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Seit Taramis den Kampf gegen die Dagonisier aufgenommen hat, sind zwölf Jahre vergangen, zurückgezogen lebt er mit seiner Frau Shúria und seinem Sohn Ari auf einer Insel in der Äußeren Region von Berith. Doch die Vergangenheit holt ihn ein. Die Halbinsel, auf der sein Haus steht, bricht entzwei und er muss hilflos mitansehen, wie seine Familie durch das »Ätherische Meer« davontreibt. Nur mit seinem Feuerstab Ez bewaffnet, begibt sich Taramis auf die Suche. Ein geheimnisvoller Schwertkämpfer namens Bohan und die junge Ischáh schließen sich ihm an. Überall in Berith zerbersten Inseln, irgendeine Macht zieht sie nach Komana, ins Reich des Königs Og. Hängt es mit dem Feuerkult zusammen, der dort etabliert wurde? Taramis’ Ahnungen bestätigen sich: Shúria und Ari treiben nach Komana. Werden sie die nächsten Feueropfer sein? Während Taramis nach Malon, der Heimatinsel der Kirries, aufbricht, gerät Shúria in die Gewalt von fischköpfigen Antischen. Um ihren Sohn zu retten, lässt Shúria sich auf ein gefährliches Spiel ein. Wird Taramis seine Liebsten rechtzeitig finden, um sie zu retten? Ralf Isau hat in seiner meisterhaft erzählten Fantasy-Trilogie ein faszinierendes neues Weltenkonzept erschaffen: Berith war der Legende nach ursprünglich ein gewöhnlicher, kugelförmiger Planet. Durch den »Großen Weltenbruch« wurde daraus die »Scherbenwelt«: Tausende von Inseln, umschlossen von einer gigantischen Sphäre, der »Aura«. Die Inseln bewegen sich auf festen Bahnen durch das »Ätherische Meer«, einen luftarmen Bereich. Voller Überraschungen ist auch die Flora und Fauna von Berith: eine Vielfalt von vernunftbegabten Bewohnern, die sich von den fischköpfigen Antischen über die zwergenhaften Kirries bis zu den amphibischen Zeridianern erstreckt. Die stärkste Kraft der Berither ist ihr Geist, ihre Willenskraft. Sie ist meistens auf bestimmte Gaben beschränkt, wie etwa das Erschaffen von Trugbildern, die Veränderung des eigenen Äußeren, das Umwandeln negativer Gefühle in Blindheit oder die Verwandlung von Angst in Energie. Auch intelligente Pflanzen sind in der »Scherbenwelt« zu finden. Für jedes vernunftbegabte Lebewesen gibt es auf der Heiligen Insel Jâr’en einen Seelenbaum. Stirbt der Mensch, geht auch sein Baum ein und umgekehrt. Da niemand den eigenen Seelenbaum kennt, wagte bisher auch keiner eine Axt an die heiligen Bäume zu legen – er könnte ja sich selbst oder seine Gefährten töten. Die Zerbrochene-Welt-Trilogie berichtet von einer Zeit, als dieses uralte Tabu ins Wanken geriet. Die Roman-Trilogie Die Annalen von Berith besteht aus 3 Bänden: Die zerbrochene Welt Die zerbrochene Welt – Feueropfer Die zerbrochene Welt – Weltendämmerung
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Seitenzahl: 546
Ralf Isau
Die Annalen von Berith Band 2
Roman
Die Annalen von Berith, 6. Buch
Seit Äonen hatten die Seher von Luxania vor der Gefahr gewarnt. Vor dem Beginn eines dunklen Zeitalters. Vor Kriegsscharen der Finsternis, die gegen Jâr’en heraufziehen werden. Die uralten Weissagungen sprachen von einem Tag, an dem die Menschen zwischen Untergang und Erhebung wählen müssten. Als dann der junge Nebelwächter Taramis den König von Dagonis tötete, schien sich die Prophezeiung zu erfüllen. Die Kinder des Lichts hatten gesiegt. Zwölf Jahre später wären am guten Ausgang der Geschichte kaum jemandem mehr Zweifel gekommen. Doch das war ein folgenschwerer Irrtum. Die Völker von Berith hatten nur einen Sieg errungen, nicht aber die Schlacht gewonnen. Ihre schwerste Prüfung stand ihnen noch bevor.
Der Traum vom Frieden endete an einem Morgen im Frühling. Die Nacht zog sich gerade zurück. Das Licht der Sonne streichelte sanft die Lufthülle über der Heiligen Insel. Dadurch leuchtete die Sphäre in sämtlichen Farben des Regenbogens. Die Stunde der Liebenden nannten die Tempelwächter diese Zeit: Man war berauscht und zugleich blind. Auch ihre Feinde wussten das.
Der Angriff überraschte alle. Die Tempelgarde, weil die Armada des Gegners wie aus dem Nichts erschien. Den Hohepriester Eli, weil er schon lange keinen Gedanken mehr an die alten Weissagungen verschwendet hatte. Und die Ganesen, jene Gärtner von Gan Nephaschôth, weil die Seelenbäume für sie unantastbar waren. Nie wieder, so glaubten sie, würde jemand im Heiligen Hain so wüten, wie es einst König Gaal getan hatte.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fielen die vereinigten Armeen von Dagonis und Komana über die Scholle her. Ätherschlangen stießen aus dem irisierenden Morgenhimmel herab. Mancher Wachposten bemerkte die Gefahr erst, als ihn ein Armbrustbolzen traf. Die Hälfte von ihnen war bereits gefallen, ehe das Alarmhorn erscholl.
Von diesem Augenblick an schossen die fischköpfigen Scharfschützen auf alles, was sich bewegte: Gardisten, Priester, Gärtner, Frauen und sogar Kinder. Zudem setzten die Dagonisier Brandpfeile ein. Seltsamerweise erloschen die meisten Feuer jedoch sofort wieder.
Unterdessen rollte die zweite Angriffswelle über Jâr’en hinweg. Sie bestand aus Drachenkröten, gigantische schildkrötenartige Geschöpfe, die viele Dutzend Krieger zu tragen vermochten. Mehr als hundert Tiere schwebten herab. Sie brachten Soldaten aus Komana, wie die Spitzhelme und brünierten Rüstungen der Kämpfer verrieten. Im Gegensatz zu den Antischen waren diese Menschen kiemenlos, konnten also mühelos die Luft der Insel atmen.
Der Hauptverband landete am Ufer des Sees vor den Mauern des Tempelareals. Etliche Trupps seilten sich zudem über dem Bezirk ab, der einer kleinen Stadt mit Plätzen und engen Gassen glich. Im Zentrum stand Beth Gao, das »Haus Gaos«.
Masor schreckte beim ersten Schall des Alarmhorns aus dem Schlaf. Er gehörte den Nebelwächtern an, jenem geheimen Orden also, der Berith vor dem Anbruch des dunklen Zeitalters zu schützen versuchte. Überdies bekleidete er seit zehn Jahren das Amt des Hüters von Jâr’en. Sein Freund Taramis hatte das Kommando damals an ihn abgetreten. Die sechshundert Mann starke Tempelgarde war eine zwar kleine, aber ungemein schlagkräftige Armee. In der Truppe dienten ausschließlich Zeridianer, darunter einige der mächtigsten Geistkämpfer von Berith. Masor selbst konnte Staub und Rauch in Nebel und Regen verwandeln.
Als er den Lärm im Tempelbezirk hörte, rechnete er mit dem Schlimmsten. Noch unter Taramis’ Führung hatte es in der Zeridianergarde viele Veränderungen gegeben, um einen Überfall wie den vor zwölf Jahren zu verhindern. Wenn nun alle diese Maßnahmen wirkungslos blieben, dann konnte das nur eines bedeuten:
Der Feind war übermächtig.
Masor nahm sich nicht die Zeit, erst den Harnisch anzulegen. Seine Männer brauchten ihn. Lediglich mit einer Tunika bekleidet sowie mit Langbogen, Pfeilköcher und Schwert bewaffnet lief er aus dem Haus, das hinter dem monumentalen Tempelbau lag. Bis hierhin waren die feindlichen Krieger noch nicht vorgedrungen.
Wohin er seinen Blick auch wendete, überall stieg Qualm auf. Er sammelte seinen Willen und formte schwere Regenwolken aus dem Rauch. Bald fielen die ersten Tropfen.
In der Nähe des Tempels erschien ein Gardist, der für zeridianische Verhältnisse eher klein war und sich wie eine Raubkatze bewegte.
»Pyron!«, rief Masor dessen Namen.
Der Krieger wandte sich zu ihm um und kam herbeigelaufen. »Gott sei Dank, du lebst!«
»Du hattest Wache, nicht wahr? Was ist denn los?«
Pyron schilderte in knappen Worten die Lage. Aus dem ehemaligen Hitzkopf war längst ein verlässlicher Hauptmann geworden, der genau wusste, worauf es ankam. Sein Bericht ließ erahnen, dass die Verteidiger von Jâr’en auf verlorenem Posten standen.
