs durch William Harvey datiert. Es scheint so, als ob die Neugierde nicht durch Nahes, sondern erst durch Fernes und Fernstes geweckt und zu Hochleistungen angespornt wird. Und selten geht das Auge allein auf Entdeckung aus: Meist eilt die technische Phantasie voran.
Für den britischen Anatomen William Harvey dürften zu seiner Zeit Experimente mit Mühlen und Pumpen wegweisend gewesen sein. Gerade erst war Galilei mit dem Fernrohr zu den Sternen vorgestoßen; Johannes Kepler berechnete die alten Planetentafeln neu; Francis Bacon veröffentlichte sein »Novum Organum«; kühne Seefahrer suchten nach neuen Passagen; Forschungsreisende begannen, systematisch die Tier- und Pflanzenwelt Nord- und Südamerikas zu erkunden. Ohne das exotische Anschauungsmaterial aus der Neuen Welt hätte sich die Naturkunde damals nicht so mächtig entwickeln können. Es war die große Zeit der Kunstkammern, in denen sich alles zusammenfand: Münzen und Skulpturen, Instrumente und Versteinerungen, Tafeln und Inschriften, ausgestopfte Tiere und gepreßte Pflanzen, Kunst und Natur im kleinen vereint als Ausdruck eines zügellosen Sammeltriebes.

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