Die zerbrochene Welt - Ralf Isau - E-Book

Die zerbrochene Welt E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Ein Phantom treibt auf der Insel Zeridia sein Unwesen. Die Priester der Heiligen Insel Jâr’en schicken ihren besten Kämpfer, Taramis, einen Tempelwächter, auf die Insel seiner Ahnen. Trotz seiner Jugend hat er den Ruf der Unbesiegbarkeit und als mächtige, nahezu unzerstörbare Waffe den Feuerstab Ez, den er einst von seinem dann spurlos verschwundenen Vater bekam. Taramis spürt das Phantom auf, bemerkt aber zu spät, dass er von Jâr’en fortgelockt wurde, damit ein Heer von Antischen die Heilige Insel angreifen kann. Sie bringen Tod und Verderben über die Insel und setzen alles daran, das Geheimnis der Seelenbäume zu lüften. Gelingt dies, könnte ihr Anführer Natsar jeden töten, der seinem Machtanspruch im Weg steht. Die Kirries, die Verbündeten der Antische, haben zudem den Hohepriester Eli und seine Tochter, Taramis’ Geliebte, entführt. Taramis nimmt den Kampf gegen die Antische auf, seine außergewöhnlichen Geistesgaben und Talente nützen ihm aber wenig gegen eine erdrückende Übermacht. Er wird überwältigt und auf die Gefangeneninsel Zin verschleppt. Alles scheint verloren … Ralf Isau hat in seiner meisterhaft erzählten Fantasy-Trilogie ein faszinierendes neues Weltenkonzept erschaffen: Berith war der Legende nach ursprünglich ein gewöhnlicher, kugelförmiger Planet. Durch den »Großen Weltenbruch« wurde daraus die »Scherbenwelt«: Tausende von Inseln, umschlossen von einer gigantischen Sphäre, der »Aura«. Die Inseln bewegen sich auf festen Bahnen durch das »Ätherische Meer«, einen luftarmen Bereich. Voller Überraschungen ist auch die Flora und Fauna von Berith: eine Vielfalt von vernunftbegabten Bewohnern, die sich von den fischköpfigen Antischen über die zwergenhaften Kirries bis zu den amphibischen Zeridianern erstreckt. Die stärkste Kraft der Berither ist ihr Geist, ihre Willenskraft. Sie ist meistens auf bestimmte Gaben beschränkt, wie etwa das Erschaffen von Trugbildern, die Veränderung des eigenen Äußeren, das Umwandeln negativer Gefühle in Blindheit oder die Verwandlung von Angst in Energie. Auch intelligente Pflanzen sind in der »Scherbenwelt« zu finden. Für jedes vernunftbegabte Lebewesen gibt es auf der Heiligen Insel Jâr’en einen Seelenbaum. Stirbt der Mensch, geht auch sein Baum ein und umgekehrt. Da niemand den eigenen Seelenbaum kennt, wagte bisher auch keiner eine Axt an die heiligen Bäume zu legen – er könnte ja sich selbst oder seine Gefährten töten. Die Zerbrochene-Welt-Trilogie berichtet von einer Zeit, als dieses uralte Tabu ins Wanken geriet. Die Roman-Trilogie Die Annalen von Berith besteht aus 3 Bänden: Die zerbrochene Welt Die zerbrochene Welt – Feueropfer Die zerbrochene Welt – Weltendämmerung

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Ralf Isau

Die zerbrochene Welt

Die Annalen von Berith Band 1

Roman

1. Gulloth

Er war auf die Insel seiner Vorväter geschickt worden, um ein Phantom zu jagen. Eine mordende Bestie, die niemand je richtig gesehen hatte. Nun lag der Beweis für ihre Existenz direkt vor ihm. Die Fährte des Ungeheuers funkelte wie Sternenstaub zwischen den Farnen und Kiefernnadeln im uralten Wald von Zeridia. Taramis sträubten sich die Nackenhaare.

Er ging in die Hocke. Mit den Fingerspitzen untersuchte er die riesigen Abdrücke. Vier Tatzen mit je sechs langen Klauen. Ein Wolfsdrache? Ihn schauderte. Er war nie einer dieser Kreaturen begegnet, von denen man sich Unglaubliches erzählte. Angeblich speicherten sie verschiedene Sekrete in ihrem Schädel, die sie bei Bedarf zusammenmischten, um aus den Nüstern Feuer zu speien.

Taramis schüttelte den Kopf. Sicher irrte er sich. Die vergleichsweise moderaten Temperaturen im zeridianischen Regenwald dürften den Grauechsen kaum behagen. Ihre Heimat waren die schwülheißen und subtropischen Inseln der Zentralregion. Außerdem hatte das Phantom Menschen als Beute gewählt, was doch eher auf einen Bären, Säbelzahnluchs, Tausendfüßigen Riesenblutegel oder eine andere einheimische Raubtierart schließen ließ. Das Blut des Volkes der Zeridianer gehörte zu den stärksten bekannten Giften. Die auf dem Archipel heimischen Raubtierarten waren zumeist dagegen unempfindlich, für Lebewesen aus anderen Regionen Beriths konnte dagegen schon ein Blutstropfen auf der Haut tödlich sein.

Doch was auch immer eine so tiefe Spur im Waldboden hinterlassen hatte, er durfte es auf keinen Fall unterschätzen. Taramis musste sich in Acht nehmen, damit sein erster Streifzug durch die Jagdgründe der Ahnen nicht zum letzten wurde.

Jede sich ihm bietende Deckung nutzend, folgte er den glitzernden Tupfen. Im Spurenlesen konnte ihm kaum jemand etwas vormachen. Sein besonderes Talent bestand darin, Fährten mittels Geisteskraft zu einem goldenen Funkeln anzuregen, eine seltene, ihm schon in die Wiege gelegte Gabe.

Und ebenso lang besaß er den Stab Ez, den er immer und überall mit sich trug. Er schien nicht von dieser Welt zu sein: Ez war schwarz wie Ebenholz, sieben Fuß lang, gerade wie ein Speerschaft, wohl ausbalanciert, dabei überraschend leichtgewichtig und unzerstörbar. Die Härte und Durchschlagskraft seiner Spitze übertraf die von Stahl. Seine eigentliche Macht lag in einer höchst ungewöhnlichen Eigenschaft, die ihn von allen anderen Waffen unterschied.

Ez wohnte ein Feuer inne, das sich an den Absichten des Herzens entzünden konnte. Je mehr ungezügelte Boshaftigkeit eine Person erfüllte, desto entflammbarer war ihre Seele. Die kleinste Berührung mit dem schwarzen Holz genügte, um einen hasserfüllten Gegner in eine lebende Fackel zu verwandeln.

Für Taramis verkörperte der wundersame Stecken überdies einen ideellen Wert. Gerade erst geboren, hatte sein Vater ihn und die Mutter vor vierundzwanzig Jahren verlassen. Daher besaß er keine Erinnerungen an diesen für ihn namen- und gesichtslosen Mann. Nur den Feuerstab. So wurde Ez zum Abschiedsgeschenk, zu einem Vermächtnis des Unbekannten, der kein Zeridianer gewesen sein konnte – Taramis hatte oft darunter gelitten, ein Halbblut zu sein. Meister Marnas, sein Lehrer, war der Meinung, dieser geheimnisvolle Mensch müsse außergewöhnliche Macht besessen haben, weil er so einzigartige Fähigkeiten an seinen Sohn weitergegeben habe.

Mit Sinnen, die wie ein trockener Schwamm alles um sich herum aufsaugten, folgte Taramis der glitzernden Spur einen lang gestreckten Hang hinab. Dabei verschmolz er förmlich mit seiner Umgebung. Um ganz eins zu sein mit dem Wald, lief er barfuß. Nach Sitte seines Volkes hatte er das schwarze, bis zur Mitte des Rückens reichende Haar zu sieben Zöpfen geflochten. Damit die Luft ungehindert seinen Nacken umfächeln konnte, waren sie mithilfe von Lederbändern zu einem großen Rossschwanz zusammengefasst. Abgesehen von seinen Waffen trug er nur ein dünnes Lendentuch, das eine Handbreit über den Knien endete. Er hatte sich zur Tarnung mit einer grünbraunen Paste aus Wurzelsud, Kräutern und Schlamm eingeschmiert. So vermochten ihn die meisten Waldbewohner weder zu sehen noch zu wittern. Sein schlanker, muskulöser Körper bewegte sich so geschmeidig und unauffällig wie der Leib einer Schlange zwischen den rotbraunen Stämmen hindurch. Und wenn es darauf ankam, stieß Taramis mit seinen ihm eigenen Giftzähnen auch so plötzlich wie eine Viper zu.

Denn wie auf den Stab Ez, der auf große Entfernung töten konnte, verließ er sich für den Nahkampf auf sein zweischneidiges Kurzschwert Malmath. Die wellenförmige Klinge aus vielfach gefaltetem Stahl entsprang dem Griff so schmal wie ein Dolch, verbreiterte sich alsbald in elegantem Schwung und mündete jäh in einer lanzettenfeinen Spitze.

Obwohl auch im Umgang mit anderen Waffen geübt, verdankte Taramis den Ruf der Unbesiegbarkeit vor allem seinem Schwert und dem Feuerstab. Es hieß, er sei mit achtzehn Jahren in der Tempelgarde von Jâr’en bereits der beste Kämpfer gewesen. Er selbst gab auf solche Übertreibungen jedoch nicht viel.

Das Erbe seines Volkes vermochte er dennoch nicht zu leugnen. Glaubte man dem Sprichwort, dann kamen Zeridianer als Jäger zur Welt. Taramis verspürte die tiefere Wahrheit dieser Worte hier auf Zeridia so intensiv wie nie zuvor. Schon in seinen Vorbereitungen hatte sich dieser Jagdinstinkt gezeigt. Er war auf Allons Rücken über den Wald geflogen, hatte mit sicherem Blick die günstigsten Stellen ausgesucht und sich wie selbstverständlich seine Strategie zurechtgelegt. So als hätte er nie etwas anderes getan.