Fassungslos schüttelte Masor den Kopf. »Ich muss mich sofort um den Hohepriester, die Frauen und die Kinder kümmern.«
»Eli hat angeordnet, sie in die Höhlen unter dem Tempel bringen zu lassen.«
»Das ist gut. Such dir ein Dutzend Mamoghreiter und komm mit ihnen in die Höhlen. Nachts sollen sie ihre Tiere rufen und so viele Brüder und Schwestern wie möglich von der Insel schaffen. Sollte mir etwas zustoßen, führst du die Flüchtlinge durch die geheimen Ausgänge in den Garten der Seelen. Dort seid ihr fürs Erste sicher. Die Ganesen kennen dort viele Verstecke.«
Pyron nickte mit grimmiger Miene. »Und ich dachte, mit der Zerstörung von Zin seien wir die Plage ein für alle Mal los.«
»Ging mir genauso. Die Fischköpfe haben kein Mosphat mehr. Ich möchte wissen, wie sie hier überhaupt atmen können.«
»Als Mobula seinerzeit die Insel zerquetschte, hat sie eine Menge Schutt hinterlassen. Die Dagonisier könnten das Zeug aus dem Äther gefischt und neues Neschamah daraus gewonnen haben. Viel brauchen sie für die paar Scharfschützen ja nicht. Die Hauptstreitmacht der Angreifer besteht aus Komanaern.«
»So wie damals, als sie die Kirries für sich eingespannt haben.«
»Heute sieht es schlimmer aus, Masor. Sehr viel schlimmer sogar. Sie haben uns auf dem linken Fuß erwischt.«
»Vielleicht können wir sie uns mit unseren Geistwaffen noch eine Weile vom Hals halten.«
»Das tun wir doch längst. Hätte ich nicht Dutzende von Bränden gelöscht, wäre aus dem Tempelbezirk längst ein Flammenmeer geworden. Sie werden uns allein durch ihre schiere Überzahl erdrücken.«
»Weißt du, wo Zur ist?«
»Verdammt!«
»Was ist?«
»Er hat gesagt, er wolle dich wecken. Wenn er noch nicht hier ist …«
»… dann wurde er aufgehalten«, fiel Masor seinem Freund ins Wort. Jede andere Erklärung wäre zu niederschmetternd gewesen. »Bevor du die Reiter einsammelst, suchst du den Lauscher, hörst du? Er soll mit seinem Mamogh nach Barnea schwallen und Taramis von dem Überfall berichten.«
»Sonst nichts? Keine Anweisungen?«
»Taramis wird wissen, was zu tun ist.«
»Und falls Kater Zur … den Auftrag nicht ausführen kann?«
»Dann reist du an seiner statt nach Barnea. Aber nicht, bevor du das Dutzend Mamoghreiter eingesammelt hast. Kommt zum Haupttor des Tempels und helft bei der Evakuierung unserer Brüder und Schwestern. Ich werde hoffentlich auch dort sein. Pass gut auf dich auf, mein Freund.«
Pyron nickte und rannte davon.
Der Hüter von Jâr’en lief in die entgegengesetzte Richtung. Er umgab sich mit einer hauchzarten Nebelwolke, gerade dicht genug, um die Scharfschützen der Dagonisier zu narren. Nach wenigen Schritten befand er sich mitten im Kampfgetümmel. Es regnete noch immer. Waffen klirrten aufeinander. Männer schrien, um sich aufzustacheln, aus blanker Wut oder weil sie Schmerzen litten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Überall lagen Tote und Verletzte. Es stank nach Blut und Eingeweiden.
Er entdeckte Usa, einen jungen Hauptmann der Tempelgarde, der gerade von fünf Komanaern in die Mangel genommen wurde. Zwei tötete Usa mit Schwert und Speer. Dann stürzte er und drohte selbst aufgespießt zu werden. In schneller Folge verschoss Masor drei Pfeile. Jeder kostete einem Feind das Leben.
»Die Männer versuchen den Tempelplatz abzuschirmen«, berichtete Usa keuchend, nachdem ihm sein Kommandant wieder auf die Beine geholfen hatte. Er blickte gehetzt.
»Was ist mit den Wehrgängen auf den Mauern?«
»Alle in Feindeshand. Sämtliche Tore ebenfalls. Ständig strömen weitere komanaische Kämpfer in den Bezirk. Es sind einfach zu viele. Sie werden uns alle vernichten.«
Masor legte dem Soldaten die Hand auf die Schulter und redete in beschwörendem Ton auf ihn ein. Er sei doch ein Hauptmann der Tempelgarde und schließlich für solche Einsätze ausgebildet. Der Zuspruch tat Usa gut. Er fasste neuen Mut. Mit klaren Anweisungen für die Verteidigung des Viertels rund um die Säule des Bundes schickte ihn Masor fort.
Hierauf wandte sich der Hüter dem rechteckigen Tempelplatz zu. Als er sich diesem von einer Seitengasse aus näherte, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Er konnte nur einen kleinen Teil des freien Areals zwischen Elis Haus und Beth Gao überblicken, sah aber schon jetzt mehrere Leichen von Kindern, Frauen und Männern. Fischköpfige Krieger stachen mit ihren dreizackigen Lanzen auf solche ein, die sich noch bewegten. Hysterische Schreie hallten zu ihm herüber. Und dann erschien ein Antisch, bei dessen Anblick Masor eine Gänsehaut bekam.
»Gaal?«, hauchte er.
Der Feuermensch hatte die gleiche Zeichnung aus leuchtend rotbraunen Streifen wie einst der König der Dagonisier. Mit etwa zehn Fuß war er auch genauso groß. Sogar der Brustpanzer aus silbrig glänzenden Platten schien derselbe zu sein. Wie war das möglich? Taramis hatte das Ungeheuer doch besiegt. Der Seelenfresser war durch das Feuer von Ez getötet worden. Masor hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Er legte einen neuen Pfeil auf die Sehne. Auf dem Platz herrschte ein solches Durcheinander, dass ihn noch niemand entdeckt hatte. Um wen auch immer es sich bei dem Dagonisier handeln mochte, sein Harnisch war der eines Befehlshabers. Auch sein Verhalten deutete darauf hin. Mit seinem breiten Kurzschwert zeigte er mal hierhin, dann wieder dorthin und rief unentwegt Kommandos.
Vielleicht, dachte Masor, kann ich den Spuk beenden, wenn ich ihn töte.
Die Sonne ging gerade erst über der Heiligen Insel auf. Ihr Licht vertrieb die Schatten vom Tempelplatz. In den Gassen ringsum boten sie dem Hüter aber noch Deckung. Und zum Schutz gegen die Scharfschützen hatte er ja die Wolke aus Nebel. Darunter war er für den Feind so gut wie unsichtbar. Bis er sich verraten musste. Wahrscheinlich würde ihm nur Zeit für einen einzigen Schuss bleiben, bestenfalls für zwei. Lautlos pirschte er sich an den riesigen Dagonisier heran.
Plötzlich wurde ein Greis in einem langen weißen Gewand vor den Anführer gezerrt. Masor stockte der Atem. Es war der Hohepriester.
»Gaal?«, keuchte Eli.
Das Fischmaul des Kriegers verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Der Chohén gibt sich die Ehre. Ihr wirkt überrascht, mich zu sehen.«
»Ihr müsstet … tot sein. Ich war dabei, als Taramis Euch …«
»Taramis war ein Narr!«, herrschte der Antisch den Priester an. »Er glaubte, mich auslöschen zu können. Obwohl ich ihn gewarnt hatte. Nun bin ich – wie vorhergesagt – zurückgekehrt. Auf dem Weg der Unsterblichkeit.«
»Dann wird er Euch abermals ins Haus der Toten schicken. Und diesmal endgültig.«
Gaal lachte. »Nein. Ich werde ihm das Furchtbarste antun, das er sich vorstellen kann. So habe ich es ihm versprochen, so werde ich es halten. Euch stellt sich allerdings die Frage, wo Ihr stehen wollt. Seid Ihr bereit, Dagonis als Hohepriester zu dienen?«
Eli straffte die Schultern. »Etwa so wie der Verräter Eglon? Niemals!«
Der König nickte versonnen. »Das dachte ich mir. Dann werde ich Euch leider töten müssen …«
Masor ließ die Bogensehne los. Der Pfeil zischte auf den Kopf des Antischs zu.
Gaal duckte sich jäh, als habe er die tödliche Gefahr gespürt. Das Geschoss verfehlte ihn.
Sofort schickte Masor einen weiteren Pfeil hinterher. Ehe dieser sein Ziel erreichen konnte, stürzten die Leibwächter des Königs in die Gasse. Einer rannte in die Flugbahn des Geschosses, wurde am Hals getroffen und sank zu Boden.
Danach durchsiebten Armbrustbolzen die Luft.
Einer bohrte sich in Masors Oberschenkel. Ächzend duckte er sich in einen Hauseingang und riss den dritten Pfeil aus dem Köcher. Unterdessen spähte er an den nahenden Kriegern vorbei zum Platz hinüber. Erhobenen Hauptes stand der Hohepriester immer noch vor dem König von Dagonis.
Plötzlich rammte ihm Gaal das Schwert in den Unterleib. Ebenso schnell, wie er zustieß, zog er die Klinge auch wieder zurück und ging sofort auf Abstand zum Priester. Der kleinste Blutspritzer eines Zeridianers konnte ihn töten.
Eli brach zusammen.
Masor schrie vor Verzweiflung auf. Wütend schoss er den nächsten Pfeil ab und tötete einen Leibwächter. Dann spürte er einen heftigen Schlag – und sah an sich herab. Ein Armbrustbolzen stak tief in seiner rechten Brust. Seltsamerweise fühlte er kaum Schmerz. Du wirst sterben. Erstaunlich, wie wenig ihn der Gedanke schreckte.
Von diesem Augenblick an verwandelte sich der Hüter von Jâr’en für die Gegner in einen Todesengel. Brüllend verschoss er drei weitere Pfeile und wurde selbst zweimal getroffen – im linken Arm und an der Hüfte –, noch ehe die fischköpfigen Krieger herangekommen waren. Zornig schleuderte er den Bogen weg und riss sich die Pfeile aus den Wunden. Mit gezücktem Schwert warf er sich auf die Dagonisier.
Sein Blut tötete mehr Feinde als seine Klinge. Tatsächlich sah es so aus, als könne er sich gegen sie behaupten. Ihre Reihen lichteten sich und schließlich zogen sie sich sogar entsetzt vor ihm zurück.
»Aus dem Weg!«, donnerte Gaal.
Masor erkannte die Stimme, obwohl es in seinen Ohren wie unter einem Wasserfall rauschte. Er wankte, vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten. Mit verschleiertem Blick sah er, wie die dagonisischen Krieger für ihren König eine Gasse bildeten.
Gaal war knapp zehn Schritte entfernt, hielt eine Armbrust im Anschlag und schoss.
Der Bolzen bohrte sich tief in Masors Herz. Keuchend sank er auf die Knie. Er hatte das Gefühl, in einen eiskalten Bergsee zu sinken. So als sähe er die Gestalt seines Mörders durch Wasser hindurch, verschwamm sie rasch vor seinen Augen. Dann spürte und sah er überhaupt nichts mehr.
Als sich das flache Eisen in die Ackerkrume grub, erzitterte der Boden. Ein dunkles Grollen stieg aus den Tiefen der Scholle auf. Taramis stutzte. Die Feldarbeit war hart und es mangelte ihm auch gewiss nicht an Kraft, doch er konnte wohl kaum mit einer einzigen Feldhacke ein ganzes Erdbeben auslösen. Die Stöße wollten gar kein Ende nehmen. Was geschah da?
Besorgt blickte er über den Acker hinweg zu den Gebäuden. Sie lagen auf einer schmalen Landzunge, die weit ins Ätherische Meer hinausragte. Shúria kam gerade aus dem Wohnhaus gelaufen, um nach Ari zu sehen. Der Zehnjährige hatte im Spiel innegehalten und den Kopf in den Nacken gelegt. Irgendetwas am Himmel bannte seine Aufmerksamkeit.
Und dann sah es auch Taramis. Eine irisierende, halb durchscheinende Wand senkte sich aus den Höhen herab, so als wolle sich eine gigantische Seifenblase in zwei Hälften teilen. Ihm war sofort klar, dass es sich dabei nicht nur um eines der üblichen Lichtphänomene handelte, die man oft zu früher Stunde in der Lufthülle von Barnea beobachten konnte. Nein, hier geschah etwas Gewaltigeres, Unheilvolles.
»Weg vom Haus! Kommt sofort zu mir!«, rief er seiner Frau und dem Jungen zu. Er ließ die Hacke fallen und lief ihnen entgegen. Zuletzt hatte vor einem Dutzend Jahren solche Angst verspürt, im Zweikampf gegen Gaal. Wie damals dachte er auch jetzt nicht an sich selbst. Er wollte diejenigen beschützen, die er mehr liebte als jeden anderen Menschen auf der Welt. Shúria und Ari waren in Lebensgefahr.
Mit langen Sätzen eilte er zum Feldrand. Über den Weg aus gestampfter Erde hetzte er an Büschen und Bäumen vorbei auf das Haus zu. Am Ende des Ackers stak in seiner weichen, schwarzen Hirschhauthülle der Stab Ez. Zu Beginn des Tagewerks hatte er ihn dort tief in den Boden gerammt und seine dunkelbraune Lederweste daran aufgehängt. In diesem Moment schüttelte das Beben sie wie reifes Obst herab.
Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Wegrand. Ein schlangenhafter, grüner Zweig schoss unter einem dicht belaubten Strauch hervor. Taramis sprang …
Für die Dauer eines Wimpernschlags meinte er noch, dem Borstenwürger zu entkommen. Dann aber spürte er, wie sich der Fangarm um sein rechtes Fußgelenk schlang. Gegen den darauffolgenden Schmerz waren ein Bad in Brennnesseln oder die Stiche der Feuerqualle das reinste Vergnügen. Mit einem lang gezogenen Schrei fiel er zu Boden.
Schon zuckte ein weiterer Tentakel vor und fing auch das zweite Bein ein. Taramis krallte die Hände ins Erdreich. Er suchte verzweifelt nach Wurzeln, um sich daran festzuhalten, oder nach Steinen, die er als Waffe benutzen konnte. Er fand jedoch nichts. Die Pflanze schleifte ihn langsam, doch unerbittlich über den Feldweg. Wahrscheinlich hinderte sie nur das dichte Geäst ihres Verstecks daran, ihm sofort den nächsten Fangarm um die Brust oder den Hals zu winden. Borstenwürger pflegten ihre Beute erst zu betäuben, dann zu erdrosseln und ganz zum Schluss zu verdauen.
Taramis brüllte. Weniger die Qualen und das zunehmende Schwindelgefühl entfachten seinen Zorn als vielmehr die eigene Hilflosigkeit. Anstatt Shúria und Ari beizustehen, musste er gegen die Yateveo kämpfen – so nannten die Bewohner von Barnea diese fleischfressenden Pflanzen. Die Yateveos waren hinterlistige Jäger. Sie schlichen im Schneckentempo von Versteck zu Versteck. Manchmal warteten sie unter den Blättern eines größeren Busches wochenlang auf Beute. Sie verschmähten weder Schafe noch Wölfe, fraßen Echsen und Vögel. Und wenn ein Mensch dumm genug war, sich in die Nähe ihres agilen Geästs zu wagen, dann verleibten sie sich sogar diesen ein.
»Shúria!«, schrie Taramis und streckte die Hand nach Ez aus. Das Dröhnen aus dem Innern der Scholle war ohrenbetäubend. Als er den Ruf wiederholen wollte, kamen nur noch unverständliche Laute hervor. Seine Zunge fühlte sich pelzig an. Das Nesselgift wirkte erschreckend schnell. Er brachte nicht einmal mehr die Kraft auf, den Feuerstab mithilfe seines Willens aus dem Boden zu ziehen. Der Stecken zitterte zwar, kam aber nicht frei. Taramis verfluchte seine Selbstgefälligkeit. Er war auf seinen großen, muskulösen, raubtierhaften Körper und die schnellen Reflexe immer so stolz gewesen, und ebenso auf die Fähigkeit, Trugbilder zu erschaffen und verborgene Spuren sichtbar zu machen. Seine anderen Geistesgaben hatte er ein Jahrzehnt lang brachliegen lassen, bis sie verkümmert waren. Jetzt rächte sich diese Nachlässigkeit.
Während ihn die Yateveo Zoll um Zoll über den Weg schleifte, wankte Shúria mit ihrem Sohn an der Hand näher. Sie hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten, denn der Boden bebte immer stärker. Und plötzlich, fast hatten sie den Acker erreicht, riss er vor ihnen auf. Sie stolperten. Ari fiel. Shúria schrie.
Taramis brüllte vor ohnmächtiger Wut. Vor seinen Augen tanzten Sterne. Sein umnebeltes Bewusstsein klammerte sich verzweifelt an den Feuerstab. Ez zitterte noch heftiger. Das Futteral aus Hirschkalbsleder kroch an seinem schwarzen Schaft empor, bis es herabfiel. Der Stecken selbst wollte sich aber nicht aus dem Erdreich lösen.
Shúria war auf die Knie gegangen. Sie hatte ihren Sohn nicht losgelassen. Er hing in dem etwa sechs Fuß breiten Spalt, der sich als dunkle, gezackte Linie quer über die Landzunge erstreckte. Mit verzerrtem Gesicht zog sie ihn zu sich herauf, presste ihn an sich und sank mit ihm rückwärts hin.
Taramis spürte Zweige im Rücken. Was das bedeutete, war klar. Die Yateveo hatte ihn schon fast bis in ihr Versteck gezerrt. Gleich würde sie zum tödlichen Würgegriff ansetzen. Wahrscheinlich hatte sich ihr schlauchartiger Leib schon geöffnet, um die erdrosselte Nahrung aufzunehmen.
Da riss sich endlich Ez aus dem Boden los, glitt aus dem Lederfutteral und flog über etwa dreißig Schritte hinweg in Taramis ausgestreckte Rechte.
Er wälzte sich auf den Rücken herum und stieß zu. Die Spitze des Stabes durchbohrte einen Ast, der sich gerade um seinen Hals hatte winden wollen. Der getroffene Fangarm zuckte zurück wie eine Hand von einem glühend heißen Ofen.
Die übrigen Tentakel packten dafür umso schmerzhafter zu. Das Blattwerk des Strauches raschelte, als bebe die darin verborgene Kreatur vor Zorn. Offenbar fand das Feuer von Ez in der Yateveo aber keinen boshaften Geist, an dem es sich entzünden konnte, sonst wäre ihr Widerstand längst erlahmt.
Wütend stach Taramis auf die Zweige ein, die an seinen Beinen zerrten. Glücklicherweise taugte das schwarze, fast unzerstörbare Holz des Stabes auch als gewöhnlicher Speer recht gut. Beim wiederholten Durchbohren des zweiten Tentakels nahm das Zittern des Geästs noch zu. Als Taramis den dritten Fangarm attackierte, wurden die Zweige des Strauches unversehens auseinandergerissen.
Über ihm ragte die bis in die Wurzelspitzen bebende Yateveo wie ein bizarrer grünbrauner, knorriger Baum auf. Ihre Borke glänzte wie Siegelwachs. Die Blätter an den borstigen Ästen hatte sie eingerollt und dadurch zu kleineren Fangarmen umgeformt. Wie ein Haarkranz umgaben andere Tentakel ihre Fressöffnung am oberen Ende des etwa zehn Fuß hohen, schlauchartigen Stammes. Der gierige Schlund neigte sich zu Taramis herab.
Er quälte sich auf die Füße, obwohl ihm die Schmerzen fast die Besinnung raubten und der Boden unvermindert bebte. Ein Fangarm schoss auf seine Brust zu. Mit einer gezielten Parade wehrte ihn Taramis ab und stieß Ez in den Leib des Borstenwürgers. Einmal. Zweimal. Immer wieder durchbohrte das schwarze Holz die Rinde. Die Yateveo hatte kein Herz, deshalb musste man sie auch herzlos bekämpfen.
Unversehens ließ ihn das Geäst des Strauches los. Zweige peitschten Taramis ins Gesicht. Er warf sich flach auf den Boden und wappnete sich für den nächsten Angriff, doch die fleischfressende Pflanze zog sich zurück. Ihre beweglichen Wurzeln trugen sie schneller fort, als er es je bei einer Yateveo für möglich gehalten hätte.