Jetzt, ganz auf sich allein gestellt, wurde er eins mit der Natur, diesem Ehrfurcht einflößenden, wahrhaft gigantischen Organismus. Moosfarne schienen ihm wie seine Schwestern zu sein und die grün überwucherten Findlinge wie Brüder. Er fühlte sich wie ein Sohn der Baumriesen, deren Äste voller Flechten hingen und an lange Bärte erinnerten. Unentwegt tastete er mit Händen, Füßen und Geist. Er lauschte mit seinen Ohren den Stimmen der Tiere und prüfte mit der Nase die dunstgeschwängerte Luft. Dreihundert Tage im Jahr verschleierte der Nebel hier das Licht, die Geräusche, den Regenwald, alles Leben darin.

Und immer häufiger verwandelte er sich für seine Bewohner in ein Leichentuch.

Am Widerhall seiner Schritte erkannte Taramis, dass die mächtigen Stämme hinter den wabernden Dunstschwaden zurücktraten. Der Wald lichtete sich. Ein Windhauch trug den Duft von Schilf herbei, ein Vorbote des Grünen Sees.

Am Eingang eines felsgesäumten Hohlweges duckte sich Taramis in die hüfthohen Farne. Die funkelnde Spur bog nach rechts ab, wo sie fast schnurgerade einen steilen Hang erklomm. Er hatte genau das Gegenteil vermutet, denn links ging es durch die Felsrinne zum Grünsee hinab. Dort unten, bei der Tränke, erwartete die Bestie mit den großen Tatzen reiche Beute. Deshalb hatte sich Taramis für das Zusammentreffen auch die Engstelle ausgesucht. Hier gab es kein Entkommen. Alle nötigen Vorkehrungen waren getroffen. Warum verhielt eine der räuberischsten Kreaturen, die je auf dieser Insel ihr Unwesen getrieben hatte, sich so völlig anders?

Taramis lauschte. Seine feinen Sinne atmeten förmlich die Umgebung ein. Er hörte den Wind in den Wipfeln, den Flügelschlag der Vögel, das Summen von Insekten, das Knistern eines Hirschkäfers, der sich seinen Weg durch Laub und Kiefernnadeln bahnte. Alles wirkte so friedlich, wie es in einer Welt des Fressens und Gefressenwerdens nur sein konnte.

Was nun?, fragte sich Taramis. Sollte er seinen Schlachtplan über den Haufen werfen und dem Phantom auf den Berg folgen? Das schwarze Holz in seinen Händen schien aufgeregt zu pulsieren. Er ließ sich davon nicht verunsichern. Nur sein Herz pochte wie verrückt, trieb Wogen heißen Blutes durch seine Adern. Ob der Stab seine Macht entfaltete, würde sich erst noch zeigen. Sollte die Bestie nämlich nur ein vernunftloses Tier sein, wäre sie für Ez ebenso unschuldig wie ein Kind. Er taugte dann bestenfalls als Ochsenstachel, wie Marnas einmal spöttisch bemerkt hatte, als ein kleiner Dorn, mit dem man schwerfällige Dickhäuter triezen konnte.

Plötzlich erscholl über Taramis ein lautes Rattern. Unwillkürlich duckte er sich tiefer in die Farne. Seine Augen suchten nach einem herbeischwirrenden Geschoss, einem Angreifer oder einer anderen Gefahrenquelle. Die Dunstschleier lichteten sich für einen Augenblick, und er entdeckte an einem Stamm weit oben den Verursacher des Lärms: Ein Specht hämmerte sich voller Übermut durch die Rinde.

Taramis atmete erleichtert auf. Er sondierte noch einmal gründlich das Terrain, ehe er aus der Deckung trat. Sein Blick folgte der glitzernden Fährte hangaufwärts, die nach etwa zweihundert Schritten im Nebel verschwand. Ihm fiel ein, wie die Bewohner von Zeridia die Kreatur nannten, der er nachstellte: den schleichenden Tod. Manche sagten, sie sei ein böser Geist, der sich nur in der wachsenden Zahl seiner Opfer spiegle.

Fast fünf Dutzend Männer hatte die Bestie schon geholt. Mit Vorliebe wählte sie die Jungen und Kräftigen, wodurch sie die Existenz des ganzen Stammes gefährdete, der seine besten Jäger verlor. Das Biest schien die Beute mit Haut und Haaren zu verschlingen, selten ließ sie ein paar Leichenteile liegen. Und diese grauenhaft zugerichteten Überreste schienen wie eine Warnung, die sie den Überlebenden zukommen ließ.

Immerhin war der Kreatur eine Handvoll Männer entkommen. Taramis hatte mit ihnen gesprochen, um sich ein Bild vom Gegner zu machen. Ihre widersprüchlichen Beschreibungen gaben ihm Rätsel auf.

Besonders merkwürdig fand er die Erinnerungen eines Flüchtlings von der Nachbarinsel Samunia. Er hieß Cellion und war ein ehemaliger Kamerad aus der Tempelgarde von Jâr’en. Taramis kannte ihn aus der Zeit ihres gemeinsamen Dienstes als verwegenen Krieger. Beim gestrigen Wiedersehen war er dagegen wie ausgewechselt. Völlig verängstigt stammelte er, dagonisische Sklavenjäger hätten eine blutrünstige Bestie auf Zeridia zurückgelassen, und dann berichtete er von einem Überfall der Menschenfänger auf sein Heimatdorf.

Die Fischköpfe banden, so behauptete er, die stärksten Männer auf ihre Drachenwürmer, trieben anschließend den Rest des Stammes in die Rundhäuser und zündeten sie an. Den Häuptling, den sie vorher mit ihren giftigen Stacheln gelähmt hatten, ließen sie dabei zusehen, um ihn schließlich aus sicherer Entfernung mit ihren dreizackigen Lanzen zu ermorden. »Seitdem träume ich jede Nacht davon. Ich sehe das Flammenmeer, aus dem entsetzliche Schreie dringen. Sie rufen immer wieder meinen Namen«, hatte Cellion mit starrem Blick geflüstert.

Ehe er unbemerkt hatte entkommen können, musste er sich anhören, wie die Fischköpfe den Häuptling verhöhnten. Sie prahlten von einem ihrer größten Menschenschlächter, den sie Gulloth nannten. Der wüte als das Phantom auf Zeridia und habe schon viele Seelen gefressen. Gegen Ende seines verworrenen Berichts meinte Cellion, er wisse nicht, welches Übel größer sei: die Mörderbanden aus Dagonis oder Gulloth, der schleichende Tod.

Taramis hielt die Schilderungen seines Kameraden für Zerrbilder der Wirklichkeit, die ein verwirrter Geist ausgebrütet hatte. Der einstige Tempelwächter musste irgendetwas Schreckliches erlebt haben. Zweifellos hatte es ihn um den Verstand gebracht. Fischköpfe konnten es aber nicht gewesen sein: Dagonisier waren Antische und somit ein kiemenatmendes Menschengeschlecht. In den Luftblasen des Archipels müssten sie jämmerlich ersticken. Nur wo solche Sphären fehlten wie in ihrer Heimat oder im Ätherischen Meer, vermochten sie zu überleben.

Er verdrängte die Gedanken an die Unwägbarkeiten seines Vorhabens. Ginge es danach, hätte er gar nicht erst von Jâr’en aus aufbrechen dürfen. Eigentlich zeugte sein Hiersein von der Unfähigkeit, den Überredungskünsten eines bestrickend schönen Mädchens zu widerstehen. Xydia hatte ihn angefleht, nach Zeridia zu gehen und das Phantom zu töten. Lauris war ihr älterer Bruder und ebenso wie ihr Vater Eli sorgte sie sich um ihn. Er war ein Unterhäuptling und zugleich der beste Krieger des Stammes, der am anderen Ende des Grünen Sees lagerte. Nach einigen erfolglos verlaufenen Treibjagden hatte der unerschrockene Jäger die Bestie allein zur Strecke bringen wollen – und war nicht mehr zurückgekehrt.

Wie hätte Taramis seiner Liebsten also den Wunsch abschlagen können? Er liebte die älteste Tochter des Hohepriesters wie sonst keinen Menschen auf der Welt. Vor seiner Abreise hatten sie sich heimlich verlobt. Ob er jedoch als gewöhnlicher Tempelwächter und als Halbblut in die angesehene Familie einheiraten durfte, musste sich erst noch zeigen.

Durch den Hohlweg strich ein Luftzug, der die Nebelschwaden aufwirbelte und dem Sonnenlicht eine Schneise schlug. Taramis verharrte mitten im Schritt. Seine scharfen Augen fixierten etwas auf dem Waldboden. Es schimmerte wie Perlmutt. Er bückte sich danach, hob es auf.

Zwei Fischschuppen?

Sie glichen den Nägeln seiner Mittelfinger, waren biegsam und halb durchsichtig. Eine schillerte weißlich, die andere orange. Hatte das Phantom im Grünsee einen stattlichen Fisch gefangen und ihn den Hang hinaufgeschleift? Taramis steckte sie in den Bund seines Lendentuches und folgte weiter der glitzernden Fährte. Sollte sich die Bestie am Ende doch nur als ein gewaltiges Raubtier entpuppen, das es gelegentlich nach Menschenfleisch gelüstete?

Unvermittelt drang ein Geräusch an sein Ohr. Es kam aus dem Hohlweg hinter ihm. Blitzschnell wirbelte er herum. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Zwischen den felsigen Wänden stand etwas. Der Größe nach hätte es ein Wasserbüffel sein können. Genaueres ließ sich in den wirbelnden Nebelschwaden nicht erkennen. Es schien zu Taramis herüberzublicken. Sah er zum ersten Mal das Phantom? Ihn beschlich eine schlimme Ahnung.

Die Fährte, die ihn in die falsche Richtung gelockt hatte, musste eine List sein, kein tierischer Instinkt brachte derlei ausgeklügelte Finten hervor. Sie zeugten von Verstand und bewusster Planung. Dennoch wollte sich Taramis durch eine Feuerprobe Gewissheit verschaffen. Eine kurze Berührung mit dem Stab Ez würde dafür schon ausreichen. Dann würde sich zeigen, ob da im Nebel nur ein massiges Tier lauerte oder ein Wesen, das leicht entflammbare Gefühle trieben.

Taramis begann, auf den bulligen Schatten zuzueilen. Fast gleichzeitig setzte sich der Schemen in Bewegung. Unterschiedlicher konnten zwei Kämpfer kaum sein, der eine lief leichtfüßig wie eine Katze, der andere stampfte mit kraftvollen Schritten.

Wer ist hier eigentlich der Jäger und wer der Gejagte?