Alles um ihn herum drehte sich. Er schloss ganz kurz die Augen, um die Benommenheit abzuschütteln. Jetzt nur nicht ohnmächtig werden! Am liebsten wäre er einfach liegen geblieben und hätte das Ende des Erdbebens abgewartet – es wurde bereits schwächer. Doch das durfte er nicht.
Sein von Schmerzen und Nesselgift gepeinigtes Bewusstsein richtete sich an der Sorge um seine Familie auf. Mühsam kroch er unter dem Blattwerk des Strauches hervor. Als er zum Ende des Feldes blickte, durchfuhr ihn ein kalter Schauer.
Eine schillernde Wand hatte sich vom Himmel bis zum Acker herabgesenkt. Jenseits davon knieten, einander umarmend, Shúria und Ari. Sie entfernten sich rasch. Und mit ihnen trieben sein Haus, die Scheune und der Stall von ihm fort. Die gesamte Landzunge war von der Insel Barnea abgebrochen.
Wieder schrie Taramis auf. Er kämpfte sich unter Schmerzen auf die Beine und wankte auf das Ende des Feldes zu, die Arme verzweifelt nach seiner Frau und dem Sohn ausgestreckt. Vergeblich klammerte sich sein Geist an die Scholle, während diese sich rasch entfernte – schließlich konnte er keine ganze Halbinsel festhalten. Selbst ohne das Nesselgift im Körper hätte er das nicht vermocht.
Mit Tränen in den Augen sank er auf die Knie. Seine bebenden Lippen formten immer wieder die Namen von Shúria und Ari, während er das Unfassbare hilflos mit ansehen musste.
Unaufhaltsam entschwand die Landzunge samt Frau und Sohn im Weltenozean.
»Jetzt kannst du dein Versprechen einlösen.« Shúria hatte den Kopf zur Seite geneigt, während sie Taramis von unten herauf anlächelte. Sie standen auf dem Dach des hohepriesterlichen Hauses. Über ihnen strahlte der Abendhimmel in feurigen Farben. In der Ferne konnte man den Garten der Seelen sehen, einen dunklen, von Dunstschleiern umwaberten Saum.
»Versprechen?«, echote er. »Welches Versprechen?«
»Dass ich bei dir bleiben darf. Für immer.«
Der Hüter von Jâr’en, der seine Krieger stets so souverän führte, wirkte mit einem Mal verunsichert. Sein Blick wanderte Hilfe suchend über die Dachterrasse hinweg zu einem Korbsessel, in dem der Hohepriester saß. Eli nickte ihm lächelnd zu. Es war eine Geste der wohlwollenden Zustimmung. Ein stilles Wenn du meine Tochter zur Frau nehmen willst, meinen Segen dazu hast du.
»Weißt du noch, was ich dich vor einem Jahr gefragt habe?«, hakte Shúria nach.
Taramis runzelte die Stirn. »Sollte ich?«
Sie warf den Kopf in den Nacken und verdrehte die Augen. »Typisch Mann! Ich wollte von dir wissen, ob es dir unangenehm ist.«
»Was?«
»Dass du mein Held bist.«
»Ach das!«
»Du meintest, du seist gespannt, was als Nächstes kommt.«
»Und du sagtest schmunzelnd: ›Da fällt mir schon was ein.‹«
»Also erinnerst du dich doch. Damals hatte jeder von uns genug mit seiner Trauer um Xydia zu tun. Inzwischen sind zwölf Monate vergangen, wir haben uns fast täglich gesehen und ich konnte viel über uns beide nachdenken.«
»Sag mal, wird das jetzt so etwas wie ein Heiratsantrag?«
Sie zuckte die Schultern. »Wenn du mich nicht fragst …« Wirkungsvoll ließ sie ihre Stimme verstummen und bedachte ihn mit einem Augenaufschlag.
Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin.«
»Ist das die Frage, die du dir beantworten musst?«
»Wie bitte?«
Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Solange du den Glocken der Trauer in deinem Herzen lauschst, wirst du sie auch hören. Aber wie steht es mit dem Klang des Glücks? Wirst du jemals wieder einen Menschen finden, der so gut zu dir passt wie ich?«
Überrascht sah er sie an. »Manchmal wundere ich mich, wie ungeniert du solche Dinge sagst.«
Shúria lächelte keck. »Aus mir spricht der Freimut einer Neunzehnjährigen. Meine Zunge ist noch nicht vom Gift der Bedenken gelähmt.«
»Das einfältige Mädchen nehme ich dir nicht ab. Dazu kenne ich dich inzwischen zu gut. Es stimmt nämlich.«
»Was … stimmt?«
»Du hast nicht nur das Licht in mein Herz zurückgebracht, sondern auch die Freude. Und die Fähigkeit, Menschen innig zu lieben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Shúria merkte, wie ihr der Mut sank. »Nein? Was meinst du jetzt damit?«
Er küsste sie auf die Stirn. »Ich finde nie wieder jemanden, der mich so … ganz und gar, so vollständig machen wird, so wie nur du es tust.« Taramis nahm ihre Hände. »Möchtest du meine Frau werden, Shúria? Willst du dein Leben mit mir teilen …?«
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie unterbrach seine Fragen mit einem langen Kuss. Dann erst antwortete sie: »Ja. In guten wie in schlechten Zeiten.«
»Mama, du tust mir weh!«
Shúria blinzelte. Sie stand noch unter Schock. Plötzlich von ihrem Liebsten fortgerissen zu werden, war zu viel gewesen. Ihre Seele hatte bei den Erinnerungen an jenen Tag vor elf Jahren Halt gesucht, als die Wochen der Trauer dem Glück gewichen waren. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie fest sie ihren Sohn an die Brust drückte. Rasch lockerte sie den Griff. »Entschuldige, kleiner Löwe.«
»Ich kann Papa nicht mehr sehen«, jammerte Ari.
Ihr ging es genauso. Das Morgenlicht, das sich auf der Lufthülle von Barnea brach, verhüllte die Insel wie ein Schleier. Irgendwo hinter diesem Vorhang befand sich Taramis und – sie kannte ihn besser als er sich selbst – verzehrte sich bestimmt vor Sorgen. Sie straffte die Schultern. Als Tochter des Hohepriesters hatte sie schon manche Gefahr durchgestanden. Allein um ihres Sohnes willen musste sie jetzt stark sein. Keinesfalls würde sie aufgeben. Nicht, solange sie atmete.
Um ihrer Stimme Vertrauen und Zuversicht zu geben, räusperte sie sich. »Und trotzdem ist dein Vater weiter da. Bald wird er uns suchen und uns nach Hause zurückbringen.«
»Ohne Schwalltier? Wie soll er das machen, Mama?«
Sie lachte, tat so, als sei dies nun wirklich kein Problem. Irgendwie musste sie Ari auf andere Gedanken bringen. »Das hält doch den Hüter von Jâr’en nicht auf. Aber da du gerade das Vieh erwähnst – lass uns nachsehen, ob es den Tieren gut geht.«
Der Junge löste sich aus ihrer Umklammerung und wischte sich mit dem Handrücken verstohlen zwei Tränen aus den Augen. Deren Orangeton war wesentlich kräftiger als bei Shúria, da sich auch das helle Braun des Vaters in die Färbung gemischt hatte.
»Hilfst du mir auf?«, fragte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Wenn er sich um seine Mutter kümmerte, mochte er die eigenen Sorgen eine Zeit lang vergessen. Nicht, dass sie darauf angewiesen wäre. Shúria war durch das einfache Leben auf dem Land zu einer starken Frau geworden. Äußerlich sah man der grazilen Seherin ihre Zähigkeit allerdings nicht an. Mit dreißig ist man zwar kein Mädchen mehr, doch in ihrem Fall hatte die Schönheit mit der Reife eher noch zugenommen.
Ari half ihr auf die Beine. Der Junge schlug mehr nach der Mutter – der gleiche zarte Körperbau, die seidigen schwarzen Haare. Immerhin war er mit seinen zehn Jahren schon fünf Fuß und einen Zoll groß. Die Verständigkeit hatte er von beiden Eltern geerbt. Also würde er auch mit der neuen Lage zurechtkommen.
»Reinige dich erst mal. Du siehst ja aus wie paniert«, sagte Shúria in jenem liebevoll bestimmten Ton, den der kleine Dickkopf manchmal brauchte. Er hatte eine Tunika, die eine Handbreit über den Knien endete. Seine Füße waren ebenso wie die ihren mit Sandalen beschuht.
Als müsse sie ihm zeigen, was sie meine, klopfte sie sich selbst den Sand aus den Kleidern. Ihr leichtes Gewand war in einem warmen Blauton gehalten. Es bedeckte kaum ihre Waden, ließ die Arme sogar bis zu den Schultern frei und gab ihr auch sonst mehr Bewegungsspielraum, als man einer züchtigen Frau im Allgemeinen zugestand. Für die körperliche Arbeit auf dem Hof und die milden Sommer auf Barnea war der duftige Stoff genau das Richtige. Wer an ihren Reizen hätte Anstoß nehmen können, lebte in der Stadt oder auf den Ländereien der Großgrundbesitzer. Selten verirrte sich ein Fremder auf das abgelegene Gut des einstigen Hüters von Jâr’en.
Hand in Hand liefen die zwei zu dem bedenklich schiefen Wohnhaus hinüber, das Taramis und seine junge Frau hier einst mit viel Mühe und Schweiß gebaut hatten. Aus der Nähe zeigte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die Holzstämme hatten sich beängstigend weit verschoben und das Schieferdach war teilweise eingebrochen.
»Wir schlafen wohl besser im Stall«, sagte Shúria.