Entschlossen drängte Taramis die Frage an den Rand seines Bewusstseins. Er durfte sich jetzt von nichts mehr ablenken lassen, schon gar nicht von Zweifeln. Die momentane Ausgangsposition war nicht so günstig wie erhofft. Er wollte seinen Gegner unbedingt erreichen, bevor der den Hohlweg verlassen und seitlich ausbrechen konnte. Taramis steigerte das Tempo.

Als die Distanz zwischen den Kontrahenten etwa um die Hälfte zusammengeschmolzen war, hob sich unvermittelt der Nebelschleier. Das herbeistürmende Phantom erstrahlte im Abendlicht. Taramis umklammerte den Stab wurfbereit mit der Rechten. Also hatte er die Tatzenabdrücke doch richtig gedeutet.

Es war tatsächlich ein Wolfsdrache, ein fast vier Schritt langes, massiges Tier mit großem, breitem Schädel, bösartig blickenden rotbraunen Echsenaugen, warzenübersäter, grauschwarzer Haut, einem gedrungenen, papageienartigen Schnabel mit zwei kurzen Hauern und einem langen, glatten Schwanz. Die Kreatur stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus.

Taramis nahm das Geräusch mit jener inneren Distanz wahr, die ihn zu einem so gefährlichen Kämpfer machte. Lebensbedrohliche Situationen wirkten auf viele Krieger wie ein starkes Rauschmittel: Sie erhöhten die Leistungsfähigkeit, setzten die Schmerzempfindlichkeit herab und benebelten den Verstand. Ihn hatten sie stets nur wachsamer gemacht. Sein Geist verfügte über die Gabe der Zähen Zeit. Sie zog jeden Augenblick in die Länge, wodurch sich alles um ihn herum zu verlangsamen schien – nur seine Reflexe nicht.

Der Wolfsdrache senkte sein breites Haupt zum Stoß. Gleich würde sich zeigen, was in ihm steckte. Ein boshafter Verstand, an dem sich die glühende Macht des Stabes entzünden konnte? Andernfalls würde Ez kalt bleiben – nur ein hölzerner Speer …

Etwa drei Schritte vor der Kreatur sprang Taramis mit ganzer Kraft in die Höhe. Der kurze Hals und das enorme Gewicht der Echse hinderten sie hoffentlich an einer schnellen Reaktion gegen einen Angriff aus der Luft. Im Flug packte er den schwarzen Schaft mit beiden Händen, riss die Arme nach oben und zielte mit der Spitze zwischen die Schulterblätter des Wolfsdrachen.

Plötzlich sah er etwas gleich einer Peitsche auf sich zurasen, am Ende hing ein Geröllbrocken. Es war der rattenhafte Echsenschwanz, der den Felsbrocken so geschickt wie eine Streitkeule schwang. Taramis beugte reflexartig den Kopf nach hinten, der Stein streifte seine Nasenspitze und schlug ihm mit brutaler Gewalt den Stab Ez aus den Händen. Der Krieger wirbelte in der Luft herum und landete hinter dem Wolfsdrachen auf den Beinen. Die Zähe Zeit hatte ihm das Leben gerettet, seine Entwaffnung indes nicht verhindern können.

Ez war in die andere Richtung geflogen und klapperte neben der bulligen Echse zu Boden. Rasch wälzte sie einen schweren Felsbrocken über den Stab und legte ihre Klaue darauf. Deutlicher konnte sie ihre Hinterhältigkeit kaum zeigen. Als wüsste sie genau, dass sie den Feuerstab nicht ungeschützt berühren durfte. Was verlieh dem Wolfsdrachen nur solche Fähigkeiten? Wurde er von einer Macht gelenkt, die sich der Tiergestalt bediente wie ein Puppenspieler seiner Marionette?

Lauernd standen sich die Kontrahenten gegenüber. Taramis ließ seinen Geist auf den Stab einwirken. Es kostete ihn schon Mühe, bewegliche Gegenstände mit der Kraft des Willens zu lenken, hier musste er vollends passen. Sosehr er auch an der Waffe rüttelte, er bekam sie nicht frei. Während ihm aus den linsenförmigen Pupillen der Echse die pure Häme entgegenschlug, überkam ihn ein Gefühl der Reue.

Wäre er seinem väterlichen Lehrmeister nur ein besserer Schüler gewesen! Marnas hatte ihn oft genug ermahnt, über den unermüdlichen Waffenübungen seine mentalen Fähigkeiten nicht zu vernachlässigen. In der Tempelgarde dienten einige der begabtesten Geistkämpfer von Berith. Aber der junge Eigenbrötler war stur geblieben. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man der spirituellen Seite seines Ichs nicht trauen konnte.

Kein Wille, und sei er noch so stark, vermochte ihm nämlich ein Haar zu krümmen. Ein fester Blick in die Augen eines Widersachers genügte Taramis, um den Spieß umzudrehen: Wer ihn mit Blindheit schlagen wollte, verlor selbst das Augenlicht, und Bannsprüche fielen umgehend auf die Verfluchenden zurück. So war schon manchem die eigene Macht zum Verhängnis geworden. Meister Marnas nannte diese Begabung Spiegeln; er zählte sie zum Vermächtnis des geheimnisvollen Vaters seines talentiertesten Schülers.

Gegen körperliche Gewalt und List war Taramis indes ebenso wenig immun wie gegen indirekte mentale Angriffe oder die vielfältigen Spielarten der Illusion. Er gehörte selbst zu den Gauklern, die Trugbilder erschaffen konnten, wie andere Vogelstimmen nachahmten. Derlei Schimären auf den Wolfsdrachen loszulassen, konnte allerdings ins Auge gehen. Wer immer sich hinter der tierischen Maske verbarg, war ebenfalls ein Meister der Täuschung und ließ sich bestimmt nicht so leicht blenden.

Taramis zückte das Schwert.

Die hässliche Echse fasste diese Geste offensichtlich als Kampfansage auf. Aus ihren Nüstern fauchten zwei Flammenzungen. Brüllend stürmte sie auf den Menschen los.

Taramis wirbelte herum und floh. Seine Chance würde kommen, aber nicht jetzt und hier. Malmath stieß er fürs Erste wieder in die Scheide zurück. Hoffentlich war der Wolfsdrache kein Langstreckenläufer. Der abschüssige Hohlweg mündete nach ungefähr einer halben Meile am Ufer des Sees. Spätestens dort würde sich entscheiden, wer von beiden der größere Jäger war.

Unter dem Eindruck der Zähen Zeit wirkte die Echse hinter Taramis wie benommen. Sie brüllte und fauchte wütend, erreichte ihr volles Tempo aber erwartungsgemäß erst, nachdem er bereits fünfzig Schritte gesprintet war. So gewann er den Freiraum, den er für seinen Plan brauchte.

Seine scharfen Augen entdeckten die Etappenmarke Nummer eins, einen großen Felsbrocken auf der rechten Seite. Behände bückte er sich dahinter, ohne seine Geschwindigkeit zu verringern. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er einen zeridianischen Jagdspeer in der Hand. In vollem Lauf drehte er sich um und schleuderte die Waffe auf das Ungeheuer.

Der Wolfsdrache wich dem Geschoss mühelos aus. Er brüllte zornig und spie abermals Feuer. Zum Glück waren die Flammenzungen viel zu kurz, um auch nur in die Nähe des Menschen zu kommen.

Nach knapp einhundert Schritten erreichte Taramis das zweite Versteck. Wieder beugte er sich nach unten, förderte einen Wurfspieß zutage und schickte ihn noch in derselben Bewegung der Echse entgegen. Losgelöst von der Zähen Zeit zischte die Waffe durch die Luft.

Der Wolfsdrache war nur dem Anschein nach träge. Seine geradezu unheimlichen Reflexe retteten ihn abermals vor dem tödlichen Stahl. Er duckte sich genau im richtigen Winkel, um den Speer an seiner dicken Lederhaut wirkungslos abgleiten zu lassen.

Taramis rannte weiter. Die folgende Etappe war lang. Zügig holte die Echse auf. Schon tauchte vor ihm das Ende des Hohlweges auf. Dahinter glitzerten die smaragdgrünen Fluten des Sees. Der Zeridianer meinte im Nacken bereits den feurigen Atem des Drachen zu spüren, als er endlich das nächste Versteck erreichte. Aus einem Felsspalt riss er Speer Nummer drei. So geschmeidig wie zuvor nutzte er die Kraft seiner Bewegung, um die Waffe wie vom Katapult geschossen davonschnellen zu lassen.

Diesmal flog der Spieß steil nach oben.

Der Wolfsdrache triumphierte mit Getöse über den offenkundigen Fehlwurf.

Taramis kam stolpernd zum Stehen, zog dabei sein Schwert und drehte sich um. Die Lider hielt er geschlossen, weil das von ihm anvisierte Ziel im Nebel verborgen lag. Er konnte den Speer nur mit den Augen des Geistes verfolgen und ihn so auf die richtige Bahn lenken.

Malmaths eisblaues Schimmern verfehlte seine Wirkung nicht. Die Echse grub ihre Klauen in den Grund, um nicht blindlings in die Klinge zu rennen. Getragen von Taramis’ Willen durchtrennte unterdessen ein gutes Stück über ihnen die stählerne Speerspitze ein Haltetau.

Unter ohrenbetäubendem Poltern krachte eine Steinlawine den Hang hinab. Die Bestie versuchte noch auszuweichen. Mit einem kraftvollen Satz stieß sie sich vom Boden ab und flog direkt auf Taramis zu. Doch diesmal hatte sie zu spät reagiert. Die Felsbrocken trafen sie mitten im Sprung und begruben sie unter einer zwei Fuß dicken Geröllschicht.

Die Lawine hatte eine Menge Staub aufgewirbelt, der sich mit dem Nebel zu einem undurchsichtigen Schleier verband. Taramis musste husten. Hatte er das Phantom getötet? Während er sich mit stoßbereiter Klinge dem Schutthaufen näherte, hallte die Mahnung von Meister Marnas durch seinen Sinn: Ob in der Schlacht oder bei der Jagd, kehre einem Gegner nie den Rücken, ehe du nicht seine Leiche gesehen hast.