Das Muhen der Kuh hallte über den Hof. Sie stand kurz vor dem Kalben. Der aus Latten und Brettern gezimmerte Stall war noch in erstaunlich gutem Zustand. Shúria entschied sich, zunächst einige Habseligkeiten aus dem einsturzgefährdeten Haupthaus zu bergen. Ihren Sohn ließ sie an der Tür zurück, als sie den Wohnraum betrat.
Darin herrschte ein heilloses Durcheinander. Kein Möbelstück stand mehr an seinem Platz. Die Kleidertruhe war umgefallen, der Deckel aufgesprungen und der Inhalt über den Boden verstreut worden. Tisch und Stühle lagen ebenfalls auf den Dielen. Die Wandregale waren herabgefallen und die meisten Teller zerbrochen.
Vom Ausmaß der Zerstörung überwältigt umfasste Shúria den Sternensplitter, der an einem Halsband aus Leder über ihrem Herzen hing. Vor vielen Jahren hatte ihr Taramis den schwarzen Meteoriten geschenkt. Ihm wiederum war er vom Seher Veridas anvertraut worden, der Shúria auf der Insel Luxania zuvor in die Kunst des Prophezeiens eingeführt hatte. Leider war sie trotz ihrer Gabe der Vorausschau vom heutigen Unglück überrascht …
Unvermittelt ging ein Ächzen durchs Haus, das ihr eine Gänsehaut bescherte. Jeden Augenblick konnte hier alles zusammenbrechen.
Schnell klaubte sie ein paar Decken und Kleidungsstücke zusammen und trug sie zur Tür. »Bring die Sachen zwölf Schritte vom Haus weg, leg sie hin und komm dann gleich wieder zurück«, befahl sie ihrem Sohn. Während er mit dem Wäschestapel loslief, wandte sie sich erneut dem Chaos im Gebäude zu …
Neben ihr krachte es. Ein Stamm hatte sich aus der Wand gelöst und war herabgefallen. Dadurch gerieten andere Balken ins Rutschen. Staub rieselte von der Decke herab.
Fieberhaft überlegte Shúria, was sie und ihr Sohn am dringendsten zum Überleben brauchten: Proviant, Werkzeuge, Heilkräuter, etwas Ess- und Kochgeschirr. Waffen. Das Wichtigste zuerst, die anderen Dinge später. So würde sie es machen.
Während das Haus in fortschreitender Auflösung begriffen war, hetzte sie zwischen den beiden Räumen und der Tür hin und her. Ari nahm ihr alles ab, was sie ihm gab. Zuletzt blieben nur noch Malmath und Schélet übrig, das Schwert und der Schild ihres Mannes.
»Bleib bitte, Mama!«, flehte Ari. Auch ihm war klar, dass jederzeit ein Unglück geschehen konnte.
Shúria neigte sich ihm zu und nahm sein Gesicht in die Hände. »Mir passiert schon nichts, kleiner Löwe. Vertrau mir. Ich bin doch eine Seherin.«
Ein letztes Mal verschwand sie im Haus, das inzwischen wie ein lebendes Wesen im Todeskampf knarzte und ächzte. Die Waffen befanden sich im Schlafzimmer, das sich die Familie teilte. Wer konnte schon wissen, ob die winzige Scholle mit dem Gehöft nicht die Aufmerksamkeit von Piraten erweckte? Taramis hatte seiner Frau beigebracht, wie sie sich mit dem Schwert verteidigen konnte, falls in seiner Abwesenheit einmal zwielichtiges Gesindel den Hof besuchen sollte. Shúria würde wie eine Löwenmutter kämpfen, sollten sie ihrem kleinen »Löwen« – das war die Bedeutung von Aris Namen – auch nur ein Haar krümmen. Allein Malmaths Anblick mochte einen Angreifer das Fürchten lehren. Mit seiner legendären, blau schimmernden Klinge hatte Taramis einst den König der Kirries getötet.
Die Waffe war von der Wand gefallen, die lanzettfeine Spitze stak in einer Bodendiele. Es kostete Shúria einige Mühe, sie aus dem Eichenholz zu befreien. Zu ihren Füßen lag der oval geformte, leicht gewölbte Schild, der aus dem Panzer einer Lederschildkröte gearbeitet war. Als sie ihn aufhob, brach die Decke ein.
Geistesgegenwärtig riss sie Schélet über den Kopf. Schieferplatten prasselten auf sie nieder. Der Hagel zwang sie in die Knie. Ohne den Schutz des Schildes hätten die schweren Steinplatten sie womöglich erschlagen.
»Mama?«, ertönte von draußen Aris besorgter Ruf.
»Mir geht es gut, kleiner Löwe«, antwortete Shúria und bekam einen Hustenanfall. Nur raus hier!
Sie stolperte mit Schwert und Schild über die Trümmer hinweg in den Wohnraum zurück. Die Luft war von Staub geschwängert. Im hellen Türausschnitt sah sie Aris Schemen.
»Weg von dem Haus!« Ihre Warnung ging in einem grauenerregenden Geräusch unter, das ihre Aufmerksamkeit auf die Wände lenkte. Sie neigten sich nicht nur, sie bewegten sich auch aufeinander zu. Es sah aus, als wollten sie jeden Augenblick wie ein Scherengitter zusammenklappen.
Shúria hetzte dem Ausgang entgegen. Kurz bevor sie ihn erreichte, krachte es hinter ihr. Sie hechtete auf das rettende Rechteck aus Licht zu, flog mitten hindurch und landete mit Schwert und Schild im Sand. Auf Ari musste es so wirken, als spie das Haus seine Mutter aus – und mit ihr einen Schwall aus Staub und Stoff. Sie blieb nicht liegen, sondern rollte sich über den Boden, um mehr Abstand zu den Wänden zu gewinnen.
Dann brach alles zusammen.
Der Türsturz wurde aus dem Rahmen geschleudert. Shúria drehte sich blitzschnell auf den Rücken. Der Balken verfehlte um Haaresbreite ihren Kopf.
Hiernach kehrte Stille ein.
Sie schloss die Augen. Was für ein Albtraum! Bitte, Gao, lass mich aufwachen! Ihr Stoßgebet blieb unerhört, denn sie war längst wach. Als sie die Lider wieder hob, blickte sie geradewegs in Aris Gesicht. Er wirkte besorgt.
»Hast du dir wehgetan, Mama?«
Shúria stemmte sich auf die Ellenbogen hoch und zwang sich zu einem Lächeln. »Mir geht es gut, kleiner Löwe. Und unsere Siebensachen haben wir jetzt auch zusammen.«
Ihr Versuch, Zuversicht zu verströmen, fruchtete indes nur zum Teil. Ari zog zwar den Mund in die Breite, sah dabei aber alles andere als fröhlich aus. Eher kam es ihr so vor, als wolle das tapfere Bürschlein ihr Mut machen.
Sie nahm ihn in die Arme. Dankbar legte er seine Wange an ihre Brust.
»Dein Herz schlägt ganz laut, Mama. Hast du Angst, dass Papa uns nicht findet?«
Sie schluckte. »Nein, kleiner Jäger. Ich bin nur ein wenig … außer Atem. Dein Vater spricht nicht gern darüber, doch wenn früher einmal Not am Mann war, dann hat man ihn gerufen. Er bezwang Feuermenschen und meisterte Gefahren, von denen andere nicht einmal freiwillig in einem Buch lesen würden, aus Angst, ihnen könnte das Herz stehen bleiben. Wir zwei dürfen die Hoffnung niemals aufgeben, hörst du? Er wird uns finden.« Shúria strich ihrem Sohn sanft durchs Haar. Ihr Blick wanderte zum Zentrum der Aura hinüber, auf das ihre winzige Scholle zutrieb. Es war finster und bedrohlich.
Taramis wankte am Abgrund. Noch einen Schritt … und er würde über die gezackte Bruchkante hinweg ins Ätherische Meer stürzen – sofern er die Kraft aufbrächte, die irisierende Lufthülle zu durchstoßen.
In Wahrheit konnte er sich ja kaum auf den Beinen halten. Seine Fußgelenke brannten wie Feuer. Er war verzweifelt. Erst hatte er Shúria und Ari aus den Augen verloren, und nun war auch ihre Scholle verschwunden, weil die Sphäre von Barnea sich himmelblau färbte. Die Sonne erstrahlte zwar über einem neuen Tag – doch ihm kam es vor wie der Beginn einer ewigen Nacht.
Er sammelte seinen Willen, um die Fährte sichtbar zu machen, die alles und jeder in der Aura von Berith hinterließ. Mit seiner Gabe konnte er diese Verwerfungen im Gefüge aus Raum und Zeit aufglühen lassen. Und tatsächlich erstrahlte für einen Augenblick im himmlischen Blau ein gelber Funkenschweif, gerade lange genug, um seine Richtung zu bestimmen.
Shúrias Scholle trieb direkt auf die Mitte des Weltenozeans zu.
Keuchend sank Taramis auf die Knie. Sein Körper mochte ausdauernd sein, die Seele aber war es nicht. Hätte er doch nur mehr seinen Geist geübt! Er schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, weil er so erschöpft und entmutigt war. Die Fährte würde rasch schwächer werden und sich wohl längst verflüchtigt haben, bis er ein Schwalltier fand, mit dem er die Verfolgung aufnehmen konnte. Im Stillen verfluchte er Bochim, den Sohn Gaals. Der Seelenfresser hatte vor zwölf Jahren nicht nur seine Verlobte und seine Mutter ermordet, er hatte ihm auch seinen treuen Freund Allon genommen. Mit einem Mamogh wie ihm wäre die Rettung von Shúria und Ari ein Kinderspiel.
Trotzig schüttelte Taramis den Kopf. Seine Lage mochte zwar schwierig sein, aber sie war nicht hoffnungslos. Hatte er nicht schon wesentlich verzweifeltere Situationen gemeistert? Einen Schritt nach dem anderen, rief er sich eine Lebensregel seines Lehrmeisters Marnas in den Sinn. Zunächst musste er schnellstens eine Transportmöglichkeit finden, um überhaupt mit der Suche nach Shúria und Ari beginnen zu können. Alles Weitere würde sich zeigen. Er öffnete die Augen.