Plötzlich schien das Geröll zu explodieren. Steinbrocken wurden emporgeschleudert und ein feurig heißer Atem traf Taramis im Gesicht. Er wich rasch zurück. Der Geruch verbrannten Haars stieg ihm in die Nase. Polternd rutschten vor ihm Felsbrocken auseinander. Darunter kam die grauschwarze Warzenhaut der Echse zum Vorschein. Der Wolfsdrache schob sein Haupt ins Freie und schoss zwei Flammenspeere auf den Krieger ab.

Taramis duckte sich, fuhr auf der Stelle herum und rannte los. Der Jäger war endgültig zum Gejagten geworden.

Die Bestie erreichte schnell ihr volles Tempo – zu schnell. Taramis drehte sich nicht nach ihr um. Er konnte auch so fühlen, wie sie näher kam.

In weiser Voraussicht hatte er sich für diesen Fall eine Fluchtstrategie zurechtgelegt. Er suchte sein Heil im nassen Element. Dabei vertraute er auf eine körperliche Besonderheit des Nebelvolks, die es von allen anderen Menschenrassen unterschied. Zeridianer waren amphibische Wesen. Als solche verfügten sie über vier Paare von Kiemenschlitzen im Nacken. Diese erlaubten ihnen das Atmen sowohl im Wasser als auch im Äther, dem luftarmen Raum, in dem die Inseln der Welt Berith wie große Blasen im Weltenozean trieben.

Als er nur noch wenige Sätze vom See entfernt war, spürte er den Angriff der Echse. Taramis schlug einen Haken, und ihre Klauen fuhren hinter ihm ins Leere. Mit einem Hechtsprung rettete er sich in die grünen Fluten und tauchte unter wie ein Eisvogel.

Kraftvoll schwamm er dem Seegrund entgegen. Dort konnte er notfalls tagelang ausharren. Nach ein paar Zügen wandte er sich um und der Schreck fuhr ihm in die Glieder: Die Kreatur hatte nicht aufgegeben, sondern bewegte sich im nassen Element so geschickt wie ein Fisch im Wasser.

Sie hatte sich in einen Antisch verwandelt.

Gulloth!

Der Name des Phantoms, den Taramis nur für ein Hirngespinst gehalten hatte, bekam plötzlich ein Gesicht. Mit seinen großen vorstehenden Augen, der flachen Nase und den wurmartigen Barteln um die Kinnpartie sah es dem Antlitz eines Feuerfischs zum Verwechseln ähnlich. Deshalb nannte man die Bewohner von Dagonis auch Feuermenschen. Die überraschende Verwandlung der Echse raubte ihm für einen Moment die Fassung. Benommen sank er mit den Füßen voran auf den Grund des Sees, das Schwert abwehrbereit gezückt.

Der Dagonisier – er trug nur einen Lendenschurz – bewegte sich fließend, geradezu anmutig und beängstigend schnell. Von den Schultern abwärts war er ein Mensch, etwa anderthalbmal so groß wie sein Gegner. Die gewaltigen Muskeln unter seiner geschuppten, braunrot-weiß getigerten Haut zeugten von unbändiger Kraft. Seinen Hals zierte ein Stachelkragen, der zugleich die Kiemenspalten schützte. Gulloths Hände und Füße hatten je sechs Glieder. In der Linken hielt er einen Dreizack, die Zinken deuteten drohend auf Taramis.

Dem fiel es wie Schuppen von den Augen. Sogar die einander widersprechenden Beschreibungen der Überlebenden ergaben plötzlich einen Sinn. Viele Feuermenschen, so erzählte man sich, seien Seelenfresser. Das bedeutete, sie konnten die Gestalt jedes Wesens annehmen, das sie getötet hatten. Selbst deren Erinnerungen und Fähigkeiten saugten sie dabei in sich auf. Gulloth musste zweifellos über dieses Talent verfügen und sich schon so manche Seele einverleibt haben.

Als Taramis den Dreizack auf seine Brust zuschießen sah, fiel die Benommenheit endlich von ihm ab. Die Gabe der Zähen Zeit schärfte seine Sinne. Obwohl das Wasser des Grünsees von Algen getrübt war, erschien ihm die Umgebung so klar wie die Luft an einem trockenen Wintertag. Er neigte sich gleich einem Schilfrohr im Wind und lenkte den Stoß mit dem Kurzschwert ab.

Der Feuermensch rammte seine Füße in den Schlick, um festen Stand zu finden. Er grunzte wütend, als seine Waffe wirkungslos ins Leere rauschte.

Aus den Augenwinkeln sah Taramis, wie sich aus dem Kragen des Riesen ein Stachel löste und auf seinen Kopf zuschoss. Er duckte sich, und der Dorn zischte an seinem Ohr vorbei. Cellions Schauergeschichte kam ihm in den Sinn. Vom Antischgift gelähmt habe der Häuptling von Samunia sich nicht einmal wehren können, als die Fischköpfe ihn mit ihren dreizackigen Lanzen getötet hatten.

Wütend führte Taramis einen Befreiungsschlag gegen den Hals des Gegners. Dabei rasierte er ihm mehrere Giftstachel ab. Gulloth wich zwei Schritte zurück. Das Wasser ließ ihn so plump wie ein Flusspferd erscheinen und auch ebenso gewaltig. Feindselig starrte er aus kalten Glupschaugen auf seinen Widersacher herab.

Eine Weile lang umschlichen sich die beiden. Ihre trägen Bewegungen trogen darüber hinweg, wie angespannt sie waren. Von dem vermeintlich friedlichen Tanz getäuscht schwamm ein Fisch mitten zwischen ihnen hindurch. Genau in dem Moment, als dem Zeridianer die Sicht auf die Augen des Gegners genommen war, stieß der Dreizack abermals zu.

Taramis wirbelte zur Seite. Im ersten Moment glaubte er, dem Angriff knapp entgangen zu sein, doch dann spürte er einen brennenden Schmerz am Bauch. Eine der mit Widerhaken bewehrten Spitzen der Stoßwaffe hatte ihm die Haut aufgeritzt. Blut ergoss sich ins Wasser, es kräuselte sich wie Rauch in ruhiger Luft.

Der Antisch witterte seine Chance. Jede Zurückhaltung fiel jäh von ihm ab und die Lethargie wich einer tödlichen Schnelligkeit. Flink wie ein Stör attackierte er den Gegner, deckte ihn mit einem ganzen Hagelschauer von Giftpfeilen ein und stieß immer wieder mit dem Dreizack zu.

Mit schier übermenschlichen Reaktionen setzte sich Taramis verbissen zur Wehr. Gulloth schoss einen weiteren Giftstachel auf ihn ab – und verfehlte abermals sein Ziel. Noch einer löste sich aus seinem Kragen. Taramis schlug ihn mit dem Schwert zur Seite. Seine Muskeln brannten wie Feuer. Der Kampf unter Wasser war ungleich kräftezehrender als an der Luft.

Schließlich sauste der letzte Stachel auf ihn zu. Erneut drehte er sich, um dem Geschoss weniger Angriffsfläche zu bieten. Um Haaresbreite schoss es an seiner blutenden Wunde vorbei. Er wankte zurück. Gulloth gönnte ihm jedoch keine Verschnaufpause und setzte sofort nach.

Plötzlich befiel Taramis ein heftiger Schwindel. Er blinzelte benommen. Offenbar hatte sich das Antischgift im Wasser gelöst und war so in seine Blutbahn eingedrungen. Eine bleierne Schwere kroch langsam in seine Glieder. Er drängte die aufkommende Panik zurück und zwang seinen Verstand zu klarem Denken: Noch kannst du etwas tun! Erzwinge die Entscheidung, ehe du die Kontrolle über deinen Körper verlierst. Die stärkste Kraft von Berith ist der Geist.

Zur Überraschung von Gulloth wirbelte er jäh mit den Füßen Schlick und Sand empor. Die damit verbundene Anstrengung drohte ihn von den Beinen zu reißen. Während die aufsteigende Schmutzwolke ihn umhüllte, sammelte er seinen Willen.

Auf einmal erschienen um ihn herum wie aus dem Nichts ein halbes Dutzend Zeridianer. Es waren Trugbilder, so perfekt wie echte Doppelgänger. Diese mentale Gabe, die er von Kindesbeinen an besaß, führte ein Schattendasein in seinem Kriegerleben – der Argwohn gegen die Waffen des Geistes saß tief. Und die Einsicht kam fast zu spät.

Der Dreizack rauschte heran, durchbohrte links von Taramis eine Fata Morgana. Der nächste Stoß ging nach rechts. Die Attacken kamen schnell näher.

Mit einem Mal kehrte Stille ein.

Taramis’ Beine konnten das Gewicht des eigenen Körpers nicht länger tragen. Die Lähmung erfüllte ihn mit eisiger Kälte. Er sank auf die Knie. Seine Kiemenspalten sogen angestrengt das Wasser an. Jeden Moment erwartete er den tödlichen Angriff aus den Sand- und Schlickwolken, die ihn umgaben.

Er kam aber nicht.

Stattdessen legte sich das Gewirbel und nur zwei Schritte von ihm entfernt erschien die mächtige Gestalt des Antischs. Er lag auf dem Rücken und zitterte. Sein Dreizack war ihm aus den Händen gefallen. Sie zuckten krampfhaft. In der Hitze des Gefechts hatte Taramis nicht an die gefährlichste Waffe der Zeridianer gedacht.

Ihr Blut.

Er war in einem Orden aufgewachsen, dessen Mitglieder ausschließlich vom Zeridia-Archipel stammten. Untereinander brauchten sie den Lebenssaft, der durch ihre Adern pulsierte, nicht zu fürchten. Obgleich er zum Tödlichsten gehörte, das es in Berith gab, dachte Taramis fast nie darüber nach. Hier, vom Seewasser stark verdünnt, hatte das Blut den Antisch offenbar nur langsam vergiftet. Dennoch, das wusste Taramis, würde er sterben.

Auf Knien kroch er näher an den Riesen heran. »Gulloth?«

»Woher kennst du meinen Namen?«, keuchte der Antisch. Seine kehlige Stimme klang ungewöhnlich dumpf.

»Du wirst nicht mehr lange genug leben, um die Geschichte anzuhören. Doch vorher sage mir eins: Bist du ein Kundschafter aus Dagonis?«

»Ja«, antwortete der Feuermensch überraschend unverblümt. Er zitterte wie unter heftigem Schüttelfrost.

Taramis musste an den grauenerregenden Bericht des Jägers von der Nachbarinsel denken. Alles fügte sich zusammen. Er setzte dem Antisch die Schwertklinge an den Hals. »Warum entführen die Dagonisier unsere stärksten Männer?«

Gulloths Antwort bestand in einem verächtlichen Blubbern.

»Seid ihr Sklavenjäger?«

Die Glupschaugen des Feuermenschen schienen Blitze zu verschießen, während er weiter schwieg. Sein Zittern steigerte sich.

Taramis ließ das Schwert sinken. Diese Kreatur fürchtete den Tod nicht mehr, sie sehnte ihn herbei. »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, sagt er grimmig. »Du und deine Brüder, ihr hättet meinem Volk nicht den Frieden rauben sollen.«

»Du Narr!«, stieß der Fischköpfige voller Verachtung hervor. Alle ihm verbliebene Lebenskraft schien in seine hasserfüllte Stimme zu strömen. »Wir werden euch heimsuchen wie eine Plage, die deine schlimmsten Vorstellungen übertrifft. Ihr Menschenvölker seid dem Untergang geweiht. Entweder unterwerft ihr euch Dagons Macht oder ihr werdet alle sterben. Bereits jetzt, während du noch triumphierst, wird dir das Liebste genommen, das du besitzt. Deine …«

Das krampfhafte Zucken raubte Gulloth die Sprache. Es steigerte sich auf grauenhafte Weise, bis sein riesiger Leib jäh erschlaffte.

Taramis sah dergleichen nicht zum ersten Mal. Trotzdem hatte er sich nie daran gewöhnt. Ein paar Tropfen seines Blutes konnten anderen Lebewesen solche unbeschreiblichen Qualen zufügen. Jedes Mal aufs Neue traf ihn diese Erkenntnis wie eine Keule.

Doch nicht er, sagte er sich trotzig, hatte hier mit dem Töten angefangen. Es war der Antisch gewesen. Diese vielgestaltige Kreatur, die ihm noch mit ihren letzten Worten so viel Furcht eingeflößt hatte.

Zornig sammelte er seinen Willen und bezwang das Gift in seinem Körper. Die erschlafften Muskeln spannten sich. Entschlossen nahm er das Schwert Malmath in beide Hände und trennte damit Gulloths Kopf vom Rumpf.

2. Bittersüßer Triumph

Gulloths blutiges Haupt steckte auf einer langen Stange. Taramis ließ es in der Mitte des Dorfplatzes zurück. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte es noch schauerlicher, als es ohnehin aussah. Es sollte allen Dagonisiern fortan eine Warnung sein, hier nie wieder auf Beutefang zu gehen. Wenn das Fleisch des Feuermenschen längst verwest war, würde sein unverwechselbarer Schädel noch jahrelang von der Wehrhaftigkeit der Zeridianer zeugen.

Die Trophäe machte die Rückkehr ins Dorf zu einem Triumphzug. Jeder konnte sehen, dass Taramis, Sohn der Lasia, nicht nur ein ruhmreicher Tempelwächter war, sondern auch ein großer Jäger. Einen bitteren Beigeschmack hatte die Freude für jene Familien, die ihre Söhne, Männer und Väter betrauerten. Von ihnen gab es keinerlei Lebenszeichen, auch Xydias Bruder Lauris blieb verschwunden.

In Taramis regte sich eine dunkle Ahnung. Wie tödliche Flüche hallten Gulloths Hasstiraden in seinem Geist nach. Einem Orakel gleich hatte der Fischkopf eine entsetzliche Heimsuchung verheißen, eine Plage, die nicht weniger als den Untergang der Menschenvölker bringen solle. Sich selbst sparten die dagonisischen Kiemenatmer dabei wohl aus.

Eine Plage? Hatte der sterbende Antisch bewusst diesen unheilvollen Begriff aus den alten Weissagungen benutzt?

So finster diese Drohung auch klang, bei Weitem schlimmer waren für Taramis die allerletzten Worte des Feuermenschen; wie Blutegel hatten sie sich in seinem Bewusstsein festgebissen: Bereits jetzt, während du noch triumphierst, wird dir das Liebste genommen, das du besitzt. Deine …

Hatte der Antisch Braut sagen wollen?

Die Vorstellung, seiner Verlobten könne Gefahr drohen, brachte ihn fast um den Verstand. Ihretwegen hatte er sich ja überhaupt auf dieses Abenteuer eingelassen. Jetzt nicht bei ihr zu sein, sie in dieser Stunde nicht zu beschützen, machte ihn schier wahnsinnig. Hätte er nur auf ihre jüngere Schwester Shúria gehört!

Diese hatte Xydia vor zwei Jahren von einem verstörenden Traum erzählt. Abgesehen von kurzen Familienbesuchen lebte das stille, ausgesprochen hübsche Mädchen auf Luxania, der Insel der Seher, einer kleinen Scholle am Rande des Zeridia-Archipels. Shúria war, wie schon ihre verstorbene Mutter, eine Gesegnete – so bezeichnete man Menschen, die Gao mit besonderen Gaben beschenkt hatte. Sie sah seit frühester Kindheit zukünftige Ereignisse voraus. Auf Wunsch ihres Vaters wurde sie deshalb von den Weisen Luxanias in der Kunst des Prophezeiens unterwiesen. Mit vierzehn hatte sie ihr Elternhaus verlassen, inzwischen war sie sechzehn.

Bei ihrer vorletzten Stippvisite auf Jâr’en war Taramis unfreiwillig Zeuge des Gesprächs der beiden Schwestern geworden – er hatte Xydia ein Geschenk bringen wollen. Shúria wirkte wegen ihres Traums beunruhigt. Darin ging es um eine Bedrohung aus dem schwarzen Herzen von Berith. Sie hatte das umwölkte Zentrum der Scherbenwelt gemeint, von dem Armeen der Finsternis über die Inseln des Lichts herfallen würden. In diesem Zusammenhang erwähnte sie eine uralte Weissagung der Nebelwächter von Luxania. Sie warnte vor dem Anbruch eines dunklen Zeitalters, sofern man der nahenden Plage nicht begegne.

Taramis hatte bis dahin weder etwas von Nebelwächtern noch von einer Bedrohung aus der innersten Zentralregion gehört. Er meinte, das zarte Mädchen habe sich diese Gruselgeschichte nur ausgedacht, um Xydia zu beeindrucken. Im Gegensatz zu ihm hatte die ihrer kleinen Schwester geglaubt und sie gefragt, wie man eine Nebelwächterin werden könne.

Erst jetzt war Taramis aufgewacht. Durch Gulloths Fluch. Auch der Antisch hatte von einer Plage gesprochen. Und die Heimatinsel seines Volkes lag nach einhelliger Gelehrtenmeinung in jener von Schatten beherrschten Region des Ätherischen Meeres, die zu erforschen nie ein Entdecker gewagt hatte.

Taramis liebte Xydia mit jeder Faser seiner Seele, und sie erwiderte seine Gefühle. Bei ihrem heimlichen Verlöbnis hatte sie gesagt: »Wir sind nebeneinander aufgewachsen, aber wir werden miteinander durchs ganze Leben gehen.« Was konnte beflügelnder sein als ein solches Versprechen? Vergessen waren danach die verletzenden Worte der Neider und Spötter, die ihn als menschenscheuen Einzelgänger belacht, als Halbblut verachtet und als Bastard beschimpft hatten. Der Triumph über das Phantom von Zeridia mochte vieles ändern. Dem Bezwinger Gulloths würde Xydias Vater sicher nicht die Hand seiner Tochter verweigern.

»Heute Nacht feiern wir dir zu Ehren ein Fest«, verkündete das Stammesoberhaupt Zorbas, ein kleiner, ungemein stämmiger Jäger von etwa sechzig Jahren. Zuvor hatte er den Helden vor der versammelten Dorfgemeinschaft zu seinem Sieg beglückwünscht. Der Häuptling war Elis Bruder und somit Xydias Onkel.

»Sollten wir lachen, wo so viele, darunter dein eigener Neffe, zu beweinen sind?«, entgegnete Taramis ernst. Er wollte so schnell wie möglich nach Jâr’en aufbrechen, wollte sehen, dass es seiner Verlobten gut ging.

Zorbas legte ihm mit feierlicher Miene die Hand auf die Schulter. Eine Geste von anrührender Komik, denn Taramis war mit seinen sechs Fuß und zwei Zoll um etliches größer als der Alte. »Du bist fernab deiner Heimat aufgewachsen, Junge, deshalb kennst du unsere Bräuche nicht. Lauris war ein Jäger. Ebenso all die anderen, die fortgegangen sind. Wir werden ihre Namen in Ehren halten. Doch auf Zeridia ist der Tod ein häufiger Gast. Wir dürfen nicht aufhören zu leben, wenn einige der unsrigen sterben.«

Taramis seufzte. Die Gastfreundschaft war seinem Volk heilig. Wie konnte er sich aus dieser Situation nur herauswinden, ohne den Häuptling und das ganze Dorf zu beleidigen? »Ich muss mich um Allon kümmern«, sagte er lahm.

»Es war unseren jungen Reitern eine Ehre, dein Mamogh zu versorgen. Vor knapp einer Stunde hat es einen Wels verschlungen, der deinem Antisch an Größe sicher in nichts nachstand.« Zorbas deutete mit verschmitztem Lächeln auf Gulloths Haupt. »Dein Gefährte wird dich nachher auf seinen Schwingen umso kraftvoller durch den Äther tragen. Nur solltest du dich nicht heimlich davonstehlen.«

»Keine Angst«, wiegelte Taramis ab. »Mir steckt noch das Antischgift in den Knochen und ich bin sehr erschöpft. Am liebsten würde ich mich sofort aufs Ohr hauen.«

»Das verstehe ich. Aber die Menschen hier wollen ihren Retter sehen, wenn sie seinen Sieg besingen. Ich verspreche dir, dass du dich nicht verausgaben musst. Die Frauen werden dich waschen, deine Wunden verbinden und dir ein Festgewand anziehen.«

Taramis räusperte sich verlegen. »Du bist zu gütig, Zorbas, aber in der Tempelgarde von Jâr’en lernen wir, uns um solche Dinge selbst zu kümmern.«

»Ist das der wahre Grund für deine Zurückhaltung?«, entgegnete der Alte mit wissendem Lächeln. »Oder willst du nur nicht die Leidenschaft zu einem anderen Weib in dir entbrennen lassen, weil du dein Herz schon meiner hübschen Nichte geschenkt hast?«

»Marnas sagt, wer sich verwöhnen lässt, wird leicht verwöhnt.«

Zorbas lachte. »Ich kenne den Kodex der Tempelwächter. War ja selbst einmal Hüter von Jâr’en, bevor ich das Amt an deinen Meister weitergab. Also, von mir aus. Mach wieder einen Menschen aus dir und dann nimm beim Fest den Ehrenplatz zu meiner Rechten ein. Morgen früh darfst du meinetwegen in die Arme deiner Liebsten zurückkehren. Ich bin sicher, mein Bruder wird dir gerne ihre Hand überlassen.« Der Häuptling zwinkerte. »Und bestimmt noch ein bisschen mehr.«

Es war ein lauer Abend im Spätfrühling. Überall zwischen den Rundhütten brannten Feuer. Auf manchen drehten sich noch Spieße mit halb zerpflückten Braten. Es roch verführerisch nach knusprigem Fleisch und anderen Köstlichkeiten. Mit den Düften vermischten sich die Klänge. Die Nacht war erfüllt davon. Hier hörte man das monotone Bum-bum-bum der Festtrommeln, dort fröhlichen Gesang und immer wieder befreites Lachen. Obwohl es längst auf Mitternacht zuging, war das ganze Dorf noch auf den Beinen. Selbst die Kleinsten feierten den jungen Helden oder tanzten auf dem zentralen Dorfplatz um die Stange mit dem gewaltigen Antischhaupt.