Und stutzte.
Am Boden, direkt vor seinen Knien, leuchtete etwas im Sand.
Er hob es auf und befreite es vom Schmutz. Es war eine Schuppe, groß wie ein Daumennagel. Die Rückseite schillerte wie Perlmutt, die vordere changierte orange. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und seine Nackenhaare sträubten sich. Nicht zum ersten Mal hielt er solch ein Ding in der Hand. Auf der Nebelinsel Zeridia hatte er vor zwölf Jahren gleich zwei davon gefunden. Sie stammten von dem Phantom, das zu jagen er ausgezogen war. Von Gulloth, einem dagonisischen Krieger, der ihn, den Tempelwächter, von der Heiligen Insel Jâr’en hatte weglocken sollen.
Aber wie war das möglich? Taramis hatte doch mithilfe Mobulas die Insel der Verdammten zerstört. Ohne die Mosphatminen von Zin konnten die Dagonisier kein Neschamah mehr herstellen. Und ohne das Odempulver wiederum vermochte kein Antisch an der Luft zu überleben.
Mit Ausnahme von Bochim.
Der Sohn von Gaal und Lebesi war ein Mischling gewesen, der in jeder Umgebung atmen … »Er ist tot!«, zischte Taramis und schüttelte unwillig den Kopf. Er selbst hatte dem Seelenfresser einen Dolch ins Herz gerammt und mit eigenen Augen zugesehen, wie er danach im Rachen von Allon verschwunden war.
Nur, woher kam dann diese Antischschuppe? Hatte Dagonis einen neuen Weg gefunden, seine Krieger gegen die Kinder des Lichts ins Feld zu führen? War die furchtbarste Plage, die Berith jemals heimgesucht hatte, doch nicht für immer ins dunkle Zentrum der Welt verbannt? War sie zurückgekehrt?
Taramis zog sich am Stab Ez hoch. Der beunruhigende Fund zwang ihn zum schnellen Handeln. Ein Antisch war hier gewesen, das stand fest. Weiß Gott, wie ihn das Fischgesicht hatte aufspüren können – nur ganz wenige kannten doch sein abgelegenes Versteck auf Barnea. Der Feuermensch hatte vermutlich den Hof ausspioniert und womöglich sogar etwas mit dem Abbrechen der Halbinsel zu tun – eine Vorstellung, die Taramis gleich wieder verdrängte. Um so große Landmassen zu bewegen, bedurfte es gewaltiger Kräfte. War es überhaupt möglich, dass ein einzelner Antisch so viel Macht besaß? Oder irgendein anderes Wesen aus Fleisch und Blut? Wenn ja, dann wäre es der reinste Wahnsinn, diesen Gegner herauszufordern.
Taramis seufzte. Offenbar blieb ihm gar keine andere Wahl.
Als die Abenddämmerung heraufzog, verlangsamte er das Tempo. Ungeachtet der Schmerzen war er seit dem Morgen fast ununterbrochen gerannt. Ausdauernd zu laufen, ohne sich vorschnell zu verausgaben, gehörte zur Ausbildung der Tempelwächter von Jâr’en. Meister Marnas hatte ihn auch gelehrt, dass der Geist stärker sei als der Leib. Zumindest eine gewisse Zeit lang. Irgendwann musste sich der Wille dann doch den Bedürfnissen des Körpers beugen.
Keuchend blieb Taramis auf dem grasbewachsenen Hügel stehen, rammte Ez in den Boden und stützte die Hände auf die Oberschenkel, um Luft zu schnappen. Abgesehen von dem Stab, der nun wieder in seinem weichen Futteral steckte, hatte er kein Gepäck. Nicht einmal Proviant. Er trug die traditionelle Kleidung der barneanischen Landbevölkerung: Sandalen, schwarze Wollhosen, einen blauen knielangen Kaftan und die braune Lederweste. Die sieben Zöpfe, zu denen er sein langes, pechschwarzes Haar geflochten hatte, würde er öffnen, ehe er die Stadt betrat. Manche Leute reagierten irritiert, wenn sie die Kiemenspalten auf der Rückseite seines Halses sahen. Auf den meisten Inseln von Berith galten amphibische Menschen als Exoten.
Sein Blick wanderte über die liebliche Hügellandschaft. Barnea war ein uraltes Kulturland. Die Insel lebte von der Forstwirtschaft, dem Ackerbau und der Viehzucht. Soweit das Auge reichte, sah er nur Weideflächen und Wälder. Nirgendwo ein Gehöft. Sein nächster Nachbar wohnte eine Tagesreise entfernt.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren bedauerte Taramis es, in die Abgeschiedenheit des barneanischen Hinterlandes gezogen zu sein. Nach Aris Geburt hatte er der Gewalt abgeschworen und sich für das einfache, naturverbundene Leben eines Bauern entschieden. Seine Familie sei ihm wichtiger als das Amt des Hüters von Jâr’en, hatte er jedem erzählt, der ihn danach fragte. Doch es gab auch noch einen anderen Grund für den Rückzug in die Einsamkeit.
Er konnte den stinkenden Atem der Feuermenschen nicht vergessen, die ihn beinahe als Laichplatz für ihre Brut missbraucht hatten. Oft durchlebte er in Albträumen, was er damals nur mit List und knapper Not hatte abwenden können: Gaals Legerüssel drängte sich in seinen Mund, fuhr ihm den Schlund herab und verwandelte ihn in ein fischköpfiges Ungeheuer.
Seit jener Zeit scheute Taramis die Nähe fremder Personen. Menschenansammlungen waren ihm nicht geheuer und jedes allzu große Gedränge versetzte ihn leicht in Panik. Deshalb besuchte er die Stadt nicht öfter als unbedingt nötig. Nun jedoch musste er seine Ängste bezwingen. Für Shúria und Ari würde er noch einmal in den Kampf ziehen.
Gewohnheitsmäßig ließ er den Blick nicht nur in die Ferne schweifen, sondern untersuchte mit der gleichen Gründlichkeit auch den Boden zu seinen Füßen. Dabei fiel ihm ein Prankenabdruck auf. Taramis zählte einen großen und vier kleinere Ballen, Letztere waren krallenbewehrt. Wie bei einer stattlichen Raubkatze. Er ging in die Hocke und schob die Grashalme auseinander. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
»Wen haben wir denn da?«
Es war die frische Fährte eines Ippos. Auf Barnea nannte man sie Zweihörner – auf ihrer langen, dicht behaarten Hundeschnauze saßen nämlich zwei Hörner, vorn ein großes und dahinter ein kleineres. Die pferdeähnlichen Tiere besaßen ein kräftiges Paar Schwingen sowie die erstaunliche Fähigkeit, sich in eine eigene Atemblase zu hüllen. Darin konnten sie sich bis zu einer Stunde lang in der dünnen Luft des Ätherischen Meeres aufhalten.
Vor allem aber waren sie ausdauernde Reittiere.
Zeit ist Leben. Selten hatte Taramis die tiefe Wahrheit in den weisen Worten seines Lehrers mit solcher Klarheit erkannt. Deshalb wich er vom Weg ab und folgte der Fährte. Mit einem Zweihorn konnte er viele Stunden gewinnen. Falls er das Tier zu bändigen vermochte, würde es ihn wie der Wind in die Stadt tragen.
Die Spur führte den Hang hinab und quer durch eine grasbewachsene Senke. Er bemerkte ein paar weidende Schafe, einen Hirten sah er jedoch nicht. Anschließend ging es wieder einen Hügel hinauf. Der Bodenbewuchs wurde karger. Bald lief Taramis über kahle Felsen, auf denen sich die Prankenabdrücke des Ippos verloren. Er sammelte seinen Willen. Zum Glück hatte er das Jagen in all den Jahren nie ganz aufgegeben und deshalb auch die Gabe des Fährtenglühens in sich stark erhalten.
Die Abdrücke begannen zu glitzern: wie Goldstaub im Sonnenlicht. Das Tier musste sich in unmittelbarer Nähe befinden.
Taramis setzte die Verfolgung fort.
Der Himmel flammte in einem Farbenrausch von Feuerrot bis Purpur auf, als er das Zweihorn endlich unter dem ausladenden Astwerk einer Linde entdeckte. Er duckte sich ins Gras, um es nicht zu verschrecken. Es war ein prachtvoller Hengst mit seidigem, schwarzem Fell, das wie das Gefieder eines Raben im Abendlicht schimmerte. Das Geschlecht des Ippos verrieten die großen, spitzen Hörner auf der langen Hundeschnauze – das vordere mutete wie ein gebogener Säbel an, das zweite dahinter wie ein Dolch. Der muskulöse Körper hätte auch einem feurigen Rappen alle Ehre gemacht, sofern man dem Ross ein Paar majestätische Schwingen zubilligte. Eine zottige Mähne säumte seinen kräftigen Hals. Die Beine waren vom Fußgelenk abwärts gelb-schwarz getigert. Der Schwanz schließlich glich dem einer großen Katze, am Ende wies er eine Quaste auf.
Nicht nur aus dem Fehlen jeglichen Zaumzeugs schloss Taramis, dass es sich um ein wildes Ippo handelte. Es hatte einen Hirsch erbeutet, was bei gezähmten Tieren eher selten war. Wachsam spähte es in die Umgebung, riss mit seinem Wolfsgebiss hastig ein Stück aus dem Kadaver und hob sogleich wieder den Kopf. Zweihörner waren Allesfresser. Sie verschmähten weder pflanzliche noch tierische Kost. Manchmal jagten sie ihre Beute, manchmal begnügten sie sich auch mit Aas. Und wenn die Nahrung auf einer Scholle knapp wurde, dann schwangen sie sich sogar in den Weltenozean auf und ernteten Plankton oder schlugen kleinere Schwalltiere.
Den Hengst einzufangen war nicht ungefährlich, von der Herausforderung, ihn zuzureiten, einmal ganz abgesehen. Taramis wünschte, er wäre ein Ganese. Die Bewohner von Gan besaßen ein angeborenes Gespür für die Natur. Niemand konnte so einfühlsam mit anderen Kreaturen umgehen wie sie. Er würde sich auf die zeridianischen Tugenden verlassen müssen: auf die Instinkte des Jägers.
Um sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen, warf er sich den Stab über die Schulter – das Futteral hatte einen schmalen Trageriemen. Danach pirschte er sich gegen den Wind an den geflügelten Schatten heran. Als er nur mehr einen Steinwurf von dem Tier entfernt war, formte er mit den Händen einen Resonanzraum vor dem Mund und stieß einen trötenden Laut aus, den Brunftruf eines Ippoweibchens.
Der Hengst reckte seinen langen Hals nach oben. Die spitzen Ohren bebten vor Erregung und die Nase schnüffelte nach der Witterung des Weibchens.
Taramis sammelte seinen Willen und erschuf mit der Kraft des Geistes das Trugbild einer rassigen, rostroten Stute. Schon als Kind hatte er die Gabe der Gaukelei an sich entdeckt und damit manchen Schabernack getrieben. Inzwischen war er sechsunddreißig Jahre alt und ein Meiser der Illusionen.
Der Hengst schien unschlüssig, ob er lieber seine Mahlzeit fortsetzen oder das Weibchen besteigen solle. Um ihn an Ort und Stelle festzuhalten, brachte Taramis die falsche Ippostute zu ihm hin. Wie ein Puppenspieler ließ er sie abwechselnd durchs Gras tänzeln und immer wieder zögernd innehalten. Er selbst blieb hinter seiner Verführerin verborgen.
Sie trat unter das Blätterdach und umkreiste ihren Bewunderer. Dadurch wurde dessen Aufmerksamkeit weiter von dem stillen Jäger weggelenkt. So leise wie ein Schatten zog sich Taramis an einem Ast empor. Die Blätter der Linde raschelten im Wind, was seine Annäherung an das Ippo noch begünstigte. Geschickt wie ein Zeridianischer Nebelparder balancierte er zum Stamm hin, wechselte auf einen anderen Ast und näherte sich so gut wie lautlos dem Tier.
Auch die falsche Stute schickte sich an, auf Tuchfühlung zu ihrem Verehrer zu gehen. Das sonderbar geruchlose Weibchen schien den Hengst zu verwirren. Seine Flanken zitterten vor Erregung, während die großen, goldgelben Augen sie wie gebannt beobachteten. Als er sich der Holden zuwandte, um sie zu beschnüffeln, fuhr seine behaarte Schnauze mitten durch ihren Kopf hindurch.
In diesem Moment sprang Taramis auf den Rücken des Ippos, setzte ihm die Spitze des Feuerstabes in den Nacken und ließ seinen Willen in das Tier strömen. Ez bohrte sich nur etwa einen Fingerbreit in die Haut, was sich schon des Öfteren als wirksame Methode zur Bändigung großer und kleiner Ungetüme erwiesen hatte. Sollte sie diesmal versagen, würde dies – ohne Sattel und Zaumzeug – wohl der kürzeste Ritt werden, den Taramis je erlebt hatte.
Das Haupt des Ippos fuhr herum, um nach den Beinen des Plagegeistes zu schnappen. Weil der sie aber vorsorglich angewinkelt hatte, schlugen die mächtigen Fänge ins Leere. Der Hengst fauchte, knurrte, schüttelte sich und stieg mit den Vorderläufen hoch. Taramis krallte sich mit der Linken in der struppigen Mähne fest, während er den Stab weiterhin im Nacken des Tieres beließ. Ihm war klar: Dessen Gegenwehr würde weitaus heftiger ausfallen, wenn er Ez aus der kleinen Wunde zöge. Und trotzdem bockte das Ippo noch mit unerwarteter Kraft und Ausdauer. Es war nicht nur prächtig, sondern auch stark und offenbar mit einem unbeugsamen Willen gesegnet.
Als wisse es ganz genau, wie man einen unwillkommenen Reiter zermürbt, schlug es abwechselnd nach vorn und nach hinten aus. Der Stab schlenkerte wie ein Lämmerschwanz hin und her. Taramis geriet ins Rutschen. Langsam glitt er an der Flanke des Ippos herab. Wenn erst der Kontakt zum Bewusstsein des Tieres abriss, würde es ihn abwerfen und mit seinen tödlichen Hörnern auf ihn losgehen. Noch konnte er zustoßen und es töten. Er hätte damit zwar sein Leben gerettet, das Shúrias und Aris aber vielleicht verloren …
Schließlich verließen ihn die Kräfte und er fiel. Die Landung im Gras verlief glimpflich. Sofort fuhr der schwarze Hengst herum und senkte das Haupt, wohl um den Menschen augenblicklich aufzuspießen. Taramis rollte sich auf den Rücken und riss den Feuerstab hoch. Daraufhin geschah etwas Eigenartiges.
Das Ippo blieb vor ihm stehen und legte sein Horn sacht an die Spitze des Stabes, so als wolle es sagen: Wir sind ebenbürtige Kämpfer. Lass uns Frieden schließen.
Im Augenblick der Berührung meinte Taramis wieder das Bewusstsein des Hengstes zu spüren. Zuvor war es wie eine Bastion gewesen, jetzt öffnete es sich ihm. Es war ein Geist – so einfach und stark, wie er dies nur ein einziges Mal bei einem Tier erlebt hatte. Bei einem treuen Freund, der sein Leben für ihn geopfert hatte.
»Ich brauche dich, Allon«, sagte Taramis sanft. »Können wir gemeinsam ein Stück Weges gehen?« Wie selbstverständlich hatte er den Rappen so wie seinen tapferen Gefährten aus früheren Tagen angesprochen. Der Name bedeutete stattlich. Das traf auch auf den geflügelten Schatten zu, dessen große Bernsteinaugen den Mann neugierig musterten. Als Allon II. würde der Hengst ein würdiger Nachfolger des Mamoghs sein.
Wie eine Riesenkatze schnurrte das Zweihorn wohlwollend. In seinem Sinn stiegen Gefühle auf, die dazu passten. Er schien zu antworten: Versuchen können wir’s ja. Du scheinst ein guter Mensch zu sein.
Taramis zog den Stab zurück und drehte die Spitze von dem Tier weg. Er hoffte, es werde dies als Geste der Freundschaft verstehen.
Allon II. blaffte drei-, viermal – es waren kurze, erwartungsvolle Laute, in denen sich Hundegebell und Tigergebrüll zu mischen schienen.
Langsam erhob sich Taramis und tätschelte den Kopf des Ippos. »Guter Junge«, sagte er in mildem Ton und strich über den kräftigen Hals des Tieres. »Tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe.« Seine Hand massierte den Rücken und die Schwungarme der Flügel. Das schwarze Fell war kurz und dicht. Es fühlte sich fast wie weicher Filz an. An den Schwingen war die Behaarung etwas länger. »Und die Sache mit der hübschen Roten war auch nicht böse gemeint. Darf ich dich trotzdem reiten?«
Abermals blaffte Allon.
»Ich nehme das mal als ein Ja«, sagte Taramis und holte tief Luft. Hoffentlich legte er kein zu schnelles Tempo vor. Er hielt sich an der Mähne des Ippos fest, ging in die Knie und schwang sich auf dessen Rücken.
Der Hengst warf den Kopf zurück, schnaubte, tänzelte einen Moment lang auf der Stelle und kam dann wieder zur Ruhe.
Taramis atmete auf. Von jetzt an konnte es eigentlich nur besser werden.
Das schräg einfallende Licht der Morgensonne verwandelte den geflügelten Schatten in eine lebende Skulptur der Anmut und Kraft. Taramis bewunderte das Muskelspiel unter dem schwarzen Fell seines neuen Gefährten. Er war die ganze Nacht hindurch geritten. Sogar ein wenig geschlafen hatte er. Die Fähigkeit, sich im Schlummer festzuhalten, stammte noch aus den Tagen, als er auf dem Rücken von Allon I. tagelang durch den Äther gereist war.
Leider taugten die Flügel der Ippos nicht für längere Luftreisen. Sie dienten den Tieren ja eigentlich nur dazu, auf kürzestem Wege die Sphäre einer Insel zu verlassen. Im Ätherischen Meer dagegen verliehen sie ihnen eine erstaunliche Wendigkeit.
Die Verständigung mit Allon gelang inzwischen recht gut. Es bedurfte keines Feuerstabes mehr, um ihm den Willen seines Herrn mitzuteilen. Noch ein paar Tage – und das Zweihorn würde ihn auch über größere Entfernungen wahrnehmen. Ein so kluges und lernfähiges Tier fand man nicht oft. Taramis beschloss, den Hengst möglichst mit auf die Reise zu nehmen.
Am späten Vormittag erreichte er Adma. Als er auf seinem prachtvollen Rappen das Stadttor durchquerte, zog er die bewundernden Blicke der beiden Wachen auf sich. Einen der Männer kannte Taramis und nickte ihm zu.
Er hoffte, unter den reisenden Kaufleuten im Hafen ein schnelles Transportmittel für die Suche nach Shúria und Ari zu finden. Dummerweise hatte er keinen einzigen Pim in der Tasche. Mit der Familie und dem Haus war ihm nämlich auch sein Geld abhandengekommen. Vielleicht konnte er auf einem Schwaller anheuern – so nannte man jene Tiere, auf denen die Berither den Weltenozean bereisten.
Zielstrebig ritt er durch die penibel gefegten Straßen und Gassen. Besucher aus fernen Ländern staunten gewöhnlich, wie sauber die Hauptstadt Barneas wirkte. Jeder Einheimische kehrte bei jedem Wetter am sechsten Tag einer jeden Woche vor seinem Haus. Seit alters her war das so Brauch. Wer sich nicht daran hielt, konnte niemals die Achtung der notorisch ordentlichen Bevölkerung erwerben.