Am Rande des Geschehens saßen Taramis, der Häuptling und die Stammesältesten auf mehreren Lagen Fell, die man für sie auf dem Boden ausgebreitet hatte. Der junge Held übte sich in der für ihn typischen Zurückhaltung. Nicht einmal das perlenbestickte Festgewand hatte Taramis angelegt, um nicht für einen eitlen Pfau gehalten zu werden. Bescheidenheit gehörte zu den Tugenden, die Marnas ihn gelehrt hatte.

Statt des bunten Hemdes trug Taramis über der nicht ganz knielangen Tunika den leichten Lederharnisch der Tempelgarde. Den dicken Jagdzopf hatte er wieder in die sieben kleineren Haarflechten aufgelöst. Seine Füße steckten in weichen zeridianischen Mokassins. Auf das Schwert Malmath, das gewöhnlich an seinem breiten Gürtel hing, hatte er verzichtet, um sich nicht allzu martialisch zu geben. Ez indes lag an seiner Seite. Zum Schutz der Unbedachten, die gerne einmal den legendären, auch als Flamme Gaos bekannten Stab anfassten, hatte er ihn wie gewöhnlich in ein schwarzes Futteral aus Leder gesteckt.

Seit Beginn des Festes zwang sich Taramis zum Lächeln. Sein Gesicht schmerzte von der albernen Grimasse. Wenigstens war die bleierne Schwere des Antischgifts nun völlig aus seinen Gliedern gewichen. Die heilenden Kräuter der Insel hatten wahre Wunder gewirkt. Nur die Sorge um Xydia konnten sie nicht vertreiben. Von Stunde zu Stunde wurde sie quälender.

Als der Genuss vergorener Stutenmilch bereits manche Hemmung fortgespült hatte, sammelte sich eine Gruppe junger Verehrerinnen vor dem Helden, um ihn zum Gemeinschaftstanz einzuladen. Besonders mutig war ein stattliches, pralles Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren. Es beugte sich ziemlich weit zu Taramis herab, als wolle es seine Aufmerksamkeit auf die festen Brüste lenken, die im sich kräuselnden Halsausschnitt erschreckend gut zur Geltung kamen. Die schwarzen Zöpfe umspielten sein Gesicht und ein schielendes Augenpaar fixierte ihn wie einen Fisch am Seegrund, als es mit rauchiger Stimme fragte: »Möchtest du mit uns tanzen?«

»Das werde ich«, antwortete Taramis. Endlich sah er seine Chance zur Flucht gekommen. Er entschuldigte sich bei Zorbas, stemmte sich, auf seinen Stab gestützt, mit gespielter Schwerfälligkeit aus dem Schneidersitz hoch und begleitete die Mädchen zum Kreis der Tanzenden.

Unter Gulloths Haupt sang er eine Weile lauthals und tat so, als fände er Freude an den rhythmischen Bewegungen im Takt der Trommeln. Das wohlbeleibte Mädchen gab sich alle Mühe, ihn mit den unglaublichsten Verrenkungen zu beeindrucken. Immer wieder spähte er an ihr vorbei zu Zorbas hinüber, der ihn nicht aus den Augen ließ. Als endlich ein anderer Stammesältester den Häuptling in ein Gespräch verwickelte, zog sich Taramis unauffällig aus dem Kreis zurück. Nach wenigen Schritten verschmolz er mit den Schatten der Nacht.

Die Vorbereitungen für seine überstürzte Abreise hatte er schon vor Festbeginn getroffen; das Marschgepäck eines Tempelkriegers war schnell gepackt. Mit Ausrüstung und Proviant schlich er sich, von innerer Unruhe zur Eile angetrieben, zu den Weideplätzen der Reit-, Flug- und Schwalltiere am Seeufer.

Schwalltiere waren Wesen, die sich aus eigener Kraft durch den Äther bewegen konnten. Wenn Menschen auf ihnen reisten, sprachen sie gewöhnlich von Schwallern. Früher, so behaupteten es das heilige Buch Jaschar und die Annalen von Berith, sei die Welt eine Kugel gewesen, auf deren Oberfläche die Bewohner herumgekrabbelt seien wie Ameisen auf einer Melone. Taramis konnte sich so etwas nur schwerlich vorstellen.

Laut den alten Überlieferungen hatte ein rebellischer Sohn Gaos namens Melech-Arez die Welt erschaffen. Dieser habe sein Werk der Legende nach mit dem vollkommenen Menschen krönen wollen. Stattdessen brachte er allerlei Bastardgeschlechter hervor. Dazu gehörten die amphibischen Zeridianer, die geflügelten, weißblütigen Zioraner und die kiemenatmenden Antische von Dagonis. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit waren sie alle Menschen. Außerdem erweckte Melech-Arez wilde Bestien zum Leben, die meisten ohne, einige mit Verstand.

Weil seine Kreaturen im Laufe der Zeit zunehmend entarteten, habe sein Vater schließlich den Weltenball zerschmettert. Belimáh, der leere Raum, verschluckte die meisten Trümmer. Doch Gao ließ Berith nicht gänzlich untergehen, sondern umhüllte einige Bruchstücke mit Luftblasen. Alle geretteten Scherben umgab er wiederum mit einer schützenden Sphäre, die er Aura nannte. Diese füllte er mit Äther, einem Stoff, der dünner war als Wasser und dicker als Luft. Und weil man in diesem besonderen Ozean weder schwimmen noch fliegen konnte, hatten die Berither der Bewegung im Äther einen eigenen Namen gegeben: das Schwallen.

Seit Gaos Heilung schwammen die Inseln nun also wie Brotkrumen in der Brühe des ätherischen Meeres. Gewöhnlich folgten sie dabei festen Bahnen. Nur manchmal brach eine der Schollen aus, vielleicht weil ein Meteorit sie getroffen hatte oder aus anderen, noch rätselhafteren Gründen.

Ein Pfiff gleich dem näselnden Klang einer Schalmei hallte durch die Nacht. Allon hatte das Kommen seines Herrn bemerkt. Das Mamogh richtete sich erwartungsvoll in seiner ganzen, imposanten Höhe auf.

Der Name des Tieres, der »stattlich« bedeutete, beschrieb die gefiederte Riesenschwallechse nur unzureichend. Majestätisch wäre wohl das treffendere Wort. Allons Flügelspannweite betrug nicht weniger als zehn Schritte, seine Kammhöhe etwa siebeneinhalb. Vollständig aufgerichtet überragte er Taramis um das Vierfache. Dieser konnte unter seinem Gefährten stehen, ohne dessen Bauch zu berühren, so lang waren Allons vier stelzenartige, klauenbewehrte Beine.

Wie Zeltplanen spannten sich die mit weichem Flaum bedeckten Schwallhäute zwischen den Gliedmaßen. Gemessen an der enormen Körpergröße des Tieres waren die Schwingen trotz ihrer beachtlichen Fläche zum Fliegen eigentlich zu klein. Daher verfügten die riesigen Echsen wie die meisten Amphibien, deren Lebensraum sich vom Ätherischen Meer bis zu den Luftsphären der Inseln erstreckte, über zusätzliche natürliche Auftriebshilfen. Ihre netzartig verstrebten Knochen enthielten ein Gasgemisch, das viel leichter war als Luft. Zudem besaßen sie eine sogenannte Schwallblase, ein Organ, in dem sie die Menge des Auftriebsgases zu variieren vermochten. So konnten sie sich mit Leichtigkeit in den Äther emporschwingen und ebenso elegant auf den Inseln niedergehen.

Am Kopfansatz zierte ihren Schwanenhals eine feuerrote Krause aus beweglichen Kiemenästen, die ihnen das Atmen sowohl unter Wasser als auch im Weltenozean ermöglichte. Sie bildete gewissermaßen einen Kranz, auf dem das mächtige Haupt der Echse saß, das mit seinem enorm langen Schnabel einem spitzen Keil glich. Vom Scheitel bis zum Halsansatz verlief ein hoher, gewellter, messerscharfer Hornkamm. Dieser als Klinge bezeichnete Kamm war eine gefürchtete Verteidigungs- und Angriffswaffe. Ihr verdankten die Mamoghs den Beinamen »Fliegendes Schwert«.

Taramis begrüßte seinen Gefährten wie einen Bruder. Allon rieb seinen flaumgefiederten Hals am Kopf des Reiters und stieß leise Gurrlaute aus. Die Riesenschwallechsen suchten sich gewöhnlich einen Lebenspartner, zu dem sie hielten, bis der sprichwörtliche Tod die beiden schied. Es musste kein Artgenosse, sondern konnte auch ein Mensch sein. Wenn Letzterer starb, ging oft auch das Mamogh ein.

»Gib’s zu, du hast mich vermisst, alter Bursche«, sagte Taramis, während er liebevoll den Federflaum seines Gefährten kraulte.