Obwohl die ländliche Metropole nicht weniger als einhunderttausend Einwohner zählte, war sie ihrer Art nach doch ein Dorf geblieben. Der ruhige und bodenständige Menschenschlag der grünen Insel schätzte das beschauliche Leben. Jede Form von Hektik war ihm verpönt. Am lebhaftesten ging es noch im Hafenviertel zu. Dorthin lenkte Taramis sein Tier.
Adma lag wie die meisten bedeutenden Städte Beriths sowohl dicht am Inselrand als auch am Ufer eines großen Sees. So konnten selbst riesige Schwalltiere, die sich in den Lufthüllen oft schwerfällig bewegten, leicht einen Ruheplatz finden. Auf Barnea war dies natürlich streng reglementiert. Das Hafenamt teilte den Donnerkeilen, Drachenkröten, Ellipsoiden und Salamandern die Schlafstätten zu.
Ihre Reiter genossen in dieser Beziehung mehr Freiheiten. Sobald sie das Seetor durchquerten, hatten sie eine große Auswahl, die sich vom einfachen Schlaf- bis zum noblen Gasthaus erstreckte. Mancher Reisende nächtigte auch in einer Spelunke, die Hand fest an einem Krug Bier. Der Gasthof zum goldenen Salamander bot ein wenig von allem, war er doch eine Schenke für die Durstigen, eine Schlafstatt für die Müden und für so gut wie jeden erschwinglich – sofern man wenigstens etwas Geld in der Tasche hatte.
Obwohl Letzteres auf Taramis nicht zutraf, lenkte er sein Ippo in die Seitengasse neben dem Gebäude, wo die Kundschaft ihre Tiere abzustellen pflegte. Er kannte den Goldenen Salamander noch von früheren Besuchen, hier traf man Glücksritter aus aller Welt. In den vergangenen Jahren hatte er in dem Gasthof einige lohnende Geschäfte abgeschlossen. Wegen seiner Abneigung gegen Menschenansammlungen verkehrte er in solchen Häusern allerdings nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
Aus einer offenen Nebentür drangen Küchendüfte, das Geklapper von Töpfen und ein trauriges Lied. Zu der vollen, wunderschönen Frauenstimme zwitscherte ein Vogel in erstaunlicher Harmonie.
Taramis ließ Allon neben der Tür am Ende einer ganzen Reihe anderer Reittiere stehen: Rösser, Esel, Ippos und einen straußenähnlichen Laufvogel gab es da. Die Gasse neigte sich zur Mitte hin, wo eine Rinne im Boden verlief, durch die Wasser plätscherte. Sollte ein Pferd in Unkenntnis der barneanischen Reinlichkeitsvorschriften einen Apfel fallen lassen, so rollte dieser gewöhnlich von selbst in die Gosse und wurde diskret fortgespült. Weniger günstig geformte Exkremente ließen sich mit geringfügig größerem Aufwand entfernen. Weil Taramis nicht einmal einen Zügel besaß, mit dem er sein Tier hätte festbinden können, schärfte er ihm ein: Wenn dich einer anfasst, zeig ihm deine Hörner …
Plötzlich traf ihn ein glitschiger Schwall Küchenabfälle. Speisereste, Eierschalen und Abwaschwasser rannen ihm die Beine herab.
»Pfui!«
Sogleich erstarb der Gesang aus der Küche und von drinnen erklang ein erschrockenes »O Gott!«. Taramis’ feines Gehör vernahm federleichte Schritte. Dann erschien eine große, schlanke Frau in der Tür, mit betroffener Miene und einem feuchten Lumpen in der Rechten. Auf ihrer Schulter saß ein kleiner bunter Vogel.
Sie war etwa dreißig Jahre alt, hatte hellblaue Augen, hohe Wangenknochen, volle Lippen und die Rundungen genau dort, wo die Männer es mochten. Das lange, strohblonde Haar trug sie als Pferdeschwanz. Ihrer fleckigen Schürze, dem schmutzigen Gesicht sowie den noch schmutzigeren Händen und Armen nach zu urteilen handelte es sich um eine Magd. Obwohl sie also eher das Gegenteil von herausgeputzt war, entging Taramis keineswegs ihre kühle Schönheit, die das Bild einer zarten Eisblume in ihm heraufbeschwor.
Er zog den Mund schief. »Ich weiß gar nicht, was ich mehr loben soll, Euren Gesang oder Eure Treffsicherheit.«
Anmutig stieg sie über zwei Stufen in die Gasse hinab, dabei wippte ihr knöchellanger, hellbrauner Rock wie im Tanz hin und her. Sie ließ sich vor dem triefenden Mann auf ein Knie nieder und schickte sich an, seine Beine mit dem Lappen abzuwischen. Unbeabsichtigt – so vermutete er – gewährte sie ihm dadurch einen tiefen Blick in den Halsausschnitt ihrer flachsfarbenen Leinenbluse.
Als Taramis ihrer Brüste ansichtig wurde, schreckte er zurück. Nicht dass an ihrem wohlgeformten Busen etwas auszusetzen gewesen wäre, vielmehr verursachte ihm ihre jähe Nähe Herzklopfen. Er fühlte sich in der Gegenwart schöner Frauen ohnehin immer unsicher, weil ihn ihre weiblichen Reize so wenig kalt ließen. Seine Liebe zu Shúria war ihm zu kostbar, um auch nur in Gedanken den Versuchungen einer anderen zu erliegen. Erschwerend kam seine Menschenscheu hinzu, deretwegen er jeder Berührung mit fremden Personen ohnehin aus dem Weg ging.
»Verachtet Ihr mich so sehr, Herr?«, fragte die Magd. Sie klang verletzt.
Er schüttelte den Kopf. »Vor Gao sind alle Menschen gleich. Diesen Grundsatz beherzige ich so gut es geht. Nur … ich würde mich gern lieber selbst reinigen.«
»Bitte entschuldigt meine Ungeschicklichkeit, Herr. Ich hätte besser aufpassen sollen.«
»Schwamm drüber.«
»Tut’s auch der Lappen?« Sie warf ihm diesen zu.
Taramis fing ihn auf, bückte sich und trocknete seine Beine gründlich ab. Besonders hingebungsvoll reinigte er die Sandalenriemen.
»Ein prachtvolles Zweihorn habt Ihr da«, bemerkte die Magd irgendwann.
»Allon und ich haben uns erst kürzlich gefunden.«
»Wie Ihr Eure Worte wählt, das ist … irgendwie seltsam.«
»Ihr meint, weil ich wie ein Ganese spreche?«, antwortete er, ohne sie anzusehen. »Ich habe lange auf Jâr’en gelebt und schätze Euer Volk, das die Bäume im Garten der Seelen so aufopferungsvoll pflegt. Ihr seid auch eine von ihnen, nicht wahr?« Für ihn lag die Vermutung nahe. Das Aussehen der Frau sprach ebenso dafür wie ihre geschmeidige Art, sich zu bewegen. Und nicht zuletzt das gefiederte Juwel auf ihrer Schulter, mit dem sie so harmonisch im Duett gesungen hatte – all dies war für eine Angehörige des naturverbundenen Gartenvolkes typisch.
»Ihr kennt die Heilige Insel? Meine Eltern waren dort Gärtner und meine Schwester lebt immer noch auf Jâr’en«, staunte sie. Sofort streckte sie ihm die Rechte hin. »Ich bin übrigens Ischáh, die Tochter Surimans. Darf ich Euren Namen erfahren, Herr?«
»Wie kommt es, dass eine Ganesin hier als Küchenmagd arbeitet?«, wich er ihrer Frage aus und vertiefte sich wieder ins Putzen der Sandalenriemen. Er wollte sie nicht belügen, seine wahre Identität aber auch nicht verraten. Der dagonisische Spion, dessen Schuppe er gefunden hatte, mochte noch irgendwo in der Nähe herumschleichen.
Sie schlug die Augen nieder. »Offensichtlich hat jeder von uns seine Geheimnisse.«
Taramis erhob sich und gab ihr den Lumpen zurück. »Danke. Im Goldenen Salamander verkehren doch viele Fremde. Habt Ihr zufällig von einem Reiter gehört, der Barnea bald verlässt?«
»Ihr scheint nicht oft in der Stadt zu sein, wenn Ihr eine solche Frage stellt. Hier treffen täglich Schwaller aus aller Herren Länder ein – und andere verlassen die Insel.«
»Meine … äh, meine Börse ist mir abhandengekommen.«
Sie musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. »Das glaube ich Euch aufs Wort. Ihr müsst also irgendwo anheuern, um hier wegzukommen. Habt Ihr etwas … verbrochen?«
»Nein.«
»Ist der Ippohengst vielleicht gestohlen?«
»Fragt ihn, wenn Ihr mir nicht glaubt.«
Furchtlos trat sie an den Rappen heran. Dem Vögelchen auf ihrer Schulter war der stattliche Allesfresser wohl nicht recht geheuer, denn es flatterte davon. Die Magd rief ihm ein Lebewohl hinterher und wandte sich wieder dem geflügelten Schatten zu. Sanft legte sie die Hand an die Wurzel seines großen Horns. Allon ließ es – trotz der anderslautenden Anweisungen seines Herrn – klaglos geschehen. Bei einer Ganesin war das auch nicht anders zu erwarten. Keiner kannte sich besser mit Lebewesen jeglicher Art aus als das Gartenvolk. Ischáhs Blick wanderte zu Ez, den Taramis im Futteral auf dem Rücken trug. »Ihr habt mit dem Schwarzen gerungen und ihn trotzdem nicht bezwungen.«
Er nickte. »Wie ich bereits sagte: Wir haben einander gefunden.«