Die Riesenschwallechse antwortete mit einem verhaltenen Pfeiflaut, der beinahe wie ein Seufzer klang.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dir ordentlich den Magen vollgeschlagen hast. Hoffentlich ist dein Futterbedarf für die nächsten sechshundert Meilen gedeckt. Zum Rasten wird uns keine Zeit bleiben. Wir müssen schnellstens auf die Heilige Insel zurück.«

Allon schnarrte wie zur Bestätigung.

»Mach dich mal klein, damit ich dir das Geschirr anlegen kann.«

Taramis holte aus einem nahe gelegenen Stall das Sattelzeug. Es war zweckmäßig und leicht. Die Reiter anderer Menschenvölker mussten sich auf Reisen durch den Weltenozean in Luftkapseln einschließen. Er dagegen konnte sich gefahrlos den Äther um die Kiemen wehen lassen.

Mit oft geübten Griffen legte er Allon das Geschirr an. Eine Trense im Schnabel des Tieres gab es nicht. Die an den vorderen Schwallhäuten durch Ringe gezogenen Riemen dienten der temperamentvollen Echse lediglich als Orientierungshilfe, denn normalerweise dirigierte der Reiter sein Mamogh nur mithilfe seines Willens. Irgendwie spürten die Tiere, wohin ihre Gefährten sie lenken wollten.

Neben dem eigentlichen Sattel auf den Schultern der Echse bestand das Reitzeug aus einem dahinter angebrachten Lederschurz mit Halteschlaufen, in denen sich notfalls weitere Personen einhängen konnten. Außerdem verfügte das Sattelzeug über mehrere Taschen und Futterale zum Verstauen des Gepäcks und der Waffen. Der Schild Schélet hing ebenfalls in Griffweite, um ihn im Ätherkampf oder bei einem Luftgefecht sofort zur Hand zu haben. Er war ein Geschenk von Marnas und bestand aus dem ovalen gewölbten, ungewöhnlich leichten Panzer einer jungen Lederschildkröte. Der legendäre Waffenschmied Barkas hatte ihn mit verschiedenen Baumharzen gehärtet, bis er die Festigkeit von Schwertstahl besaß. Außerdem verlieh er ihm Selbstheilungskräfte: Ob Loch, Kerbe oder Schrunde, jede Verletzung des Schilds schloss sich nach kurzer Zeit von allein.

Nachdem sämtliche Gurte festgezurrt und alle Schnallen kontrolliert waren, legte Allon seinen schwanenartigen Hals der Länge nach auf den Boden. Damit lud es seinen Reiter nicht nur zum Aufsteigen ein, es war auch eine Geste der Unterwerfung gegenüber dem Anführer – wie viele Schwarm- und Rudeltiere fühlten sich Mamoghs nur in einer Hierarchie wohl, in der sie einen festen Platz einnahmen.

Taramis setzte sich die Kristallbrille zum Schutz der Augen auf, schwang sich in den Sattel, umschloss den Hals des Mamoghs mit seinen Beinen und rief mit fester Stimme: »Bring mich nach Jâr’en, mein Freund. Ob ich nun schlafe oder wache, ruhe nicht, ehe wir im Garten der Seelen niedergehen.«

3. Rauch über der Heiligen Insel

Zeridianer schätzten Mamoghs wegen ihres Muts, ihrer wilden Kraft und ihrer Ausdauer. Tagesetappen von bis zu vierhundert Meilen bewältigten die riesigen Echsen, ohne merklich zu ermüden. Oft jagten sie obendrein während der Reise, und sie schliefen sogar im Schwallen. Um Letzteres beneidete Taramis seinen Gefährten.

Er hatte in den vergangenen dreißig Stunden kaum ein Auge zugetan. Die Sorge um Xydia brachte ihn noch um. Sie war für ihn der liebenswerteste Mensch der Welt. Selten sah man sie in gedrückter Stimmung oder schlechter Laune. Ihre Unbekümmertheit hatte etwas Ansteckendes – wer sich ihr missmutig näherte, verließ sie meist mit einem Gefühl der Leichtigkeit.

Von dieser hartnäckigen Art war auch Taramis’ derzeitiger Gemütszustand. Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um Gulloths Fluch. Hatte der Antisch von einer realen Bedrohung gesprochen? Oder wollte er mit seinem letzten Atemzug nur Angst und Schrecken säen? Das war ihm zweifellos gelungen. Taramis sehnte sich danach, Xydia in die Arme zu schließen und das Erlebte wie einen bösen Traum hinter sich zu lassen. Und sie war nicht der einzige Mensch auf Jâr’en, den er innig liebte. Nicht minder sorgte er sich um seine Mutter Lasia. Hinzu kamen Marnas und Eli. Sie hatten seine Entwicklung zum Mann als väterliche Ratgeber begleitet. Und in manchem Kameraden der Tempelgarde sah er einen Bruder.

Als Jâr’en im Ätherischen Meer erschien, wurde die Anspannung unerträglich. Zum zweiten Mal seit dem Aufbruch dämmerte der Morgen. Die Heilige Insel schimmerte wie ein tiefgrüner Smaragd auf violettem Samt. Diese Illusion entstand hauptsächlich im Äther. Je nach Blickrichtung änderten sich die Farben des Himmels. Im direkten Umfeld der Sonne strahlte er hellblau, ihr gegenüber konnte er tiefschwarz sein. Auf dem Weg vom Licht zur Dunkelheit betörte er das Auge mit mannigfachen Schattierungen von Gelb, Orange, Rot und sattem Purpur. Je nach Lage einer Scholle im Weltenozean waren diese Wechsel dramatisch oder verschwindend gering.

Während Allon mit majestätischer Anmut auf Jâr’en zuschwallte, nahm Taramis die Details der Insel deutlicher wahr. Sie war wie die meisten Eilande Beriths von einer Sphäre aus Luft umgeben, die bei schräg einfallendem Licht irisierend schimmerte. Dann glich sie einer großen Seifenblase, wie Xydia einmal gescherzt hatte. Im Moment war diese schützende Hülle so gut wie unsichtbar.

Das Innere der ovalen Scholle bedeckte ein einzigartiger Wald: Gan Nephaschôth, der »Garten der Seelen«. Seine Pflege oblag den Ganesen, die über ein besonderes Gespür für die belebte Schöpfung verfügten. Sie dienten auf Jâr’en schon seit Äonen als Gärtner. Jedes vernunftbegabte Wesen von Berith hatte ein vitales Interesse am Gedeihen des Heiligen Hains, denn für jedes Kind, jede Frau und jeden Mann stand darin ein Baum. Als Sprössling war er im Augenblick ihrer Geburt aus dem Mutterboden emporgekommen, und er ging ein, sobald der Mensch für immer die Augen schloss. Welches Individuum am jenseitigen Ende dieses unsichtbaren Lebensbandes hing, das wusste niemand, nicht einmal die Symbionten selbst. Deshalb galten sämtliche Pflanzen im Garten der Seelen als unantastbar.

Beth Gao, das hinter dem Hain liegende Haus Gaos, konnte Taramis noch nicht sehen. In seiner wechselvollen Geschichte war aus dem einstigen Tempel ein heiliger Bezirk aus zahlreichen Gebäuden entstanden. Das ummauerte Areal ragte bis an den Rand des Eilands heran und grenzte gegenüber an einen fischreichen See.

Was unter Jâr’ens Oberfläche lag, offenbarte sich nur dem, der sich in den Weltenozean hinauswagte. Die fruchtbare Krume bildete nur die Krone eines gigantischen Zapfens, der tief in die Luftsphäre hinabragte. Manche Schollen sahen für Taramis aus wie Backenzähne mit mehreren Wurzelzweigen. Die Heilige Insel hatte im Gegensatz dazu ein nahezu kegelförmiges Fundament, so wie ein kopfstehender Vulkan.

Von dem Rauch aufstieg.

Der kam aber nicht unten aus der Kegelspitze heraus, sondern quoll als schwarzer Qualm hinter den Baumkronen hervor. Taramis’ Augen verengten sich. Das waren weder Herdfeuer noch der Altar. Da musste ein Haus in Flammen stehen, wenn nicht gar mehrere. Ihm schwante Übles. Gulloths Fluch drängte sich in seinen Sinn. Die Sorge um Xydia war also berechtigt gewesen. Mit bebenden Lippen formte er ihren Namen.

Im nächsten Moment hatte er sich wieder in der Gewalt und feuerte sein Mamogh an. »Schnell, Allon! Wir werden auf der Insel gebraucht.« Seine Stimme verlor sich fast in der dünnen Luft des Äthers. Doch die Echse verstand ihn auch ohne Worte. Sie erhöhte die Schlagzahl ihrer mächtigen Schwingen. Taramis löste Ez aus der Sattelschlaufe und streifte das Futteral ab. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Bestimmt würde er den Stab nicht brauchen …

Seine Hoffnung zerstob jäh, als er von der Insel Tiere aufsteigen sah. Er zählte ein halbes Dutzend großer Donnerkeile, die Geflügelten Streitäxte der Kirries. »Freibeuter?«, murmelte er verwundert. Die scheinbar nur aus Schwingen bestehenden Amphibien mit ihren flachen, rautenförmigen Körpern waren jedenfalls typisch für die gnomenhaften Bewohner der Höhlen von Malon. Ein Piratenüberfall auf Beriths größtes Heiligtum? Taramis konnte es nicht glauben.

Er ließ sein Mamogh tiefer schwallen, wodurch sich das Eiland zwischen ihm und die Kirries schob. Dabei fuhr ihm ein neuerlicher Schreck in die Glieder. Dicht unterhalb des Rands schwebte eine Drachenkröte von so gigantischer Größe, dass sie einem Hügel glich. Und das war noch nicht alles. Gerade durchstieß eine riesige Ätherschlange die jâr’enische Sphäre und steuerte geradewegs auf den gepanzerten Koloss zu. Taramis kannte nur ein Volk, das die widerspenstigen Drachenwürmer zu zähmen wagte.

Dagonisier.

Wir werden euch heimsuchen wie eine Plage, die deine schlimmsten Vorstellungen übertrifft …

Sein Körper hatte das Gift des Antischs längst besiegt, der Geist indes litt immer noch. Taramis schloss die Augen. Er musste den Kopf freibekommen, sonst würde Gulloths Fluch ihn genauso lähmen wie die Stacheln des Feuermenschen.

Energisch umfasste er mit der Linken die Lenkriemen des Mamoghs, während seine Rechte Ez schüttelte. »Wartet nur, ihr fischköpfigen Ungeheuer!«, rief er drohend. »Wehe, ihr habt auch nur einem von meinen Gefährten ein Haar gekrümmt. Ich werde nicht ruhen, ehe mein Stab euch alle wie eitrige Geschwüre aus der Welt herausgebrannt hat.«

Er schwenkte ab, um nicht vorzeitig von den dagonisischen Reitern entdeckt zu werden. Jedes Geplänkel konnte ihn kostbare Zeit kosten, Zeit, die er zur Rettung von Xydia, seiner Mutter und den anderen Freunden brauchte.

Allon schwallte am Wurzelstock der Insel vorbei und schwang sich zur Bruchkante empor, die vor Urzeiten beim Bersten der Weltenkugel entstanden war. In der Deckung des Waldes tauchten die Echse und ihr Reiter in die Sphäre ein.

Sogleich pfiff Taramis der Wind in den Ohren und sein langes Haar flatterte ungestüm. Als Halbwüchsiger hatte er sich oft von seinem Mamogh in schwindelnde Höhen emportragen lassen, nur um sich gleich darauf übermütig am Sturzflug zu berauschen. Allon bewegte sich dank seiner natürlichen Auftriebshilfen so wendig wie ein Falke durch die Luft.

Dicht über den Wipfeln des Heiligen Hains näherten sich die beiden dem Tempelbezirk. Irgendwo da unten stand auch sein Seelenbaum. Und der von Xydia. Taramis wünschte, er könnte ihr Lebensband wie eine Fährte funkeln lassen, um ihm bis zu ihr zu folgen. Er machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Die Grenze von Gan Nephaschôth stürzte förmlich auf ihn zu. Dahinter erstreckte sich das tiefblaue Gewässer, auf dem gewöhnlich die Reisetiere niedergingen. Ihm verdankte die Heilige Insel den zweiten Teil ihres Namens – jâr´en bedeutete in der alten Sprache »Wald der Quelle«. Xydia pflegte es wegen seines Umrisses auch scherzhaft »Bohnensee« zu nennen. An der schmalsten Stelle war dieser eine und an der weitesten knapp zwei Meilen breit. Die Mauer des Tempelbezirks schmiegte sich in die waldwärts gewölbte Uferlinie.

Das grüne Meer aus Blättern und Nadeln wechselte jäh zum Blau des Quellsees. Als Taramis durch die Kristallbrille zum Tempelareal hinüberblickte, stockte ihm der Atem. Vor der rauchumwölkten Silhouette der Anlage tummelte sich ein ganzer Schwarm Donnerkeile auf dem Wasser. Am Ufer lag ein totes Mamogh. Eine Ätherschlange riss aus dem Kadaver einen Happen heraus und verschlang ihn in einem Stück. Drei weitere dieser lindwurmartigen Kreaturen wälzten sich links davon im Schlamm. In sicherem Abstand zu den angriffslustigen Echsen standen zehn oder zwölf dagonisische Wachposten mit dreizackigen Spießen.

Taramis schüttelte ungläubig den Kopf. Obwohl die Feuermenschen zum Atmen nur Kiemen besaßen, bewegten sie sich so mühelos wie jeder andere Berither an der Luft. Wie machten sie das nur? Auch ihre Rolle bei dem Überfall wollte sich ihm nicht erschließen. Nach seiner ersten Einschätzung hielten sie sich im Hintergrund. Die Hauptstreitmacht stellten ihre Verbündeten.

Die Kirries.

Am Strand wimmelte es von den stämmigen kleinen Männern. Viele waren in Gefechte mit versprengten Gruppen von Tempelwächtern verwickelt. Die Bewaffnung der zwergenhaften Piraten bestand hauptsächlich aus Äxten, Streitkeulen und Spießen. Auch der ein oder andere Rundbogen kam zum Einsatz. Ihre dunklen Plattenpanzer schimmerten wie Grafit in der Morgensonne. Unter den Kegelhelmen ragten dicke Zöpfe in unterschiedlichen Farben hervor.

Die hochgewachsenen Zeridianer wehrten sich verbissen gegen die Übermacht. In Kreisformation kämpften sie Schulter an Schulter, schroffen Klippen gleich, die dem tosenden Meer trotzten. Dennoch schlugen die Speere und Pfeile des Feindes immer wieder Breschen in das Bollwerk der Tempelwächter. Manche fielen scheinbar ohne Gewalteinwirkung – ein sicheres Zeichen für den Einsatz mentaler Waffen. Am liebsten hätte sich Taramis sofort ins Schlachtgetümmel gestürzt. Er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen. Aber hieße das nicht, Xydia diesen bärtigen Barbaren auszuliefern? Nein, zuerst brauchte er Gewissheit. Er musste das Mädchen finden.

Ein Pfeil zischte an seinem Kopf vorbei. Man hatte ihn entdeckt. Rasch ließ er die Lenkriemen fallen und löste den gewölbten Schild Schélet vom Sattel. Seine Schenkel schmiegten sich um den Halsansatz des Mamoghs. Es fühlte sofort, was er von ihm wünschte und stieg etwas höher. Taramis wollte sich zunächst einen Überblick vom Geschehen innerhalb des steinernen Ringwalls verschaffen.

Allons Schatten wischte über die Kämpfenden am schmalen Ufer hinweg. Er streifte die Mauerkrone oberhalb des gänzlich unversehrten, weit geöffneten Tores und verdunkelte gleich darauf die Flachdächer des Tempelkomplexes.

Im Herzen des Areals stand Beth Gao, ein monumentaler sandfarbener Quaderbau. Das zwanzig Fuß hohe, von zwei mächtigen Kupfersäulen flankierte Bronzetor des Gotteshauses stand offen. Wie ein monströses Zyklopenauge blickte das schwarze Loch auf den rechteckigen Vorplatz hinaus, dessen Mitte ein kolossaler Gedenkstein aus Aschmur markierte.

Seit alters her symbolisierte der Kristall den Nabel der Welt. Ihren dunkelsten Tiefen sei er entrissen worden, als sie zerbarst, las man im Buch Jaschar. Ein Engel des Höchsten habe ihn hiernach zur Erinnerung an die Weltenheilung im Wald der Quelle errichtet. Viereinhalb Jahrtausende hatte er hier gestanden. Jetzt war er gestürzt.

Der Anblick des gefällten Riesen versetzte Taramis einen Schock. An dem fünfzehn Fuß langen Stein hingen noch dicke Taue. In seiner Nähe hielten sich ein halbes Dutzend Antische und fünfzig oder sechzig Kirries auf. Die Eindringlinge hatten die heilige Säule des Bundes mit voller Absicht entweiht. Dahinter steckte mehr als Siegerwillkür und Machtgehabe. Der Frevel war eine Botschaft an die Anbeter Gaos: Seht her! Wir haben euren Gott vom Thron gestürzt. Ihr Menschenvölker seid dem Untergang geweiht. Entweder unterwerft ihr euch Dagons Macht oder ihr werdet alle sterben.

Zornig schüttelte Taramis den Kopf, als könne er Gulloths Fluch damit abwerfen. Die Unheil verkündenden Worte ließen sich aber nicht aus dem Sinn verbannen. Dir wird das Liebste genommen, das du besitzt … Wo war Xydia? Er musste sie finden.

»Dreh eine Schleife, Allon.« Seine Stimme unterstrich nur den Befehl, den das Mamogh längst erspürt hatte. Während es mit ausgebreiteten Schwingen seine Kreise zog, suchte Taramis nach seiner Verlobten.

Um den zentralen Hof herum gruppierten sich die dem heiligen Dienst gewidmeten Gebäude: Schatzhaus, Skriptorium, Speisesäle, Unterweisungsräume und auch die Quartiere der Priester und ihrer Angehörigen. In einer zweiten Reihe dahinter lagen die Unterkünfte der Ganesen und der Tempelwächter.

Letztere standen in Flammen. Bestimmt hatten die Angreifer sie zur Ablenkung der Garde in Brand geschossen. Offenbar waren sie danach kampflos in den Bezirk gelangt. Jemand musste ihnen das Tor geöffnet haben.

Nirgends entdeckte Taramis eines jener leuchtenden Gewänder, die Xydias heiteres Wesen so trefflich erstrahlen ließen – Gelb war ihre Lieblingsfarbe. Stattdessen sah er nur erbitterte Kämpfe, die überall zwischen den Gebäuden tobten. Wiewohl ihm das Gewissen schlug, weil er nicht in das Geschehen eingriff, verschloss er seine Ohren vor den Schreien der Kameraden. Erneut wandte er sich dem Zentrum zu. Es war höchste Zeit, mit den Eindringlingen auf Tuchfühlung zu gehen.

Seinen geflügelten Freund in dem Kampfgetümmel landen zu lassen, wäre Wahnsinn gewesen. Die Freifläche rund um den Monolithen war nach wie vor kirrieverseucht. Und zwischen den Häusern konnte sich das Mamogh weder richtig verteidigen noch ungehindert aufsteigen. Er würde abspringen müssen. Am besten auf dem Gebäude, in dem er mit der Suche beginnen wollte. Vielleicht hatte Xydia ihm dort eine Nachricht hinterlassen.

Das dreistöckige Haus des Hohepriesters stieß gegenüber von Beth Gao an die Stirnseite des Zentralplatzes. Sicher hatte es weit oben auf der Plünderliste der Freibeuter gestanden. Während Taramis darauf zusteuerte, zählte er ein halbes Dutzend Piraten auf dem flachen Dach. Sie waren ausnahmslos bärtig, runzlig, großohrig und gnomenhaft – eben so, wie man ihm die Bewohner Malons immer beschrieben hatte. Fünf trugen einheitliche Harnische. Der sechste, auffallend stattliche Kirrie stach durch seine Ausstattung hervor.

Neben der fast schon unvermeidlichen Streitaxt besaß er als Einziger der Gruppe ein Schwert. Von seinen breiten Schultern hing ein silbrig schimmernder Umhang. Eine Rüstung hatte er nicht. Seine tonnenförmige Brust wölbte sich unter einer Tunika, deren Saum ihm bis über die Knie reichte. Das weißgraue Gewebe changierte intensiv im Sonnenlicht. Vermutlich war der Mann mit der Statur eines kleinen Bären ein Anführer, der das hohepriesterliche Domizil als Befehlsstand nutzte.

»Nicht mehr lange«, knirschte Taramis.